Die Matlock-Affäre - Robert Ludlum - E-Book

Die Matlock-Affäre E-Book

Robert Ludlum

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Beschreibung

Die CIA vermutet hinter den altehrwürdigen Mauern der Carlyle University den Sitz eines gefährlichen Verbrechersyndikats. Literaturdozent James Matlock lässt sich auf ein tödliches Spiel ein, als er dem Kopf der Organisation nachspürt.

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DAS BUCH

Der amerikanische Geheimdienst vermutet innerhalb der Carlyle University, einer Elitehochschule, die Zentrale einer kriminellen Organisation, die immer dreister Einfluss auf den Drogenhandel und das illegale Glücksspiel nimmt und selbst der Mafia Konkurrenz macht. Kopf dieser Organisation, die sich mit brutaler Gewalt in der Unterwelt breitmacht, ist ein Mann aus dem Universitätsumfeld. Er trägt den Decknamen Nimrod, seine wahre Identität ist unbekannt.

Die CIA nimmt mit James B. Matlock Kontakt auf, einem Literaturdozenten an der Carlyle University. Seit Matlocks Bruder an einer Überdosis Heroin starb, steht er Drogendealern unversöhnlich gegenüber. Genau der richtige Mann, um Jagd auf Nimrod zu machen. Matlock nimmt den Auftrag an – ohne zu ahnen, dass er sich auf ein tödliches Spiel einlässt.

Inhaltsverzeichnis

DAS BUCHKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35EPILOGDer AutorCopyright

1

Loring verließ das Justizministerium durch den Seitenausgang und sah sich nach einem Taxi um. Es war fast halb sechs, ein Freitag im Frühling, und die Straßen Washingtons waren völlig verstopft. Loring stand am Straßenrand und hob die linke Hand, hoffte auf sein Glück. Er war gerade im Begriff aufzugeben, als ein Taxi, das dreißig Fuß weiter unten an der Straße einen Fahrgast aufgenommen hatte, vor ihm anhielt.

»Fahren Sie in östlicher Richtung, Mister? Der Herr hat gesagt, es würde ihm nichts ausmachen.«

Loring war es immer peinlich, wenn so etwas geschah. Er zog unbewußt den rechten Arm zurück, so daß sein Ärmel den größten Teil seiner Hand bedeckte – und damit die dünne, schwarze Kette, die sich um sein Handgelenk schlang und es mit dem Griff der Aktentasche verband.

»Danke, sehr liebenswürdig. Aber ich muß an der nächsten Ecke abbiegen.«

Er wartete, bis das Taxi sich wieder in den Verkehrsstrom eingereiht hatte, und setzte dann sein vergebliches Winken fort.

Gewöhnlich war sein Geist in einer solchen Lage wach, waren seine Gefühle auf Wettbewerb ausgerichtet. Normalerweise pflegten seine Augen dann in beide Richtungen zu huschen, nach Taxis zu suchen, die gerade im Begriff waren, ihre Fahrgäste aussteigen zu lassen, suchten die Ecken nach den schwach beleuchteten Lichtzeichen auf dem Dach ab, die anzeigten, daß dieses spezielle Fahrzeug zu haben war, wenn man nur schnell genug rannte.

Aber heute war Ralph Loring gar nicht nach Laufen zumute. An diesem Freitag stand sein ganzes Bewußtsein unter dem Druck einer schrecklichen Realität. Er war gerade Zeuge gewesen, wie man einen Mann zum Tode verurteilt hatte. Einen Mann, dem er noch nie begegnet war, aber von dem er viel wußte. Ein Mann von dreiunddreißig Jahren, der in einer kleinen Stadt in New England, vierhundert Meilen entfernt, lebte und nichts von der Existenz Lorings wußte, geschweige denn von dem Interesse, das das Justizministerium ihm entgegenbrachte.

Lorings Gedanken kehrten immer wieder in den großen Konferenzsaal mit dem mächtigen rechteckigen Tisch zurück, an dem die Männer saßen, die das Urteil gefällt hatten.

Er hatte heftigen Widerstand geleistet. Das war das mindeste, was er für den Mann tun konnte, dem er nie begegnet war, den Mann, den man mit solcher Präzision in eine solch unerträgliche Position manövrierte.

»Darf ich Sie darauf hinweisen, Mr. Loring«, sagte ein stellvertretender Staatsanwalt, der einmal Marinerichter gewesen war, »daß man in jeder Kampfsituation einige grundlegende Risiken eingeht. Man erwartet immer einen gewissen Prozentsatz an Ausfällen.«

»Die Umstände sind hier anders. Dieser Mann ist nicht ausgebildet. Er wird nicht wissen, wer oder wo der Feind ist. Wie könnte er das? Wir wissen es selbst nicht.«

»Genau.« Diesmal hatte ein weiterer stellvertretender Staatsanwalt gesprochen. Er stammte aus irgendeiner Rechtsabteilung einer großen Firma. Ein Mann, der Ausschußsitzungen liebte und, wie Loring vermutete, überhaupt nicht imstande war, ohne einen solchen Ausschuß Entscheidungen zu treffen. »Unser Objekt ist hochgradig beweglich. Sehen Sie sich doch das psychologische Profil an: ›defekt, aber außergewöhnlich mobil‹. Genauso steht es da. Er ist die logische Wahl.«

»›Defekt, aber mobil‹! Was, um Himmels willen, bedeutet das? Darf ich diesen Ausschuß daran erinnern, daß ich fünfzehn Jahre im Feld gearbeitet habe. Psychologische Profile sind nur Richtlinien aus einem groben Raster, aufs Geratewohl getroffen. Ich würde ebensowenig einen Mann mit einem Infiltrationsproblem betrauen, ohne ihn gründlich zu kennen, wie ich die Verantwortung für ein NASA-Projekt übernehmen würde.«

Der Vorsitzende des Ausschusses, ein Profi, der Karriere gemacht hatte, hatte Loring geantwortet.

»Ich kann Ihre Vorbehalte verstehen; normalerweise würde ich Ihnen beipflichten. Aber hier handelt es sich nicht um normale Umstände. Wir haben kaum drei Wochen Zeit. Der Zeitfaktor ist wichtiger als die üblichen Vorsichtsmaßnahmen.«

»Das ist ein Risiko, mit dem wir leben müssen«, sagte der ehemalige Marinerichter würdevoll.

»Sie leben ja nicht damit«, erwiderte Loring.

»Wollen Sie von dem Kontakt entbunden werden?« Der Vorsitzende meinte das Angebot absolut ehrlich.

»Nein, Sir. Ich werde es tun. Widerstrebend. Ich möchte, daß das festgehalten wird.«

»Eines noch, ehe wir die Sitzung schließen.« Der Mann aus der Rechtsabteilung beugte sich vor. »Und das kommt von ganz oben. Wir waren alle übereinstimmend der Ansicht, daß unser Objekt hochgradig motiviert ist. Das geht ganz deutlich aus dem Profil hervor. Ebenso klar muß aber gesagt werden, daß jede Unterstützung, die diesem Ausschuß seitens des Objekts zuteil wird, aus freien Stücken und freiwillig gegeben wird. Wir sind in dem Punkt leicht verletzbar. Wir können nicht, ich wiederhole, können unter keinen Umständen Verantwortung übernehmen. Wenn es möglich ist, sollte aus den Akten hervorgehen, daß das Objekt an uns herangetreten ist.«

Ralph Loring hatte sich angewidert von dem Mann abgewandt.

Der Verkehr war inzwischen eher noch dichter geworden. Loring hatte sich schon beinahe dafür entschieden, die ungefähr zwanzig Blocks bis zu seiner Wohnung zu Fuß zu gehen, als neben ihm ein weißer Volvo anhielt.

»Steigen Sie ein! Mit so erhobener Hand sehen Sie ja albern aus.«

»Oh, Sie sind es. Vielen Dank.« Loring öffnete die Tür und schob sich auf den engen Vordersitz. Er stellte sich die Aktentasche auf den Schoß.

Er brauchte die dünne schwarze Kette um sein Handgelenk nicht zu verbergen. Cranston war ebenfalls ein Außendienst-Mann, ein Spezialist für Übersee. Cranston hatte den größten Teil der Vorarbeiten für den Auftrag geleistet, für den Loring jetzt verantwortlich war.

»Das war eine lange Sitzung. Haben Sie etwas erreicht?«

»Grünes Licht.«

»Höchste Zeit.«

»Wir hatten zwei stellvertretende Staatsanwälte und ein besorgtes Memorandum vom Weißen Haus.«

»Gut. Die Geo-Abteilung hat heute morgen die letzten Berichte von Force-Mediterranean bekommen. Eine Unmenge von Routen sind geändert worden. Alles bestätigt. Die Felder in Ankara und in Konya im Norden, die Projekte in Sidi Barrani und Rashid, selbst die algerischen Kontingente reduzieren systematisch ihre Produktion. Das wird recht schwierig werden.«

»Was zum Teufel wollen Sie denn? Ich dachte, es ginge darum, sie auszumerzen. Ihr seid doch nie zufrieden.«

»Das wären Sie auch nicht. Routen, die wir kennen, können wir unter Kontrolle halten; aber was um Gottes willen wissen wir schon von Orten wie ... Porto Belocruz, Pilcomayo, ein halbes Dutzend Namen in Paraguay, Brasilien und Guayana, die keiner aussprechen kann? Die Dinge haben sich völlig verändert, Ralph.«

»Dann holen Sie doch die Südamerika-Spezialisten. Die CIA wimmelt doch förmlich von den Leuten.«

»Geht nicht. Nicht einmal Karten dürfen wir verlangen.«

»Das ist doch albern.«

»Das ist Spionage. Wir halten uns sauber. Wir gehen streng nach den Regeln von Interpol vor; keine Sondertouren. Ich dachte, das wissen Sie.«

»Weiß ich auch«, erwiderte Loring müde. »Trotzdem ist es albern.«

»Sie kümmern sich um New England, USA. Wir übernehmen die Pampas oder was sie sonst sind – so läuft das.«

»New England, USA, ist ein verdammter Mikrokosmos. Das ist es, was mir Angst macht. Was ist denn aus all diesen poetischen Schilderungen von rustikalen Gartenzäunen, Yankeegeist und mit Efeu bedeckten Ziegelmauern geworden?«

»Die Poesie ist anders geworden. Sie müssen eben zusehen, daß Sie da irgendwie mitkommen.«

»Ihr Mitgefühl ist überwältigend. Vielen Dank.«

»Sie klingen so entmutigt.«

»Die Zeit reicht nicht ...«

»Das tut sie doch nie.« Cranston lenkte den kleinen Wagen in eine schnellere Spur, nur um dann an der Ecke Nebraska und Achtzehnte Straße festzustellen, daß die Spur verstopft war. Seufzend schaltete er in den Leerlauf und zuckte die Achseln. Er sah zu Loring hinüber, der seinerseits ausdruckslos die Windschutzscheibe anstarrte. »Zumindest haben Sie grünes Licht bekommen. Das ist schon etwas.«

»Sicher. Aber das falsche Personal.«

»Oh ..., verstehe. Ist er das?« Cranston deutete mit einer Kopfbewegung auf Lorings Aktentasche.

»Das ist er. Vom Tag seiner Geburt an.«

»Wie heißt er denn?«

»Matlock. James B. Matlock II. Das B steht für Barbour, sehr alte Familie — zwei sehr alte Familien. James Matlock, B.A., M.A., Ph.D. Eine Koryphäe auf dem Gebiet der gesellschaftlichen und politischen Einflüsse auf die Literatur des Elisabethanischen Zeitalters. Was sagen Sie jetzt?«

»Du großer Gott! Und das ist seine Qualifikation? Wo fängt er denn an, Fragen zu stellen? Beim Fakultätstee für pensionierte Professoren?«

»Nein. Das wäre nicht so schlimm; jung genug ist er. Seine Qualifikation wird von der Sicherheitsabteilung mit ›defekt, aber außergwöhnlich mobil‹ umschrieben. Ist das nicht ein reizender Satz?«

»Richtig anregend. Und was soll das bedeuten?«

»Das soll einen Mann beschreiben, der nicht besonders nett ist. Wahrscheinlich wegen irgendwelcher dunkler Punkte in seinen Militärakten oder einer Scheidung – ich bin sicher, daß es diese Militärgeschichte ist –, aber er ist trotz dieses unüberwindlichen Handikaps sehr beliebt.«

»Ich mag ihn bereits.«

»Das ist mein Problem. Ich nämlich auch.«

Die beiden Männer verstummten. Cranston war lange genug im Außendienst tätig gewesen, um es zu spüren, wann ein Kollege für sich alleine denken mußte. Gewisse Schlüsse – oder zumindest Rechtfertigungen – alleine ziehen mußte. Die meiste Zeit war das einfach.

Ralph Loring dachte über den Mann nach, dessen Leben so vollständig in seiner Aktentasche ruhte, aus einem Dutzend Datenbanken zusammengezogen. James Barbour Matlock war sein Name, aber die Person, die hinter dem Namen stand, wollte noch keine Form annehmen. Und das störte Loring: Matlocks Leben war von unangenehmen, ja gewaltsamen Ungereimtheiten bestimmt worden.

Er war der einzige überlebende Sohn zweier ältlicher, ungemein wohlhabender Eltern, die ihre Pension unter sehr angenehmen Lebensumständen in Scarsdale, New York, verlebten. Die Ausbildung, die er mitgemacht hatte, war typisch für das Establishment der Ostküste: Andover und Amherst, in der angemessenen Erwartung einer beruflichen Karriere in Manhattan – im Bankwesen, als Makler oder in der Werbebranche. In den Aufzeichnungen, die seine Schulzeit und seine frühen Universitätsjahre schilderten, gab es nichts, was auf eine Abweichung von diesem Muster deutete. Tatsächlich schien seine Verehelichung mit einem Mädchen aus der prominenten Gesellschaft von Greenwich das noch zu bestätigen.

Und dann widerfuhr James Barbour Matlock einiges, und Loring wünschte, er könnte es verstehen. Zuerst die Militärzeit.

Es war Anfang der sechziger Jahre, und wenn Matlock einer sechsmonatigen Verlängerung seiner Dienstzeit zugestimmt hätte, hätte er irgendwo ein bequemes Leben hinter einem Schreibtisch, als Offizier in der Zahlmeisterei oder dergleichen, verleben können — wahrscheinlich, wenn man die Beziehungen seiner Familie bedachte, sogar in Washington oder New York. Statt dessen las sich seine Dienstakte wie die eines Halbstarken: eine Anzahl von Verstößen und Insubordinationen, die ihm einen höchst unerwünschten Einsatz eintrugen — Vietnam und die dort schnell eskalierenden Feindseligkeiten. Als er dann im Mekong Delta war, trug ihm sein militärisches Verhalten zwei summarische Kriegsgerichtsurteile ein.

Und doch schien hinter seinem Verhalten keinerlei ideologische Motivation zu stehen, nur eine schlechte Anpassung  – wenn man überhaupt von Anpassung reden konnte.

Seine Rückkehr ins Zivilleben zeichnete sich durch weitere Schwierigkeiten aus, zuerst mit seinen Eltern und dann mit seiner Frau. Unerklärlicherweise nahm sich James Barbour Matlock, dessen schulische Karriere durchaus die eines Gentleman, wenn auch keine hervorragende, gewesen war, eine kleine Wohnung in Morningside Heights und trat in die Columbia Universität ein, mit dem Ziel, sich dort zu habilitieren.

Seine Frau ertrug das dreieinhalb Monate lang, entschied sich dann für eine unauffällige Scheidung und verließ Matlocks Leben.

Die folgenden paar Jahre boten nur wenig Interessantes. Matlock, der Unverbesserliche, war im Begriff, Matlock, der Gelehrte, zu werden. Er arbeitete unermüdlich, erhielt sein Master’s Degree in vierzehn Monaten und zwei Jahre später den Doktortitel. Es kam zu einer Art Aussöhnung mit seinen Eltern und anschließend einer Stellung im English Department der Carlyle Universität in Connecticut. Seitdem hatte Matlock eine Anzahl Bücher und Artikel veröffentlicht und sich in der akademischen Gemeinschaft eine beneidenswerte Reputation erworben. Er war offensichtlich populär – »außergewöhnlich mobil« (ein verdammt alberner Ausdruck); er erfreute sich bescheidenen Wohlstands und hatte offensichtlich die streitsüchtigen Wesenszüge abgelegt, die er während seiner aggressiven Jahre an den Tag gelegt hatte. Natürlich hatte er kaum Anlaß, unzufrieden zu sein, dachte Loring. James Barbour Matlock II. hatte sein Leben mit angenehmer Routine erfüllt; er war ringsum abgesichert, was auch ein Mädchen einschloß. Augenblicklich unterhielt er mit angemessener Diskretion eine Beziehung zu einer Studentin der oberen Semester, die Patricia Ballantyne hieß. Sie unterhielten separate Wohnungen, waren aber nach den Akten liiert. Soweit festzustellen war, stand jedoch keine Verehelichung bevor. Das Mädchen war damit beschäftigt, ihre Doktorarbeit in Archäologie abzuschließen, anschließend erwarteten sie ein Dutzend Stipendien. Stipendien, die in ferne Länder und zu unbekannten Fakten führten. Patricia Ballantyne war nicht der Typ, der heiratete; wenigstens nicht nach Ansicht der Datenbanken.

Aber wie stand es um Matlock? überlegte Ralph Loring. Was entnahm er den Fakten? Wie konnten sie seine Wahl rechtfertigen?

Das konnten sie nicht. Unmöglich. Nur ein ausgebildeter Profi konnte den Forderungen der gegenwärtigen Lage gerecht werden. Die Probleme waren viel zu kompliziert, wimmelten für einen Amateur geradezu von Fußangeln.

Die schreckliche Ironie daran war, daß dieser Matlock, wenn er Fehler machte und in diesen Fußangeln hängen blieb, viel mehr und viel schneller erreichen konnte als jeder Profi.

Und dabei sein Leben verlieren.

»Was veranlaßt Sie zu der Annahme, daß er akzeptieren wird?« Cranston näherte sich inzwischen Lorings Wohnung und begann neugierig zu werden.

»Was? Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«

»Welches Motiv hat der Mann denn zu akzeptieren? Warum sollte er denn zusagen?«

»Ein jüngerer Bruder. Zehn Jahre jünger, um es genau zu sagen. Die Eltern sind ziemlich alt. Sehr reich und sehr distanziert. Dieser Matlock gibt sich die Schuld.«

»Wofür?«

»Den Bruder. Er hat sich vor drei Jahren mit einer Überdosis Heroin umgebracht.«

Ralph Loring steuerte seinen gemieteten Wagen langsam die breite, von Bäumen gesäumte Straße entlang, vorbei an den großen alten Häusern, die auf gepflegten Rasenflächen standen. Bei einigen handelte es sich um die Häuser von Verbindungen, aber davon gab es viel weniger, als es noch vor zehn Jahren gegeben hatte. Die gesellschaftliche Exklusivität der fünfziger und der frühen sechziger Jahre war am Schwinden. Einige der großen Gebäude trugen jetzt andere Namen. The House, Aquarius (natürlich), Afro-Commons, Warwick, Lumumba Hall.

Die Carlyle Universität von Connecticut war eine jener mittelgroßen ›Prestige‹-Anstalten, von denen Neuengland wimmelt. Eine Verwaltung unter Leitung ihres brillanten Präsidenten, Dr. Adrian Sealfont, war dabei, dem College eine neue Struktur zu geben, und gab sich Mühe, es in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinüberzuleiten. Es gab natürlich die unvermeidlichen Proteste, die Zahl der Bärte nahm zu und auch die der afrikanischen Seminare als Gegengewicht zu stillem Wohlstand, Club-Blazers und Segelregatten, die von ehemaligen Zöglingen der Anstalt finanziert wurden. Hard Rock und Fakultätstänze suchten nach Möglichkeiten der Koexistenz.

Während Loring sich das friedliche Universitätsgelände im hellen Frühlingssonnenlicht ansah, überlegte er, daß es eigentlich kaum vorstellbar schien, daß eine solche Gemeinschaft wirkliche Probleme barg.

Jedenfalls ganz sicher nicht das Problem, das ihn hierher geführt hatte.

Und doch war es so.

Carlyle war eine Zeitbombe, die, wenn sie einmal detonierte, außergewöhnliche Opfer fordern würde. Und daß sie explodieren würde, war für Loring unvermeidbar. Was vorher geschah, war nicht vorauszusehen. Ihm oblag es, hier lenkend einzugreifen. Und James Barbour Matlock, B.A., M.A., Ph.D., war der Schlüssel dazu.

Loring fuhr an dem attraktiven zweistöckigen Fakultätshaus vorbei, das vier Apartments enthielt, jedes mit separatem Eingang. Es galt als eines der besseren Fakultätshäuser und wurde gewöhnlich von jungen Familien bewohnt, die noch nicht ganz den Status erreicht hatten, dessen es bedurfte, um ein eigenes Haus zugewiesen zu bekommen. Matlocks Wohnung lag im Obergeschoß und blickte nach Westen.

Loring fuhr um den Block herum und parkte auf der anderen Straßenseite vor Matlocks Türe. Er konnte nicht lange bleiben; er drehte sich immer wieder im Sitz herum und sah sich die Wagen und die Sonntagmorgen-Spaziergänger an und vergewisserte sich, daß er nicht seinerseits beobachtet wurde. Das war sehr wichtig. Am Sonntag pflegte der junge Professor, nach den Geheimdienstakten, bis Mittag Zeitung zu lesen. Dann fuhr er zum nördlichen Ende von Carlyle, wo Patricia Ballantyne in einem der Apartments wohnte, die man für graduierte Studenten bereit hielt. Das heißt, er fuhr dann zu ihr, wenn sie nicht die Nacht mit ihm verbracht hatte. Dann pflegten die beiden aufs Land zu fahren, um zu Mittag zu essen. Anschließend kehrten sie entweder in Matlocks Apartment zurück oder fuhren nach Süden, nach Hartford oder New Haven. Es gab natürlich Variationen. Häufig fuhren Matlock und die Ballantyne gemeinsam ins Wochenende und trugen sich irgendwo als Mann und Frau ein. Aber dieses Wochenende nicht. Das hatte man ihm bestätigt.

Loring sah auf die Uhr. Es war zwölf Uhr vierzig, aber Matlock hielt sich noch in seiner Wohnung auf. Die Zeit begann knapp zu werden. In ein paar Minuten erwartete man Loring an der Crescent Street. 217 Crescent. Dort sollte ein Kontakt stattfinden und dann sein zweiter Fahrzeugtausch.

Er wußte, daß für ihn keine Notwendigkeit bestand, Matlock zu beobachten. Schließlich hatte er die Akte gründlich gelesen, sich Dutzende von Fotografien angesehen und sogar kurz mit Dr. Sealfont, dem Präsidenten von Carlyle, gesprochen. Nichtsdestoweniger hatte jeder Agent seine eigenen Arbeitsmethoden. Zu der seinen gehörte, daß er seine Objekte stundenlang beobachtete, ehe er den Kontakt herstellte. Einige Kollegen im Justizministerium behaupteten, daß ihm das ein Gefühl der Macht verliehe. Loring wußte nur, daß es ihm ein Gefühl des Vertrauens vermittelte.

Matlocks Haustüre öffnete sich, und ein hochgewachsener Mann trat ins Freie. Er trug Khakihosen, Slipper und einen hellbraunen Rollkragenpullover. Loring sah, daß er einigermaßen gut aussah, scharfe Züge und ziemlich langes, blondes Haar hatte. Er vergewisserte sich, daß die Türe abgeschlossen war, setzte eine Sonnenbrille auf und ging um den Bürgersteig herum zu einem kleinen Parkplatz, wenigstens nahm Loring das an. Wenige Minuten später fuhr James Barbour Matlock in einem Triumph-Sportwagen aus der Einfahrt.

Der Agent überlegte, daß sein Objekt wirklich ein angenehmes Leben zu führen schien. Ausreichendes Einkommen, keinerlei Verpflichtungen, Arbeit, die ihm Spaß machte, und sogar eine bequeme Beziehung zu einem attraktiven Mädchen.

Loring überlegte, ob alles für James Barbour Matlock in drei Wochen noch genauso sein würde. Denn Matlocks Welt war im Begriff, in einen Abgrund gestürzt zu werden.

2

Matlock drückte das Gaspedal seines Triumph bis zum Boden durch; der schnittige Wagen vibrierte, als das Tachometer zweiundsechzig Meilen pro Stunde erreichte. Nicht, daß er es eilig hatte – Pat Ballantyne würde nicht weggehen –, er war nur verärgert. Nun, eigentlich nicht verärgert, eher irritiert. Das war er gewöhnlich, wenn er von zu Hause angerufen worden war. Daran würde auch die Zeit nie etwas ändern. Auch Geld nicht, falls er je nennenswerte Beträge verdiente – Beträge, die sein Vater für angemessen hielt. Was ihn so irritierte, war diese Herablassung. Und die wurde schlimmer, je älter sein Vater und seine Mutter wurden. Statt sich mit der Situation abzufinden, hackten sie beständig darauf herum. Sie bestanden darauf, daß er die nächsten Ferien in Scarsdale verbrachte, damit er und sein Vater täglich in die Stadt fahren konnten, um dort die Banken aufzusuchen, die Anwälte. Um sie auf das Unvermeidbare vorzubereiten, falls und wenn es je geschah.

»... Es gibt eine ganze Menge, was du verdauen mußt, mein Sohn«, hatte sein Vater mit Grabesstimme gesagt. »Du bist ja nicht darauf vorbereitet, weißt du ...«

»... Du bist alles, was uns noch bleibt, Liebling«, hatte seine Mutter mit spürbarem Schmerz in der Stimme gesagt.

Matlock wußte, daß sie den Märtyrerabschied von dieser Welt genossen, auf den sie sich vorbereiteten. Sie hatten der Welt ihren Stempel aufgedrückt — zumindest hatte sein Vater das getan. Was ihn freilich immer wieder daran amüsierte, war, daß seine Eltern so stark wie Packesel waren und so gesund wie Wildpferde. Ohne Zweifel würden sie ihn um Jahrzehnte überleben.

In Wahrheit war ihr Wunsch, ihn dort zu haben, viel stärker als der seine. So war es die letzten drei Jahre gewesen, seit Davids Tod. Vielleicht, dachte Matlock, als er vor Pats Apartment anhielt, wurzelte seine Gereiztheit in seiner eigenen Schuld. Was David anging, hatte er nie seinen Frieden mit sich gemacht. Das würde er auch nie.

Und er wollte auch seine Ferien nicht in Scarsdale verbringen. Er wollte die Erinnerungen nicht. Er hatte jetzt jemanden, der ihm half die schrecklichen Jahre zu vergessen – die Jahre des Todes, ohne Liebe, die Jahre der Unschlüssigkeit. Er hatte versprochen, mit Pat nach St. Thomas zu fahren.

Die Landgaststätte nannte sich Cheshire Cat. Sie war, wie der Name schon andeutete, sehr britisch. Das Essen war ordentlich, die Drinks reichlich, alles Faktoren, die zur Beliebtheit des Lokales beitrugen. Sie hatten ihre zweite Bloody Mary intus und Roastbeef und Yorkshire Pudding bestellt. In dem geräumigen Speisesaal hielten sich vielleicht ein Dutzend Paare und einige Familien auf. In der Ecke saß ein einzelner Mann, der die New York Times las. Er hatte die Seiten senkrecht gefaltet, so wie man es in der Eisenbahn tat.

»Wahrscheinlich ein zorniger Vater, der hier auf einen Sohn wartet, welcher sich volllaufen lassen möchte. Ich kenne den Typ. Solche Leute fahren jeden Tag im Scarsdale-Zug.«

»Er ist zu entspannt.«

»Die lernen es, innere Spannung zu verbergen. Das wissen nur ihre Apotheker. Das ganze Gelusil.«

»Trotzdem gibt es immer äußere Zeichen, und er hat keine. Er sieht wirklich zufrieden aus. Du hast unrecht.«

»Du kennst bloß Scarsdale nicht. Selbstzufriedenheit ist dort ein eingetragenes Markenzeichen. Ohne das kann man kein Haus kaufen.«

»Weil wir schon davon reden, was wirst du jetzt machen? Ich finde wirklich, wir sollten St. Thomas streichen.«

»Ich nicht. Der Winter war hart; wir haben uns ein wenig Sonne verdient. Außerdem sind sie sehr unvernünftig. Ich will gar nichts über die Matlock-Manipulationen lernen; das ist Zeitvergeudung. In dem unwahrscheinlichen Fall, daß sie je wirklich sterben, werden das andere übernehmen.«

»Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, daß das Ganze nur ein Vorwand ist. Die wollen dich eine Weile um sich haben. Ich finde es rührend, daß sie es so anpacken.«

»Es ist gar nicht rührend; das ist ein typischer, durchsichtiger Versuch meines Vaters, mich zu bestechen ... Schau. Unser Bahnfahrer hat aufgegeben.« Der Mann mit der Zeitung leerte sein Glas und erklärte der Bedienung, daß er nichts zu essen bestellen würde. »Ich wette, er hat sich gerade die Haare und die Lederjacke seines Sohnes vorgestellt – vielleicht auch die nackten Füße – und dann hat er es mit der Angst bekommen.«

»Ich glaube, du wünschst das dem armen Mann nur.«

»Nein, ganz bestimmt nicht. Da bin ich zu mitfühlend. Ich kann nur den Ärger nicht ertragen, der immer mit dieser Auflehnung einhergeht. Ich schäme mich dann immer.«

»Du bist ein sehr komischer Mann, Schütze Matlock«, sagte Pat und spielte damit auf Matlocks ruhmlose Militärlaufbahn an. »Wenn wir gegessen haben, möchte ich nach Hartford fahren. Dort wird ein guter Film gespielt.«

»Oh, tut mir leid, das habe ich ganz vergessen. Das geht heute nicht ... Sealfont hat mich heute morgen angerufen, heute abend soll eine Besprechung stattfinden. Er hat gesagt, es wäre wichtig.«

»Worum geht es denn?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht gibt es Schwierigkeiten mit den Afrika-Studien. Dieser ›Tom‹, den ich mir von Howard geholt habe ... Ich glaube, er steht eine Spur rechts von Ludwig XIV.«

Sie lächelte. »Wirklich, du bist schrecklich.«

Matlock nahm ihre Hand.

Die Residenz – das Wort Haus wäre hier unpassend gewesen — von Dr. Adrian Sealfont war angemessen imposant. Es handelte sich um eine große weiße Villa im Kolonialstil mit breiten Marmorstufen, die zu einer mächtigen Doppeltüre mit Reliefschnitzereien hinaufführten. Die Vorderseite des Gebäudes wurde über die ganze Breite von ionischen Säulen gesäumt. Bei Sonnenuntergang wurden im Rasen verteilte Scheinwerfer eingeschaltet.

Matlock ging die Treppe hinauf und drückte den Klingelknopf. Dreißig Sekunden später wurde er von einem Hausmädchen eingelassen, die ihn durch die Halle in Dr. Sealfonts Bibliothek führte.

Adrian Sealfont stand mit zwei anderen Männern mitten im Raum. Matlock war wie stets von der Persönlichkeit des Mannes beeindruckt. Er war knapp über sechs Fuß groß, hager, mit scharf geschnittenen Zügen, und strahlte eine Wärme aus, die alle erfaßte, die in seiner Nähe waren. Von ihm ging eine echte Bescheidenheit aus, die seinen brillanten Geist vor allen verbarg, die ihn nicht kannten. Matlock schätzte ihn ungemein.

»Hello, James.« Sealfont streckte Matlock die Hand hin. »Mister Loring, darf ich Ihnen Dr. Matlock vorstellen?«

»Wie geht es Ihnen? Tag, Sam.« Damit begrüßte Matlock den dritten Mann, Samuel Kressel, den Dekan von Carlyle.

»Hello, Jim.«

»Wir sind uns schon irgendwo begegnet, nicht wahr?« fragte Matlock und sah Loring an. »Ich versuche, mich zu erinnern.«

»Das wäre mir sehr peinlich.«

»Da wette ich!« lachte Kressel, dessen Sinn für Humor immer etwas beleidigend war. Matlock mochte Sam Kressel auch. Mehr weil er wußte, welchen Schmerz ihm seine Stellung bereitete – das, was er ertragen mußte –, als um des Mannes selbst willen.

»Was wollen Sie damit sagen, Sam?«

»Das will ich beantworten«, unterbrach Adrian Sealfont. »Mr. Loring ist für die Bundesregierung tätig, im Justizministerium. Ich habe mich bereit erklärt, ein Zusammentreffen von Ihnen drei zu arrangieren, aber dem, was Mr. Loring und Sam gerade erwähnten, habe ich nicht zugestimmt. Offenbar hat es Mr. Loring für richtig gehalten, Sie — wie sagt man da? – zu überwachen. Ich habe mich dagegen verwahrt.« Sealfont sah Loring gerade an.

»Sie haben mich was?« fragte Matlock leise.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Loring. »Das ist eine persönliche Idiosynkrasie und hat mit unserem Anliegen nichts zu tun.«

»Sie sind der Bahnfahrer im Cheshire Cat.«

»Der was?« fragte Sam Kressel.

»Der Mann mit der Zeitung.«

»Richtig. Ich wußte, daß Sie mich heute nachmittag bemerkt hatten. Ich dachte, Sie würden mich sofort wiedererkennen. Ich wußte nicht, daß ich wie ein Bahnfahrer aussah.«

»Das war die Zeitung. Wir nannten Sie einen zornigen Vater.«

»Das bin ich manchmal. Aber nicht oft. Meine Tochter ist erst sieben.«

»Ich denke, wir sollten anfangen«, sagte Sealfont. »Übrigens, James, ich bin erleichtert, daß Sie so verständnisvoll reagieren.«

»Ich reagiere nur mit Neugierde. Und mit einem gesunden Maß an Furcht. Um ehrlich zu sein, ich habe schreckliche Angst.« Matlock lächelte zögernd. »Was soll das Ganze?«

»Trinken wir doch einen Schluck, während wir uns unterhalten.« Adrian Sealfont erwiderte sein Lächeln und ging zu seiner mit Kupferblech überzogenen Bar in der Ecke. »Sie nehmen doch Bourbon und Wasser, nicht wahr, James? Und Sam, einen doppelten Scotch auf Eis, stimmt’s? Wie stehts mit Ihnen, Mr. Loring?«

»Scotch wäre mir recht. Nur Wasser.«

»Kommen Sie, James, helfen Sie mir.« Matlock ging zu Sealfont hinüber und half ihm.

»Ich muß wirklich über Sie staunen, Adrian«, sagte Kressel und nahm in einem Ledersessel Platz. »Wie kommen Sie dazu, sich die Trinkgewohnheiten Ihrer Untergebenen zu merken?«

Sealfont lachte. »Das hat einen ganz logischen Grund. Und es beschränkt sich ganz sicherlich nicht auf meine ... Kollegen. Ich habe für diese Anstalt ganz bestimmt mehr Geld mit Alkohol zusammengebracht als mit Hunderten von Berichten, die die besten analytischen Geister den entsprechenden Kreisen vorgelegt haben.« Adrian Sealfont hielt inne und lachte glucksend – ein Lachen, das ebenso sich selbst, wie den im Raum Anwesenden galt. »Einmal habe ich vor der Organisation der Universitätspräsidenten eine Rede gehalten. Als dann die Diskussion eröffnet wurde, fragte man mich, welchem Umstand ich Carlyles reichliche Dotationen zuschrieb ... Ich fürchte, meine Antwort war, ›jenen alten Völkern, die die Kunst der Gärung der Weintraube erfunden haben‹ ... Meine verstorbene Frau brüllte vor Lachen, sagte mir aber nachher, ich hätte den Stiftungsfond um ein Jahrzehnt zurückgeworfen.«

Die drei Männer lachten; Matlock verteilte die Gläser.

»Auf Ihr Wohl«, sagte der Präsident von Carlyle und hob bescheiden sein Glas. Als alle getrunken hatten, meinte er: »Das ist jetzt etwas peinlich, James ... Sam. Vor einigen Wochen hat Mr. Lorings Vorgesetzter mit mir Verbindung aufgenommen. Er bat mich, nach Washington zu kommen, in einer Angelegenheit, die von äußerster Wichtigkeit sei und sich auf Carlyle beziehe. Ich kam der Bitte nach und wurde mit einer Situation vertraut gemacht, die ich mich immer noch zu glauben weigere. Gewisse Informationen, die Mr. Loring Ihnen vermitteln wird, scheinen an der Oberfläche betrachtet unwiderlegbar. Aber dies ist die Oberfläche: Gerüchte; aus dem Zusammenhang gerissene Erklärungen, schriftlich und verbal; Indizienbeweise, die vielleicht ohne Bedeutung sind. Andererseits ist es natürlich möglich, daß die Vermutungen Substanz haben, wenigstens in gewissem Maße. Und wegen dieser Möglichkeit habe ich dieser Zusammenkunft zugestimmt. Ich möchte jedoch eindeutig klarstellen, daß ich nichts damit zu tun haben werde. Carlyle wird nichts damit zu tun haben. Was immer in diesem Raum jetzt geschehen wird, wird von mir gebilligt, aber nicht offiziell sanktioniert. Sie handeln als Einzelpersonen, nicht als Mitglieder der Fakultät oder der Leitung von Carlyle. Falls Sie überhaupt beschließen, tätig zu werden ... So, James, wenn das Ihnen jetzt nicht ›Angst macht‹, weiß ich nicht, was sonst.« Sealfont lächelte wieder, aber das war nur Fassade.

»Es macht mir Angst«, sagte Matlock tonlos.

Kressel stellte sein Glas ab und beugte sich in seinem Sessel nach vorne. »Sollen wir aus dem, was Sie gesagt haben, entnehmen, daß Sie Lorings Anwesenheit in diesem Raum nicht gutheißen? Oder das, was er will, was immer es auch sein mag?«

»Das ist eine Art Grauzone. Wenn seine Behauptungen Substanz haben, kann ich nicht gut den Rücken kehren. Andererseits wird heutzutage kein Universitätspräsident auf bloße Spekulationen hin offen mit einer Regierungsbehörde kollaborieren. Sie werden mir verzeihen, Mr. Loring, aber zu viele Leute in Washington haben die akademischen Gemeinschaften ausgenützt. Ich beziehe mich dabei ganz speziell auf Michigan, Columbia und Berkeley ... unter anderem. Einfache Polizeiangelegenheiten sind eine Sache, Infiltration ... nun, das ist etwas völlig anderes.«

»Infiltration? Das ist ein ziemlich starkes Wort«, sagte Matlock.

»Vielleicht ist es zu stark. Ich will die Terminologie Mr. Loring überlassen.«

Kressel griff nach seinem Glas. »Darf ich fragen, weshalb wir – Matlock und ich – ausgewählt worden sind?«

»Auch darauf wird Mr. Loring eingehen. Aber da ich dafür verantwortlich bin, daß Sie hier sind, Sam, will ich Ihnen meine Gründe nennen. Als Dekan sind Sie besser als irgend jemand sonst auf die Angelegenheiten des Campus eingestimmt... Sie werden es bemerken, wenn Mr. Loring oder seine Kollegen ihre Grenzen überschreiten ... Ich glaube, das ist alles, was ich zu sagen habe. Ich muß jetzt in die Versammlung. Dieser Filmemacher, Strauss, spricht heute abend, und ich muß mich zeigen.«

Sealfont ging zur Bar und stellte sein Glas auf das Tablett. Die drei anderen Männer erhoben sich.

»Eines noch, ehe Sie gehen«, sagte Kressel mit gerunzelter Stirn. »Angenommen, einer von uns oder auch wir beide beschließen, daß wir nichts mit Mr. Lorings ... Geschäften zu tun haben wollen?«

»Dann lehnen Sie ab.« Adrian Sealfont ging zur Türe der Bibliothek. »Sie haben keinerlei Verpflichtungen. Das möchte ich klarstellen. Mr. Loring ist sich darüber ebenfalls im klaren. Guten Abend, Gentlemen.« Sealfont ging in die Halle hinaus und schloß die Türe hinter sich.

3

Die drei Männer blieben stumm, sie standen reglos in der Bibliothek und hörten, wie die Haustüre geöffnet und wieder geschlossen wurde. Kressel drehte sich um und sah Loring an. »Anscheinend hat man Ihnen jetzt den Schwarzen Peter zugesteckt.«

»So geht es mir in solchen Situationen meistens. Lassen Sie mich zuerst meine Position klarstellen; das erklärt diese Zusammenkunft dann teilweise. Zu allererst sollten Sie wissen, daß ich dem Justizministerium angehöre, dem Rauschgift -Dezernat.«

Kressel setzte sich und nippte an seinem Drink. »Sie sind nicht hierhergereist, um uns zu sagen, daß vierzig Prozent der Studentenschaft Marihuana und ein paar andere Dinge benutzen, oder? Wenn das nämlich der Fall ist, müssen Sie wissen, daß uns das bekannt ist.«

»Nein, das ist nicht der Grund. Ich gehe davon aus, daß Sie solche Dinge wissen. Jeder weiß das. Nur was den Prozentsatz angeht, bin ich nicht so sicher. Sie könnten zu niedrig schätzen.«

Matlock leerte seinen Bourbon und beschloß, sich noch einen zu nehmen. Während er zu dem kupferbelegten Bartisch hinüberging, sagte er: »Er mag niedrig oder hoch sein, aber vergleichsweise gesprochen – in bezug auf andere Universitäten — sind wir nicht in Panik.«

»Dazu haben Sie auch absolut keinen Anlaß. Nicht deswegen.«

»Ist da noch etwas anderes?«

»Allerdings.« Loring ging zu Sealfonts Schreibtisch hinüber und bückte sich, um seinen Aktenkoffer vom Boden aufzuheben. Der Mann aus Washington und der Präsident von Carlyle hatten offensichtlich bereits miteinander gesprochen, ehe Matlock und Kressel eingetroffen waren. Loring stellte den Aktenkoffer auf den Tisch und klappte ihn auf. Matlock ging zu seinem Sessel zurück und setzte sich.

»Ich möchte Ihnen gerne etwas zeigen.« Loring griff in den Aktenkoffer und entnahm ihm einen dicken Bogen silberfarbenen Briefpapiers, genauer gesagt, einen halben Bogen. Man hatte ihn diagonal mit einer Art Zackenschere zerschnitten. Die Silberschicht war jetzt ziemlich abgegriffen, offenbar war der Bogen schon durch viele Hände gegangen. Er ging auf Matlocks Sessel zu und reichte ihm das Blatt. Kressel stand auf und stellte sich daneben.

»Es ist eine Art Brief. Oder eine Ankündigung. Mit Nummern«, sagte Matlock. »Das ist Französisch, nein, Italienisch, denke ich. Ich komme nicht dahinter.«

»Sehr gut, Professor«, sagte Loring. »Tatsächlich handelt es sich um einen korsischen Dialekt, phonetisch geschrieben. Man nennt das Oltremontan. Dieser Dialekt wird in den südlichen Hügeln gesprochen. Man kann ihn ebenso wie das Etruskische nicht ganz übersetzen. Die Codes, die hier verwendet sind, sind so einfach, daß man sie eigentlich gar nicht als Codes bezeichnen kann. Ich glaube auch nicht, daß sie das sein sollten; es sind gar nicht so viele. Also steht hier genug, um uns zu sagen, was wir wissen müssen.«

»Und das wäre?« fragte Kressel und nahm Matlock das seltsam aussehende Papier weg.

»Zuerst möchte ich erklären, wie wir es bekamen. Ohne diese Erklärung ist die Information bedeutungslos.«

»Bitte.« Kressel reichte das schmutzige Silberpapier dem Agenten zurück, worauf dieser es zum Schreibtisch trug und sorgfältig in seinem Aktenkoffer verstaute.

»Ein Rauschgiftkurier — also ein Mann, der mit Instruktionen, Geld und Botschaften in ein spezifisches Ursprungsgebiet geht – hat das Land vor sechs Wochen verlassen. Tatsächlich war er mehr als ein Kurier; er war in der Verteilungshierarchie ziemlich mächtig; man könnte sagen, er machte Ferien im mediterranen Stil. Vielleicht überprüfte er auch seine Investitionen ... Jedenfalls wurde er von Bergleuten in der Toros Daglari getötet — das ist in der Türkei, ein Anbaugebiet. Es heißt, er hätte die Aktivitäten dort eingestellt, und es wäre zu Gewalttätigkeiten gekommen. Das akzeptieren wir. Die Felder im Mittelmeerbereich werden im Augenblick dicht gemacht. Sie werden nach Südamerika verlegt ... Man hat das Papier bei ihm gefunden, in einem Leibgurt. Sie haben ja gesehen, man hat es ziemlich herumgereicht. Es ging von einer Hand in die andere, wurde dabei immer teurer, von Ankara bis Marrakesch. Schließlich kaufte es ein Agent von Interpol, und man hat es an uns weitergeleitet.«

»Von Toros Dag-wie-auch-immer-das-heißt nach Washington. Dieses Papier hat eine ziemliche Reise mitgemacht«, sagte Matlock.

»Eine ziemlich teure«, fügte Loring hinzu. »Nur, daß es jetzt nicht in Washington ist, sondern hier. Von Toros Daglari nach Carlyle, Connecticut.«

»Ich nehme an, das hat etwas zu bedeuten.« Sam Kressel setzte sich und beobachtete den Regierungsagenten aufmerksam.

»Es bedeutet, daß die Information in jenem Papier Carlyle betrifft.« Loring lehnte sich gegen den Schreibtisch und sprach ganz ruhig, ohne jede Eindringlichkeit. Er hätte ebensogut ein Lehrer sein können, der vor einer Klasse stand und einen trockenen, aber wichtigen mathematischen Lehrsatz erklärte. »In dem Papier steht, daß am zehnten Mai eine Konferenz stattfinden wird, morgen in drei Wochen. Die Ziffern hier sind die geographischen Koordinaten der Gegend um Carlyle – Längen- und Breitengrade, ganz genau. Das Papier selbst identifiziert seinen Besitzer als einen der zu dieser Konferenz Gerufenen. Jedes Papier besitzt entweder eine dazupassende Hälfte oder ist aus einem Muster geschnitten, das man anpassen kann – einfache zusätzliche Sicherheit. Der genaue Ort fehlt.«

»Augenblick.« Kressels Stimme klang kontrolliert aber scharf; er war erregt. »Geht das nicht ein wenig schnell, Loring? Sie geben uns hier Informationen – offenbar geheime Informationen –, ehe Sie Ihr Anliegen vorgebracht haben. Die Administration dieser Universität ist nicht daran interessiert, sich in die Ermittlungen der Regierung einzuschalten. Ehe Sie weitere Fakten vorlegen, sollten Sie besser sagen, was Sie wollen.«

»Es tut mir leid, Mr. Kressel. Sie haben gesagt, daß man mir den Schwarzen Peter zugesteckt hat, und so ist es auch. Ich mache das vielleicht ziemlich schlecht.«

»Unsinn. Sie sind Experte.«

»Halt, Sam.« Matlock nahm die Hand von der Sessellehne. Kressels plötzliche Unfreundlichkeit schien unnötig. »Sealfont hat gesagt, wir hätten die Wahl, alles abzulehnen, was er von uns verlangt. Wenn wir das tun – und das werden wir wahrscheinlich –, würde ich es gerne so sehen, daß wir das nach reiflicher Überlegung getan haben, nicht aus einer blinden Reaktion heraus.«

»Seien Sie nicht naiv, Jim. Sie erhalten eine geheime oder klassifizierte Information und sind sofort, post facto, in die Sache verwickelt. Sie können nicht leugnen, daß Sie sie erhalten haben, Sie können nicht sagen, daß es nicht geschehen ist.«

Matlock blickte zu Loring auf. »Stimmt das?«

»In gewissem Maße ja. Ich will Sie da nicht belügen.«

»Warum sollten wir Sie dann anhören?«

»Weil die Carlyle Universität bereits in die Sache verwickelt ist; das ist sie schon seit Jahren. Und die Lage ist kritisch. So kritisch daß nur noch drei Wochen zum Handeln zur Verfügung stehen.«

Kressel stand auf, atmete tief ein und dann wieder langsam aus. »Man braucht nur die Krise zu schaffen — ohne Beweise — und die Universität dazu zu zwingen, sich zu beteiligen. Die Krise vergeht, aber anschließend zeigen die Akten, daß die Universität sich als stiller Teilhaber an einer Untersuchung der Bundesbehörden beteiligt hat. So war es doch an der Universität von Wisconsin.« Kressel wandte sich zu Matlock. »Erinnern Sie sich, Jim? Sechs Tage Campus-Unruhen. Ein halbes Semester bei Teach-ins verloren.«

»Das ging vom Pentagon aus«, sagte Loring. »Die Umstände waren völlig anders.«

»Sie glauben, das Justizministerium macht das verdaulicher? Lesen Sie doch ein paar Studentenzeitungen.«

»Um Himmels willen, Sam, lassen Sie den Mann reden. Wenn Sie nicht zuhören wollen, dann gehen Sie nach Hause. Ich will hören, was er zu sagen hat.«

Kressel blickte auf Matlock hinunter. »All right. Ich glaube, ich verstehe. Also reden Sie, Loring. Aber vergessen Sie nicht, ohne Verpflichtung. Und wir brauchen keine Vertraulichkeit zu respektieren.«

»Ich verlasse mich auf Ihren gesunden Menschenverstand.«

»Das könnte sich als Fehler erweisen.« Kressel ging zur Bar hinüber und füllte sein Glas nach.

Loring setzte sich auf die Schreibtischkante. »Ich will damit beginnen, daß ich Sie beide frage, ob Sie je das Wort Nimrod gehört haben?«

»Nimrod ist ein hebräischer Name«, antwortete Matlock. »Altes Testament. Ein Nachkomme von Noah, Herrscher von Babylon und Ninive. Legendäre Geschicklichkeit als Jäger, was meist die wichtigere Tatsache verdeckt, daß er die großen Städte in Assyrien und Mesopotamien gegründet oder gebaut hat.«

Loring lächelte. »Noch einmal sehr gut, Professor. Ein Jäger und ein Erbauer. Aber ich meine das mehr gegenwartsbezogen.«

»Dann muß ich die Frage verneinen. Sie, Sam?«

Kressel ging zu seinem Platz zurück. Er hielt sein Glas in der Hand. »Ich wußte nicht einmal das, was Sie gerade gesagt hatten. Ich dachte, das sei vielleicht eine Automarke oder so etwas.«

»Dann will ich Ihnen ein paar Einzelheiten nennen ... Ich will Sie nicht mit Rauschgiftstatistiken langweilen; ich bin sicher, daß Sie tagtäglich damit bombardiert werden.«

»Tagtäglich«, nickte Kressel.

»Aber es gibt da vielleicht eine geographische Statistik, die Ihnen unbekannt ist. Die Konzentration des Rauschgifthandels in den Neuengland-Staaten wächst wesentlich schneller als in irgendeinem anderen Teil des Landes. Das ist wirklich verblüffend. Seit 1968 sind die Aktivitäten der Behörden laufend zurückgegangen ... Lassen Sie mich versuchen, eine geographische Beziehung herzustellen. In Kalifornien, Illinois, Louisiana hat sich die behördliche Kontrolle so weit verbessert, daß wenigstens das Wachstum beeinträchtigt wird. Mehr können wir nicht gut erhoffen, solange die internationalen Verträge so schwach sind. Aber nicht in Neuengland. Hier hat die Ausweitung ungeahnte Maße angenommen. Und in erster Linie sind die Universitäten betroffen.«

»Woher wissen Sie das? fragte Matlock.

»Da gibt es Dutzende von Möglichkeiten, aber immer zu spät, um die Verteilung zu verhindern. Informanten, markierte Lieferungen von Ursprungsorten im Mittelmeerbereich, in Asien und Lateinamerika, Einzahlungen auf Schweizer Konten – aber hier handelt es sich wirklich um Geheimmaterial.« Loring sah Kressel an und lächelte.

»Jetzt weiß ich, daß Sie verrückt sind«, meinte Kressel unfreundlich. »Mir scheint, wenn Sie diese Behauptungen beweisen können, dann könnten Sie das auch in der Öffentlichkeit tun.«

»Wir haben unsere Gründe.«

»Ebenso geheim, nehme ich an«, meinte Kressel leicht angewidert.

»Es gibt da noch eine Nebenerscheinung«, fuhr Loring fort, ohne ihn zu beachten. »Die östlichen Prestige-Universitäten  – große und kleine, Princeton, Amherst, Harvard, Vassar, Williams, Carlyle – bei einem großen Teil ihrer Studenten handelt es sich um die Kinder von VIPs. Söhne und Töchter von very important people, speziell in der Regierung und in Kreisen der Industrie. Das liefert Möglichkeiten zu Erpressung, und wir vermuten, daß dieses Potential bereits genutzt worden ist. Solche Leute sind gegenüber Drogenskandalen höchst empfindlich.«

Kressel unterbrach ihn: »Wenn wir einmal davon ausgehen, daß das, was Sie sagen, stimmt – und dazu bin ich nicht bereit –, dann kann ich nur sagen, daß wir hier weniger Ärger hatten als die meisten anderen Universitäten im nordöstlichen Bereich.«

»Das ist uns bekannt. Wir glauben sogar, die Gründe zu kennen.«

»Das ist aber sehr esoterisch, Mr. Loring. Sagen Sie, was Sie sagen wollen.« Matlock mochte die Spiele nicht, die manche Leute spielten.

»Jedes Verteilernetz, das imstande ist, einen ganzen Abschnitt des Landes systematisch zu bedienen und zu kontrollieren, muß einen Stützpunkt haben. Eine Kommandozentrale, könnte man sagen. Glauben Sie mir bitte, wenn ich Ihnen sage, daß dieser Stützpunkt der Befehlsposten für den Rauschgiftverkehr in den ganzen Neuengland-Staaten die Carlyle Universität ist.«

Samuel Kressel, Universitätsdekan, ließ sein Glas auf Adrian Sealfonts Parkettboden fallen.

Ralph Loring fuhr mit seiner unglaublichen Geschichte fort. Matlock und Kressel blieben sitzen. Einige Male während seiner ruhigen, methodischen Erklärung begann Kressel zu unterbrechen, Einwände vorzubringen, aber Lorings Bericht war nicht aufzuhalten. Es gab nichts, was dagegen vorzubringen war.

Die Untersuchung der Carlyle Universität hatte vor achtzehn Monaten begonnen. Sie war ausgelöst worden von einem Kontobuch, das die französische Sûreté während einer ihrer häufigen Rauschgiftuntersuchungen im Hafen von Marseille entdeckt hatte. Sobald festgestellt war, daß das Buch aus Amerika stammte, wurde es gemäß den Interpol-Vereinbarungen nach Washington geschickt. An verschiedenen Stellen des Buches waren Hinweise auf »C-22°-59°« zu finden, hinter denen regelmäßig der Name Nimrod stand. Bei den Gradangaben stellte man bald fest, daß es sich um die Koordinaten des nördlichen Connecticut handelte, es fehlten aber die Dezimalstellen. Nachdem man Hunderte möglicher LKW-Routen untersucht hatte, die zu Atlantikhäfen oder Flughäfen führten, die Beziehung zu der Operation in Marseille hatten, begann man, die Umgebung von Carlyle gründlich zu überwachen.

Als Teil der Überwachung wurden Telefone von Personen angezapft, von denen man wußte, daß sie mit Rauschgiftverteilungsstellen von Punkten wie New York, Hartford, Boston und New Haven in Verbindung standen. Sämtliche Anrufe, die auf Narkotika Bezug hatten und von und nach Carlyle gingen, wurden von öffentlichen Telefonzellen aus geführt. Das erschwerte die Überwachung, machte sie aber nicht unmöglich. Wieder Geheimmethoden.

Als die Aufzeichnungen wuchsen, stellte sich eine erstaunliche Tatsache heraus. Die Carlyle-Gruppe war unabhängig. Sie verfügte nicht über formelle Bindungen zum organisierten Verbrechertum; sie unterstand niemandem. Sie benutzte bekannte kriminelle Elemente und wurde nicht von ihnen benutzt. Es war eine straff organisierte Einheit, die mit der Mehrzahl der Universitäten in Neuengland in Verbindung stand. Und sie machte – allem Anschein nach – nicht bei Drogen halt.

Es gab Hinweise, daß die Carlyle-Einheit Beziehungen zu verbotenem Glücksspiel, Prostitution, ja sogar Personalvermittlungen für Universitätsabsolventen hatte. Außerdem schien es ein Ziel zu geben, das weit über die Erzielung von Gewinnen aus illegalen Aktivitäten hinausging. Die Carlyle-Einheit hätte weit größere Profite mit viel weniger Komplikationen erzielen können, hätte sie sich mit den bekannten Verbrechern und Lieferanten in allen Gebieten betätigt. Statt dessen investierte sie in den Aufbau einer eigenen Organisation. Sie war ihr eigener Herr, kontrollierte ihre Lieferquellen und ihre eigene Verteilung. Aber die Ziele, die sie dabei verfolgte, waren unklar.

Die Einheit war so mächtig geworden, daß sie das organisierte Verbrechertum im Nordosten bedrohte. Aus diesem Grunde hatten führende Persönlichkeiten der Unterwelt eine Besprechung mit den Leitern der Carlyle-Operation gefordert. Der Schlüssel war eine Gruppe oder ein Individuum, das als Nimrod bezeichnet wurde.

Soweit festzustellen war, war es das Ziel der Konferenz, ein Arrangement zwischen Nimrod und den Unterweltführern zu finden, die sich durch Nimrods außergewöhnliches Wachstum bedroht fühlten. Dutzende bekannter und unbekannter Verbrecher aus den Neuengland-Staaten würden an der Konferenz teilnehmen.

»Mr. Kressel.« Loring wandte sich an den Dekan von Carlyle und schien zu zögern. »Ich nehme an, daß Sie Listen haben  – Studenten, Angestellte der Fakultät – Leute, von denen Sie wissen, oder zumindest Grund zu der Annahme haben, daß sie der Drogenszene angehören. Ich kann das nicht unterstellen, weil ich es nicht weiß, aber die meisten Universitäten besitzen solche Listen.«

»Die Frage beantworte ich nicht.«

»Was mir natürlich meine Antwort gibt«, sagte Loring leise, beinahe mitfühlend.

»Unter keinen Umständen! Sie und Ihresgleichen haben die Gewohnheit, genau das anzunehmen, was Sie gerne annehmen.«

»All right, ich akzeptiere Ihren Tadel. Aber selbst wenn Sie ja gesagt hätten – ich hatte nicht die Absicht, um diese Listen zu bitten. Ich wollte Ihnen damit nur sagen, daß wir eine solche Liste haben. Ich wollte, daß Sie das wissen.«

Sam Kressel erkannte, daß er in die Falle getappt war; Lorings Offenheit ärgerte ihn nur noch mehr. »Sicher haben Sie die.«

»Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß wir nichts dagegen einzuwenden hätten, Ihnen eine Kopie zu liefern.«

»Das wird nicht notwendig sein.«

»Sie sind ziemlich hartnäckig, Sam«, sagte Matlock. »Stecken Sie etwa den Kopf in den Sand?«

Ehe Kressel antworten konnte, sagte Loring: »Der Dekan weiß, daß er seine Meinung ändern kann. Und wir haben ja vorher schon gesagt, daß hier keine Krise vorliegt. Sie wären überrascht, wie viele Leute abwarten, bis das Dach über ihnen einbricht, ehe sie um Hilfe bitten. Oder sie akzeptieren.«

»Aber in der Neigung Ihrer Organisation, aus schwierigen Situationen Katastrophen zu machen, gibt es nicht leicht Überraschungen, wie?« konterte Sam Kressel gereizt.

»Wir haben Fehler gemacht.«

»Da Sie über Namen verfügen«, fuhr Sam fort, »warum schnappen Sie sich die Leute eigentlich nicht? Lassen Sie uns heraus; machen Sie Ihre Schmutzarbeit selbst. Führen Sie Verhaftungen durch, erheben Sie Anklage. Versuchen Sie nicht, uns zu Hilfssheriffs zu machen.«

»Das wollen wir auch nicht ... Außerdem ist der Großteil unseres Beweismaterials vor Gericht nicht zulässig.«

»Das ist mir auch in den Sinn gekommen«, warf Kressel ein.

»Und was würden wir gewinnen? Was werden Sie gewinnen?« Loring beugte sich vor und erwiderte Sams Blick. »Wir schnappen uns ein paar hundert Marihuana-Süchtige, ein paar Dutzend Haschischbrüder; Junkies und Dealer der untersten Klasse. Verstehen Sie denn nicht, daß das überhaupt nichts bringt?«

»Womit wir bei der Frage wären, was Sie wirklich wollen, nicht wahr?«

Matlock lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte den Agenten scharf.

»Ja«, antwortete Loring mit leiser Stimme. »Wir wollen Nimrod. Wir wollen wissen, wo genau diese Konferenz am zehnten Mai stattfinden soll. Es muß im Umkreis von fünfzig bis hundert Meilen sein. Wir möchten darauf vorbereitet sein. Wir möchten der Operation Nimrod das Genick brechen, aus Gründen, die weit über die Carlyle Universität hinaus gehen. Und auch weit über das Thema Rauschgift.«

»Wie?« fragte James Matlock.

»Dr. Sealfont hat es gesagt. Infiltration ... Professor Matlock, Sie sind in Ihrer Umgebung etwas, was man in Abwehrkreisen als mobile Person bezeichnet. Sie werden von unterschiedlichen, ja sogar miteinander in Konflikt stehenden Gruppen akzeptiert – sowohl innerhalb der Fakultät als auch bei der Studentenschaft. Wir haben die Namen, Sie die Mobilität.« Loring griff in seinen Aktenkoffer und holte das schmutzige, dreieckige Blatt heraus. »Irgendwo dort draußen ist die Information, die wir brauchen. Irgendwo ist jemand, der ein Papier wie dieses hat; jemand, der das weiß, was wir wissen müssen.«

James Barbour Matlock blieb reglos in seinem Sessel sitzen und starrte den Mann aus Washington an. Weder Loring noch Kressel konnten sicher sein, was er jetzt dachte, aber beide hatten eine Vorstellung davon. Wenn man Gedanken hören könnte, dann hätte in diesem Augenblick in jenem Raum volle Übereinstimmung geherrscht. James Matlocks Gedanken waren drei, fast vier Jahre in die Vergangenheit gewandert. Er erinnerte sich an einen blonden, neunzehnjährigen Jungen. Unreif für seine Jahre vielleicht, aber gut, freundlich. Ein Junge mit Problemen.

Sie hatten ihn gefunden, wie sie Tausende wie ihn in Tausenden von Städten und Dörfern im ganzen Lande gefunden hatten. Andere Zeiten, andere Nimrods.

James Matlocks Bruder David hatte sich eine Nadel in den rechten Arm gestochen und hatte dreißig Milligramm einer weißen Flüssigkeit hineingeschossen. Er hatte das auf einem kleinen Boot in den ruhigen Gewässern einer Bucht von Cape Cod getan. Das kleine Segelboot war in die Binsen in der Nähe des Ufers getrieben. Als sie ihn fanden, war James B. Matlocks Bruder tot.

Matlock traf seine Entscheidung.

»Können Sie mir die Namen geben?«

»Ich habe sie bei mir.«

»Einen Augenblick.« Kressel stand auf, und diesmal klang nicht mehr der Ärger aus seiner Stimme – diesmal war es Angst. »Ist Ihnen klar, was Sie von ihm verlangen? Er hat keine Erfahrung in dieser Arbeit. Er ist nicht ausgebildet. Benutzen Sie doch einen Ihrer eigenen Leute.«

»Dafür ist keine Zeit. Es ist keine Zeit für einen unserer Leute. Man wird ihn schützen; Sie können helfen.«

»Ich kann Sie hindern!«

»Nein, das können Sie nicht, Sam«, sagte Matlock von seinem Sessel aus.

»Jim, um Christi willen, wissen Sie, was er verlangt? Wenn an dem, was er sagt, auch nur ein Funken Wahrheit ist, dann bringt er Sie in die schlimmste Lage, in die man einen Menschen bringen kann. Er macht Sie zum Informanten.«

»Sie brauchen nicht zu bleiben. Meine Entscheidung braucht nicht die Ihre zu sein. Warum gehen Sie nicht nach Hause?« Matlock stand auf und ging langsam mit seinem Glas zur Bar.

»Das ist jetzt unmöglich«, sagte Kressel und wandte sich zu dem Mann aus Washington. »Und er weiß das.«

Loring spürte einen Anflug von Trauer. Dieser Matlock war ein guter Mann; er tat, was er tat, weil er das Gefühl hatte, es jemandem schuldig zu sein. Und seine professionelle Erfahrung sagte ihm mit eiskalter Logik, daß James Matlock, indem er den Auftrag annahm höchstwahrscheinlich in den Tod ging. Es war ein schrecklicher Preis, diese Möglichkeit. Aber das Ziel war den Preis wert. Die Konferenz war ihn wert.

Nimrod war ihn wert.

Das war der Schluß, den Loring gezogen hatte.

Und dieser Schluß machte seinen Auftrag erträglich.

4

Nichts durfte niedergeschrieben werden; das Briefing war daher langsam und bedurfte dauernder Wiederholungen. Aber Loring verstand sich auf seinen Beruf und wußte, wie wichtig es war, gelegentlich Pausen einzulegen, wenn der Druck des Neuen, das zu schnell aufgenommen wurde, zu groß wurde. Während dieser Pausen versuchte er, Matlock auszuhorchen, mehr über diesen Mann zu erfahren, dessen Leben so geringschätzig eingestuft wurde. Es war beinahe Mitternacht; Sam Kressel war vor acht Uhr gegangen. Es war weder notwendig noch ratsam, daß der Dekan während ihrer Gespräche zugegen war. Er war ein Verbindungsmann, kein Akteur. Kressel hatte gegen diese Entscheidung nichts einzuwenden.

Ralph Loring erfuhr schnell, daß Matlock ein verschlossener Mann war. Seine Antworten auf unschuldig formulierte Fragen waren kurz hingeworfene Erwiderungen, die keine Rückschlüsse auf seine Motive erlaubten. Nach einer Weile gab Loring auf. Matlock hatte sich bereit erklärt, einen Auftrag zu erledigen, nicht seine Gedanken oder Motive der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es war nicht notwendig; Loring kannte sie ohnehin. Das war alles, worauf es ankam. Eigentlich war es ihm sogar recht, den Mann nicht zu gut zu kennen.

Matlock andererseits reflektierte auf einer völlig anderen Ebene – während er die komplizierten Informationen seinem Gedächtnis einprägte – über sein eigenes Leben und dachte auf seine Art darüber nach, warum man ihn ausgewählt hatte. Die Bewertung seiner Person als mobil gab ihm zu denken; was für ein schreckliches Wort, wenn es einen selbst betraf!

Und doch wußte er, daß er genau das war, was dieser Begriff ausdrücken wollte. Er war mobil. Die berufsmäßigen Rechercheure oder Psychologen oder was immer sie sonst sein mochten, hatten das richtig erkannt. Dennoch bezweifelte er, daß sie die Gründe begriffen, die hinter seiner ... ›Mobilität‹ standen.

Die akademische Welt war für ihn ein Zufluchtsort gewesen, eine Art Asyl. Keineswegs das Ziel langgehegten Ehrgeizes. Er war in sie geflohen, um sich Zeit zu erkaufen, um ein Leben zu ordnen, das im Begriff war, in Stücke zu gehen, um zu verstehen. Um wieder klar zu sehen, wie die jungen Leute heutzutage sagten.

Er hatte versucht, es seiner Frau zu erklären. Seiner reizenden, intelligenten, letztlich aber doch hohlen Frau, die dachte, er wäre von Sinnen. Was gab es denn da zu verstehen außer einem wahnsinnig guten Job, einem wahnsinnig netten Haus, einem wahnsinnig angenehmen Club und einem guten Leben in einer wahnsinnig angenehmen gesellschaftlichen und finanziellen Welt? Für sie gab es nichts, was darüber hinausreichte und was man verstehen mußte. Und das verstand er.

Aber für ihn hatte jene Welt ihre Bedeutung verloren. Er hatte angefangen, sich von ihr zu lösen, als er Anfang Zwanzig war, damals während seines letzten Jahres in Amherst. Seine Erlebnisse beim Militär hatten die Trennung vollständig gemacht.

Es war kein einzelner Anlaß, der dazu geführt hatte. Und diese Trennung selbst war kein gewaltsamer Akt, wenn auch Gewalttätigkeit zu Anfang seiner Erlebnisse in Saigon eine Rolle gespielt hatte. Es hatte zu Hause begonnen, dort, wo die Entscheidungen über den Lebensstil getroffen oder abglehnt werden, während einer Folge unangenehmer Konfrontationen mit seinem Vater. Der alte Gentleman – er war zu alt, zu sehr der Gentleman – fühlte sich berechtigt, von seinem erstgeborenen Sohn bessere Leistungen fordern zu dürfen. Ein Ziel, zweckgebundenes Handeln, wovon überhaupt nichts zu bemerken war. Matlock senior gehörte einer anderen Zeit an – wenn nicht gar einem anderen Jahrhundert – und hielt die Kluft zwischen Vater und Sohn für etwas Wünschenswertes, wobei der Jüngere so lange ohne Belang war, als er sich nicht auf dem Markt bewährt hatte. Ohne Belang, aber natürlich formbar. In gewisser Weise war der Vater wie ein wohlwollender Herrscher, der nach Generationen der Machtausübung nicht damit einverstanden war, daß sein rechtmäßiger Sproß auf den Thron verzichtete. Matlock dem Älteren war es unvorstellbar, daß sein Sohn nicht die Führung des Familiengeschäftes übernahm. Der Familiengeschäfte.

Aber für Matlock den Jüngeren war das durchaus vorstellbar. Er zog es sogar vor. Er fühlte sich nicht nur bei dem Gedanken an eine Zukunft im Geschäft seines Vaters unwohl, er hatte sogar Angst davor. Für ihn bot das reglementierte System von Druck und Gegendruck der Welt der Finanzen keine Freude, statt dessen war da eine schreckliche Angst vor Unzulänglichkeit, die sich durch die starke – ja überwältigende  – Tüchtigkeit seines Vaters noch verstärkte. Je näher er dem Augenblick rückte, an dem er in jene Welt eintreten mußte, desto deutlicher drückte sich seine Angst aus. Und es kam ihm in den Sinn, daß Hand in Hand mit den Freuden luxuriöser Geborgenheit und unnötiger Bequemlichkeit auch die Rechtfertigung kommen mußte, um das zu tun, was man von ihm erwartete. Eine solche Rechtfertigung vermochte er nicht zu finden. Dann war es schon besser, wenn der ihm gebotene Schutz weniger luxuriös und die Bequemlichkeiten etwas eingeschränkt waren, als der Aussicht auf ständige Angst und Unbehagen ins Auge zu sehen.

Er hatte versucht, das seinem Vater zu erklären. Und während seine Frau behauptet hatte, er sei von Sinnen, hatte der alte Herr ihn zum Tunichtgut erklärt.

Was nicht gerade dem Urteil widersprach, daß das Militär über ihn gefällt hatte.

Das Militär.

Eine Katastrophe. Eine Katastrophe, die das Wissen nicht weniger schlimm machte, daß er selbst sie verursacht hatte. Er stellte fest, daß blinde, physische Disziplin und eine Autorität, die man nicht in Frage stellte, ihm Abscheu bereiteten. Und er war groß und stark genug und verfügte über einen ausreichenden Wortschatz, um seine nicht anpaßbaren, unreifen Einwände zur Kenntnis zu bringen zu seinem persönlichen Nachteil.

Diskrete Manipulationen seitens eines Onkels führten dazu, daß man ihn vor dem offiziellen Abschluß seiner Dienstzeit entließ; dafür war er seiner einflußreichen Familie dankbar.

In diesem Abschnitt seines Lebens war James Barbour Matlock II. am Tiefpunkt angelangt. Nicht gerade glorreich aus dem Militärdienst entlassen, von seiner Frau geschieden, von seiner Familie verstoßen – symbolisch, wenn nicht tatsächlich  –, spürte er jenes Gefühl der Panik, das daraus resultiert, wenn man nirgendwohin gehört, wenn man ohne Motiv und Ziel ist.

So war er in die sichere Ordnung der Universität geflohen und hatte gehofft, dort eine Antwort zu finden. Und ebenso wie bei einer Liebschaft, die man auf rein sexueller Grundlage begonnen hat und aus der später psychologische Abhängigkeit erwachsen ist, hatte er sich an jene Welt geklammert; er hatte das gefunden, was sich ihm fast fünf wichtige Jahre lang entzogen hatte. Es war die erste echte Wechselbeziehung, die er je erlebt hatte.

Er war frei.

Frei, das erregende Gefühl einer bedeutsamen Herausforderung zu genießen, frei, sich an dem Selbstvertrauen zu ergötzen, daß er der Herausforderung gewachsen war. Er stürzte sich mit der ganzen Begeisterung des Konvertiten, aber ohne dessen Blindheit, in seine neue Welt. Er wählte sich einen Abschnitt der Geschichte und der Literatur, in der es von Energie und Konflikten und sich widersprechenden Wertmaßstäben wimmelte. Die Lehrjahre verstrichen schnell; seine eigenen Talente verzehrten ihn und überraschten ihn gleichzeitig auf angenehme Weise. Als er schließlich die professionelle Ebene erreichte, brachte er frischen Wind in verstaubte Archive. Seine Doktorarbeit zum Thema höfischer Einmischungen in die englische Renaissanceliteratur — also das Nachrichtenmanagement  – fegte einige geheiligte Theorien über eine Wohltäterin namens Elizabeth I. in die historische Mülltonne.

Er gehörte jener neuen Generation von Gelehrten an: ruhelos, skeptisch, unbefriedigt, stets suchend, während er das, was er gelernt hatte, anderen vermittelte. Zweieinhalb Jahre nachdem er sich habilitiert hatte, verlieh man ihm die außerordentliche Professur. Somit war er der jüngste Dozent von Carlyle, dem diese besondere Würde zuteil wurde.

James Barbour Matlock II. glich die verlorenen Jahre aus, die schrecklichen Jahre. Vielleicht das beste von allem war das Wissen, daß er seine Erregung anderen mitteilen konnte. Er war jung genug, um Freude daran zu haben, seine Begeisterung mit anderen zu teilen, und alt genug, um den Fragen Richtung zu geben.

Ja, er war mobil; weiß Gott, das war er; er konnte, würde niemanden einfach abschalten, ihn ausschließen, weil er anderer Meinung war – ja nicht einmal, weil er ihn nicht mochte. Die Tiefe seiner eigenen Dankbarkeit, seiner Erleichterung, war derart, daß er sich unbewußt versprach, nie die Sorgen eines anderen menschlichen Wesens einfach abzutun.

»Irgendwelche Überraschungen?« Loring hatte einen Teil des Materials vorgelegt, das die Rauschgiftkäufe enthielt.

»Eher eine Klärung, würde ich sagen«, erwiderte Matlock. »Die alten Verbindungen oder Clubs — meistens weiß und meistens wohlhabend — bekommen ihren Stoff aus Hartford. Die schwarzen Einheiten wie Lumumba Hall gehen nach New Haven. Unterschiedliche Quellen.«

»Genau; das ist studentische Orientierung. Worauf es mir ankommt, ist, daß niemand von den Lieferanten in Carlyle kauft. Von Nimrod.«

»Das haben Sie erklärt. Die Nimrod-Leute wollen nicht auffallen.«

»Aber sie sind hier. Man macht Gebrauch von ihnen.«

»Wer denn?«

»Fakultät und Angestellte«, erwiderte Loring ruhig und schlug eine Seite um. »Vielleicht überrascht Sie das. Mr. und Mrs. Archer Beeson ...«

Matlock stellte sich sofort den jungen Geschichtsdozenten und seine Frau vor. Sie waren personifizierter Ivy-League-Konformismus — falsch, arrogant, ästhetisch wertvoll. Archer Beeson war ein junger Mann voll akademischer Hast; seine Frau die perfekte Fakultätsunschuld, ein Sexpüppchen, stets beeindruckt.

»Sie nehmen LSD und die Methedrine. Acid und Speed.«

»Du großer Gott! Das hätte ich nie gedacht. Woher wissen Sie das?«

»Es ist zu kompliziert, um sich näher damit zu befassen, außerdem geheim. Um es ganz einfach darzustellen: sie beide pflegten von einem Verteiler in Bridgeport zu kaufen, ziemlich viel. Der Kontakt wurde abgeschnitten, und er tauchte auf anderen Listen auf. Aber er hat nicht Schluß gemacht. Wir nehmen an, daß er jetzt in Carlyle kauft. Aber es gibt keine Beweise ... Hier ist noch einer.«