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Keine statistische Kennzahl beeinflusst die aktuelle Politik stärker als das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Noch in den dreißiger Jahren existierten in England und in den USA unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sich wirtschaftliche Vorgänge in Zahlen abbilden ließen. Nur eine dieser Methoden, der Vorläufer des BIP, bewährte sich im Zweiten Weltkrieg als Planungs- und Informationsinstrument und wurde in der Nachkriegszeit von den USA mit aller politischen Macht im Westen als Standard etabliert. Zusammen mit der Idee des Wachstums gab diese Methode Hoffnung auf eine Zukunft unendlichen materiellen Wohlstands. Obwohl mit seiner Hilfe nur ganz bestimmte Probleme gelöst werden sollten, monopolisiert das BIP seitdem den Blick auf wirtschaftliche Zusammenhänge.
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Seitenzahl: 210
Keine statistische Kennzahl beeinflusst die aktuelle Politik stärker als das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Noch in den dreißiger Jahren existierten in England und in den USA unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sich wirtschaftliche Vorgänge in Zahlen abbilden ließen. Nur eine dieser Methoden, der Vorläufer des BIP, bewährte sich im Zweiten Weltkrieg als Planungs- und Informationsinstrument und wurde in der Nachkriegszeit von den USA mit aller politischen Macht im Westen als Standard etabliert. Zusammen mit der Idee des Wachstums gab diese Methode Hoffnung auf eine Zukunft unendlichen materiellen Wohlstands. Obwohl mit seiner Hilfe nur ganz bestimmte Probleme gelöst werden sollten, monopolisiert das BIP seitdem den Blick auf wirtschaftliche Zusammenhänge.
Philipp Lepenies
Book Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe edition suhrkamp 2673
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
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Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
Umschlag gestaltet nach einem Konzept
Einleitung 9
1. Worum es geht: Bruttoinlandsprodukt, Bruttosozialprodukt und Volkseinkommen 15
2. Vorgeschichte: William Petty und die Ökonomie 23
William Petty und die Political Arithmetick (23) – Petty und die Folgen: Nationalprodukt bei Adam Smith (37) – Malthus und Marshall (42) – Pigou und die Wohlfahrt (45)
3. Die Frustrationen des Colin Clark: England 49
Volkseinkommen und Verhütung (49) – Clarks Schriften zum Volkseinkommen (56) – Die Conditions of Economic Progress (62) – Der Einfluss der Volkseinkommensberechnung auf die britische Politik (67)
4. Simon Kuznets und die Politik des Bruttosozialprodukts: die Vereinigten Staaten 78
Empirie und Vorsicht (78) – Volkseinkommen und Große Depression (85) – Volkseinkommen in der Encyclopedia of the Social Studies (88) – Die offizielle Schätzung von 1934 (93) – Erste politische Erfolge (96) – Keynes und der Siegeszug des Bruttosozialprodukts (98) – Das Bruttosozialprodukt bewährt sich (102) – Berechnungen in Krieg und Frieden (111) – Der Konflikt um die Konten (117)
5. Krieg, Kidnapping und Datenraub: Deutschland 123
Kaiserreich und Weimarer Republik (123) – Wirtschaftsstatistik und Nationalsozialismus (135) – Wie das Bruttosozialprodukt nach Deutschland kam (140) – Die deutsche Bruttosozialproduktberechnung (145)
6. Der endgültige Triumph des Bruttosozialprodukts 152
Transformation, Beschäftigung und Produktivität (152) – Internationale Harmonisierung (157) – Die ökonomische Theorie des Wachstums (161) – Wachstum im Wettstreit der Systeme (166) –
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist die mächtigste Kennzahl der Menschheitsgeschichte. Keine andere statistische Größe hat jemals eine ähnliche Wirkung entfaltet. Vordergründig ist das BIP nur das Maß der wirtschaftlichen Leistung einer Volkswirtschaft, der in einer Zahl ausgedrückte Wert aller in einer Periode hergestellten Güter und Dienstleistungen. Aber zusammen mit dem Wachstum, das die Veränderungsrate des BIP angibt, ist es viel mehr als bloße Statistik. Das BIP dient als Hauptindikator für Entwicklung und Fortschritt. Positives BIP-Wachstum ist nicht nur erklärtes Ziel fast jeder Regierung, sondern gilt oft auch als der einzig mögliche Ausweg aus einer ökonomischen Krise. Die Wirtschaft und die Politik der Welt definieren sich in hohem Maße über das BIP.
Dabei ist das BIP keine sich selbst erklärende Zahl wie die Temperatur in Celsius, der letztjährige Ausstoß von Treibhausgasen in Tonnen oder der Kaloriengehalt des eigenen Frühstücks. Es ist das Ergebnis einer Berechnungsmethode, die bestimmte wirtschaftliche Aspekte erfasst, andere jedoch nicht. Es beruht auf einer Interpretation dessen, was Leistung und was Volkswirtschaft heißt.
Das BIP ist ein Phänomen. Ökonomische Sachverhalte werden quantitativ abgebildet, nach festgelegten Regeln addiert und kumulieren in einer einzigen Zahl. Dabei handelt es sich im wahrsten Wortsinn um politische Arithmetik: Das BIP wird nicht nur im staatlichen Auftrag ermittelt, sondern beeinflusst das Regierungshandeln. Es erlaubt ein Regieren nach Zahlen.
Für das amerikanische Handelsministerium ist es eine 10der »größten Erfindungen des 20. Jahrhunderts«,[1] anderen ist seine Macht nicht länger geheuer. So schrieb der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy im Vorwort zum Abschlussbericht der von ihm eingesetzten Kommission zur Messung der wirtschaftlichen Leistung und des gesellschaftlichen Fortschritts: »Wir haben es zugelassen, dass unsere statistische Darstellung von Wohlstand mit Wohlstand an sich gleichgesetzt wurde und unsere Darstellung der Realität mit der Realität an sich […]. Wir haben einen Kult um Zahlen kreiert, der uns nun gefangen hält.«[2] Neben denen, die das BIP und die Ausrichtung auf Wachstum verteufeln, stehen die Befürworter, die höchstens kleine Änderungen der Messmethodik des BIP akzeptieren wollen, aber weiterhin das Hohelied des Wachstums singen. In beiden Fraktionen besteht jedoch kein Zweifel daran, dass dem BIP in unserer politischen Kultur eine zentrale Bedeutung zukommt.
Aber wie kam es dazu, dass das BIP eine solche Wirkungsmacht entfaltet hat? Wie konnte ein statistisches Konstrukt, das noch vor dem Zweiten Weltkrieg gänzlich unbekannt war, derart triumphieren? Solchen Fragen will dieses Buch nachgehen. Es will die Geschichte des BIP erzählen. Dabei geht es, genau genommen, um die Entstehung und Durchsetzung der Idee des Bruttosozialprodukts und in gewissem Maße auch der älteren Idee des Volkseinkommens. Das BIP hat in den neunziger Jahren international das seit Kriegsende gebräuchliche Konzept 11des Bruttosozialprodukts als wirtschaftliche und politische Hauptkennziffer abgelöst. Beide Konstrukte unterscheiden sich nur in Details, die hier von untergeordneter Bedeutung sind.
Die besondere Position des BIP resultiert aus seiner politischen Akzeptanz. Deswegen sind der Zeitpunkt und die Umstände relevant, die dazu geführt haben, dass die Idee des Bruttosozialprodukts als sinnvolle Technologie des Regierens[3] erkannt und seine Berechnung endgültig zur politischen Arithmetik wurde.
Dieses Buch versucht keine umfassende Geschichte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (national accounts). Sie wurde bereits von anderen geschrieben.[4] Stattdessen stehen die politischen Kontexte, in denen das BIP entstanden ist, und die entscheidenden Episoden im Zentrum, in denen es sich durchgesetzt hat. Sie erlauben es, die einzigartige Komplexität dieser Geschichte nachzuvollziehen und zu erkennen, an welche Traditionen das BIP anknüpft und welche Vorläufer es hatte. Ausgangspunkt für eine solche Untersuchung war nicht nur die von Sarkozy ausgedrückte Verwunderung über die Macht, die das BIP heute ausübt, sondern vor allem das Fehlen dieser historischen Perspektive in den aktuellen Versuchen, es zu verändern, zu ergänzen oder gar vom Thron zu stoßen, wie es häufig heißt.
In der politischen Geschichte, die ich erzählen werde, spielen drei Personen eine herausragende Rolle: William 12Petty, Colin Clark und Simon Kuznets. Pettys Versuche, bereits im England des 17. Jahrhunderts nackte Zahlen in politisch relevante Daten und damit in ein Instrument der Machtausübung – eine politische Arithmetik – zu verwandeln, waren der wichtigste historische Vorläufer des BIP. Clark war ein genialer Einzelgänger und Chemiker, der in England nach der Weltwirtschaftskrise 1929, frustriert über das Fehlen volkswirtschaftlicher Daten, viele Grundlagen der BIP-Berechnung im Alleingang schuf. Kuznets, gebürtiger Russe, nutzte seine in der Frühzeit der Sowjetunion gemachten Erfahrungen mit Statistik, um in den USA zeitgleich mit Clark, allerdings in staatlichem Auftrag, eine systematische Berechnung des Volkseinkommens vorzulegen.
Die Bedeutung von Petty, Clark und Kuznets ist unumstritten. Und doch gelang es keinem von ihnen, seine eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Ihre Rolle entbehrt nicht einer gewissen Tragik. Die Geschichte des BIP ist auch ein Lehrstück darüber, unter welchen Umständen Ideen politisch wirksam werden können. Ideologien hatten darauf einen Einfluss, aber nicht zuletzt so extreme Ereignisse wie die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg. Und ohne John Maynard Keynes, der sowohl die Arbeiten von Clark als auch von Kuznets zu seinen Gunsten nutzte, wäre die Geschichte des BIP anders verlaufen.
Die Entstehungsgeschichte des BIP ist vielschichtig. Sie zeigt, warum diese Zahl eine derartige Macht entwickeln konnte und welche Gründe für ihren Triumph verantwortlich waren: die Bewährung in Krisenzeiten, die Durchsetzung als internationale Norm und der Glaube an die Nützlichkeit der politischen Arithmetik. Vor allem aber macht sie deutlich, dass sich das Festhalten am BIP und am Ideal 13des Wachstums an einem politischen Wertebild orientiert, das ursprünglich darauf abzielte, die Probleme der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit zu lösen.
Im Folgenden werden zunächst einige wichtige technische Begriffe wie BIP, Bruttosozialprodukt und Volkseinkommen definiert. Danach werden William Petty und seine Idee der politischen Arithmetik vorgestellt. Colin Clark und der Fall England sind Thema des dritten, Simon Kuznets und die USA des vierten Kapitels. Im fünften Kapitel geht es um Deutschland und im letzten Kapitel darum, wie aus der Idee des Wachstums und des Bruttosozialprodukts schließlich das Wachstumsdogma entstand – und die Macht der einen Zahl ihren Höhepunkt erreichte.15
[1] Bureau of Economic Analysis (Department of Commerce), »GDP: One of the Greatest Inventions of the 20th Century«, in: Survey of Current Business 80/1 (2000), S.6-14.
[2] Joseph Stiglitz/Amartya Sen/Jean-Paul Fitoussi, Mismeasuring our Lives – Why GDP doesn't add up. The Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress, London 2012, S.ix.
[3] Nikolas Rose/Peter Miller, »Political Power Beyond the State: Problematics of Government«, in: British Journal of Sociology 43/2 (1992), S.172-205.
[4] Siehe vor allem Paul Studenski, The Income of Nations. Theory, Measurement, and Analysis: Past and Present, New York 1958, und André Vanoli,
Konzeptuell ist das BIP ein Produkt. Rechnerisch ist es eine Summe. Die Idee des BIP basiert auf der Annahme, dass man sämtliche in einem Land bereitgestellten Güter und Dienstleistungen als ein einziges aggregiertes Gut betrachten kann, dessen Geldwert sich berechnen lässt. Das erklärt auch, warum man den Begriff im Singular verwendet und nicht etwa von »Bruttoinlandsprodukten« eines Landes spricht.
In der einfachsten Definition bestimmt sich das BIP als der »Wert der im Inland erwirtschafteten Leistung einer Volkswirtschaft in einer Periode«.[1] Er bezieht sich auf alle »im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen (Wertschöpfung), soweit diese nicht als Vorleistungen für die Produktion anderer Waren und Dienstleistungen verwendet werden«.[2]
Unter dem ist der Betrag in Geldeinheiten zu verstehen. Nicht Stückzahlen oder die Qualität von Produkten oder Dienstleistungen sind für das relevant, sondern der aufaddierte Preis aller produzierten Güter. Dabei wird jedoch beispielsweise nicht der Endpreis eines Autos erfasst, sondern nur die Wertschöpfung, die der Autohersteller als letzter in der Produktionskette hinzufügt; der Wert aller Vorleistungen, die der Autobauer am Markt bezogen hat, um das Auto herstellen zu können (Rohstoffe, Dienstleistungen, Vorprodukte), muss vom Preis des Fahr
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