Die Liebende - Albert Ostermaier - E-Book

Die Liebende E-Book

Albert Ostermaier

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  • Herausgeber: Suhrkamp
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Mit sämtlichen Gefühls- und Spielarten der Liebe wird der Pariser Polizeikommissar Olivier konfrontiert. Er hat eine Frau zu verhören, die von sich behauptet sie verwandle die Männer nach dem Akt in alle möglichen und unmöglichen Gestalten, sie entstelle ihre Rivalinnen, bringe Liebhaber und Liebhaberinnen um. Zunächst glaubt der Kommissar, es mit einer Verwirrten zu tun zu haben. Dann begreift er, daß die Person ein ungeheures Wissen um Gefühle von Liebe und Haß, Zuneigung und Zerstörung hat. Immer wieder hört er die Bänder ihres Verhöres ab um dem Geheimnis dieser Frau auf die Spur zu kommen. Am Ende dieser großartig komponierten, spannenden und weit ausgreifenden Erzählung finden die Polizeikollegen den Kommissar ermordet auf.

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Nach seinem Erfolgsroman Schwarze Sonne scheine, der prototypisch die Entstehung des Künstlers aus enttäuschtem Weltvertrauen erzählt, wendet sich Albert Ostermaier seinem anderen großen Thema zu: der Liebe.

Mit sämtlichen Gefühls- und Spielarten der Liebe wird der Pariser Polizeikommissar Olivier konfrontiert. Er hat eine Frau zu verhören, die von sich behauptet, sie verwandle die Männer nach dem Akt in alle möglichen und unmöglichen Gestalten, sie entstelle ihre Rivalinnen, bringe Liebhaber und Liebhaberinnen um. Zunächst glaubt der Kommissar, es mit einer Verwirrten zu tun zu haben. Dann begreift er, dass diese Frau ein unergründliches Wissen um Gefühle von Liebe und Hass, Zuneigung und Zerstörung hat. Immer wieder hört er die Bänder ihres Verhöres ab, um ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Am Ende dieser großartigen Erzählung, in der Kriminalroman und mythische Erzählung ineinander verwoben sind, entdecken die Kollegen den ermordeten Kommissar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

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Alle die Jahre, und du: meine Liebe, all diese Jahre hindurch.

All das Warten, und du: mein Schwindligwerden davor:

Es ist nichts, das da altern, nichts, das erkalten kann,

Nichts, was da wartete, dass unser Tod kam,

Nichts, was uns kunstreich befehdete, langsam,

Nichts, was uns fremd bleibt, nicht

Mein Fortsein, nicht mein Wiederkommen.

IéclipseFinsternis

»Was sitzt du da, als wärst du ein Stummer?« Sie schlug das Buch zu, senkte den Blick. Die Lampe blendete sie. Sie hob die Hand, aber die Helligkeit drang durch ihre zitternden, vom Alter gekrümmten Finger. Der Arm schmerzte. »Als könntest du die Freuden in meinem Haus nicht mehr bezahlen«, redete sie mit geschlossenen Augen weiter, die Fingerspitzen strichen über die Münzen auf dem weißen, reflektierenden Tisch, sie lachte auf, »mit dem Kleingeld deiner Geschichten.« Sie zerknüllte den Plastikbecher, Kaffee schwappte auf ihren Handrücken, floss über die Knöchel auf das zerkratzte Resopal, verteilte sich in Flussarme, bevor er sich in einer Mulde an der Tischkante sammelte. Sie öffnete die Augen für einen vorwurfsvollen Blick ins Leere: »Und überweist mir die Schuld an der Armut deiner Gedanken.«

Das Schinkensandwich hatte sie noch nicht aus der Vakuumverpackung geholt, die Salatblätter hingen saftlos über das blasse Brot. »Was zehrst du am eigenen Gemüt, statt nach Essen und Trinken zu greifen? Es ist alles, wie du es bestellt hast, aus dem Katalog des Himmels.« Sie stand auf und ging langsam, mit dem Rücken voran, auf den breiten Spiegel zu.

»Breite ich nicht die Wolken aus, unter deinem müden Haupt? Habe ich dir nicht den Vogel geschlachtet, dessen Flug du mit Schrecken verfolgtest – und Sehnsucht zugleich, wie er in die Lüfte zu steigen? Ich habe seine Eingeweide mit Koriander gewürzt und lasse sie schwimmen für dich in einer Schale von Wein.« Der Raum schluckte ihre Stimme, nahm sie, zeichnete sie auf. »Wein«, schrie sie, »Wein. Rotwein!« Ein Stich im linken Sprunggelenk ließ sie zusammenfahren, unterbrach ihren Versuch, sich dem Spiegel zu nähern. »Meinst du vielleicht, ich stelle eine andere Falle und flechte mein Haar in deins, um deinen schönen Hals, unter dessen Haut sich die Adern wie die Flüsse des Hades verzweigen, hinab zu deinem Herzen? Warum schlägt es so schnell, wenn meine Hand deine Schenkel berührt?«

Sie setzte sich wieder auf den unbequemen, störrischen Stuhl, dessen rechtes Bein ein wenig kürzer war. »Hast du Angst, mein Kuss wäre ein Pilz und Krusten würden deine Lippen überziehen, bis sie den Algen gleich an meiner Felsenküste aus der Brandung wachsen? In ihren Armen das Treibgut der Gestrandeten. Du stinkst noch immer wie sie.« Sie beugte sich über die silberne Tonbandspule, deren Knöpfe sich weiter drehten. »Hör auf, mich so anzuschauen und mir den Kopf zu verdrehen statt mich zu verstehen!« Der Zeigefinger betastete das Gehäuse. »Warum sollte ich dich in ein Schwein verwandeln und dich mit Gerten schlagen, dass du kommst? Kaum legst du an, so sinnst du schon wieder zu fliehen und dein Schiff zu suchen, das dich hinausträgt, neuen Abenteuern zu, bis du der Nächsten mit deinen geflügelten Worten die Sonne versprichst und ihr die Lippen verbrennst. Aber wieder bist du nur einem Zauber verfallen, und die Götter in ihrer holden Gnade gaben dir das Gegenkraut, das du schluckst, bevor du sie fickst, Odysseus, und sie deinem trojanischen Hengst arglos jubelnd die Tore öffnen. Bis die Nacht kommt. Ich dachte, gegen mich wäre kein Kraut gewachsen. Schwarz war die Wurzel und weiß wie Milch die Blüte, und tief in der Erde muss man danach graben.« Sie redete zu sich: »Tief in der Erde hätte ich sie vergraben sollen.« Sie bohrte die Faust in den Unterleib, schluchzte und blickte im nächsten Augenblick trotzig auf: »Muss das Licht sein?« Sie hielt das Buch vor die Lampe. »Nah sind und schwer zu fassen deine Götter.« Sie tauchte die Finger in die Kaffeelache und fuhr damit ihre Lippen nach: »Bin ich dir nicht göttlich genug? Ich bot mich dir an, und du bootetst mich aus. Zwischen uns ist eine Wand aus Wellen. Was hast du nicht für Schätze gesammelt, auf den Irrfahrten durch meine Kanäle? Ich weiß, Krieg, Handel und Piraterie, dreieinig sind sie, nicht zu trennen. Aber du trenntest dich von deinen Gefährten, als seien sie der einzige Preis, den du zu zahlen hast – für das Gold in deinen Händen, das Silber deiner Zunge, wenn du die Wahrheit wechseltest gegen den Schein. Ohne alles wirst du nach Hause kehren, und doch reich an Lügen.«

Sie erhob sich, als wolle sie sich wie Wasser bewegen, löste den Knoten im Haar, das in Wellen über die Schulter zur Hüfte floss. Es glitzerte von den goldenen Sternen. Sie spannte die Muskeln an, drückte den Rücken durch, atmete in den Beckenboden. »Ich bin eine schöne Frau. Ich werde immer jung sein. Das Alter ist eine bloße Laune, zufällig und vergänglich.« Sie drehte den Kopf gegen den Spiegel, und für einen Augenblick, einen Lichteinfall, glätteten sich die Falten, die Haut, straffte sie sich wie ein erschöpftes Segel, in das der Wind fährt. Sie streifte mit der Hand übers Haar. »Eine Laune«, hauchte sie und blies einen Handkuss zum Spiegel. »Zeus schuf den Menschen, weil er ihn träumte. Und jetzt träumt ihr mich hinter euren Scheiben, werft Münzen. Der Mensch vergaß Zeus und baute sich Schiffe, deren Ruder mechanisch schlagen, die Meere zu queren. Aber die Schiffe werden dich vergessen. Sie werden euch vergessen. Wovon werden sie träumen, allein auf See?« Sie tauchte den Finger in den Kaffee und zeichnete einen Körperumriss auf die Tischplatte.

»Welches Ungeheuer wird aus den Fluten wachsen, während du schläfst, in meinen Armen? Die Boten, die du sandtest, kamen zu spät. Oder sie kriechen wie Tiere am Boden. Alles ist zu nah, als dass es die Ferne beschreiben könnte. Sie wollen ein Haar, Monsieur? Sie wollen Haare gefunden haben, von mir? Meine Haare? Glauben Sie, ich verliere Haare, als wäre ein Krebs mit seinen Scheren in meinem Kopf? Ich bin es gewohnt, alleine zu sprechen. Ihr hört mir doch zu. Wie einsam ihr seid, wie einsam du bist. Gib mir dein Haar und ich vervielfältige dich. Und du wirst dir zwischen den Klippen begegnen. Und es wird zu eng für zwei von deinem Maß, und die Einäugigen werden zwei Augen haben und sehen, wie du sie blenden willst. Wie du mich geblendet hast und blendest, meine Augen, die ich nur für dich hatte und mit denen überall und in allem ich nur dich sah.« Sie streckte die Arme, um die Lampe zu drehen, verbrannte sich fast die Finger, aber sie schaffte es. Der Raum verlor seine Schärfe, der Lichtkegel erfasste nun auch die Stuhllehne gegenüber. »Siehst du dieses Glas? Dieses Glas, mit dem du zurückkommen wirst? Jedes seiner Fasern erzählt dir eine Geschichte und spiegelt dein Verlangen. Aber es erzählt dir nichts von dem, was zählt: dem Gift.«

Ein junger Mann betrat den Raum mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein. Er war groß, blond, ausgewaschene Jeans mit Löchern, die nicht bereits beim Kaufen vorhanden waren, schwarzes T-Shirt, schwarze Bikerjacke, die an seinem Oberkörper saß, als wäre sie aus der Haut herausgewachsen, als hätten die Muskeln keinen Platz mehr gehabt, als hätte das Leder die schwarzen, Nacht für Nacht quälenden Träume aufgesaugt und er könnte sie jetzt als Schutzhaut tragen gegen all die Verwünschungen und Flüche, die sie ihm entgegenspuckte. Früher hatte er sich vorgenommen, die blonden Haare abzurasieren oder zu färben; er war es leid gewesen, als der Engel mit den blauen Augen daherzukommen. Er mochte seine Hände nicht, kam ihm wieder in den Sinn, als er sie betrachtete, wie sie die Gläser und die Flasche trugen. Sie waren zu weiblich, zu filigran. Sie gefielen ihm nur zu Fäusten geballt oder eingewickelt vor dem Boxen. Die Alte beobachtete ihn. Immer bekam er die Verrückten, die Totschlägersänger, die Schauspieler, räkelte er sich in Selbstmitleid, als läge er noch im Bett und müsste sich nur auf die andere Seite drehen und das Kissen gegen den Hinterkopf drücken, die Lippen auf das Laken pressen. Jeden Morgen war es übersät von seinen Albtraumküssen, für die er sich schämte wie damals als Junge für die ersten Samenspuren, wenn er im Traum nicht an sich halten konnte, wie er später die Frauen nicht halten konnte, von denen er träumte. Es waren nur Träume, denn er sah sie kaum, und natürlich schlief er schlecht, schlief mit ihnen, aber nicht neben ihnen, er lag neben ihnen wach. Vor einer Woche hatte er begonnen, Tabletten zu nehmen. Er war gar nicht mehr wach