Die Ludwig-Verschwörung - Oliver Pötzsch - E-Book
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Die Ludwig-Verschwörung E-Book

Oliver Pötzsch

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Beschreibung

Der ungeklärte Tod des Märchenkönigs Ludwig II. Steven Lukas, ein Antiquar aus München, findet in seinen Regalen ein ihm unbekanntes altes Buch. Schon bald merkt er, dass es sich dabei um das Tagebuch eines engen Vertrauten von Ludwig II. handelt, den Assistenten des königlichen Leibarztes Max Schleiß von Loewenfeld. Das über hundert Jahre alte Buch ist in einer geheimen Kurzschrift verfasst, die Lukas nur Stück für Stück entziffern kann. Der ungeheuerliche Fund könnte die wahren Umstände des Todes von Ludwig II. verraten! Doch offenbar haben verschiedene Parteien ein Interesse daran, die Veröffentlichung des Tagebuchs zu verhindern. Und ein Fanatiker geht dabei über Leichen. Gemeinsam mit der Kunstdetektivin Sara Lengfeld gelingt es Lukas, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen – eine Rätselreise, die die beiden zu sämtlichen Schlössern des Märchenkönigs führt.

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Ein Gespräch mit Oliver Pötzsch

Was fasziniert Sie an König Ludwig II.?

Zunächst vor allem sein mysteriöser Tod, der die perfekte Vorlage für einen Spannungsroman bietet. Dann aber entdeckte ich, wie facettenreich diese Figur ist: Ein König, gefangen in einer Traumwelt, eine Art letzter Ritter, der sich gegen die Moderne sträubt und schließlich an ihr scheitert.

Die »Henkerstochter«-Romane sind Ermittlerkrimis, die kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg spielen, »Die Ludwig-Verschwörung« ist eher ein Action-Thriller und teilweise in der Jetztzeit angesiedelt – bedeutet dieser Roman für Sie eine Art Neuanfang?

Ich glaube, dass der Stoff die Gattung vorgeben sollte. Zu Ludwig II. existiert ein Sammelsurium von Verschwörungstheorien. Denken Sie nur an den Geheimorden der Guglmänner, an verschollene Tagebücher und verschwundene Westen mit Einschusslöchern – oder an die Wittelsbacher, die sich über den Todesfall bis heute in Schweigen hüllen. Das ist wie geschaffen für einen Mystery-Thriller. Außerdem hat es mir Spaß gemacht, bei der Spannung einmal voll aufs Gas zu treten.

Die Schönheit Bayerns spielt eine große Rolle in dem Roman. Für wen ist er geschrieben – für Süddeutsche, für Touristen oder für alle, die gern Spannungsromane lesen?

Süddeutsche werden hoffentlich nach der Lektüre ihr Land noch mehr lieben als ohnehin schon. Touristen eröffnet sich eine faszinierende Welt voller Geheimnisse, bayerischer Traditionen und Naturschönheiten. Und routinierte Thriller- und Krimileser werden einmal mehr feststellen: Echte Geschichte schreibt immer noch die spannendsten Geschichten.

Der Autor

Oliver Pötzsch, Jahrgang 1970, arbeitet seit Jahren als Filmautor für den Bayerischen Rundfunk, vor allem für die Kultsendung »quer«. Er ist selbst ein Nachfahre der Kuisls, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert die berühmteste Henker-Dynastie Bayerns waren. Oliver Pötzsch lebt mit seiner Familie in München.

Mehr über den Autor auf www.oliver-poetzsch.de

Von Oliver Pötzsch sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Henkerstochter • Die Henkerstochter und der schwarze Mönch • Die Henkerstochter und der König der Bettler • Der Hexer und die Henkerstochter

Oliver Pötzsch

Die Ludwig-Verschwörung

Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-0491-5

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage März 2011 3. Auflage 2012 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011 Dieses Werk wurde vermittelt von der Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München) Umschlaggestaltung: HildenDesign, München Titelabbildung: Artwork HildenDesign unter Verwendung eines Motivs von © Giancarlo Liguori/shutterstock Karten © Peter Palm, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Für meinen Vater

Geschichte ist die Lüge,auf die man sich geeinigt hat.

VOLTAIRE

Dramatis Personaeder historischen Romanfiguren

Ludwig II., König von Bayern

Prof. Dr. Bernhard von Gudden, Irrenarzt

Dr. Max Schleiß von Loewenfeld, Königlicher Leibarzt

Theodor Marot, sein medizinischer Assistent (nicht überliefert)

Alfred Graf Eckbrecht von Dürckheim-Montmartin, Adjutant des Königs

Richard Hornig, Stallmeister und ständiger Begleiter des Königs

Hermann von Kaulbach, Maler

Maria, Dienstmagd Ludwigs II. (nicht überliefert)

Johann Freiherr von Lutz, Vorsitzender des bayerischen Ministerrats

Maximilian Karl Theodor Graf von Holnstein, Königlich Bayerischer Oberstallmeister

Carl von Strelitz, preußischer Agent (nicht überliefert)

Weitere historische Personen

König Maximilian II., Vater Ludwigs II.

Marie Friederike von Preußen, Mutter Ludwigs II.

Otto I., Ludwigs wahnsinniger jüngerer Bruder und späterer König

Prinz Luitpold, Onkel Ludwigs II., späterer Prinzregent

Kaiserin Sisi von Österreich, Cousine und Vertraute Ludwigs II.

Fürst Otto von Bismarck, deutscher Reichskanzler

Richard Wagner, Komponist

Ein paar Worte vorweg …

In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 1886 trieben im seichten Wasser des Starnberger Sees die Leichen zweier Männer. Beide zählten zu den berühmtesten Personen ihrer Zeit: der in ganz Europa gefeierte Psychiater Dr. Bernhard von Gudden und der bayerische König Ludwig II., der später als Märchenkönig unsterblich werden sollte.

Eine kurzfristig einberufene Untersuchungskommission kam zu dem Ergebnis, dass der erst drei Tage zuvor wegen Wahnsinns abgesetzte König seinen Irrenarzt erwürgt und dann Selbstmord im Wasser begangen habe.

Das ist die offizielle Version.

Neben dieser existieren noch ein Dutzend weiterer, die alle ihren Ursprung in den zahllosen Ungereimtheiten der Todesnacht und den Tagen danach haben. Zusammen machen sie den »Fall Ludwig« zu einem der mysteriösesten und bekanntesten Todesfälle der Weltgeschichte. Ein Kriminalfall, der bis heute seine Kreise zieht. Noch 125 Jahre nach Ludwigs Tod zweifeln etliche Experten an dem von oben abgesegneten Tathergang.

Viele Details des folgenden Romans sind frei erfunden, weitaus mehr jedoch entstammen seriösen Fachbüchern, Quellen und überlieferten Zeugenaussagen. Sie basieren auf Informationen, die jedermann im Internet oder in öffentlichen Bibliotheken nachlesen kann.

Zusammen ergeben sie das Drehbuch zu einem Krimi, so unglaublich, dass jeder halbwegs vernünftige Schriftsteller nur den Kopf schütteln würde.

Oder er setzt sich hin und schreibt folgende Geschichte …

PROLOG

Irgendwo bei München, Oktober 2010

Der König zog sein Handy hervor und starrte auf die SMS, während Professor Paul Liebermann zu seinen Füßen Blut und Fichtennadeln spuckte.

Die Nachricht schien Seine Exzellenz zu verstimmen. Er zog die Augenbrauen nach oben und schüttelte bedauernd den Kopf, so als wäre er von einem kleinen Kind enttäuscht. Dann stupste er den Mann am Boden mit dem Schuh an, um sicherzugehen, dass er nicht gerade erstickte. Paul Liebermann ächzte und hustete ein paar weitere Nadeln aus. Um ihn herum war alles in Nebel getaucht, eine mystische Landschaft, in der einige tote Fichten in den trüben Nachthimmel ragten.

»Ich … ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen«, keuchte der Professor und drehte sich stöhnend auf den Rücken. »Das muss ein Irrtum sein … ein schrecklicher Irrtum.«

»Schrecklich. In der Tat«, murmelte der König. »Ich bin äußerst ungehalten.«

Seine Exzellenz trug einen Anzug aus feinstem englischen Tweed, dazu ein rotes Seidenhalstuch und einen Mantel aus weißem Pelz, an dessen Saum Flecken von Blut schimmerten.

Mein Blut, dachte Liebermann. Und zwar eine ganze Menge davon. Sieht aus wie schwarze Punkte auf einem Hermelin. Ist es wirklich Hermelin?

So genau konnte er das nicht sagen, denn sein linkes Auge war komplett zugeschwollen, das rechte blutverkrustet. Die Brille lag zerbrochen und verbogen irgendwo im Gestrüpp, Hut und Gehstock hatte er bereits im Auto verloren. Ihm klebten noch Reste von dem modrigen Laub am Gaumen, das ihm die zwei Schläger während der letzten Stunden in den Mund gestopft hatten, bis er fast daran erstickt war. Außerdem wirkte noch immer die Spritze.

Sie hatten ihn nur wenige Schritte vor dem Antiquariat abgefangen. Als er den Wagen hörte, wusste er, dass er handeln musste. Er hatte das Buch versteckt und war nach draußen geeilt, um den Mann im Laden nicht zu verraten. Ein kleiner Stich nur, dann war er den beiden kräftigen Herren an seiner Seite in die Arme gesackt. Man stieß ihn ins Auto. Schon nach wenigen Sekunden war er bewusstlos gewesen, um schließlich hier in diesem Waldstück zwischen Pilzen und verwelkten Brombeersträuchern wieder aufzuwachen. Ganz von fern war das leise Dröhnen von Autos zu hören, ansonsten unterbrach nur das Krächzen einiger Krähen die herbstliche Stille.

Seit zwei Stunden hatten sie Liebermann immer wieder geschlagen, in den Magen, ins Gesicht, zwischen die Beine. Mittlerweile hatte sich die Dämmerung über den Wald gelegt, der König und seine Begleiter waren nur noch dunkle Schatten vor einem noch dunkleren Hintergrund.

Von weitem könnte es sich tatsächlich um Ludwig handeln. Welche Ironie! Wer hätte das ahnen können?

Dass Liebermann immer noch nichts verraten hatte, lag zum Teil an einer angeborenen Sturköpfigkeit, aber vielleicht auch an seiner Vergangenheit. Paul Liebermann war in seiner Zeit als Professor für Geschichte an der Universität Jena ein bekennender Gegner des Systems gewesen. Als man ihn für über zwei Jahre in Bautzen eingekerkert hatte, waren Dinge passiert, die ihn bis heute im Schlaf laut aufschreien ließen. Er hatte gelernt, Schläge einzustecken. Und er würde sich eher die Zunge abbeißen, als das Versteck preiszugeben.

Das Geheimnis des Buches war über hundert Jahre gewahrt geblieben, er durfte es nicht preisgeben. Nicht jetzt, so kurz vor dem Ziel!

Wie ein Hammer war die Wirkung der Spritze über ihn gekommen. Er konnte sich noch an die verlassene Straße im Westendviertel erinnern und an das Auto, das so ähnlich ausgesehen hatte wie ein alter Wartburg. Aber die Stunden danach waren ein einziger schemenhafter Alptraum. Auch die Ereignisse vor der Spritze schienen merkwürdig vage. Liebermanns letzte konkrete Erinnerung war die an sein Frühstücksmüsli, dessen Reste er schon vor einiger Zeit auf den Waldboden erbrochen hatte.

»Sollen wir ihn noch mal in die Mangel nehmen?«, fragte nun einer der beiden Schläger, die Liebermann ebenso wie den König nur durch einen Schleier hindurch sah. »Ich habe noch einige Tricks auf Lager, die ihn sicher zum Sprechen bringen.«

»Ich glaube, es ist zwecklos.« Achselzuckend ließ der König das Handy zwischen den Falten seines Pelzmantels verschwinden und starrte Liebermann an. »Dieser Mann ist störrisch wie ein alter Esel. Außerdem verabscheue ich Gewalt.« Er seufzte. »Wie ich gerade erfahren musste, hat auch die Durchsuchung seines Hotelzimmers nichts ergeben. Gawain und Tristan haben alles auf den Kopf gestellt. Wenn ich nur wüsste …«

Er verstummte und ließ seinen Blick über den Waldboden schweifen, der mit Laub und unzähligen Papierfetzen bedeckt war. Dazwischen lag wie eine zerbrochene Puppe Paul Liebermann, verkrümmt und gefesselt; ein mit Erde verschmiertes Stück Papier kitzelte seine Nase. Die Buchstaben darauf verschwammen ihm immer wieder vor den Augen. Erst nach einiger Zeit bekamen manche von ihnen einen Sinn. Es schien sich um eine Gedichtzeile zu handeln.

Siehst Vater, du, den Erlkönig nicht?

Trotz seines Zustands musste der ehemalige Professor für Neuere Geschichte lächeln. Die Romantik war immer sein Steckenpferd gewesen und der ›Erlkönig‹ sein liebstes Gedicht. Keine Ballade verkörperte für ihn so gut die Sehnsucht nach dem Tod, das Aufgehen in der Natur wie diese Zeilen. Jetzt stand Paul Liebermann selbst vor dem Erlkönig.

Du schönes Kind, komm spiel mit mir …

»Mon Dieu!«

Der König trat mit der Stiefelspitze gegen den feuchten Waldboden, so dass Laub und Papierfetzen aufflogen. Sein weißer Pelzmantel flatterte im kalten Oktoberwind und gab ihm das Aussehen eines fetten, monströsen Schwans.

»Wo ist nur dieses verdammte Buch?«, zischte er. »Wir waren so nah dran, und jetzt das! Nur verfluchte Gedichte!« Er biss sich in die Faust und versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. »Aber ich hätte den Band nicht zerreißen dürfen. Wenn etwas in dieser Welt Bestand hat, dann die Kunst. Nur sie ist zeitlos! Warum habt ihr mich nicht daran gehindert, hä?«

Die letzten Worte waren an die beiden Schläger gerichtet, die verlegen ihre blutverkrusteten Finger kneteten.

»Es … es ging alles so schnell, Euer Exzellenz«, murmelte einer. »Ihr hattet den Gedichtband in der Hand und …«

»Ah, arretez!«

Der König machte eine wegwerfende Bewegung, dann begann er seine Stirn zu massieren. Er schien Kopfschmerzen zu haben, nervös leckte er sich die Lippen. Nach einer Weile trat er dem Professor ohne Vorankündigung in den Bauch.

»Was hat Er mit dem Buch gemacht?«, schrie er. »Was hat Er gemacht? Es ist meins! Meins allein!«

Paul Liebermann spuckte Blut und Laub, auch ein paar der Papierfetzen waren darunter. Stöhnend krümmte er sich wie ein Embryo, um sich vor weiteren Tritten zu schützen. Doch glücklicherweise kamen keine mehr.

Liebermann war sich nicht sicher, ob er noch weitere Schmerzen überstanden hätte. Vielleicht hätte er am Ende das Geheimnis doch verraten?

Bleib standhaft! Die Linie des Königs steht auf dem Spiel.

Leise summend kniete Seine Majestät sich vor Liebermann hin und ließ Erde und Papierfetzen durch seine Finger gleiten.

»Natur und Kunst«, murmelte er. »Gibt es etwas Schöneres? Wir müssen uns auf die alten Mythen besinnen, wo diese beiden Dinge noch eins waren. Eine Götterdämmerung bricht an, fort mit den falschen Götzen …«

Plötzlich hielt er inne und starrte auf einen Papierfetzen in seiner Hand. Dann fing er an zu kichern.

»Natürlich!«, prustete er und hielt sich wie ein kleines Mädchen die Hand vor den Mund. »Das gleiche Packpapier, nur das Buch ist ein anderes. Ihr … ihr blasierten Idioten!« Die letzten Worte hatte der König erneut geschrien. Er hielt den zwei Schlägern den Fetzen vor die Nase. »Da hättet ihr suchen müssen. Merde! Ich lasse euch allesamt die Augen ausstechen, die Augen!«

Er hielt inne, und sein Blick bekam etwas Gläsernes. Dann trat er auf Paul Liebermann zu und beugte sich über ihn. In aller Ruhe zog er unter dem Pelzmantel eine kleine altertümliche Pistole hervor, deren Griff einem Vogelkopf ähnelte.

»Schlauer alter Mann«, flüsterte er. »Ihr Beamten seid alle miteinander das gleiche intrigante Pack. Fast wäre dein Plan aufgegangen. Aber das hier hat dich verraten.«

Der König hielt ihm kichernd ein schmutziges Stück Papier vor sein nicht zugeschwollenes Auge. Wieder dauerte es eine Weile, bis sich die Buchstaben für Liebermann zu einem sinnvollen Ganzen zusammenschoben. Es schien der Abdruck eines Stempels zu sein, eine Art Exlibris, gehalten in antiker Schrift. Der Professor erkannte darauf einen Namen und eine Adresse.

ANTIQUARIAT LUKAS

Seltene und wertvolle Bücher des17. bis 19. JahrhundertsPreise auf Anfrage

Plötzlich läutete in Paul Liebermann eine schrille Glocke. Er durfte den Mann im Laden nicht in Gefahr bringen. Sonst war alles verloren!

»Hören Sie«, stammelte er. »Ich … ich kann Ihnen das Buch besorgen. Geben Sie mir eine Stunde Zeit und ich …«

Doch sein Gegenüber schien mit einem Mal kein Interesse mehr an ihm zu haben. Der König legte den Finger an die Lippen und schüttelte bedauernd den Kopf.

»Verehrter Professor«, sagte er leise, »ich danke Ihnen für Ihre Mithilfe. Doch Sie werden verstehen, dass Ihr Weiterleben meinen hehren Zielen im Wege steht. Wenigstens sterben Sie für eine gute Sache.«

Seine Exzellenz hielt dem hoch geschätzten Professor Dr. Paul Liebermann die Pistole direkt an die Stirn und drückte ab. Weiße Hirnmasse spritzte über den Waldboden und bedeckte Laub und Teile des Erlkönig-Gedichts.

»Und jetzt holen wir endlich, was mir zusteht«, zischte der König und stolzierte so aufrecht durch den Wald davon, als würde er eine unsichtbare Parade abschreiten.

Die leeren Augen des Professors starrten in einen nächtlichen Oktoberhimmel, an dem krächzend ein paar Krähen kreisten

1

Steven Lukas saß an dem alten zerkratzten Mahagonischreibtisch seines Antiquariats im Münchner Westendviertel und sah zu, wie sich das Teewasser in der Kanne langsam braun färbte. Der aromatische Duft von Bergamotte und Orangenschalen stieg ihm in die Nase. Er gab dem Tee-Ei noch eine Minute, dann zog er es heraus und legte es sorgfältig neben ein paar zerfledderten Wälzern auf eine Untertasse.

Während von der Tasse eine kleine Dampfwolke aufstieg, ließ der Antiquar den Blick durch sein kleines Reich schweifen. Er hoffte sehr, in den nächsten Stunden nicht mehr gestört zu werden. Draußen herrschte das matte Grau eines Oktobernachmittags und tauchte den kleinen verwinkelten Laden in ein dämmriges Licht. Die bis an die Decke reichenden Bücherregale warfen Schatten wie mächtige Bäume; im hinteren Teil neben der Tür, die ins Lager und in ein großes Kellerarchiv führte, stand eine Messinglampe aus den Fünfzigern und erhellte warm und gelb den Schreibtisch. Es roch nach Tee, Leder und altem Papier. Das einzige Geräusch war das Ticken einer alten Pendeluhr aus dem 19. Jahrhundert, die Steven in besseren Zeiten auf einem Münchner Antikmarkt gekauft hatte.

Steven seufzte behaglich und wandte sich dem obersten Buch auf dem Stapel zu seiner Rechten zu. Der lederne Foliant war seine jüngste Errungenschaft. Vorsichtig schlug der Antiquar den braun verfärbten Einband auf und begann andächtig darin zu blättern. Vor ihm lag eine der ersten Auflagen der Grimm’schen Märchen aus dem Jahre 1837. Die Illustrationen, die Riesen, Zwerge, tapfere Prinzen und schmachtende Prinzessinnen zeigten, waren teils verwischt, einige Seiten sogar eingerissen. Trotzdem war der Foliant noch in einem hervorragenden Zustand. Steven vermutete, dass er fünftausend Euro, wenn nicht sogar mehr wert war. Er hatte ihn bei einer Wohnungsauflösung im Münchner Nobelviertel Bogenhausen gefunden, zusammen mit ein paar Kisten anderer Bücher auf dem Dachboden einer jüngst verstorbenen alten Dame, und dem verdutzten Neffen drei Hunderter in die Hand gedrückt. Der Banause hatte sofort zugegriffen und nicht einmal nachgefragt; offenbar konnte er mit Papier nur dann etwas anfangen, wenn es mit Zahlen bedruckt war.

Steven lächelte, während er braunen Kandis in seinen Tee löffelte. Der Kauf war ein echter Glücksfall gewesen, der es ihm theoretisch ermöglichte, die Miete des Ladens für das nächste halbe Jahr im Voraus zu bezahlen. Trotzdem wusste er, dass er sich von dem Werk nicht würde trennen können. Alte Bücher waren für Steven wie eine Droge, allein der Geruch nach vergilbtem Papier ließ ihn schwach werden. Er liebte das Rascheln der Seiten, die Festigkeit bemalten Pergaments oder bedruckten Büttens zwischen den Fingerkuppen. Es war ein Glücksgefühl, das ihn seit seiner Kindheit begleitete und das mit nichts anderem zu vergleichen war.

Verträumt blätterte der Antiquar durch die Grimm’schen Märchen und bewunderte die handkolorierten Stiche. Wie viele Generationen hatten dieses Buch in den Händen gehalten? Wie viele Großväter mochten ihren Enkeln daraus vorgelesen haben? Steven rührte in seinem Tee und tauchte ein in eine Welt aus Schlössern, Wölfen, Hexen und guten Feen. Er war in den Vereinigten Staaten geboren, im Hinterland von Massachusetts, wo man Deutschland noch immer mit dunklen Wäldern, Burgen und romantischen Felsen am Rheinufer gleichsetzte. Als Kind war der kleine Steven davon begeistert gewesen, doch der große Steven hatte mittlerweile lernen müssen, dass die Deutschen mehr Wert auf Autobahnen und Einkaufszentren als auf düstere Mystik legten. Das alte, märchenhafte Deutschland gab es nur noch in den Träumen amerikanischer und japanischer Touristen.

Und eben in den Büchern.

Das schrille Klingeln der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Verärgert blickte Steven auf und seufzte dann still vor sich hin. Offenbar sollte dieser Nachmittag doch nicht so friedlich verlaufen wie erhofft.

»Frau Schultheiß«, murmelte er und nippte an seinem Tee. »Was verschafft mir die Ehre?«

Eine ältere Frau mit verkniffenem Gesicht und auftoupierten Haaren hatte ohne weitere Aufforderung den Laden betreten. Jetzt nahm sie die Sonnenbrille herunter, die sie trotz des herbstlichen Nieselregens trug. Kleine eisgraue Augen blitzten den Antiquar an, trotzdem bemühte sie sich um ein Lächeln.

»Das wissen Sie genau, Herr Lukas. Ich dachte, dass wir noch einmal über den Preis reden könnten. Mein Mann würde weitere zweitausend Euro Ablöse drauflegen, wenn Sie …«

»Frau Schultheiß«, unterbrach sie Steven und deutete auf die schier berstenden Regalwände mit ihren Büchern, alten Jugendstil-Zeitschriften und kartonierten Stichen. »Das hier ist so etwas wie meine Wohnung. Würden Sie aus Ihrer schönen Wohnung ausziehen, nur weil Ihnen jemand ein paar tausend Euro bietet?«

Frau Schultheiß blickte abfällig auf die einst wertvollen, mittlerweile aber zerkratzten Kirschholzregale, an denen teilweise das Furnier abgesplittert war. Staub hatte sich auf ihnen angesammelt, die Last der Bücher ließ sie an einigen Stellen durchhängen; weiter hinten im Flur standen ein paar schief gestapelte Kisten mit neu erworbenen Kostbarkeiten, die darauf warteten, ausgeräumt zu werden. Die unwillkommene Besucherin zuckte mit den Schultern, wobei sie immer noch eisern lächelte.

»Dies hier ist keine Wohnung, sondern ein, mit Verlaub, ziemlich unaufgeräumter Buchladen.«

»Kein Buchladen, ein Antiquariat«, warf Steven ein. »Wenn Ihnen das ein Begriff ist.«

Frau Schultheiß runzelte die Stirn. »Dann eben ein Antiquariat. Jedenfalls keine Wohnung. Und wenn, dann in einem Zustand, dass ich nicht darin wohnen möchte.« Sie hielt inne, als sie merkte, dass dies nicht die geschickteste Verhandlungsführung war.

»Herr Lukas«, fuhr sie milder fort. »Wann haben Sie das letzte Mal etwas verkauft? Vor zwei Wochen? Vor einem Monat? Das Westend ist keine Gegend für Bücher. Vielleicht war es das mal. Aber jetzt wollen die Leute in diesem Viertel Schuhe und Kleider kaufen und danach einen leckeren Latte macchiato trinken. Die von mir geplante Modeboutique mit integrierter Café -Lounge würde hervorragend hier reinpassen. Ich verstehe ohnehin nicht, wie Sie als Amerikaner …«

»Mein Vater war Amerikaner, Frau Schultheiß«, unterbrach sie Steven. »Das hab ich Ihnen schon tausendmal gesagt. Ich bin genauso deutsch wie Sie oder die Bundeskanzlerin. Außerdem, was sollte ich Ihrer Meinung nach machen? Hamburger und Donuts verkaufen?«

»Sie verstehen mich falsch«, sagte Frau Schultheiß. »Ich meinte doch nur …«

»Wenn Sie an Stichen aus dem 18. Jahrhundert oder an Literatur der Aufklärung interessiert sind, dürfen Sie sich gern umschauen«, sagte Steven schroff. »Ansonsten möchte ich Sie bitten zu gehen.«

Frau Schultheiß biss ihre ohnehin schmalen Lippen zusammen, dann drehte sie sich grußlos um und ging hinaus. Ein letztes Bimmeln ertönte, dann war Steven wieder allein.

Der Antiquar nahm einen weiteren Schluck Tee, der mittlerweile unangenehm lauwarm geworden war. Diese Schultheiß von gegenüber ließ einfach nicht locker! Achttausend Euro Ablöse hatte sie ihm schon versprochen, wenn er seinen Mietvertrag beim alten Seitzinger aufkündigte und ihr den Laden für eine Boutique überließ. Kurt Seitzinger hatte in diesen Räumen in der Münchner Gollierstraße seine Schreinerei gehabt, sich aber schon vor fast zwanzig Jahren in den Ruhestand zurückgezogen. Steven war damals, nach seinem Studium der Literaturwissenschaften an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, sofort von dem Laden begeistert gewesen; noch immer glaubte er das Holz, die Sägespäne und den Leim riechen zu können. Seinen Entschluss, sein Antiquariat im Münchner Westend zu gründen, hatte er nie bereut. Das war allerdings zu einer Zeit gewesen, als das Westend noch ein echtes Arbeiterviertel mit hohem Ausländeranteil und ebenso vielen Studenten gewesen war; mittlerweile schossen Boutiquen, schicke Bars, Sushi-Takeaways und Friseurläden wie bunte Pilze aus dem Boden. Das Westend wurde hip, und das ›Antiquariat Lukas‹ schien einer vergangenen Epoche anzugehören. Selbst Stevens Kleidung wirkte auf viele Bewohner des Stadtviertels nicht mehr zeitgemäß. Andere Männer im Westend trugen in seinem Alter lustig bedruckte hautenge Sweatshirts, Sneakers und Baseballmützen. Stevens Leidenschaft galt Tweed und Cord. Beides kombinierte er zu Anzügen, die ihm, zusammen mit seinen grauen, nach hinten gekämmten Haaren und der Lesebrille, das Aussehen eines verarmten englischen Landadligen gaben. Auf einer Burg in Schottland hätte man ihn für den rechtmäßigen Erben gehalten, hier im Westend fühlte er sich manchmal zwanzig Jahre älter, als er wirklich war. Dabei hatte er erst vor einigen Monaten ganz im Stillen seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert.

Seufzend stand Steven vom Mahagonischreibtisch auf und durchwanderte seinen kleinen Laden, in den er beinahe zwanzig Jahre lang so viel Geld und Herzblut gesteckt hatte. Er strich liebevoll über die einzelnen Buchrücken, rückte hier und dort etwas gerade und stellte einzelne verirrte Exemplare wieder an ihre richtige Stelle. Schließlich begann er, eine der Kisten vom Nachlass der alten Dame aus Bogenhausen auszuräumen und die Bücher in die wenigen freien Plätze in den Regalen zu stellen. Unter den erworbenen Werken waren ein Baedeker-Reiseführer für Belgien aus dem Jahre 1888, ein Schachbuch aus dem 18. Jahrhundert und Sheltons Stenographie-Standardwerk ›Tachygraphy‹ in einer der späteren Ausgaben – alles wahre Schätze. Ob er sie jemals verkaufen würde, war allerdings fraglich.

Wenigstens in einem Punkt hatte Frau Schultheiß recht: Sein Geschäft lief mies, sogar ziemlich mies. Eigentlich war es noch nie gut gelaufen, aber das war Steven bislang egal gewesen, solange er nur auf Flohmärkten, in Bibliotheken und anderen Antiquariaten nach Herzenslust stöbern konnte. Doch nun war das einst stattliche Erbe seiner Eltern aufgebraucht, und er musste sich mit einem der niedersten Aspekte des menschlichen Daseins beschäftigen: dem Geldverdienen.

Wenn jemand den Laden betrat, waren es meist nur Passanten, die nicht im Regen auf den nächsten Bus warten wollten oder hofften, bei Steven einen billigen Perry Rhodan oder den neuesten Dan Brown kaufen zu können. Ganz zu schweigen von den betrunkenen Oktoberfestbesuchern, die auf der Suche nach einer öffentlichen Toilette waren.

Der vornehme alte Herr mit Brille und elfenbeinernem Gehstock heute Vormittag jedoch war anders gewesen. Er hatte sich sehr an Stevens bisherigem Leben als Antiquar interessiert gezeigt und ihn ausführlich über eine frühe Abschrift der Tagebücher von Samuel Pepys ausgefragt. Ein seltenes Werk, das Steven erst kürzlich erworben hatte und das unter Kennern als besonders wertvoll galt.

Doch trotz seiner Sachkenntnis hatte der Mann auf Steven einen leicht verwirrten, ja fast gehetzten Eindruck gemacht. Seine Hände hatten krampfhaft ein mit grauem Packpapier verschnürtes Bündel umklammert, offenbar ein größeres Buch. Als Steven ihn darauf ansprach, lächelte der Mann nur und flüsterte etwas, was für den Antiquar keinen Sinn ergab.

Die Linie des Königs steht auf dem Spiel …

Auch die nervösen Blicke des Fremden hatten ihn irritiert. Mehrere Male hatte der Mann durch das Schaufenster nach draußen gesehen, als ob dort irgendetwas … lauere. Als Steven kurz darauf für einige Minuten ins hintere Lager ging, um die Pepys-Tagebücher zu holen, war der Fremde einfach grußlos verschwunden.

Steven musste unwillkürlich schmunzeln.

Schräge Vögel und alte Narren, dachte er. Sonst kommt niemand mehr in meinen Laden. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich noch selber zum Kauz. Oder bin ich das schon?

Er räumte weiter die Kiste aus und verteilte die Bücher nach Sachgebieten auf die jeweiligen Regale, wobei er immer wieder eine schmale Leiter hochkletterte und dabei Schuberts ›Tod und das Mädchen‹ summte.

Ganz plötzlich hielt er inne.

In Kopfhöhe, zwischen einer alten ledergebundenen Bibel und einer antiquarischen Ausgabe von Molières Dramen, stand ein dicker, fast handbreiter Wälzer, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er zog das Buch aus dem Regal und stellte verwundert fest, dass der Foliant nicht aus Papier, sondern aus geleimtem Kirschholz bestand. Nur der Rücken war aus Leder. Das vermeintliche Buch schien einer jener getarnten Behälter zu sein, in denen gutbürgerliche Väter früher ihre Schnapsflaschen oder Zigarren in der Hausbibliothek versteckt hatten. Es erinnerte Steven an ein Schatzkästchen, wie es kleine Jungs gelegentlich benutzen, um ihre Murmeln, Taschenmesser und Lego-Ritter darin aufzubewahren. Hatte er als Kind nicht auch ein ganz ähnliches Kästchen besessen?

Neugierig öffnete er die kleine Kiste, als ihn plötzlich ein merkwürdiges Prickeln überkam, das er sich selbst nicht erklären konnte. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen, und er drohte, von der Leiter zu fallen. Ihm war, als würde eine neblige Hand nach ihm greifen. Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Es blieb nur ein beißender, fast brennender Geschmack an seinem Gaumen zurück.

Was in aller Welt war das? Irgendein Parfüm, das ich nicht vertrage? Ein Lack? Oder bin ich neuerdings auf irgendwas allergisch?

Vorsichtig stieg Steven die letzten Sprossen hinunter und warf einen Blick in den Behälter. Er war mit dunklem Tuch ausgeschlagen und roch muffig. Darin lagen einige verblichene Fotografien und eine schwarze, mit einem Seidenband verschnürte Haarlocke – außerdem ein wertvoll gestaltetes Büchlein. Eingebunden in blauem Samt und geschmückt mit Elfenbeinverzierungen wirkte es wie ein verwunschenes Zauberbuch. Steven strich über die Konturen eines Ritters mit Schwert, der auf einem Schwan zu segeln schien, er streichelte den blauen Samt des Einbands und fuhr über die Intarsien weißer Blüten und Blätter. Als er in das Innere des Schatzkästchens blies, flog eine Wolke flirrenden Staubs auf; der Geruch ließ ihn erneut schwindlig werden.

Wieder fühlte er eine neblige Hand nach sich greifen; er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Seine Kehle war mit einem Mal trocken wie nach einer durchzechten Nacht. Steven schüttelte sich und versuchte sich zu konzentrieren.

Sei nicht albern und reiß dich zusammen! Es ist nur ein alter Behälter, mehr nicht.

Die Fotos fielen ihm als Erstes ins Auge. Sie schienen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufgenommen worden zu sein und zeigten in mattgrauen Farben und unterschiedlichen Positionen einen jungen, etwa dreißigjährigen Mann auf einem hölzernen Drehhocker. Neben ihm stand ein älterer, leicht aufgedunsener Herr in schwarzem Gehrock, auf einigen der Bilder ruhte seine linke Hand fast liebkosend auf der Schulter des Jüngeren. Seine Statur hatte etwas von einem behäbigen, aber gutmütigen Riesen. Ob das vertrocknete Haarbüschel aus dem Kästchen von einem der Männer stammte? Beide hatten immerhin dunkles Haar.

Nachdenklich legte Steven Bilder und Locke zurück in den Behälter und wandte sich wieder dem kostbaren Buch mit den Elfenbeinintarsien zu. Als er anfing, darin zu blättern, stutzte er. Auf den Seiten aus feinstem Bütten standen keine Buchstaben, sondern merkwürdige Krakel und Hieroglyphen, die eher an eine Geheimschrift erinnerten. War das vielleicht wirklich ein altes Zauberbuch? Stevens Herz schlug schneller. Er wusste, dass für sogenannte Grimoires erstaunliche Summen geboten wurden, selbsternannte ›Weiße Hexen‹ und andere Esoterikspinner rissen sich förmlich darum. Der Titel allerdings schien lesbar zu sein. Stirnrunzelnd zog der Antiquar seine Lesebrille hervor und entzifferte die verblichene Schrift.

Memorabilien des Theodor Marot, Assistent von Dr.Max Schleiß von Loewenfeld

Steven wischte sich über die Augen. Weder Buch noch Behälter hatte er jemals zuvor gesehen. Oder doch? Ein merkwürdiges Gefühl der Vertrautheit durchfuhr ihn. Trotzdem konnte er sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie das Kästchen in seinen Besitz gekommen war. Beim Nachlass der alten Dame aus Bogenhausen war es jedenfalls nicht dabei gewesen, einen so ausgefallenen Gegenstand hätte er sicherlich bemerkt. Und auch die Flohmarktbestände der vergangenen Wochen hatte er bereits Stück für Stück archiviert und schriftlich festgehalten. Wie also war dieses Schatzkästchen in seinen Laden gelangt?

Noch einmal griff er zu den Fotografien. Er war sich plötzlich sicher, den riesenhaften älteren Mann darauf von irgendwoher zu kennen. Nicht so aufgedunsen zwar, doch die sanften Augen, der Bart und die vollen schwarzen Haare waren die gleichen. Eine wahrhaft imposante, fast majestätische Erscheinung.

Mit einem Mal hielt er inne.

War das möglich?

Nachdenklich tippte Steven auf eines der Bilder. Mit dem Kästchen in der Hand eilte er nach hinten ins Lager, wo sich die bereits registrierten Bücher von Trödelmärkten und Wohnungsauflösungen stapelten und darauf warteten, in die überquellenden Regale einsortiert zu werden. Hektisch stöberte er in den Kartons auf der Suche nach einem eher billigen Exemplar, das er erst vor ein paar Tagen auf einem Flohmarkt am Münchner Olympiapark zwischen Schundromanen und Landserheftchen entdeckt hatte. Endlich, am Boden der dritten Kiste, wurde er fündig.

Das Werk war eine zerfledderte Abhandlung über das bayerische Königshaus, verfasst Anfang des 20. Jahrhunderts. Auf den darin abgebildeten heroischen Gemälden posierten eine ganze Reihe Wittelsbacher, angefangen mit Maximilian I. Joseph bis hin zu Ludwig III., dem letzten bayerischen König, der Ende des Ersten Weltkriegs als täppischer alter Narr abdanken musste. Steven blätterte wie wild, bis er schließlich das richtige Bild fand. Da war es! Ein schöner junger Mann mit schwarzem Haar blickte ihm entgegen, noch ohne Bart zwar, aber mit der gleichen Frisur und dem entrückten Blick, den er bis zu seinem mysteriösen Tode beibehalten sollte. Er trug einen blauen Rock und darüber einen weißen Hermelinmantel.

Steven lächelte. Kein Zweifel, der aufgedunsene riesige Fremde auf dem Foto war kein anderer als König Ludwig II., auch genannt der ›Märchenkönig‹. Vermutlich war er einer der bekanntesten Deutschen, sein jugendliches Konterfei zierte wohl auch in China und der Serengeti Bierkrüge, T-Shirts und Postkarten.

Noch einmal verglich Steven das Gemälde im Buch mit der Fotografie in seiner Hand. Der äußeren Erscheinung des Herrschers nach musste das Bild in späteren Jahren entstanden sein. Aber ein Irrtum schien ausgeschlossen – in dem Kästchen befanden sich tatsächlich Aufnahmen des weltberühmten bayerischen Monarchen, vermutlich kurz vor seinem Tod! Vielleicht sogar unveröffentlichte? Steven wusste, dass man in bestimmten Kreisen damit einen hohen Preis erzielen konnte. Das Mietproblem schien plötzlich in weite Ferne gerückt.

In diesem Augenblick meldete vorne die Türglocke erneut einen Besucher.

Genervt legte Steven Buch und Fotos wieder in das Kästchen und schob es in ein Regal. Dann ging er vom Lager zurück in den Laden. Konnte man denn nie seine Ruhe haben! Es war bereits sieben Uhr abends. Wer um alles in der Welt konnte so kurz vor Ladenschluss noch etwas von ihm wollen? Oder war es schon wieder Frau Schultheiß mit einem neuen Angebot?

»Wir haben eigentlich schon geschlossen«, begann er kurzangebunden, während er hinter die Ladentheke trat. »Wenn Sie bitte morgen …«

Als er den Mann vor sich genauer ansah, wusste er sofort, dass es sich bei ihm nicht um einen der üblichen Perry-Rhodan-Interessenten handelte. Der Fremde war an die sechzig, hatte schütteres graues Haar, einen altmodischen Kneifer auf der Nase und trug einen bayerischen Trachtenanzug, wie ihn wohlhabende ältere Herrschaften vom Tegernsee bevorzugten. Er war groß und hager, mit hoher Stirn; seine ganze Haltung strahlte eine Autorität aus, die es nicht gewohnt war, in Frage gestellt zu werden.

»Mein Besuch dauert nicht lange. Das verspreche ich Ihnen«, sagte der Mann mit knarrender Stimme und musterte Steven durch seinen Kneifer. »Ich bin nur an sehr spezieller Literatur interessiert.«

Plötzlich durchfuhr Steven ein leiser Schauder. »An welcher Art von Literatur denn?«, fragte er und lächelte matt. »Wenn Sie Ludwig Thoma oder Oskar Maria Graf suchen, dann …«

»Ich interessiere mich für Augenzeugenberichte aus der Zeit von König Ludwig II.«, unterbrach ihn der Fremde. »Haben Sie so etwas, Herr …?«

»Lukas. Steven Lukas.«

Steven lächelte tapfer weiter, während er sich unter dem Blick seines Gegenübers zunehmend unwohler fühlte. Der Mann schien ihn mit seinen Augen förmlich abzutasten, so als misstraute er dem Antiquar aus irgendeinem Grund. Dann betrachtete er eingehend die Bücherregale. Er suchte ganz offensichtlich etwas.

Augenzeugenberichte aus der Zeit von König Ludwig II.…

Steven bemühte sich, ruhig zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen. Aber in ihm brodelte es. Konnte das wirklich ein Zufall sein, oder wusste der Fremde von den Fotografien? War er vielleicht wegen des Schatzkästchens da?

»Sie zögern«, sagte der Mann und musterte ihn neugierig durch seinen Kneifer. »Offenbar haben Sie etwas.«

»Nein, tut mir leid. So etwas führe ich nicht. Aber ich schreibe mir gerne Ihre Nummer auf. Wenn ich was reinkriege, meld ich mich.«

Steven hatte die Entscheidung im Bruchteil einer Sekunde gefasst. Der Fremde war ihm suspekt, sein ganzes Auftreten behagte ihm nicht. Es erinnerte ihn an das selbstgefällige Gehabe einiger bayerischer Politiker, die gewohnt waren, immer zu bekommen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatten.

Aber von mir bekommst du nichts!

»Wissen Sie sicher, dass Sie so etwas nicht haben?«, fragte der Mann im Trachtenanzug nach.

»Ganz sicher. Soll ich jetzt Ihre Telefonnummer …«

Der hagere Fremde lächelte schmal. »Das wird nicht nötig sein. Wir kommen wieder auf Sie zurück.« Er nickte zum Abschied, dann ging er nach draußen, wo es mittlerweile dunkel geworden war.

Steven war, als hätte ein Eissturm den Laden betreten und alle Bücher mit Reif bedeckt. Fröstelnd trat er ans Schaufenster, doch der Mann war bereits verschwunden.

Gegen die Scheiben prasselte feiner Regen.

Nach einer Weile schüttelte Steven den Kopf und lachte leise in sich hinein. Was war nur mit ihm los? Zuerst dieser merkwürdige Schwindel, als er das Kästchen entdeckt hatte, und jetzt das! Er war doch sonst nicht so schreckhaft. Außerdem – es hatten schon weitaus schlimmere Kunden den Laden betreten, vor ein paar Jahren hatte ihm mal ein Betrunkener während des Oktoberfests in die Auslage gekotzt. Und unsympathische Typen im Trachtenanzug gab es in München eben nicht nur in der noblen Maximilianstraße.

Nachdem er ein letztes Mal nach draußen auf die regennasse, von matten Laternen beschienene Straße geblickt hatte, ging er zurück ins Lager und holte das Kästchen noch einmal hervor. Kurz überkam ihn die seltsame Angst, sein Inhalt könnte plötzlich wie durch Zauberei verschwunden sein. Doch als er den Behälter öffnete, war noch alles da: die verblichenen Fotografien, die schwarze Haarlocke, das in blauem Samt gebundene und mit Elfenbeinschnitzereien verzierte Buch …

Plötzlich fühlte er sich furchtbar müde und hungrig. Ihm fiel ein, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Die Aufregung wegen des Grimm’schen Märchenbuchs, Frau Schultheiß und der Fremde, all das hatte ihn den Hunger vergessen lassen, doch jetzt meldete er sich mit aller Macht zurück. Steven beschloss, für heute Schluss zu machen und sich zu Hause eine große Portion Farfalle Primavera zusammen mit einer Flasche Wein zu gönnen. Während die Nudeln kochten, würde er sich dieses seltsame Tagebuch und die Fotografien noch mal genauer ansehen. Wenn die Bilder wirklich echt waren, käme das einer kleinen Sensation gleich. Steven kannte vom Hörensagen eine Menge Leute, die für solche Fotografien gutes Geld zahlen würden. Wenn es darum ging, ob er mit der illustrierten Ausgabe der Grimm’schen Hausmärchen oder mit diesen Fotos die nächste Miete zahlen musste, würde seine Wahl eindeutig auf die Fotos fallen.

Befriedigt steckte er den kleinen Holzkasten in seine abgeschabte braune Ledermappe, warf sich den Dufflecoat über, verließ den Laden und sperrte hinter sich ab. Sofort schlugen ihm Wind und Nässe ins Gesicht, der leichte Nieselregen war mittlerweile in einen prasselnden Schauer übergegangen. Steven zog die Kapuze über und marschierte los. Leise verfluchte er sich dafür, dass er sein Rad wegen eines Plattens hatte zu Hause lassen müssen. Der Weg in seine Wohnung im Münchner Schlachthofviertel war nicht weit, aber bei diesem Regen wahrlich kein Vergnügen. Zahllose Angestellte mit Schirmen und Regenponchos eilten aus den auf dem alten Messegelände erst jüngst hochgezogenen Bürokomplexen an ihm vorüber, in den neuen Supermärkten wimmelte es von späten Kunden, die hastig ihre Abendeinkäufe erledigten und mit Tiefkühlpizzas und Sushiboxen in den Parkgaragen verschwanden.

Schon wenige Straßen weiter wurde es merklich einsamer. Vor Steven lag in einer Talsenke die Münchner Theresienwiese, die sich jetzt, kurz nach dem Oktoberfest, leer und öde vor ihm ausbreitete. Das große Riesenrad und ein paar der Festzelte waren noch nicht ganz abgebaut, sie erhoben sich wie eiserne Gerippe auf dem flachen asphaltierten Feld; die stillstehenden Fahrgeschäfte und vernagelten Imbissbuden wirkten von hier oben wie verlassene Gebäude einer Geisterstadt.

Steven beschloss, trotz der vielen Pfützen über die Theresienwiese nach Hause zu gehen. Das würde seinen Fußmarsch im Regen um bestimmt zehn Minuten verkürzen. Er wandte sich nach rechts, wo schon bald der weiße Tempel der Ruhmeshalle mit der Bavaria auftauchte. Die fast zwanzig Meter hohe Bronzestatue mit Löwe und Eichenkranz erinnerte Steven immer ein wenig an die amerikanische Freiheitsstatue. Ein Obdachloser hatte sich in einer Ecke des Tempels, direkt unter der Büste König Ludwig I., ein paar Lagen Zeitungen ausgebreitet und lallte vor sich hin. Ansonsten herrschte eine Stille, die Steven nach dem Lärm der Großstadt seltsam fremd vorkam.

Vorsichtig stieg er die breite glitschige Treppe des Tempels nach unten. Ein schlaffer Luftballon, vom Wind in die Höhe gewirbelt, flog an ihm vorüber und verschwand schließlich in der Dunkelheit; es roch nach verschüttetem Bier und Müll. Wegen des schlechten Wetters schien sich kein anderer Fußgänger auf dem weiten, mit Pfützen übersäten Platz aufzuhalten.

Als Steven etwa die Hälfte der Theresienwiese überquert hatte, hörte er hinter sich plötzlich ein Geräusch. Es klang wie ein leises, krächzendes Rufen.

Erschrocken drehte er sich um und sah hinter sich, direkt unterhalb der Bavaria, drei Gestalten stehen. Sie trugen dunkle Umhänge und Kapuzen, die sie wie schwarzgewandete Ku-Klux-Klan-Mitglieder aussehen ließen. In den Händen hielt jeder der Kapuzenmänner eine brennende Fackel, die im Wind wild hin und her flackerte. Steven schloss die Augen und öffnete sie wieder, doch die Gestalten blieben.

Merkwürdig. Es ist doch noch gar nicht Halloween.

Für Kinder waren die Gestalten eindeutig zu groß und zu kräftig, sie ließen Steven eher an durchtrainierte Schläger in Mönchskostümen denken. Wieder überkam ihn die gleiche seltsame Angst wie vorher im Laden. Er wandte sich nach vorne und ging zögerlich weiter. Doch schon nach wenigen Metern wurde sein Schritt merklich schneller, schließlich rannte er. Hinter sich konnte er nun durch den strömenden Regen hindurch Fußgetrappel hören.

Die Männer folgten ihm!

Steven sah sich kurz um und bemerkte drei rote Punkte in der Finsternis, die auf und ab zu hüpfen schienen und langsam, aber unerbittlich näher kamen. Waren diese Männer wirklich hinter ihm her? Möglicherweise wegen dieses merkwürdigen Schatzkästchens? Mit klopfendem Herzen rannte Steven weiter, bis er den eisernen Geschmack von Blut im Mund spürte.

Er hastete über die verlassene Theresienwiese, die in der Dunkelheit wie ein riesiger schwarzer See war, der ihn zu verschlingen drohte. Rechts und links öffneten sich Gassen, die zu gähnend leeren Bierzelten führten, davor türmten sich Achterbahnschienen wie die Knochen eines Dinosauriers. Die gegenüberliegende, von leuchtenden Straßenlaternen gesäumte Seite schien unendlich fern; hinter jeder der verlassenen Imbissbuden, in jeder Nische, hinter jedem Wohnwagen glaubte Steven, eine Gestalt mit Kapuze hervorhuschen zu sehen.

Plötzlich tappte er in eine Pfütze, stürzte über einen schiefen Gullydeckel und schlug im kalten flachen Wasser auf. Die Tasche glitt ihm aus den Händen. Während Steven verzweifelt nach ihr tastete, konnte er hinter sich wieder die Schritte hören. Sie waren nun deutlich näher, er vernahm das Platschen von Schuhen auf dem nassen Asphalt. Wo war nur die verdammte Mappe? Ein Knirschen ganz in der Nähe ertönte, so als wäre jemand auf die Scherbe eines Maßkrugs getreten, dann ein Schnaufen und Husten. Etwas tief im Inneren sagte Steven: Er durfte die Mappe auf keinen Fall verlieren! Auch wenn er nicht wusste, warum.

Endlich spürte er vertrautes Leder zwischen ein paar liegengebliebenen Mülltüten. Steven ergriff die Tasche, richtete sich keuchend auf und lief weiter, bis vor ihm endlich die rettenden Lichter der Straßenlaternen auftauchten. Atemlos stolperte der Antiquar zwischen einigen verkrüppelten Linden hindurch, dann hatte er endlich den Bavariaring auf der anderen Seite der Festwiese erreicht.

Als er sich noch einmal umwandte, waren die Männer mit ihren Fackeln verschwunden. Autos hupten, eine Ampel schaltete auf Grün, Passanten drängten sich geschäftig an ihm vorbei.

Er war zurück in der Großstadt.

Wer oder was in aller Welt war das gewesen?

Steven zitterte am ganzen Körper. Bis jetzt hatte er sich in Deutschlands teuerster und schönster Stadt immer sehr sicher gefühlt. Dass ihn jemand mitten im Zentrum ganz offensichtlich hatte ausrauben wollen, noch dazu seltsame Typen in Mönchskostümen, ließ ihn München plötzlich mit anderen Augen sehen. Plötzlich kamen ihm die schmalen Straßen seines Wohnviertels, die flackernden Straßenlaternen und die hohen alten Häuser, die der Krieg verschont hatte, unheimlich und fremdartig vor.

Nach einer weiteren Viertelstunde war Steven endlich an seiner Wohnung angekommen, die in der Ehrengutstraße nur unweit des Münchner Schlachthofs lag.

Er lehnte sich an die Haustür, schloss kurz die Augen und lauschte den vertrauten Geräuschen seiner Wohngegend – dem fernen Klingeln der Trambahn, den Autohupen und dem Gelächter der zahlreichen Kneipenbesucher. Mitten in der Nacht oder sehr früh, noch vor der Morgendämmerung, hörte Steven manchmal das Muhen der Kälber und Kühe und das Kreischen der Schweine, die im Schlachthof ihren letzten Gang antraten; gelegentlich lag sogar ein Geruch von Blut in der Luft. Trotzdem konnte er sich kein anderes Viertel vorstellen, in dem er leben wollte. Hier in der Isarvorstadt mit dem alten Südfriedhof, den verwinkelten Gassen und prächtigen Brücken, die über den nahen Fluss führten, glaubte Steven noch den Geist der vergangenen Jahrhunderte zu spüren. Ein München, das es nur noch in wenigen Ecken der Stadt gab.

Ein München, wie es auch dieser Theodor Marot kannte, fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf. Sind seine Aufzeichnungen so wertvoll, dass ich deshalb bereits verfolgt werde?

Müde und noch immer fröstelnd stieg Steven die zahlreichen ausgetretenen Stufen hinauf ins oberste Stockwerk. Erst als er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, merkte er, dass seine Hose zerrissen war und er an mehreren Stellen blutete. Seine Hände waren dreckig, der Dufflecoat nass wie ein Putzlappen und die Aktentasche feucht und mit Schlamm bespritzt.

Er beschloss, das erste Glas Wein noch vor den Pasta Primavera zu trinken.

2

Eine gute Stunde und eine dreiviertel Flasche später saß Steven Lukas geduscht und mit frischen Kleidern auf dem geliebten abgenutzten Ledersofa seiner Dachgeschosswohnung. Draußen prasselte der Regen gegen das Fenster, der Wind war stärker geworden. Steven konnte durch die Tropfen an der Scheibe das Leuchten des Münchner Olympiaturms sehen, die ziegelroten Gebäude des Münchner Schlachthofs waren nur noch als Schemen zu erkennen.

Wie so oft hatte er zunächst ein gutes Dutzend Bücher von den Polstern räumen müssen, der Beistelltisch quoll über vor leeren Teetassen, Sandwichresten und zerfledderten Zeitungen der letzten Tage. Im Gegensatz zu seinem Antiquariat fehlte Steven hier in der Wohnung jeglicher Ordnungssinn. Nächsten Sonntag würde die Putzfrau kommen und ihn einmal mehr für seinen Lebenswandel schimpfen. In einem stetig wiederkehrenden Ritual predigte ihm die dicke Joanna in polnischem Akzent über die gefährlichen Abgründe des Junggesellendaseins.

Stevens letzte feste Beziehung war bereits vier Jahre her, er hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass Bücher die besseren Partnerinnen waren. Sie hatten ungleich spannendere Geschichten zu erzählen, und wenn man müde war, klappte man sie einfach zu.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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