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Examensarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Psychologie - Sonstiges, Note: 0, Philipps-Universität Marburg, Sprache: Deutsch, Abstract: Die Darstellung psychischer Erkrankung ist ein werkübergreifendes Phänomen bei Hermann Hesse, dessen Mechanismen (Anlehnung an literarische Vorbilder, eigene Krankengeschichte, Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, ästhetische Umwertung vor dem Hintergrund der Moderne,u.a.) dargestellt und auf ihre erzählerische Funktion hin überprüft werden.
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Wenn Arnold Zweig mit dem oft zitierten ersten Satz von Georg Büchners „Lenz“, in dem es heißt „Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte“ die moderne europäische Prosa beginnen lässt, erklärt er den Irrsinn zum Schlüsselthema der Moderne.1Das allein könnte Anlass genug sein, sich der literarischen Darstellung von psychischer Erkrankung bei Hermann Hesse zu widmen. Tatsächlich ist es aber auch seine biographische Nähe zu pathologischen Seelenzuständen, die Hesse für eine solche Untersuchung prädestiniert. Schließlich ist Hesse schon zu Internatszeiten melancholisch, wird von der Schule genommen und unternimmt einen Suizidversuch.2Er besucht bereits als Jugendlicher verschiedene Nervenheilanstalten und muss sich unter anderem einer „Gebetsheilung“, einem Exorzismus unterziehen.3Später sollte seine erste Frau an einer Depression leiden und der Bruder Hans Selbstmord begehen.4
Stolte konstatiert für Hesse einen „krankhafte[n] und unheilbare[n] Hang zur Melancholie“, sowie eine „psychopathische Veranlagung“.5Dass solche Ferndiagnosen zulässig sind, wird hier bezweifelt, weil literarische Werke möglicherweise „autotherapeutisch“ seien mögen, wie Volker Michels das für Hesses annimmt,6nicht aber als Dokumentation einer Krankheit gelesen werden dürfen. Geht man so vor, so gelangt man zu Aussagen über einen vermeintlichen „Altersschwachsinn“ König Lears, nennt Othellos Eifersucht eine „Psychose“ und Gretchens Zustand „delirant“.7Das alles sind anschauliche und mehr oder minder belegbare Urteile, die am Kern der Sache allerdings völlig vorbeigehen. Literatur ist ein anderer Untersuchungsgegenstand als die menschliche Psyche. Sie folgt nicht notwendig den Mechanismen, die der Psychologe beschreibt, sondern unterliegt einem Gestaltungswillen, der sich psychopathologischer Zustände bedient, und sie zu einem bestimmten Zweck
1Büchner: Werke und Briefe, S.339.
2Schneider: Hermann Hesse, S.20.
3Ebd., S.20.
4Stolte: HermannHesse, S.42f.
5Ebd., S.34f.
6Hesse: SW, Bd.5, S.706.
7Vgl. Geyer: Dichter des Wahnsinns.
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instrumentalisiert. Gleichviel muss es nicht verwundern, dass Hermann Hesse, auch aus den dargestellten Gründen, so häufig ausgerechnet zu diesem Mittel gegriffen hat. Den folgenden Untersuchungen der Literarisierung von psychischer Erkrankung liegen dabei in erster Linie die Erzähltexte Hermann Hesses zugrunde, unter ihnen wiederum bevorzugt die Romane. Zuweilen müssen aber auch andere Äußerungen Hesses, etwa aus dem Briefwechsel, herangezogen werden, insofern sie dem Ziel der Arbeit nützlich sein können.
Dieses Ziel nun sei zum einen, die zentrale Bedeutung seelischer Ausnahmezustände für die Erzähltexte aufzuzeigen und sie auf einige wesentliche Eigenschaften zu untersuchen, zum anderen, ihre Funktion zu beschreiben.
Dabei wird dergestalt vorzugehen sein, dass die eher deskriptiven Teile der Untersuchung an ihrem Anfang stehen und damit die Grundlage einer späteren Interpretation bilden. Es wird also zunächst der Versuch unternommen, die Darstellung psychischer Erkrankung nach verschiedenen Prinzipien zu systematisieren. Dabei soll vor allem die Wirksamkeit von Konzepten der Psychoanalyse nachgewiesen, daneben aber auch aus der Suizidforschung eine Begrifflichkeit gewonnen werden, die verschiedene Erscheinungsformen psychischer Erkrankung zu beschreiben hilft. Des Weiteren sind Bezüge zu bestehenden Darstellungskonventionen, vornehmlich der Melancholie, ebenso zu betrachten wie solche zu verwandten Themenkomplexen. Mit letzteren sind etwa der Traum und der Drogenrausch gemeint, die beide eine veränderte Wahrnehmung und damit eine Ähnlichkeit mit Fällen seelischer Erkrankung aufweisen. Besonders da zum Untersuchungsgegenstand keine Forschungsergebnisse vorliegen, wird die Beweisführung auf eine genaue und durchsichtige Textarbeit angewiesen sein. Dass das häufige Zitieren ein Lesehindernis darstellt ist ein Makel, der dafür hingenommen werden muss.
Damit psychopathologische Fälle aufzuspüren, sie zu benennen und auf sie psychologische Erklärungsmuster anzuwenden, ist nicht viel getan, solange man nicht danach fragt zu welchem Zweck dies geschieht. Das soll in einem zweiten Teil der Arbeit geschehen, wenn unter anderem eine gesellschaftskritische Funktion der Krankheitsdarstellung untersucht werden soll. Darüber hinaus soll der eingangs aufgeworfenen Frage nach dem Verhältnis von Moderne und Nervenkrankheit nachgegangen werden, in deren Umfeld das Konzept der psychischen Erkrankung mehreren Umwertungsprozessen zu unterliegen scheint.
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„Mir selbst, der für die neuere wissenschaftliche Psychologie nie das geringste Interesse gehabt hatte, schien in einigen Schriften von Freud, Jung, Stekel und anderen so Neues und Wichtiges gesagt, daß ich sie mit lebendigster Teilnahme las“8schreibt Hermann Hesse in einem kurzen Aufsatz, „Kunst und Psychoanalyse“, der im Juli 1918 in der „Frankfurter Zeitung“ erscheint. Freud selbst dankt brieflich für die wohlwollende Besprechung und erhält im September Antwort: „Daß Sie mir ein Wort des Dankes sagen, berührt mich ganz wie eine Beschämung, denn im Gegenteil bin ich es, der Ihnen tiefen Dank schuldet. Ihn heute ein erstes Mal auszusprechen, ist mir eine große Freude. Die Dichter waren ja unbewusst immer Ihre Bundesgenossen, sie werden es immer mehr auch bewusst werden.“9
Damit ist zweierlei angedeutet: Zum einen Hesses intensive Beschäftigung mit der Psychoanalyse und zweitens seine Einschätzung ihrer Bedeutung für das künstlerische Schaffen. Eine Bundesgenossenschaft empfindet der deutsche Autor, nicht Gefolgschaft, ganz ähnlich wie Robert Musil, von dem die Beschreibung der Psychoanalyse als eine „finster drohende und lockende Nachbarmacht“ stammt.10Und so zählt Hesse Nietzsche, Dostojewski und Jean Paul, Vertreter seiner Zunft, zu den Vorläufern Freuds.11Hesse selbst war nach eigenen Angaben schon um das Jahr 1913/14 auf die Psychoanalyse gestoßen,12was eine Rezension von Eugen Löwensteins „Nervöse Leute“ aus dem Jahr 1914 belegt. Aus dem gleichen Jahr stammt die Ausgabe von Freuds „Traumdeutung“, die sich in seiner Bibliothek findet.13
In eben dieser Löwenstein-Rezension lobt Hesse, dass der Autor „die Neurasthenie nicht mehr als körperliche Schwäche und ererbte Degenerationserscheinung [...] sondern vor allem als seelische Erkrankung“ behandle.14Ein Lob, das bereits als aufschlussreich für
8Hesse: SW, Bd.14, S.352.
9Hesse: GB, Bd.1, S.378.
10Musil: GW, Bd.1, S.1404.
11Hesse: SW, Bd.14, S.355.
12Kory: Hesses Beziehung zur Tiefenpsychologie, S.64.
13Ebd., S.57.
14Ebd., S.89f.
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unsere späteren Betrachtungen gelten darf, insofern als es programmatisch verstanden und auf das Werk Hesses selbst angewandt werden kann.
Der unterzog sich vor dem Hintergrund einer persönlichen Krise, die mit dem Weltkrieg zusammenfiel, 1916 einer psychoanalytischen Kur in Sonmatt bei Luzern. Den 72 stationären Sitzungen bei dem Jung-Schüler Dr. Josef Bernhard Lang folgten nach Beendung der Kur weitere 60 ambulant.15Ob Hesse mit Langs Behandlung unzufrieden war, wie Cremerius nahe legt, und deshalb zwischenzeitlich mit Johannes Nohl einen anderen, noch recht unerfahrenen Therapeuten aufsuchte, ist nicht zu belegen und erscheint angesichts der Tatsache, dass Hesse noch im gleichen Jahr 1918 zu Lang zurückkehrte, eher unwahrscheinlich.16Der Schriftsteller war auch schon 1909 ein erstes Mal psychoanalytisch behandelt worden, damals von Dr. Albert Fraenkel, ohne dabei unmittelbar zur Näheren Beschäftigung mit der Psychoanalyse angeregt zu werden.17Umso nachhaltiger wirkte dann die dem Umfang nach eher oberflächliche Analyse bei C.G. Jung.18Bei letzterem war Hesse 1920/21 kaum länger als zwei Wochen in Behandlung, wenn sich auch ein längerer Briefwechsel anschloss.19Wie großen Eindruck die Behandlung auf Hesse machte, geht aus einem Brief an Hans Reinhart hervor: „Bei Jung erlebe ich zur Zeit, in einer schweren und oft kaum ertragbaren Lebenslage stehend, die Erschütterung der Analyse. Es geht bis aufs Blut und tut weh. Aber es fördert. Ob die Analyse auch für Sie nötig ist, kann ich nicht beurteilen. Ich kann nur sagen, dass Dr. Jung meine Analyse mit außerordentlicher Sicherheit, ja Genialität führt.“20
Es ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit die mannigfachen Bezüge zur Psychoanalyse im Werk Hesses darzustellen. Das tut eine mittlerweile recht umfangreiche Literatur, die sich unter anderem der Schwierigkeit ausgesetzt sieht, zwischen den Einflüssen der Lehre Freuds und Jungs zu unterscheiden, zwischen solchen, die auf die Therapie und anderen, die auf die theoretische Auseinandersetzung in der Lektüre zurückgehen. Erschwert wird diese Arbeit zusätzlich durch den Umstand, dass Hesse den Begriff Psychoanalyse offenbar häufig synonym für die psychotherapeutische Behandlung verwendet und
15Cremerius: Freund und die Dichter, S. 94f.
16Ebd., S.95f.
17Ebd., S.95.
18Ebd., S.97.
19Ebd., S.97.
20Hesse: GB, Bd.1, S.473.
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Freudsche wie Jungsche Theorien vermengt.21Inwieweit Hesse in der Lage oder Willens war zwischen der Psychoanalyse Freud und der abgewandelten Konzeption Jungs zu differenzieren, muss in unseren Überlegungen aber weitgehend ausgespart bleiben. Für die Darstellung psychischer Erkrankung interessiert in erster Linie die Mächtigkeit von Modellen, die im psychoanalytischen Umfeld ihren Ursprung haben und die Art ihrer Adaption an relevanten Textstellen. Gemeint sind in erster Linie solche aus den Romanen „Demian“ und „Narziß und Goldmund“, wobei ersterer, aus dem Jahre 1919, als direkte Reaktion auf die Therapiesitzungen bei Dr.Lang verstanden werden darf.22Ganz im Sinne von Hesses Äußerung im bereits zitierten Artikel über „Künstler und Psychoanalyse“: „Für den einzelnen Künstler nun [...] entstand rasch die Bemühung, aus der neuen Psychologie auch als Künstler zu lernen.“23Dass Hesse dies in der Folge getan hat, soll nun, nach der groben Rekonstruktion der unterschiedlichen Kontakte mit der Psychoanalyse, mit doppeltem Zweck am Text nachgewiesen werden. Zum einen, um anzuzeigen, wie sehr die Texte psychoanalytisch aufgeladen sind, zum anderen aber auch um einige elementare psychoanalytische Konzepte als solche in Erinnerung zu rufen.24Wenn möglich wird das da getan wo es um psychische Krisenfälle geht, ausschließlich aber zu Fragen, die später für die Krankheitsdarstellung bedeutsam werden und somit gleichsam das gedankliche Fundament von Überlegungen bilden, auf die wir später zurückgreifen können.
Das Wissen, dass Freud nicht der Entdecker des Unbewussten, wohl aber sein Promotor ist, hat mittlerweile auch im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit Fuß gefasst.25Spezifisch für die Psychoanalyse ist vielmehr die Hoffung durch einen Bewusstwerdungsprozess, etwa in der Analyse, dem therapeutischen Gespräch, verdrängte Konflikte zugänglich zu machen und mitunter zu ihrer Bewältigung
21Kory: Hesses Beziehung zur Tiefenpsychologie, S.54.
22Zu den zeitlichen Bezügen von Entstehung und Therapie vgl. Michels im Nachwort zu „Demian“. In: Hesse: SW, Bd. 3, S.490.
23Hesse: SW, Bd.14, S.352.
24Entsprechend einer Äußerung Freuds über die Psychoanalyse: „Die Annahme unbewußter seelischer Vorgänge, die Anerkennung der Lehre vom Widerstand und der Verdrängung, die Einschätzung der Sexualität und des Ödipus-Komplexes sind die Hauptinhalte und die Grundlagen ihrer Theorie“; in: Freud: GW, Bd.13, S.223. Zitiert nach: Müller-Pozzi: Psychoanalytisches Denken, S.9.
25Müller-Pozzi: Psychoanalytisches Denken, S.53.
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beizutragen. Unter eben diesen Vorzeichen steht die Beschreibung des Unbewussten bei Hermann Hesse.
So stört sich der Protagonist Klein in der Erzählung „Klein und Wagner“ an einer vorübergehenden, attraktiven Frau und generalisiert: „wie hatte ihre [der Frauen] schamlose Herausforderung ihn geärgert“.26Gerade an seiner Abwehr aber erkennt Klein, dass er die aggressiv ablehnende Einstellung nur übernommen habe, aus Angst vor den Ansprüchen seiner eigenen Natur.27Er erlebt an diesem Beispiel die Absonderung von Teilen seines Wesens aus dem Bereich des Bewussten, der zugleich der des Erlaubten ist. Das sexuelle Verlangen nach der fremden Frau, das Klein sich hier so rigide untersagt, hat seine Entsprechung in einer Szene in der über die Zuschauer einer Tanzdarbietung gesagt wird: „Viele empfanden für einen Augenblick nachdenkliche Trauer darüber daß zwischen ihrem Leben und ihren Trieben soviel Zwiespalt und Streit bestand, daß ihr Leben kein Tanz, sondern ein mühsames Keuchen unter Lasten war - Lasten, die schließlich nur sie selber sich aufgebürdet hatten.“28
Den eigentlichen Kern der Erzählung bildet die Analogisierung Kleins mit dem Mörder Wagner, der vor dem eigenen Suizid seine Familie tötet. Klein erinnert sich an ein Gespräch über den Fall: „Es war die Frage gewesen, wie weit bei einer solchen Tat von Zurechnungsfähigkeit die Rede sein könne, und im weiteren darüber, ob und wie man überhaupt eine solche Tat, eine solche grausige Explosion menschlicher Scheußlichkeit verstehen und erklären könne.“29Klein entrüstet sich im Verlauf der Unterhaltung, fordert Folter und Strafe.30Im Nachhinein sieht er aber auch in dieser Reaktion nur das Symptom einer in sich aufkeimenden Aggression gegen die eigene Familie und in seinen Ausfällen gegen Wagner die symbolische Sanktion der eigenen Wunschvorstellungen.31Die Erkenntnis wird Klein zum Aha-Erlebnis: „Unbegreiflich, daß er das erst jetzt sah!“32Außerdem vermittelt sich ihm ein verändertes, wenn auch recht desillusioniertes Menschenbild: „Wie war ich damals noch dumm und kindlich gewesen, als ich mich, ein
26Hesse: SW, Bd.8, S.228.
27Hesse: SW, Bd.8, S.229.
28Ebd., S.243.
29Ebd., S.220.
30Eine Szene, die im übrigen an die berühmte „Werther“-Episode, beschrieben im Brief vom 12. August erinnert, in der Werther den Selbstmörder aus Liebeskummer gegen Albert in Schutz nimmt und damit gleichsam den überwältigenden leidenschaftlichen Impuls gegen die disziplinatorische Gewalt der Vernunft. In: Goethe: Werther.
31Hesse: SW, Bd.8, S.221.
32Ebd., S.220.