Die Maulwürfin - Petra Urban - E-Book

Die Maulwürfin E-Book

Petra Urban

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Beschreibung

Spannend und psychologisch stimmig schildert Petra Urban die Geschichte einer Frauenfreundschaft, die sich durch eine unspektakuläre Berührung in eine liebende Annäherung verwandelt. Ein Roman über die Liebe und den Tod, über die Zerbrechlichkeit von Beziehungen und die Schwierigkeit, Gefühle zu zeigen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Petra Urban

Die Maulwürfin

FISCHER E-Books

Inhalt

Die Frau in der [...]Für Bärbel und Eva [...]IIIIII

Die Frau in der Gesellschaft

Herausgegeben von Ingeborg Mues

Für Bärbel und Eva

I

Der Kühlschrank muß abgetaut werden, dachte sie und trank einen Schluck aus der eiskalten Wasserflasche. Warum schaffen es andere, ihren Kühlschrank abzutauen, und ich nicht?

Sie schaute zum Fenster hinaus.

Auf dem gegenüberliegenden Hausdach saßen Raben auf der Antenne. Zankend machten sie sich die Plätze streitig. Irgendwo im Haus schellte ein Telefon. Die Küchenuhr tickte laut.

Während der letzten Tage hatte es ohne Unterlaß geregnet. In schmalen Prielen waren die Tropfen auf den Fensterscheiben abgelaufen. Vor dem Haus hatten sich Pfützen gebildet. Kleine, dunkle Tümpel, die aussahen, als würden Frösche und Kröten darin leben.

Heute endlich hatte der Regen aufgehört. Ein stürmischer Herbstwind trieb graue Wolken am Himmel entlang.

Lydia ging mit der Wasserflasche in der Hand durch die Wohnung. Sie legte die Jeans, die sie am Abend achtlos auf den Boden geschmissen hatte, über einen Stuhl, nahm das leere Weinglas neben ihrem Bett und brachte es zusammen mit einem übervollen Aschenbecher in die Küche.

Sie schaute erneut zum Fenster hinaus. Die Buche, die so nah stand, daß bei Wind einige ihrer Äste die Hauswand berührten, hatte fast alle Blätter verloren. Anfangs hatte Lydia das Kratzen des Baumes erschreckt. Des Nachts, wenn alles still war im Haus, war sie ein ums andere Mal aus dem Schlaf hochgefahren. Mit offenen Augen hatte sie in der Dunkelheit gelegen und auf ihr pochendes Herz gelauscht. Erst nach Monaten hatte sie sich an das Geräusch gewöhnt. Genau wie an das Telefon, das so oft und laut schellte.

Womit fange ich an, dachte sie und blickte einem Raben, der sich von der Antenne erhob und mit dem Wind davonsegelte, hinterher. Sie setzte sich an den Küchentisch, zog einen zweiten Stuhl heran und legte die Füße darauf. Gedankenverloren griff sie nach dem Sektkorken, der aufrecht wie ein Pilz auf dem Tisch stand. Leise summend ließ sie ihn von einer Hand in die andere wandern.

In der Nacht hatte sie seit langer Zeit wieder einmal Lust verspürt, eine Oper von Richard Wagner zu hören. Ohne zu überlegen, hatte sie den »Lohengrin« aus dem Regal gezogen. Vielleicht, weil ihr seit Tagen der Satz »In fernem Land, unnahbar euren Schritten …« im Kopf herumgeisterte.

Sie hatte sich auf den Teppich vor dem Fenster gelegt, die Musik lauter gestellt als gewöhnlich und auf den berauschenden Zauber der Klänge gewartet. Die Töne entführten sie nicht. Sie tröpfelten aus den Lautsprechern und versickerten im Teppich. Unlustig hatte Lydia in den Nachthimmel gestarrt und überlegt, wie sie in Elsas Situation handeln würde. Nach dem dritten Glas Sekt hatte sie es gewußt. Sie würde dem Geliebten die verbotene Frage nicht stellen …

Auf dem Söller unter der Dachrinne gurrte eine Taube. Lydia legte den Korken verkehrt herum auf den Tisch. Damals, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte der Vater sie eines Morgens gefragt, ob sie die Sprache der Tauben verstehen könne. Sie saß auf seinem Schoß und schüttelte den Kopf. »Du?« fragte sie ungläubig. Er machte ein geheimnisvolles Gesicht und nickte bedächtig mit dem Kopf. An diesem Morgen begleitete sie ihn bis zur Tür und gab ihm einen längeren Abschiedskuß als gewöhnlich. Den ganzen Tag verbrachte sie auf einem Schemel vor dem Fenster. Stunde um Stunde lauschte sie dem monotonen Geschrei der Vögel. Enttäuscht lief sie dem Vater am Abend entgegen. Er streichelte ihr über den Kopf. »Sie rufen: ›So komm doch!‹« flüsterte er ihr ins Ohr und nahm sie an die Hand. »Und warum klingt es so traurig?« wollte sie wissen. Er hatte die Schultern nach oben gezogen und keine Antwort gegeben. Noch heute hörte Lydia die Tauben dieses traurige »So komm doch!« rufen …

Womit fange ich an, dachte sie und trommelte mit den Fingerspitzen auf ihren Bauch. Ich könnte den Hauswirt anrufen, damit die Heizung im Badezimmer repariert wird; ich müßte zur Bank fahren und die Protokolle bezahlen, die seit vorletzter Woche auf dem Küchenschrank liegen; ich sollte in der Redaktion nachfragen, ob es zusätzliche Aufträge für mich gibt; ich müßte zur Werkstatt, mein Auto abholen, aber vorher könnte ich zu Mario …

Es schellte.

Lydia hob den Kopf. Sie stellte die Füße auf den Boden, setzte sich aufrecht hin und lauschte gespannt in Richtung Tür. Noch zweimal, und Katharina wäre da! Endlich wäre sie da!

»Na los!« feuerte sie die Schelle an und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Es blieb still. Nur die Taube auf dem Söller gurrte. Lydia drehte den Korken wie einen Kreisel auf dem Tisch und rieb ihre schmerzende Hand. Sie schaute zu der Uhr hinüber, die laut und gleichmäßig auf dem Küchenschrank tickte. Wie unangenehm! Es war schon kurz nach zehn, und sie lief noch im Bademantel herum. Obwohl der Wecker pünktlich um zwanzig vor acht geklingelt hatte, war sie nicht aufgestanden. Die Hände unterm Kopf verschränkt, hatte sie aus dem Fenster in den Himmel geschaut und an Katharina gedacht.

Seit Wochen hatte sie nichts von der Freundin gehört. Keinen Anruf, keine Karte, keinen Brief – nichts!

Das war in den vielen Jahren ihrer Freundschaft noch nie dagewesen. In der ersten Woche hatte sie Katharinas Schweigen zwar bemerkt, sich aber nicht viel dabei gedacht. Besser gesagt, sie war kaum dazu gekommen, viel darüber nachzudenken. In der Kulturredaktion des »Stadtanzeigers«, einer Tageszeitung, für die sie seit fünf Jahren Kunstkritiken schrieb, hatten sich mehrere Mitarbeiter wegen eines grippalen Infektes entschuldigen lassen. Sie hatte die »Hiobsbotschaft«, wie die Sekretärin, Frau Sollms, die Krankmeldungen am Montag morgen genannt hatte, als erste erfahren. Gleich darauf war sie vom leitenden Kulturredakteur, Biemel, einem sportlichen, ständig braungebrannten Mann, der gerade seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag im großen Stil gefeiert hatte, händeringend angefleht worden, die wichtigsten Termine der Kollegen zu übernehmen. Sie sagte zu und arbeitete, im Gegensatz zu sonst, mehr in der Redaktion als zu Hause. Sie besuchte Pressekonferenzen, telefonierte stundenlang, hetzte von Galerie zu Galerie und schrieb bis tief in die Nacht hinein Artikel. Früh am Morgen duschte sie in aller Eile, las beim Anziehen die Notizen in ihrem Kalender und verließ, meist ohne Frühstück und ohne die Acht-Uhr-Nachrichten zu hören, das Haus. Ab und zu rief sie Katharina aus der Redaktion an. Erreicht hatte sie die Freundin nicht.

In der zweiten Woche meldeten sich die Kollegen nacheinander zurück, und Lydia arbeitete wieder zu Hause an ihrem Schreibtisch. Trotz der gewohnten Umgebung und der wiedereingekehrten Ruhe brauchte sie mehr Zeit als sonst für ihre Artikel. Kein Wunder! Wie oft starrte sie am Bildschirm ihres Computers vorbei aus dem Fenster. Ihre Gedanken wanderten zu Katharina. Immer häufiger unterbrach sie ihre Arbeit, zog das Telefon zu sich heran und wählte die Nummer der Freundin. Gemeldet hatte sich niemand. Beim Autofahren passierte es ihr mehrmals, daß sie die andere auf der Straße zu sehen glaubte. Beim genaueren Hinschauen allerdings mußte sie feststellen, daß die Frauen nicht die geringste Ähnlichkeit mit Katharina aufwiesen. Manchmal stimmte die Haarfarbe. Dieses leuchtende Rot, das der Freundin in Kindertagen den Spitznamen »Hexe« eingebracht hatte und das ihr aus diesem Grunde lange Zeit verhaßt gewesen war. Mehrmals am Tag hörte Lydia ihren Anrufbeantworter ab und hoffte, Katharinas so vertrautes »Hallo, Lydi, ich bin’s!« zu hören. Sie vernahm Grüße von Freunden, amüsierte sich über die piepsige Stimme ihres Neffen, der sich ein Schwert und eine Narrenkappe von ihr zum Geburtstag wünschte, nahm einen Auftrag von einer Kunstzeitschrift entgegen und die wiederholte Bitte ihrer Mutter, sich endlich zu melden.

Von Katharina hörte sie nichts.

Zum ersten Mal entwickelte sie eine beinah innig zu nennende Beziehung zu ihrem Telefon. Wie einen liebgewonnenen Talisman, von dem man sich unter gar keinen Umständen trennt, trug sie den Apparat durch die Wohnung. Beim Baden stellte sie ihn auf die Frotteematte neben der Wanne, beim Kochen auf die Arbeitsplatte neben dem Herd. Abends nahm sie ihn vom Schreibtisch und setzte ihn auf die Holzkiste neben ihrem Bett. Immer häufiger starrte sie ihn an. Die Blicke wurden länger und länger. Sie bemerkte jeden Fingerabdruck auf dem Gehäuse des Apparates. Manchmal beseitigte sie die störenden Flecken mit Spucke. Dann wieder beugte sie sich nach vorn, hauchte geräuschvoll gegen die Oberfläche und rieb sie mit einem Taschentuch Zentimeter für Zentimenter ab, bis sie in den glänzenden Rundungen des Apparates die kleine Welt des Zimmers entdecken konnte. Immer wieder strich sie mit dem Zeigefinger über den blitzenden Hörer. Eine zarte, fast zärtliche Berührung. Das ersehnte Klingeln blieb dennoch aus.

In regelmäßigen Abständen wählte sie Katharinas Nummer. Das Tuten in der Leitung ertrug sie bis zur Unterbrechung. Weder in der Wohnung noch im Atelier erreichte sie die Freundin.

In der dritten Woche klebte sie einen großen Zettel an Katharinas Wohnungstür und einen noch größeren an ihre Ateliertür. In fetten roten Buchstaben stand dort die Bitte geschrieben, sich umgehend zu melden. Das Wort »Bitte« hatte sie mit allen Filzstiften, die ihre Schreibtischschublade beherbergte, unterstrichen. Sie setzte vier Ausrufezeichen dahinter. Nachdem auch auf die Zettel keine Reaktion gekommen war, hatte sie gemeinsame Bekannte angerufen und ohne Umschweife nach der Freundin gefragt. Niemand wußte etwas von Katharina zu berichten.

Sie bekam über Nacht ihren Husten. Ein unangenehmer Reizhusten, der sich vor allem morgens, nach dem Aufstehen, einstellte. Auch biß sie immer häufiger an ihren Fingernägeln herum. Vor allem, wenn sie wieder einmal voller Erwartung ans Telefon stürzte und eine andere als Katharinas Stimme vernahm.

In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch verwandelte sich ihre Sorge in Panik. Den ganzen Tag schon wurde sie von düsteren Gedanken heimgesucht. Sie verscheuchte diese Gedanken nicht, gab ihnen vielmehr nach. Der Husten quälte sie schmerzhaft, und selbst ein Spaziergang durch den Park brachte keine Linderung und auch keine Besserung ihrer Stimmung. Gegen Mitternacht, nachdem sie eine Flasche Rotwein in großen und schnellen Schlucken geleert hatte, war sie zum Schreibtisch gestürzt, hatte das Telefonbuch herausgezerrt, die Nummern mehrerer Krankenhäuser angestrichen und sie der Reihe nach gewählt. Eine Patientin mit Namen »Katharina Mallack« gab es nicht. Als sie am Morgen mit schmerzendem Kopf erwacht war, hatte sie das Telefonbuch mit den gelb markierten Zahlen peinlich berührt in die Schublade zurückgelegt. Am Frühstückstisch, bei einer duftenden Tasse Kaffee und einem Toast, in dem die Butter schmelzend verschwand, beurteilte sie die Abwesenheit der Freundin etwas weniger dramatisch. Sie entschied für sich, Katharinas neuer Freund könnte für die Unauffindbarkeit der anderen verantwortlich sein. Der Gedanke hatte sie nicht beruhigt, aber erleichtert.

Katharina pflegte seit jeher häufig wechselnde Männerbeziehungen. Nur wenige der intimen Freundschaften hielten länger als ein halbes Jahr. Lydia erinnerte sich an einen blonden Elektriker mit breiten Schultern und schmalen Hüften, der auch bei Sonnenschein in Lederhosen herumgelaufen war und von seinem Motorrad wie von einer Geliebten gesprochen hatte. Sie erinnerte sich an einen arbeitslosen Architekten mit sanfter Stimme und langsamen Bewegungen, der Katharina in ihrer Abwesenheit die Wohnung aufgeräumt hatte, und an einen Diplom-Ingenieur, der die Freundin mit derart verliebten Augen angeschaut hatte, daß alle Welt gelächelt hatte. Nur Katharina nicht. Ihr Gesicht schien versteinert wie das einer Marmorstatue.

Über die Trennungen verlor sie nie viele Worte. Meist sprach sie am Telefon davon, und ihre Stimme klang so unbeteiligt, als würde sie von einem verlorenen Regenschirm berichten. Zuviel Gefühl hindere sie an der Arbeit, pflegte sie auf Lydias bohrende Fragen nach dem »Warum?« zu antworten und fügte hinzu, sie habe die Männer genauso schnell vergessen wie den Wetterbericht von letzter Woche.

Lydia machten diese Telefonate stets wütend. Es ärgerte sie, daß die Freundin ihren Fragen auswich und ihr so offensichtlich die Wahrheit verschwieg. »Soll ich dir eine Geschichte aus einem Film erzählen?« hatte Katharina sie vor nicht allzulanger Zeit gefragt, und Lydia hatte erst »Nein!« und dann »Von mir aus!« in den Hörer gebrüllt.

Katharinas Stimme hatte heller als gewöhnlich, fast kindlich geklungen. »Also …«, hatte sie gesagt und mit einer langen Pause begonnen, »… an einem Fluß treffen sich ein Frosch und ein Skorpion. Der Skorpion möchte gern auf die andere Seite des Flusses. Da er nicht schwimmen kann, bittet er den Frosch, der am Wegesrand sitzt, ihn ans andere Ufer zu bringen. Wie soll ich das tun? fragt der Frosch. Ganz einfach, antwortet der Skorpion. Ich setze mich auf deinen Rücken, und du schwimmst hinüber. Nein! sagt der Frosch, da wäre ich schön dumm! Du wirst mir in den Rücken stechen, und ich werde sterben. Warum sollte ich dir in den Rücken stechen, sagt der Skorpion. Wenn wir im Fluß schwimmen und ich dich steche, so wirst du sterben und untergehen, und ich werde mit dir sterben, weil ich ebenso untergehe. Daran kann ich kein Interesse haben. Stimmt, sagt der Frosch, da hast du recht. Und er erlaubt dem Skorpion, sich auf seinen Rücken zu setzen. In unmittelbarer Nähe des anderen Ufers spürt er plötzlich einen stechenden Schmerz im Rücken. Warum hast du das gemacht? fragt er, jetzt werden wir beide sterben. Es tut mir leid, antwortet der Skorpion, und seine Stimme klingt verzweifelt, aber ich kann nicht anders …«

»Sehr aufschlußreich!« hatte sie in den Hörer gezischt und kein weiteres Wort über die Geschichte verloren.

Wenige Wochen nach diesem Telefonat hatte Katharina ihr genauso beiläufig wie sonst auch von einem neuen Freund erzählt. Sie saßen gemeinsam in der hintersten Reihe im Kino und griffen abwechselnd in eine Tüte mit Lakritzschnecken. Wenige Minuten, bevor das Licht ausgegangen war, hatte sich Katharina zu Lydia hinübergebeugt und geflüstert: »Ich habe ganz vergessen, dir zu erzählen …«

Sie kannte den Mann seit drei Monaten. Er hieß Joachim, war neununddreißig Jahre alt und Besitzer einer Werbeagentur. Katharina hatte ihn bei Freunden kennengelernt. Sie hatte den Mann mit dem blonden Oberlippenbärtchen und dem deutlich sichtbaren Bauchansatz nicht sonderlich attraktiv gefunden, sich aber über seine Erlebnisse in einer Selbsterfahrungsgruppe für geschiedene Männer köstlich amüsiert. Da er die Gesellschaft früh verlassen mußte, hatte sie sich für den nächsten Abend mit ihm verabredet. Sie aßen gemeinsam, schauten sich in der Spätvorstellung einen alten Hollywood-Film an und fuhren anschließend in sein Appartement.

Lydia hatte Joachim nur einmal gesehen. Nach einem Theaterbesuch hatte er Katharina und sie zu einer »kleinen Feier« in ein China-Restaurant eingeladen. Sie fand ihn nicht sonderlich sympathisch. Sein Gesicht erschien ihr aufgedunsen, seine Sprache gekünstelt, und sein Benehmen erinnerte sie an die aufdringliche Art eines Vertreters. Der Abend war wenig unterhaltsam gewesen. Während der Gastgeber hastig sein Chop-suey gelöffelt und von seiner Arbeit geredet hatte, war Katharina sehr schweigsam gewesen. Nur ab und zu hatte sie ihn lächelnd angeschaut oder zustimmend mit dem Kopf genickt. Die meiste Zeit des Gespräches war ihr Blick zum Fenster hinaus gewandert …

Es schellte ein zweites Mal.

Lydia schnippte den Korken vom Tisch und ging zur Tür.

»Wer ist da?« rief sie in den Hörer und versuchte, mit einer Hand den Gürtel ihres Bademantels zu knoten.

»Post!«

Der Mann kam im Laufschritt die Treppe heraufgerannt. Er hatte flachsblondes Haar und eine dunkelbraune Hornbrille. Seine Hose war am Knie durchgescheuert und ließ braungebrannte, nackte Haut zum Vorschein kommen. Grinsend blickte er auf Lydias Morgenmantel. »Sind Sie Lydia Labetzke?«

Sie nickte.

»Ich habe eine Postkarte für Sie. Wollen Sie die Nachgebühr zahlen?« Er nieste und fuhr geräuschvoll mit dem Handrücken unter der Nase her.

»Darf ich mal sehen?« Lydia betrachtete die Postkarte. Auf der Vorderseite klebte eine abgerissene Spielkarte. Eine rote, in der Mitte durchtrennte Herzdame.

Lydia drehte die Karte herum und erkannte Katharinas Schrift. Na endlich! dachte sie und las begierig die wenigen Worte.

»Weißt Du eigentlich, daß ich Dich liebe?«

Lydia zuckte zusammen. Sie griff nach dem Kragen ihres Bademantels und preße ihn unter ihr Kinn. Der Satz irritierte sie. Der Schreiberin schien es ähnlich ergangen zu sein. Dem zu groß geratenen Fragezeichen folgte gähnendes Schweigen. Eine Fläche, unberührt wie frisch gefallener Schnee, breitete sich ungeniert aus. Weiter unten auf der Karte, gefährlich nah am Rand, ging die Rede weiter. In undeutlichen, winzig kleinen Buchstaben stand geschrieben:

»Es tut mir leid, aber …«

Das letzte Wort des abgerissenen Satzes hing seltsam schwerelos in der Luft. Wie ein mit Gas gefüllter Luftballon schwebte es ins Weiß der freien Fläche.

Was tut ihr leid?

Sie sah den Mann fragend an.

»Wollen Sie die Karte haben, oder nicht?« fragte er ungehalten und stupste mit dem Zeigefinger gegen seine Brille.

Sie beeilte sich, ihr Portemonnaie zu finden. Mit zittrigen Fingern holte sie einen zusammengeknüllten Geldschein heraus. »Der Rest ist für Sie. Danke!«

Der Mann faltete den Schein auseinander und zog erstaunt die Augenbrauen nach oben. »Alles?«

»Ja, ja, alles! Es ist gut so. Danke! Sie haben mir eine große Freude gemacht.« Sie schloß, ohne sich zu verabschieden, die Tür. Der Mann lief pfeifend die Treppen hinunter. Sie lehnte sich mit der Stirn an die Wand und starrte auf ihre Füße. Der Boden schien sich in Wellen auf und nieder zu bewegen. Ein Gefühl, als würde sie nach endloser Karussellfahrt wieder festen Boden betreten. Sie atmete geräuschvoll ein und aus und ging in die Küche zurück.

»Liebe?« dachte sie und schaute zu der Antenne hinüber. Zwei Elstern saßen friedlich nebeneinander und schaukelten im Wind.

Katharina und sie hatten in all den Jahren nicht oft von ihren Gefühlen gesprochen. Und wenn, dann hatten sie diesen Gefühlen keinen Namen gegeben. Sie waren Freundinnen. »Die Unzertrennlichen«, wie Mario sie zu nennen pflegte. »Irgendwann werdet ihr es schaffen, gemeinsam zu menstruieren«, hatte er bei einem Fest mit ausgelassener Stimmung festgestellt. »Eine bedenkenswerte Anregung«, hatte Katharina gesagt. »Wir werden dich über eventuelle Erfolge auf dem laufenden halten.«

Sie schlug die Beine übereinander und legte die beiden Enden des Bademantels sorgsam über ihren Knien zusammen. Geistesabwesend strich sie über den weichen Stoff.

Sie las erneut. Buchstabe für Buchstabe tastete sie die Worte ab. Ihr Blick blieb an dem Fragezeichen kleben. »Liebe?« Natürlich war es »Liebe«! Schließlich kannten sie sich seit Kindertagen. Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung, als wäre es gestern gewesen. Es war der erste Schultag.

Sie hatte neben ihrer Mutter auf dem Schulhof gestanden. Wie unwohl sie sich in ihrem blauen Kostüm und den weißen Kniestrümpfen gefühlt hatte! Und welche Angst ihr die vielen Kinder gemacht hatten! Krampfhaft hielt sie die Hand der Mutter fest. Sie ließ erst los, als Katharina auf sie zukam. Sie hatte das Mädchen mit den großen, dunklen Augen und den kurzgeschorenen roten Haaren schon eine Weile beobachtet. Im ersten Moment hatte sie es für einen Jungen gehalten. Vielleicht wegen der knielangen Hose und dem weißen Hemd mit dem spitzen Kragen, an dem ein kleines, silbernes Flugzeug blitzte. Katharina war schlendernd auf sie zugekommen. Sie war so dicht vor ihr stehengeblieben, daß Lydia erschrocken einen Schritt zurückgewichen war. Das rote Haar des Mädchens leuchtete in der Sonne wie die Kappe eines Fliegenpilzes.

»Wollen wir Freundinnen sein?«

Lydia schaute in das blasse Gesicht mit den großen, fast schwarzen Augen und nickte kommentarlos mit dem Kopf.

Beim Klang der Schulglocke stellten sie sich nebeneinander auf und bewunderten gegenseitig ihre Tornister mit den glänzenden Schnallen. Stolz wies Lydia auf ihre neuen Lackschuhe. Ihre ersten Schuhe mit Absatz! Endlich machten auch ihre Schritte im Treppenhaus dieses herrlich klackende Geräusch. »Mädchenschuhe!« sagte Katharina verächtlich und würdigte die Lackschuhe mit den schwarzen Schleifen keines weiteren Blickes. Ihr gefielen nur Turnschuhe. Da Lydias Augen sich mit Tränen füllten, lobte Katharina überschwenglich das lange blonde Haar der anderen. Die geflochtenen Zöpfe reichten bis zur Taille. Auf dem Weg ins Klassenzimmer nahm sie Lydia an die Hand und erzählte ihr, wie oft sie im Schwimmbad einen Schlüssel mit blauem Bändchen bekam. »Ja und?« fragte Lydia und wischte sich über die Augen.

»Das sind die Schlüssel für die Knabenschränke!« hatte Katharina geantwortet und ihr Kinn weit über den Kragen nach oben gereckt. Im nächsten Moment berichtete sie von Mückenstichen im Ohr. Lydia drückte die Hand des Mädchens und erklärte, warum man im Ohr keine Mückenstiche haben könne. In dem Raum mit der Wandtafel hatten sie sich, ohne viele Worte darüber zu verlieren, an eines der Fenster gesetzt. Von hier konnte sich der Blick ungestört im Schulgarten verlieren. Der Platz gefiel beiden.

Von der ersten bis zur letzten Klasse saßen sie nebeneinander und bestanden beim Brennballspiel im Turnunterricht, wenn kein Bitten half, mit Tränen darauf, in ein und derselben Mannschaft zu spielen. In der alphabetischen Reihenfolge wurden ihre Namen stets nacheinander genannt. Nur ein einziges Mal waren sie getrennt worden. An den Namen des Jungen konnte sich Lydia nicht erinnern. Nur an sein freches Gesicht und seine drahtigen blonden Haare. Sie hatte ihn mit kindlichem Eifer gehaßt und vor Freude in die Hände geklatscht, als er die Klasse wegen mangelnder Leistungen wieder verlassen mußte.

Oft hatten sie sich zum Weihnachtsfest und zu ihren Geburtstagen die gleichen Jacken gewünscht. Wie Geschwister wollten sie aussehen und freuten sich jedesmal, wenn die alte Frau Schmidt aus der Kirchenbibliothek sie dafür hielt.

Gemeinsam hatten sie um die Aufnahme am Ursulinen-Gymnasium gezittert, zusammen die ersten Englisch-Vokabeln geübt, auf der Treppe heimlich Aufklärungsbücher gelesen und sich bei Musik und Kerzenschein über ihre ersten Küsse ausgetauscht. Mit bleischweren Rucksäcken waren sie in Richtung Süden getrampt, hatten in den Semesterferien als Zimmermädchen in einem Hotel mit dem klingenden Namen »Michelangelo« gearbeitet und in dem heißen Sommer, in dem die Hitze die Wasservorräte hatte knapp werden lassen, ihr Examen gemacht. Für beide erfüllte sich mit dem Ende der Studienzeit ein Traum. Katharina mietete ein Atelier und arbeitete mit der finanziellen Unterstützung ihrer Eltern als Künstlerin. Lydia war durch einen Freund ihres Vaters, einen grauhaarigen Herrn mit langen, schmalen Händen, der, wie sie erst später erfuhr, Mitglied einer Freimaurerloge war, beim »Stadtanzeiger« als Kunstkritikerin eingestellt worden.

In all den Jahren hatten sie ihre Freundschaft nie in Frage gestellt. Selbst damals nicht, als sie sich wegen der Zuneigung eines Jungen aus der Pfadfindergruppe gezankt und gegenseitig ins Gesicht geschlagen hatten.

Natürlich war dieses Gefühl, das sie seit beinah fünfundzwanzig Jahren verband, Liebe, aber …

Ihre Augen wanderten über die weiße Fläche auf der Postkarte nach unten.

Was tat Katharina leid? Wofür wollte sie sich entschuldigen?

Sie konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. Hatte die Freundin ein schlechtes Gewissen, weil sie sich in den letzten drei Wochen nicht gemeldet hatte? Oder weil sie wieder einmal von einem Freund wie von ein Paar neuen Schuhen erzählt hatte?

Sie blickte auf den verschmierten Poststempel. Katharina hatte vergessen, eine Briefmarke auf die Karte zu kleben. Lydia verstand auch das nicht. Es paßte so gar nicht zu Katharina. Zu viel Porto auf eine Karte kleben, das konnte ihr passieren. Wie oft hatte sich Lydia über derart unnötig ausgegebenes Geld aufgeregt und der Freundin Vorhaltungen gemacht. Katharina hatte jedesmal schweigend zugehört und irgendwann »Ja, Mama!« gesagt. Eine Redewendung, die Lydia innerhalb weniger Minuten auf hundertachtzig bringen konnte.

Aber die Briefmarke vergessen? Nein, das paßte einfach nicht zu Katharina. Lydia drehte die Karte herum und betrachtete die Herzdame. Eine Dame ohne Unterleib, dachte sie und schaute auf die Rose im Haar der Frau. Sie leuchtete in dem gleichen bläßlichen Rot wie die Lippen der Schönen. Das Datum des Stempels verriet, daß die Karte schon vor drei Wochen abgeschickt war. Seltsam, dachte sie und trommelte mit den Fingerspitzen auf dem Tisch.

Sie schüttelte den Kopf und stellte die Postkarte auf den Küchenschrank. Von weitem sah die Herzdame aus, als lächelte sie glücklich.

Die Musik von oben war lauter geworden.

Lydia machte das Radio an. Eine Männerstimme kündigte die Ouvertüre zu Richard Wagners »Tannhäuser« an. So ein Zufall, schon wieder Wagner! dachte sie und lauschte den anschwellenden Klängen. Seit sie damals, an jenem Novembernachmittag, den Einzug der Gralsritter aus dem »Parsifal« gehört hatte, zählte Wagner zu ihren Lieblingskomponisten. Sie stand an jenem Nachmittag in der Küche und schälte Zwiebeln. Draußen tobte ein Gewitter. Ohne ihr Zutun verstellte sich im Radio der Sender. Plötzlich quollen diese Klänge aus dem Lautsprecher. Sie legte die Zwiebel und das Messer aus der Hand und lauschte den Tönen, die düster und schwer den Raum erfüllten. Sie mußte sich setzen und weinte auf einmal. Selbst als die Musik verebbt war und eine wohltönende Männerstimme die Namen der Interpreten vorlas, weinte sie noch. Sie beruhigte sich nur langsam. Am nächsten Tag fuhr sie nicht auf direktem Wege in die Redaktion. Sie machte einen Umweg und kaufte in dem Plattenladen, in dem man sie in der Klassikabteilung bereits mit Namen begrüßte, die Oper »Parsifal«. Katharina schüttelte beim Anblick der teuren Platten mit dem goldfarbenen Schuber den Kopf. »Und wenn es nun die Zwiebeln waren …?« Sie zog die Stirn in Falten. Lydia hatte ihr die Plattenhülle aus der Hand genommen und ihr einen Vogel gezeigt.

In Lydias gut gefülltem Plattenregal waren die Wagner-Einspielungen seit diesem Tag immer zahlreicher geworden. Mittlerweile nahmen sie den größten Platz ein. Katharina zeigte für diese Vorliebe kein Verständnis. Die Musik dieses »zwergenhaften Sachsen«, wie sie den Komponisten nannte, mache sie aggressiv, sagte sie. Trotz dieser hartnäckig wiederholten Behauptung bat sie Lydia hin und wieder, ihr den letzten Akt der »Götterdämmerung«, »Isoldes Liebestod« oder »Brünhildes Todesverkündigung« vorzuspielen.

»Ein bißchen viel Tod, findest du nicht? Wie wär’s mit ein paar Takten Liebe?« hatte Lydia sie einmal gefragt.

»Nein!« hatte Katharina geantwortet und ihren Kopf in den Nacken geworfen. »Wie oft soll ich es dir noch sagen, diese Musik macht mich aggressiv!«

Lydia war, seit sie diese Leidenschaft für sich entdeckt hatte, noch häufiger in die Oper gegangen als sonst. Wenn es ihre Zeit erlaubte, besuchte sie jede Wagner-Inszenierung in der näheren und weiteren Umgebung. Nie drängte sie Katharina, sie zu begleiten. Meist fuhr sie allein. Zu ihrem Erstaunen hatte Katharina sie eines Tages mit zwei Eintrittskarten überrascht. Es war kurz vor Weihnachten gewesen. In der Nachbarstadt gab man den »Parsifal«. Katharina tat sehr geheimnisvoll. Sie hielt Lydia die Augen zu und drehte sie mehrmals im Kreis. Dann knisterte sie mit Papier. Nach langem Warten erlaubte sie der Freundin, die Augen zu öffnen. Lydia strahlte. Wie eine Trophäe hängte sie die Karten über ihren Schreibtisch. Wochenlang freute sie sich auf den Abend. Zur Feier des Tages kaufte sie sich einen kurzen blauen Rock und passende Schuhe. Katharina schellte bereits eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit. Lydia verschlug es beim Anblick der Freundin den Atem. Katharina trug eine rote Satinhose. Der glänzende Stoff schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihre Beine. Dazu trug sie ein weißes Hemd, dessen Ausschnitt zu einer Spitze geformt in Richtung Bauchnabel wies. Der Ausschnitt ließ den sonst verborgenen Leberfleck sehen. Diesen kleinen braunen Fleck über der rechten Brust. Schon während der Fahrt hatte Lydia die Freundin unverwandt angestarrt. Der Leberfleck zog ihren Blick magisch an.

Katharina lachte. »Erzähl mir was von Held Parsifal. Vielleicht kommst du dann auf andere Gedanken.«

»Was weißt du von meinen Gedanken?« hatte sie gesagt, ihren Rock ein wenig nach unten gezogen und von dem siechen König Amfortas geredet. Bis in die Stadt hinein sprach sie von nichts anderem als von dem Leiden des Mannes, der sterben will und nicht sterben kann. Sie redete von der rätselhaften Wunde, von Kundry, Gurnemanz, dem heiligen Gral und von der Erlösung. Katharina hörte gespannt zu. »Soso, nur der Speer, der die Wunde geschlagen hat, kann sie heilen. Das ist interessant!«

Im lichtdurchfluteten Foyer sah Katharina noch schöner aus. Am liebsten hätte Lydia den Arm um die andere gelegt. Oder wenigstens den Leberfleck mit der Hand verdeckt. Statt dessen starrte sie den ovalen braunen Klecks an, als könne sie ihn durch intensiven Blickkontakt zum Verschwinden bringen.

Während der gesamten Oper saß Katharina regungslos auf ihrem Stuhl. Lydia, die schon nach dem ersten Akt unruhig hin und her gerutscht war, hatte die Freundin fassungslos von der Seite beobachtet. Katharina schien die Welt um sich herum vergessen zu haben. Wie hypnotisiert starrte sie auf die Bühne und reagierte nicht einmal, als Lydia ihr eine Rolle Pfefferminzbonbons unter die Nase hielt.

»Das war wundervoll!« brüllte Katharina, als der letzte Ton verhallt war und ohrenbetäubender Applaus aufbrandete. Sie war von ihrem Sitz aufgesprungen, hatte »Bravo!« gerufen und geklatscht, bis der Vorhang endgültig zugeblieben war. Auf dem ganzen Nachhauseweg hatte sie über nichts anderes gesprochen als über den Speer und die Wunde und die wundervollen Klänge …

»Sie hörten die Ouvertüre …«

Lydia machte das Radio aus und warf einen Blick auf die Uhr. Die Musik hatte sie seltsam aufgewühlt. Aus ihrem Bauch drang dumpfes Grollen. Das kommt davon, wenn man den Tag mit Mineralwasser beginnt, dachte sie. Sie stellte die Wasserflasche in den Kühlschrank, hob den Sektkorken auf und ging ins Badezimmer.

Wenig später verließ sie die Wohnung.

Seit fast drei Jahren lebte sie in diesem Haus. Genau gesagt, seit jenen warmen Spätsommertagen, als sie sich, für viele unverständlich und völlig überraschend, von einem Tag zum anderen aus einer langjährigen Beziehung zu einem genauso schönen wie erfolgreichen Verlagsrepräsentanten gelöst hatte. Sie hatte sich, nach einem langen Telefonat mit ihrer Tante Sophie, einer burschikosen, fast sechzigjährigen Frau, die gemeinsam mit ihrer Freundin Marie-Charlotte einen Bauernhof in Norddeutschland bewirtschaftete, den Firmenwagen ihres Bruders geliehen und war zu Katharina gezogen. Über ihre Beweggründe sprach sie so gut wie gar nicht. »Ich denke, du willst ein Kind von ihm?« hatte ihre Mutter gefragt und sie fassungslos angestarrt.

Katharina hatte das Schweigen der Freundin akzeptiert und sich damit begnügt, ein handgeschriebenes Namensschild »Labetzke« an ihren Briefkasten zu kleben.

»Welch Wink des Schicksals!« hatte Lydia knapp zwei Wochen später in der Redaktion des »Stadtanzeigers« über den Flur gerufen. Der schmächtige Herr Allenstein aus der Sportredaktion hatte kurzentschlossen eine Stelle in Paris angenommen und der jungen Kollegin seine Wohnung angeboten. Sie standen gemeinsam neben der Kaffeemaschine, ließen ihre Tassen an den Henkeln hin und her baumeln und warteten. »Ich brauche dringend eine Wohnung«, hatte Lydia gesagt, um das Schweigen zu brechen. Die Maschine gab gurgelnde Geräusche von sich. »Dann nehmen Sie doch meine«, hatte der Kollege geantwortet und sie einen Tag später als Nachmieterin empfohlen.

Als Lydia mit Katharina zum Besichtigungstermin in den Ahornweg gefahren war, fühlte sie sich im Schatten der hohen Bäume sofort heimisch. Das äußerlich heruntergekommene Haus mit der abgerissenen Dachrinne gefiel ihr. Genauso der Vorgarten, in dem wogendes Gras und wuchernde Büsche die Wege geschluckt hatten. Der Ort war ihr vertraut, als würde sie ihn seit Kindertagen kennen. Auch das Quietschen des Eisentores kam ihr bekannt vor. »Es ist wie das Wiederfinden verloren geglaubter Fotos«, schwärmte sie und streichelte den Zaun wie die Hand eines geliebten Menschen. Katharina hatte schon gemurrt, als sie die Autotür zugeschlagen hatte. Die Gegend war ihr zu ländlich und die Häuser zu gepflegt. Schimpfend hatte sie das Gartentor mit dem Fuß aufgestoßen. »Hier riecht man förmlich den Kleinbürgermief!«

Lydia schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber dieses Haus ist uralt und der Garten so gepflegt wie deine weißen Turnschuhe. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, daß man deine weißen Turnschuhe kaum noch als Schuhe identifizieren kann.«

Im Hausflur hatte Katharina gegen die Stufen getreten und mit beiden Händen an dem Treppengeländer gewackelt. Das Holz ächzte unter der massiven Berührung bedrohlich. »Mir ist das Haus zu alt! Außerdem riecht es muffig. Bestimmt sind die Wände feucht! Dein Computer wird dieses Klima nicht lange aushalten. Paß auf, in weniger als fünf Wochen gibt er seinen Geist auf. Schade um das viele Geld. Na ja, und so altes Mauerwerk …! Wenn du Pech hast, wimmelt es hier von Kellerasseln. Vielleicht gibt es sogar Kakerlaken. Und im Keller Ratten! Wirklich, Lydi, du solltest dir etwas anderes suchen! Und zwar in Ruhe. Es treibt dich doch niemand! Du kannst bei mir wohnen, solange du willst. Du hast alle Zeit dieser Welt – wozu die überstürzte Eile?«

Lydia unterschrieb den Mietvertrag noch am selben Tag.

In keiner anderen Wohnung hatte sie sich so wohl gefühlt wie hier. Weder störte es sie, daß die Heizung ab und zu tropfte, noch regte sie sich darüber auf, daß die Fensterrahmen kalte Luft hereinließen. Selbst an den muffigen Geruch im Hausflur hatte sie sich gewöhnt. Wenn ihre Mutter zu Besuch kam und bereits auf der Treppe die Nase rümpfte, weil sie diesen »Arme-Leute-Geruch«, wie sie ihn bezeichnete, nicht ertragen konnte, zuckte Lydia nur mit den Schultern. In diesem Haus störte sie nichts. Nicht einmal ihre Mutter mit gerümpfter Nase …

Lydia warf die Ledertasche über die Schulter und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Die Holzdielen knarrten. Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen. Irgendwer hatte ein Gesteck aus Strohblumen auf die Fensterbank gestellt. Eine Silberdistel ragte vorwitzig heraus. Ihre Stacheln umspielten den Blütenkern wie ein Heiligenschein das Haupt der Madonna. Lydia besaß eine Fotografie, auf der sich Katharina eine solche Distel vor das Gesicht hielt. Die Aufnahme war bereits viele Jahre alt. Sie gehörte zu Lydias Lieblingsbildern von der anderen. Sie waren zusammen in Griechenland gewesen. Ihr erster gemeinsamer Urlaub. Wie hatten sie sich gefreut! Sechs Wochen lang fuhren sie mit einem geliehenen Campingbus kreuz und quer durch das Land. Sie genossen den süßlichen Duft von blühendem Ginster, spürten beide zum ersten Mal den salzigen Geschmack des Meeres auf ihren Lippen. Sie aßen Fisch, den sie zu Hause nie gegessen hatten, tranken geharzten Wein, den sie nicht kannten, sprangen nackt in den Wellen herum und lagen stundenlang am Strand. Das Foto von Katharina war auf einer Insel entstanden. Sie hatten die Nacht am Strand verbracht. Frühmorgens lagen sie auf ihren Schlafsäcken und beobachteten die aufgehende Sonne. Auf dem Weg zum Campingplatz hatte Katharina die Distel gefunden. Sie hatte sie aufgehoben und wie einen Fächer vor ihr Gesicht gehalten. Ihre Haare hatten flammend rot in der Sonne geleuchtet …

Im Parterre ging eine Tür auf. Lydia berührte einen der zarten Stacheln und lief die Treppen hinunter.

»Guten Morgen, meine Liebe. Welch temperamentvollen Schritt Sie an den Tag legen!« Die Frau in dem schiefergrauen Hosenanzug hielt einen Strauß Chrysanthemen in der Hand. Sie nickte Lydia freundlich zu. Die Granattropfen an ihren Ohren funkelten wie Burgunder in einem Kristallglas.

»Jesus, Maria und Josef!« rief sie. »Ich habe ja noch meine Pantoffeln an.« Sie drehte sich um und verschwand in der Wohnung. Wenige Augenblicke später kam sie zurück. »So ist es anständiger«, sagte sie und zeigte auf ihre Schuhe. »Sonst erzählen die Leute hinter meinem Rücken noch, ich würde auf meine alten Tage langsam seltsam werden, behaupten, die alte Triltsch würde zu spinnen anfangen. Aber soweit ist es noch nicht!« Sie drückte Lydia die Blumen in die Hand und zog die Tür zu. Ihre Hände zitterten. Es dauerte einen Moment, bis sie den Schlüssel in das Schloß gesteckt, ihn herumgedreht und wieder herausgezogen hatte.

Hannah Triltsch war bereits zweiundachtzig Jahre alt, gehörte aber zu den Frauen, die man aufgrund ihrer Ausstrahlung gut und gerne zehn bis fünfzehn Jahre jünger schätzt. Sie hatte sich ein jugendliches Lachen bewahrt, färbte ihre Haare schwarz, da sie der Meinung war, daß Grau sie alt mache, und ging jeden Tag zwei Stunden spazieren, um nicht »einzurosten«, wie sie es nannte. Als einer ihrer Neffen ihr am Weihnachtsabend angeboten hatte, sich in dem nahe gelegenen Seniorenheim »Rosenhof« um ein Zimmer für sie zu bemühen, hatte sie nur abgewinkt und gesagt: »Was soll ich zwischen all den alten Menschen? Sterben? – Das kann ich auch hier!«

Bereits wenige Wochen, nachdem Lydia in das Haus mit der verrosteten »Vierundvierzig« eingezogen war, hatte sie von der Nachbarin nicht mehr als »Nachbarin«, sondern als »Freundin« geredet. Schon bei der ersten Begegnung hatte sie die alte Dame liebgewonnen. Es war am Tag ihres Einzuges gewesen. Lydia hatte den vollgepackten Wagen ihres Bruders an das Gartentor herangefahren. Im Rückspiegel beobachtete sie, wie die alte Frau gebückt durch den Garten schlich. Sie hielt etwas silbrig Glänzendes in der Hand. Es sah aus wie ein Fisch. Ein Hering. Sie schwenkte den Fisch sachte hin und her und rief leise: »Hannibalchen! Miez, Miez, Miez! Hannibalchen!« Die Katze im Gras wich ängstlich zurück. Die Frau folgte ihr bedächtig. Sie redete beruhigend auf das Tier ein und streckte ihm vorsichtig den Fisch entgegen. Die Katze schnupperte, reckte den Hals und kam Schritt für Schritt näher. Beim Anblick der ersten Kiste, die Lydia aus dem Auto holte, ergriff sie panikartig die Flucht.

»Zum Glück hat er sein Leckerchen mitgenommen, dieser ängstliche kleine Kerl«, sagte die alte Dame und reichte Lydia die noch feuchte Fisch-Hand. »Dabei heißt er Hannibal! Da wäre etwas mehr Mut doch wohl angebracht.« Sie stellte sich als neue Nachbarin vor, fügte hinzu, sie sei fast so alt wie das Haus, und bot bereitwillig ihre Hilfe an. Lydia hatte dankend abgewinkt, auf Katharina, Palmai und Mario gewiesen, die aus einem zweiten Auto ausstiegen, und sich schon im voraus für den entstehenden Lärm entschuldigt. »Lärm ist Leben«, hatte die alte Frau gesagt und hinter vorgehaltener Hand geflüstert, daß es ihr oftmals viel zu still sei in diesem Haus. Sie hatte den jungen Leuten beim Tragen zugeschaut und am Nachmittag selbstgebackenen Erdbeerkuchen mit Zimtsahne aus dem Fenster gereicht.

Mit sichtlichem Vergnügen unterhielt sie sich mit Palmai. Lydia hörte im Vorbeigehen, wie die beiden über Theaterkulissen und Linzer Torte redeten. Der Freund hatte Frau Triltsch zum Abschied galant die Hand geküßt und Lydia am Abend dringend ans Herz gelegt, einen Strauß Blumen für die alte Dame zu kaufen und sich im Namen aller noch einmal für die freundliche Bewirtung zu bedanken. Hannah Triltsch nahm die rosafarbenen Malven erfreut entgegen und bat die neue Mieterin auf eine Tasse Tee herein. Lydia saß in dem Zimmer mit dem alten Klavier und den vergilbten Fotografien und schaute sich neugierig um. Es roch nach Rosenblüten. Wie im Museum, dachte sie und ließ ihre Augen wandern und entdecken. »Gucken Sie sich nur um!« hatte Hannah Triltsch sie aufgefordert und zu allem, was Lydia berührte oder in die Hand nahm, eine Geschichte erzählt.

Die alte Dame war in ihrer Jugend lange Zeit in Paris gewesen. Gemeinsam mit ihrer Schwester Hedwig und ihrem Schwager Jean hatte sie eine Schauspielschule besucht und sich ihr Geld als Tänzerin in einem Nachtclub verdient. Ihr Talent als Mimin wurde früh entdeckt. Sie bekam Engagements, reiste viel, spielte auf kleinen und großen Bühnen und lebte überall dort, wo man sie spielen ließ und wo das Publikum sie liebte. Bis zu ihrem sechzigsten Lebensjahr hatte sie auf der Bühne gestanden. Sehr plötzlich, man könnte sagen, von heute auf morgen, war sie der Schauspielerei überdrüssig geworden. Sie hatte dem Theaterleben mit einem großen Fest »Adieu!« gesagt und sich in dieses Haus zurückgezogen. Es dauerte nicht lange, und sie entdeckte eine neue Leidenschaft. Die Katzen. Seit sie in diesem Haus lebte, kümmerte sie sich mit Hingabe um herumstreunende Katzen. Die Leidenschaft erkaltete, als ihre Schwester Hedwig zu ihr zog. Die fünf Jahre jüngere Frau war überraschend Witwe geworden und ertrug die Einsamkeit nicht. Kurze Zeit, nachdem sie sich in ihrem neuen Zuhause eingerichtet hatte, war sie erkrankt. Im vorletzten Sommer war sie gestorben. Hannah Triltsch hatte die Schwester bis zum letzten Tag gepflegt. Manchmal sprach sie von der Verstorbenen, als wäre sie nur kurz in den Garten gegangen und würde im nächsten Augenblick wieder zur Tür hereintreten. Morgens passierte es ihr manchmal, daß sie den Tisch für zwei Personen deckte. Obwohl sie viel Besuch bekam, fühlte sich die alte Dame seit dem Tod der Schwester oft einsam. »Jetzt bin ich auch eine Art Witwe«, hatte sie Lydia gegenüber geäußert. Vor allem abends fehlte ihr die Zweisamkeit, vermißte sie die Gespräche.

Mit Vergnügen nahm sie Lydias Einladungen zu Ausstellungseröffnungen an. Besonders gerne begleitete sie die junge Frau, wenn sie hörte, daß Katharina mitgehen würde. Sie mochte die Künstlerin mit der sanften Stimme und der Denkerfalte über der Nase. Ihr gefiel die stille, nachdenkliche Art der Frau und das strahlende Lachen, bei dem sich in den Wangen Grübchen bildeten. »Ich glaube, obwohl wir sehr unterschiedlich sind, sind Katharina und ich uns in einigen Dingen auch wieder sehr ähnlich«, hatte sie Lydia gegenüber einmal geäußert. Katharina, die die alte Dame anfangs nicht sonderlich gemocht hatte, besuchte Frau Triltsch schon nach kurzer Zeit immer häufiger. Oft, wenn Lydia abends nach Hause kam, stand das Auto der Freundin vor der Tür …

»Ist das nicht ein herrlicher Tag?« Hannah Triltsch sah Lydia mit prüfendem Blick an. »Ich habe beschlossen, auf den Friedhof zu gehen und Hedwig ein paar Blumen zu bringen. Nach soviel Regen muß man das schöne Wetter doch ausnützen. – Geht es Ihnen nicht gut, meine Liebe? Sie sehen blaß aus. Ungewöhnlich blaß.«

»Nein, nein, mir geht’s gut. Ich habe nur schlecht geschlafen.«

»Machen Sie sich immer noch Sorgen wegen Katharina?«

Lydia hatte vor einigen Tagen gegen acht Uhr abends mit einer Flasche Rotwein und zwei Laugenbrezeln in der Hand bei der Nachbarin geschellt. Hannah Triltsch hatte Lydias Monologen über Katharina gelauscht und den Rat gegeben, die Abwesenheit der anderen zuerst einmal zu akzeptieren. Katharina sei schließlich Künstlerin und in ihrem Tun nicht mit anderen Menschen zu vergleichen. »Ich bin sicher, sie wird sich bald bei Ihnen melden, und dann werden Sie sehen, wie unnötig Ihre Aufregung war«, hatte sie beim Abschied gesagt.

Lydia betrachtete die gelben Chrysanthemen.

»Ich habe heute morgen Post von Katharina bekommen …«

»Na, sehen Sie«, unterbrach sie die Nachbarin, »wie ich es prophezeit habe. Ihre Sorgen waren umsonst, ist es nicht so?«

»Ich bin mir nicht sicher, aber …«

Das Telefon schellte laut.

»Ach, das ist bestimmt Georg!« rief Frau Triltsch. Ihr Gesicht bekam einen jugendlichen Glanz. Freudig schloß sie die Wohnungstür wieder auf. »Er wollte mich bei schönem Wetter begleiten. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Oder kommen Sie doch mit herein! Es dauert sicher nur einen Moment. Dann können wir …« Sie zog Lydia hinter sich her ins Wohnzimmer und nahm den Telefonhörer ab. »Georg, wie schön! Gerade habe ich gesagt, daß du es sein wirst!«

»Verabreden Sie sich in aller Ruhe! Ich muß mein Auto aus der Werkstatt holen«, flüsterte Lydia und berührte Frau Triltsch am Arm. »Auf Wiedersehen!«

»Moment, Georg.« Sie legte den Hörer auf den Tisch und begleitete Lydia zur Tür. »Passen Sie auf, in Bälde ist Katharina zurück und wird Ihnen eine Menge zu erzählen haben.« Sie nickte überzeugt.

»Ihr Wort in Gottes Ohr«, murmelte Lydia und verabschiedete sich. »Viel Spaß noch!« rief sie und versuchte, ihrer Stimme einen fröhlichen Klang zu geben.

Sie ging langsam die Treppen hinunter und öffnete den Briefkasten.

»Das sollten Sie nicht unbeachtet wegwerfen«, las sie, während die Haustür schleifend hinter ihr ins Schloß fiel. Gedankenverloren knüllte sie das Papier zusammen und warf es in die Mülltonne.

Was für ein herrlicher Tag, dachte sie und schaute zum Himmel hinauf. Die Wolken sahen aus wie Gesichter.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle kam ihr Herr Hunning entgegen. Der Besitzer des Nachbarhauses schwenkte in der einen Hand einen Eimer, in der anderen einen Besen. Seit er pensioniert war, hatte er die Gartenarbeit zu seinem Hobby erklärt und sich angewöhnt, den Bürgersteig zweimal wöchentlich von allem zu befreien, was seiner Meinung nach nicht dorthin gehörte. Wie immer, wenn er dieser Beschäftigung nachging, trug er eine blaue Schirmmütze und große gelbe Gummistiefel. Der Mann lächelte schon von weitem.

Lydia nahm sich vor, das Gespräch heute kurz zu halten. Schließlich hatte sie es eilig.

»Guten Morgen, Frau Labetzke. Ist das ein Tag? Der Wind ist warm wie im Frühling. Eigentlich zu warm für diese Jahreszeit. Aber was interessieren uns die Jahreszeiten. Hauptsache, es regnet nicht mehr! Das war ja kaum zum Aushalten die letzten Tage. Jeden Morgen dieser verhangene Himmel. Da wird man melancholisch. Heute früh habe ich noch zu meiner Frau ge …«

»Sie haben recht, ein herrlicher Tag. Wenn ich es nicht so eilig hätte …«

»Wir haben uns ja eine ganze Weile nicht gesehen.«

»Stimmt.«

Der Mann stellte den Eimer ab und stützte sich mit beiden Armen auf den Besen. Lydia betrachtete die braungebrannten Hände des Mannes. Katharina bezeichnete sie wegen der enormen Größe als »Schaufeln«. »Waren Sie in Urlaub?«

»Jawohl. Ich war drei Wochen an der Nordsee. Und wissen Sie, was ich dort gemacht habe?«

»Sie sind geschwommen!«

»Um diese Zeit?«

»Nein, da haben Sie recht. Also, Sie sind nicht geschwommen. Sie sind ge …«

»Ich bin Fahrrad gefahren. Jeden Tag Fahrrad gefahren. Ich hätte nie gedacht, daß mir Fahrradfahren so viel Spaß machen würde. Eigentlich habe ich ja lieber die Berge. Sie wissen ja, Skifahren. Aber meine Frau wollte dieses Jahr unbedingt an die See. Na ja, da habe ich ihr den Gefallen getan. Und wissen Sie, was ich jetzt beschlossen habe?«

Lydia schüttelte den Kopf.

»Ich habe beschlossen, mir ein Fahrrad zu kaufen.«

»Donnerwetter!« sagte sie und hielt Ausschau nach ihrem Bus.

»Ja, ich habe festgestellt, mein Knie tut überhaupt nicht weh, wenn ich Fahrrad fahre. Ganz im Gegenteil, die Bewegung tut mir gut.«

Jetzt bloß nicht wieder die Geschichte vom kaputten Knie, dachte Lydia und warf demonstrativ einen Blick auf ihre Uhr.

»So, ich muß …«

»Sagen Sie mal, Frau Labetzke, ihre Freundin, die Rothaarige, die immer mit dem alten Kastenwagen kommt, ist doch Künstlerin, nicht wahr?«

»Ja.«

»Verkauft sie auch Bilder?«

»Wenn sie einen Käufer findet, ja!«

»›Wenn sie einen Käufer findet, ja!‹, das ist gut. Sind die Bilder sehr teuer?«

»Das ist unterschiedlich.«

Der Mann kratzte sich am Kinn und sah für einen Moment sehr nachdenklich aus.

»Wissen Sie, was ich mir überlegt habe?«

Lydia schüttelte den Kopf und trat von einem Bein auf das andere.

»Ich will meinem Sohn zum Geburtstag ein richtig tolles Geschenk machen. Sonst habe ich ihm meist Geld gegeben. Dieses Jahr aber habe ich mir etwas Besonderes überlegt. Mein Sohn hat nämlich eine neue Wohnung. Und meine Frau sagt, er wünscht sich ein Bild fürs Schlafzimmer. Und da ist mir eingefallen, daß ich letztlich bei ihrer Freundin im Auto zufällig etwas liegen gesehen habe. Wenn ich das richtig erkannt habe, waren es so bunte Gestalten auf blauem Grund. Schön! Wirklich schön! Meinen Sie, ihre Freundin würde mir das Bild mal zeigen?«

»Aber das macht sie bestimmt. Haben Sie nicht Lust, Katharina in ihrem Atelier zu besuchen? Vielleicht mit Ihrem Sohn zusammen?«

»Ja, wenn das möglich ist?«

»Wir machen es möglich. – Oh, mein Bus!« rief Lydia erfreut und atmete erleichtert auf. »Sobald ich Katharina sehe, werde ich mit ihr sprechen. Ich sage Ihnen dann Bescheid. Tschüs, Herr Hunning! Schönen Tag noch.«

Mit wehendem Schal rannte sie davon.

»Tschüs, Frau Labetzke«, rief der Mann hinter ihr her.

Im Bus war es warm und voll. Lydia setzte sich neben einen jungen Mann, der gelangweilt aus dem Fenster starrte. Er trug eine ausgeblichene, an vielen Stellen geflickte Jeans und eine rote Samtjacke mit einem Pelzkragen. Zu seinen Füßen saß ein zottiger Hund. Das Tier sah Lydia aus samtschwarzen Augen an und schnupperte an ihrem Knie. Lydia hielt dem Tier die Hand vor die Nase und streichelte ihm vorsichtig über den Kopf.

»Da haben Sie echtes Glück«, sagte der Mann zu Lydia gewandt und verströmte penetranten Knoblauch-Atem, »Harald läßt sich nicht von jedem anfassen.«

Was ist daran Glück, dachte Lydia, schaute Harald an und lehnte den Kopf zurück. Das Tier gähnte herzzerreißend und legte seine Schnauze auf ihren rechten Fuß.

Lydia schloß die Augen. Kathi wird sich freuen, wenn sie hört, daß Herr Hunning ein Bild kaufen will. Katharina konnte so strahlend lachen, wenn sie glücklich war. Ihre Augen bekamen dann von einem Augenblick zum anderen diesen Glanz, den Lydia so mochte. In der letzten Zeit hatte Lydia dieses Leuchten selten gesehen. Katharina war oft so ernst gewesen und in sich gekehrt. Als Lydia sie gefragt hatte, ob irgend etwas nicht in Ordnung sei, hatte die Freundin nur abgewinkt. »Wie meint Lohengrin?« hatte sie gesagt und im nächsten Moment gesungen: »›Nie sollst du mich befragen … ‹«

Eine Gruppe Schüler stieg in den Bus. Johlend rangelten sie um die Sitzplätze. Lydia mußte an die Raben auf der Antenne denken.

Am Hauptbahnhof war der Spuk vorbei. Von einem Moment zum anderen war es wieder still in dem Bus.

»Fängt Ihrer auch Mäuse?« hörte sie eine Frau mit heller Stimme fragen. »Nein? Meiner doch! Wie verrückt! Und er frißt sie nicht einmal. Beißt sie nur kaputt und läßt sie dann liegen. Mir tun die armen Viecher immer leid. Wenn sie so bluten! Schrecklich. Ich schimpfe ja auch regelmäßig mit ihm. Aber er kann es nicht lassen.«

»Fängt er denn viele?« fragte eine Frau mit tieferer Stimme.

Der Bus hielt vor dem Schwimmbad. Die Türen öffneten sich stöhnend.

»Na, in all den Jahren waren es bestimmt …!«

Die beiden Frauen waren ausgestiegen. Lydia lehnte den Kopf zurück und schloß erneut die Augen. Jetzt werde ich nie erfahren, wie viele Mäuse er gefangen hat, dachte sie. Das sanfte Schaukeln, die Wärme und der immer schwerer werdende Hundekopf auf ihrem Fuß schläferten sie ein.

Was tat der Freundin nur leid? Es konnte doch nicht sein, daß sich Katharina allen Ernstes für ihre Abwesenheit während der letzten drei Wochen entschuldigen wollte. Lydia lächelte in sich hinein. Als Kinder hatten sie einander feierlich geschworen, sich niemals anzulügen. Sie waren den verbotenen Weg zu den Bahngleisen gelaufen und neben dem Schrankenhäuschen in ein Brombeergebüsch geklettert. Zuerst hatte sich Lydia geweigert, zwischen den stacheligen Zweigen hindurchzukriechen. Schließlich hatte sie dem Drängen der Freundin nachgegeben. »Wir müssen da rein«, hatte Katharina mit ernstem Gesicht gesagt, »sonst gilt der Schwur nicht.« Sie hatten auf dem feuchten Boden gekauert und die rechte Hand gehoben. Als Lydia plötzlich kichern mußte, hatte Katharina ihr eine klatschende Ohrfeige gegeben …

»Rathaus!« schallte die Stimme des Busfahrers aus dem Lautsprecher.

Lydia schreckte zusammen. Schon da, dachte sie irritiert und erhob sich mit Schwung. Harald sprang erschrocken auf. »Entschuldige!« flüsterte sie und streichelte dem Hund über den Kopf.