Septemberlicht - Petra Urban - E-Book

Septemberlicht E-Book

Petra Urban

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Fotografin Konstanze ist wegen Esssucht in einer Klinik gewesen. Jetzt ist sie vor allen Dingen hungrig nach Leben. Deshalb zieht sie in eine Großstadt, wagt erste Schritte als Künstlerin. So glatt allerdings, wie ihr neues Leben beginnt, bleibt es nicht. Mit dem Rückfall in alte Gefühlsmuster kehrt ihre Sucht zurück. Ein psychologischer Roman von Petra Urban über das Annehmen eigener Schwächen und den Mut, sich zu verändern. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 424

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Petra Urban

Septemberlicht

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Die Frau in der [...]Für Irina [...]1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.

Die Frau in der Gesellschaft

Herausgegeben von Ingeborg Mues

Für Irina

1.

Das Tor war nur angelehnt. Sie zog es behutsam zu und schaute noch einmal zu dem Pavillon hinüber, auf dessen Fenster der Regen gelblichen Blütenstaub hinterlassen hatte. Dort, wo früher das Gesicht des Mannes durch die Scheibe geguckt hatte, klebte jetzt ein Zettel, erklärte das Friedhofsbüro für geschlossen und forderte die Besucher auf, sich an die Dienststelle am Haupteingang zu richten. Sie dachte an die vielen Gespräche, die sie mit dem Mann im Vorbeigehen geführt hatte, und lief zu ihrem Auto. Der Kies rieb sich an ihren Schuhen und knirschte. Am liebsten hätte sie das Geräusch aufgehoben und als Erinnerung an ihre morgendlichen Spaziergänge mitgenommen.

Ihr Entschluss, mitten in die Stadt zu ziehen, stand lange fest. Den Mut zu einem Mietvertrag allerdings hatte sie erst aufgebracht, nachdem sie zufällig die Geschichte von Jona gelesen hatte. Dass einer im Bauch eines Wales eingesperrt war und dennoch die Kraft besaß, um Hilfe zu schreien, imponierte ihr. Auch sie hatte sich lange Zeit wie verschluckt gefühlt. Im Gegensatz zu Jona allerdings war ihre Stimme in der Dunkelheit immer leiser geworden, geschrien hatte allein ihr Körper.

Konstanze lachte. Schon von weitem fiel das Haus mit der Nummer 77 ins Auge. Irgendjemand hatte eine Banane auf die frisch gestrichene Fassade gemalt. Schwerelos, als wäre sie gerade vom Himmel gefallen, schwebte die Frucht neben dem Eingang zu Boden. Ungeschält, überreif, gelb und sanft gebogen, einem Schiffchen nicht unähnlich. Ein gesundes, vitaminreiches Obst, dachte sie amüsiert, hielt in der zweiten Reihe und ließ sich auch vom Hupen des Busfahrers nicht aus der Ruhe bringen. Unbeirrt trommelte sie auf ihr Steuerrad, summte eine Melodie, die sie beim Frühstück im Radio gehört hatte, und wartete geduldig, bis die Frau im roten Kostüm ihre Einkaufstaschen auf dem Rücksitz verstaut hatte, endlich angeschnallt war, den Blinker setzte und gemächlich losfuhr. Parklücken, so hatte ihr die neue Vermieterin gesagt, seien auf dieser Straße wertvoller als Gold, und deshalb, so hatte sie augenzwinkernd hinzugefügt, solle sie sich so beherzt wie möglich nach diesen Kostbarkeiten ausstrecken.

Konstanze stieg aus dem Wagen, hob den Besen auf, der quer auf dem Bürgersteig lag, und betrachtete die Banane an der Wand. Das Gespräch mit der alten Dame hatte ihr Spaß bereitet. Nach der Unterzeichnung des Mietvertrages waren sie aus den schweren Ledersesseln im Arbeitszimmer auf die leichten Korbstühle im Wintergarten gewechselt und hatten bei Tee und Gebäck über den Alltag eines Opernhauses geredet. Konstanze hatte von ihrer Arbeit als Fotografin erzählt, von Generalproben, Premierenfieber, der Hektik auf und hinter der Bühne, den Allüren der Sänger und den Pannen, die sich mitunter wie Salutschüsse aneinander reihten. Schmunzelnd hatte sie von einer Königin der Nacht berichtet, die auf ihrem Weg vom Schnürboden zur Bühne in ihrem glitzernden Halbmond hängen geblieben war, und von einem schmächtigen Lohengrin in schillernder, blinkender Rüstung, der vergeblich auf seinen Schwan wartete.

Die Dame hatte andächtig zugehört. »Manchmal lernen wir mehr durch unsere Fehler und Unvollkommenheiten als durch unsere Perfektion«, hatte sie gesagt und mit heiterer Miene erklärt, dass sie die Oper von Kindheit an liebe. Beinah die Hälfte ihres langen Lebens war sie Abonnentin gewesen. Erst im letzten Jahr hatte sie gekündigt. Ein Sturz von der Kellertreppe, eine anschließende Operation am Oberschenkel und schließlich die Schmerzen, die ihr seit diesem Tag ein längeres Sitzen nicht mehr gestatteten, waren der Auslöser gewesen.

Konstanze hatte den Geschichten von früher mit Interesse gelauscht und das faltige, von der Zeit arg verwitterte Gesicht ihres Gegenübers im Geiste mehrmals fotografiert. Die zerknitterten Wangen, aber mehr noch die zerfurchte Stirn zogen ihre Aufmerksamkeit magisch an. Die Frau schienen diese aufdringlichen Blicke nicht zu stören. Mit zitternden Fingern hatte sie alte Programmhefte aus dem Regal gezogen, behutsam die Seiten umgeblättert, auf verblichene Fotos getippt, sich zurücklehnend an die ersten Inszenierungen nach dem Krieg erinnert, von schier endlosen Wagner-Abenden geschwärmt und in den Personenregistern die Namen junger Tenöre gesucht, die von dieser Bühne aus den Schritt zum Erfolg geschafft hatten. Dann aber war sie still geworden, hatte von einem Moment zum anderen sehr müde ausgesehen und ihren Gast gebeten, doch noch mehr von sich zu erzählen.

Konstanze hatte auf die Hände der Frau gestarrt und überlegt, ob diese Haut, die wie Pergamentpapier aussah, bei Berührung wohl knistern würde. Zu ihrem eigenen Erstaunen hatte sie angefangen, von ihrem dreißigsten Geburtstag zu sprechen, der nur wenige Tage zurücklag und den sie allein, mit einer Flasche Sekt und einer Kommunionkerze, die sie billig erstanden hatte, in einem engen Hotelzimmer in der Lüneburger Heide verbracht hatte. Lächelnd versicherte sie der gespannt Horchenden, dass sie dieses unermüdlich brennende Licht, das durch ihre Unachtsamkeit auch am nächsten Morgen noch gebrannt hatte, als gutes Omen für ihr neues Lebensjahr betrachte. Sie hatte sich versprochen. Sie hatte gesagt, dass sie das Licht als gutes Omen für ihr neues Leben betrachte. Der Frau schien es nicht aufgefallen zu sein. Sie hatte nach wie vor geschwiegen und mit leicht zur Seite geneigtem Kopf zugehört. Dabei hatte sie mit der einen Hand sanft über die andere gestrichen. Konstanze hatte das Spiel der Finger fasziniert beobachtet und begonnen, von ihrer Scheidung zu erzählen, dem Gerangel der Anwälte um die Ersparnisse und dem Versenken ihres Eheringes in einem Baggersee. Von ihrer Depression, dem Aufenthalt in der Klinik und der Therapie hatte sie nichts gesagt …

»Entschuldigung, aber der Besen gehört mir!«

Konstanze betrachtete den untersetzten Mann mit der hohen Stirn und der dunkelbraun eingefassten Brille, der mit wehendem Kittel aus der Einfahrt gelaufen kam, und wusste, wen sie vor sich hatte. »Hüter des Hauses«, hatte die alte Dame ihn liebevoll genannt und ihr geraten, sich mit dem hilfsbereiten, handwerklich überaus geschickten Mann gut zu stellen. Seit über vierzig Jahren lebte er in diesem Haus, kehrte tagaus, tagein den Bürgersteig, achtete darauf, dass die Klingelschilder einheitlich beschriftet waren, die Mülltonnen zweimal in der Woche geleert wurden und der Hausflur ein sauberes Gesicht zeigte. Er hatte Mieter kommen und gehen sehen, Generationen von Geranien im Hof gehätschelt, Akazien und Kastanien gepflanzt, die mittlerweile so viel Schatten spendeten, dass Nachbarn sich beschwerten, hatte Reparaturen ausgeführt, für die manch anderer einen Fachmann gebraucht hätte, und sich nur selten Urlaub gegönnt. Er brauchte das Haus. Und das Haus brauchte ihn.

Sie ging ihm entgegen und lächelte freundlich. »Sie sind Herr Kossmann, nicht wahr?«

Der Angesprochene nickte erstaunt, schüttelte die sonnenbraune Hand und nahm den Besen.

»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Mein Name ist Konstanze Marthaler. Ich bin die neue Mieterin.«

»Wir haben zwei neue Mieterinnen. Sind Sie die Fotografin oder die Musikerin?«

»Worauf würden Sie tippen?«

Der Mann stützte sich auf seinen Besen und schaute sie ungeniert neugierig an. Konstanze fühlte sich von einem Moment zum anderen unwohl. Sie mochte solche aufdringlichen Blicke nicht, meinte aber, durch die Frage, die sie ihm gestellt hatte, habe er ein Recht, sie so zu betrachten. Dass er sich allerdings so viel Zeit ließ, ärgerte sie. Offensichtlich mochte er schwarze Haare und dunkle Augen. Vielleicht gefiel es ihm auch, dass ihr Gesicht durch die Sonne ein wenig gebräunt war und über der Nase und auf der Stirn kleine Ansammlungen von Sommersprossen zeigte. Irritierende Punktschwärme, die sich, zu ihrem großen Ärger, jetzt im Sommer in rasanter Eile vermehrten. Außerdem hatte sie die Lippen leuchtend rot geschminkt. Seit sie aus der Klinik entlassen war, schminkte sie sich gern die Lippen – und dieses Rot, das sie heute, zur Feier des Tages, benutzte, harmonierte zudem auf reizvolle Weise mit dem geknoteten Tuch, das ihr die Locken aus der Stirn fern hielt. Das alles schien ihrem Gegenüber zu gefallen. Sie spürte es. Allein ihren Pullover, der an den Ellenbogen geflickt und am Hals ausgeleiert war, und die bunte Baumwollhose mit den flattrigen Beinen fand er wohl unpassend. Konstanze meinte es an der plötzlichen Talfahrt seiner Mundwinkel ablesen zu können.

»Sie sind bestimmt die Fotografin«, sagte er.

»Erraten!«

Er wies auf den Eingang. »Wissen Sie, was die Banane bedeutet?«

Konstanze schüttelte freundlich lächelnd den Kopf. Sie war froh, nicht mehr so penetrant angestarrt zu werden, und ließ ihn deshalb gern erklären.

»Es ist ein symbolischer Hinweis darauf, dass in diesem Hause Kunst existiert. Wir haben im Hof, dort, wo früher einmal die Kohlenhandlung Willi Leven war, seit neuestem eine Druckerei. Eine Kunstdruckerei, genau gesagt. Die wird in zwei Wochen, wenn ich das Datum richtig im Kopf habe, feierlich eröffnet. Und der Besitzer, ein Mann namens René Conrad, hat die Banane an die Wand gemacht, genau gesagt, mit einer Schablone an die Wand gespritzt. Wenn Sie offenen Auges durch diese Stadt gehen, werden Sie das Symbol nicht nur an den Eingängen der Museen, sondern eben auch an Fassaden entdecken, hinter denen sich Kunst in kleineren Mengen verbirgt.« Er schwieg atemlos.

Konstanze schaute ihn schweigend an. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass seine letzten Sätze auswendig gelernt waren. In der Klinik hatte es Tage gegeben, da hatte sie ähnlich gesprochen. Wie ein Kind, das zwanghaft die Worte wiederholt, die andere ihm beigebracht haben.

»Wann ziehen Sie ein?«, fragte er nach der kurzen Stille und ließ den Besen von einer Hand in die andere wandern.

»Genau genommen jetzt.«

Er schaute sich um und suchte offensichtlich den Möbelwagen. »Meinen Hausrat habe ich noch nicht dabei, nur die Pflanzen. Das Auto dort«, sie zeigte auf einen roten Citroën mit schwarzem Dach, »das im Moment ein wenig wie ein fahrbares Gewächshaus aussieht, das gehört zu mir.« Sie schaute ihn bittend an. »Meinen Sie, Sie könnten versuchen, mir heute Nachmittag drei Parkplätze vor dem Haus freizuhalten? Für den Transporter mit all meinem Hab und Gut.«

Kossmann nickte. »Verstehe! Der rote Citroën mit dem schwarzen Dach ist also Ihrer.« Er benutzte den Besen als Zeigestock.

»Ja.«

»Gut! – Der weiße Opel Kadett rechts von Ihnen, der gehört dem Wirt von drüben, dem Georg.« Er zeigte auf die andere Straßenseite, wo eine Schiefertafel Spießbraten mit Kartoffelpüree und als Vorspeise Spargelsuppe ankündigte.

Konstanze begann mit dem Fuß zu wippen, als höre sie plötzlich Musik und gebe den Takt dazu an. Sie hatte die Tafel bereits beim Aussteigen gesehen und die wenigen Worte wie eine Wegbeschreibung oder eine Gebrauchsanweisung mehrmals hintereinander gelesen. Noch war es so, dass alles, was mit Essen zu tun hatte, für sie nicht ganz selbstverständlich war.

Der Sturz in eine Esssucht in ihrem Alter sei eher selten, hatte man ihr in der Klinik gesagt und sie darauf hingewiesen, dass sie noch lange gefährdet bleiben würde, da sie, im Gegensatz zu anderen Suchtkranken, auf ihre Droge nie gänzlich verzichten könne. Das mache die Bekämpfung ihrer Sucht um ein Vielfaches schwieriger als die Bekämpfung anderer Abhängigkeiten, hatte die Psychologin mit ernstem Gesicht erklärt.

Konstanze wippte schneller mit dem Fuß. Sie spürte Schweißperlen auf ihrer Stirn und starrte peinlich berührt auf ihre Sandalen. Die Erinnerung an ihre Essanfälle ließ ihr Gesicht glühen. Erleichtert bückte sie sich nach dem Bonbonpapier, das zusammengeknüllt und glänzend auf dem Boden lag. Langsam richtete sie sich wieder auf und hob den Kopf.

»Der Wirt ist der Georg«, fuhr Kossmann fort und nahm ihr das Papier aus der Hand, »den kenne ich recht gut, mit dem spiele ich hin und wieder Schach, manchmal auch Mühle, dem kann ich nachher Bescheid geben, er möchte …« Er schüttelte den Kopf. »Quatsch, das machen wir ganz anders, wir …« Er verstummte abrupt.

Konstanze schaute ihn abwartend an. Er hatte das zweite »wir« für ihr Empfinden erstaunlich laut ausgesprochen.

»Also!«, murmelte er und räusperte sich. »Ganz einfach! Ich lasse das Tor von der Einfahrt heute den ganzen Tag über auf, und Sie fahren mit dem Wagen hinein, vorwärts oder rückwärts, ganz wie Sie mögen, und laden aus. Entweder tragen Sie die Möbel von hinten durch den Hof ins Treppenhaus oder von vorn über den Bürgersteig. – Sollten Sie Hilfe brauchen, ich meine, Sie als Frau und …« Er hustete. »Ich meine, Tisch, Bett und Schrank zu schleppen ist ja immer eine elende Schinderei, und ich habe heute Nachmittag zufällig im Garten zu tun. Also, wie gesagt, sollten Sie Hilfe benötigen, Sie brauchen nur zu rufen.« Während er gesprochen hatte, war das Bonbonpapier in seiner Kitteltasche verschwunden und der Besen in seiner Hand wieder auf Wanderschaft gegangen.

Obwohl der Mann nicht besonders kräftig aussah und Konstanze ihn auf mindestens fünfundsechzig Jahre schätzte, bedankte sie sich bei ihm und kündigte an, auf das Angebot gern zurückzukommen. Sie wusste, dass am Nachmittag kaum Helfer zu erwarten waren. Auf Ralph würde sie sich hoffentlich verlassen können. Sie war dem Freund aus Kindertagen in der letzten Woche zufällig in einem Kaufhaus begegnet. Sie hatten gemeinsam in einer Pizzeria zu Mittag gegessen, über ihre Vergangenheit geplaudert, festgestellt, dass sie wohl die Einzigen aus der Clique waren, die für längere Zeit die Stadt verlassen hatten, und dass sie jetzt, zurückgekehrt, gar nicht so weit voneinander entfernt wohnten. Ralph hatte von seiner Familie erzählt, seiner zweijährigen Tochter und dem verwöhnten Dackel, der nur frisch gekochtes Fleisch fraß. Konstanze hatte von ihrer Scheidung berichtet, dem Kater Felix, um dessen Sorgerecht sie damals gestritten hatten wie um ein Kind, und von ihrer Arbeit auf der Bühne. Ihre Krankheit hatte sie nicht erwähnt. Bisher hatte sie es niemandem, nicht einmal ihren Eltern, erzählt. Die offizielle Version lautete immer noch Nervenzusammenbruch. Den Gedanken, dass irgendwer von ihrem widerlichen Hunger, ihrer Schwäche und Unzulänglichkeit erfahren könnte, ertrug sie nicht. Zu groß war die Scham.

Ralph hatte Fotos aus seiner Brieftasche gezogen und sie wie aufgedeckte Memory-Karten auf dem Tisch verteilt. Kopf an Kopf über die Bilder geneigt, hatten sie sich plötzlich angeschaut und schallend gelacht. Der Freund hatte ihr zum Abschied von seinem neuen Job als Beleuchter am Theater erzählt und ihr freiwillig angeboten, beim Umzug zu helfen.

»Darf ich Ihnen den Hibiskus hinauftragen?«, fragte Kossmann und zeigte auf die Pflanze, die den Beifahrersitz des Wagens völlig in Beschlag nahm.

»Oh, wie gerne Sie das dürfen!«, sagte Konstanze erfreut.

Im Hausflur wies sie auf die leeren weißen Wände und erzählte, dass die Vermieterin sie ermuntert habe, gerahmte Fotografien aufzuhängen. »Würde Sie das stören?«, fragte sie und schaute Kossmann, der zwei Treppen über ihr stand, unsicher an.

Der Mann schüttelte den Kopf.

Sie strahlte. »Wirklich nicht?«

Er schüttelte erneut den Kopf. »Wenn die Fotos schön sind!«

Sie spürte eine heiße Freude im Gesicht und nahm sich vor, die Arbeiten gleich in den nächsten Tagen zu rahmen und aufzuhängen. Jeder, der dieses Haus betrat, sollte sehen, dass in der zweiten Etage eine Fotografin lebte und arbeitete. Vielleicht würde der Hausmeister es ihr sogar erlauben, neben ihrer Wohnungstür noch einen Hinweis auf ein Fotoatelier anzubringen. Sie lächelte. Sie hatte eine Idee. Aber dazu brauchte sie noch einige Tage Zeit.

Sie stellte den Ficus ab und schloss die Wohnungstür auf. Der Geruch von Farbe hing in der Luft. Konstanze machte dem Hausmeister ein Zeichen vorauszugehen und folgte ihm dann durch den schmalen Flur in das große helle Zimmer, in dem ein Erker erstaunlich weit auf die Straße hinausreichte. Dieser Prachtraum mit den alten Holzdielen, dem üppigen Stuck an der Decke und den hohen Fenstern würde ihr Atelier sein. Zum Hof hinaus gab es eine kleine Küche und ein ebenso kleines Zimmer, das ihr zum Schlafen und Wohnen reichte. Die meiste Zeit des Tages würde sie sich sowieso hier aufhalten. In ihrem Atelier. Schließlich hatte sie sich in der Klinik geschworen, nach ihrer Entlassung mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft künstlerisch tätig zu sein und nicht mehr, wie bisher, nur das Leben auf der Bühne zu fotografieren und die Bilder anschließend im Foyer des Opernhauses auszustellen. Sie wollte mit Porträt- und Aktfotografie ihr Können beweisen und in die Kunstszene der Stadt eintauchen. Ihre Bilder sollten in den renommierten Galerien hängen, ihre Ausstellungen besprochen werden und Plakate mit ihrem Namen in der Drehtür des Museums schweben. Anstelle von aufmunterndem Kopfnicken der Kollegen wollte sie endlich die Anerkennung von Kritikern. Zur ständigen Erinnerung an ihren Entschluss trug sie einen Zettel in ihrer Brieftasche, den sie in einem Glückskeks in einem China-Restaurant gefunden hatte. Darauf stand: Sie sind sehr ambitioniert. Sie wollen und Sie werden große Dinge erreichen.

»Stellen Sie den Hibiskus bitte auf die Fensterbank in der Küche«, sagte sie und warf im Vorbeigehen einen Blick in das Badezimmer. Morgen Abend werde ich bei Kerzenschein in dieser Wanne mit den gebogenen Füßchen liegen und auf mein neues Leben trinken, dachte sie und nahm sich vor, Schaumbad, Kerzen und Champagner zu kaufen.

»Ist das Haus eigentlich hellhörig?«, fragte sie. Beim Anblick der Wanne hatte sie an ihre Badefreuden mit Stefan denken müssen. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten sie gar nicht genug voneinander bekommen können. Laut und geräuschvoll, wie das Leben nun einmal ist, hatten sie sich geliebt. Später waren sie sich plötzlich fremd geworden, noch später gleichgültig. Die Stille zwischen ihnen war nicht mehr zu überhören gewesen. Seit ihrer Scheidung lebte sie allein. Die einzigen körperlichen Kontakte waren Berührungen am Arbeitsplatz.

»Nicht übermäßig hellhörig, warum?« Kossmann schaute sie an.

»Ach, nur so!« Sie drückte den Zeigefinger in die Erde des Ficus, erklärte die Pflanze für durstig und hielt sie in der Küche kurz unter den Wasserhahn. Sie verscheuchte die Gedanken an Stefan und begann im Geiste ihre Arbeitstische und die Regale aufzubauen und die Dunkelkammer einzurichten.

»Hier wird mein Klavier stehen.« Sie zeigte auf die Wand.

»Ich denke, Sie sind Fotografin.«

»Das Klavier ist ein Erbstück. Weder kann ich spielen, noch kann ich Noten lesen. Ich benutze es nur als Ablage.« Sie öffnete ein Fenster, lehnte sich weit hinaus und schaute auf den Bürgersteig hinunter.

Kossmann trat neben sie. »Den täglichen Rhythmus der Straße werden Sie schnell durchschaut haben. Zuerst kommen die Männer mit den Aktentaschen, dann Gruppen lärmender Schulkinder, später die Besucher des Gottesdienstes und schließlich die Hausfrauen mit ihren Kindern und den prallen Einkaufstaschen. – Das ist hier weder ein feiner noch ein stiller Stadtteil. An den Lärm der Straße werden Sie sich wahrscheinlich erst gewöhnen müssen, nicht wahr?«

Konstanze zerbröselte ein trockenes Blatt vom Hibiskus in der Luft, drehte sich um und winkte ab. Sie war glücklich über das Geratter der Straßenbahnen, das Zischen der Züge, wenn sie in Sichtweite die stählerne Eisenbahnbrücke überquerten, das Hupen der Autos und die Stimmen der Menschen. Dieses pulsierende Leben war das Gegenteil zur lähmenden Stille ihrer Depression …

Angefangen hatte die Krankheit mit einer bleischweren, schier unerträglichen Müdigkeit. Konstanze hatte sich wie eine uralte, vom Leben ermattete Frau durch ihren Alltag geschleppt. Kurze Zeit später war sie von diesem verzehrenden Hunger überfallen worden. Von einem Tag zum anderen hatte sie mehr gegessen, als ihr Körper vertragen konnte. Die Kraft ihres Willens hatte versagt. Es war wie ein Zwang gewesen. Unbeherrschbar und zerstörerisch. Ihr Körper hatte sich vor Schmerzen gekrümmt. In ihrer Hilflosigkeit hatte sie die unverdaulichen Mengen wieder erbrochen. Die Anfälle waren in immer kürzeren Abständen aufeinander gefolgt. Ohnmächtig hatte sie dem Heißhunger nachgegeben, war tiefer und tiefer in das hungrige schwarze Loch gefallen. Auch Medikamente hatten die Finsternis nicht erhellt. Ganz im Gegenteil. Sie war weiter gefallen. Ohne Unterlass. Wie in einem Albtraum. Nur dass sie den Sturz miterlebt hatte. Sie war auf der Bühne des Opernhauses zusammengebrochen und mit Blaulicht abtransportiert worden …

Sie lehnte sich erneut zum Fenster hinaus und atmete tief durch. Sie wollte alle die Geräusche und alle die Gerüche, die diese Stadt ausschied, in sich aufnehmen. Seit ihre krankhafte Gier zu essen verstummt war, hatte sich ihr Appetit auf Leben wieder zu Wort gemeldet. Und diese Stadt war Leben.

»Darf ich Ihnen bei den restlichen Pflanzen behilflich sein?«, fragte Kossmann.

Konstanze klatschte in die Hände. An der Seite ihres Helfers lief sie die Treppen hinunter und wieder hinauf und stellte immer neue Fragen. Sie redete mehr und schneller als gewöhnlich, in einer seltsam drängenden, ungestümen und doch scheuen Art. Kossmann erzählte Anekdoten aus der Zeit, als die Druckerei im Hof noch Kohlenhandlung gewesen war, gab Auskunft über die preiswertesten Einkaufsmöglichkeiten in der Umgebung, erklärte den kürzesten Weg zur Post, lobte einen Ökoladen, in dem er seit Jahren sein Gemüse holte, und empfahl eine Autowerkstatt, die schnell und zuverlässig arbeite. Stolz zeigte er ihr den frisch geweißten Kellerraum mit der neuen Waschmaschine samt Trockner und schenkte ihr zwei Münzen für eine erste unentgeltliche Benutzung der Geräte. »Ordnung ist das halbe Leben«, sagte er zum Abschied, »für einen Hausmeister fast das ganze.«

 

Die Glocken der Immanuelkirche riefen zum Sechs-Uhr-Gottesdienst, als Konstanze mit dem voll gepackten Wagen langsam auf das Haus mit der Banane zufuhr. Ralph hatte sein Versprechen tatsächlich wahr gemacht. Er war mit einem Kleintransporter des Theaters vorgefahren und hatte sogar noch zwei Kollegen mitgebracht. »Das sind Bernd und Marc aus der Untermaschinerie«, hatte er sie vorgestellt, und Konstanze hatte vor Freude fast geweint. »Wie viel soll ich ihnen geben?«, hatte sie ihn flüsternd gefragt. »Du gibst gar nichts«, hatte er gesagt und fast beleidigt reagiert, als sie sich noch einmal vergewissert hatte, ob er das wirklich ernst meine.

Sie setzte den Blinker, beobachtete den nachfolgenden Verkehr im Rückspiegel und schätzte ab, wie weit sie einschlagen müsse, um unbeschädigt in die Toreinfahrt zu kommen. »Verdammt!«, rief sie und trat auf die Bremse. Das weiße Wohnmobil, das seelenruhig in der zweiten Reihe gestanden hatte, rollte plötzlich schwungvoll zurück. Sie hupte und steckte den Kopf zum Fenster hinaus. »Halt!«, schrie sie und schaute erneut in den Rückspiegel. Der Mann mit der Sonnenbrille hinter ihr bremste abrupt, schlug die Hände überm Kopf zusammen und riss den Mund auf, als wolle er sie samt Auto verschlingen. Hinter ihm bildete sich rasch eine Schlange.

Konstanze fluchte. Aus dem Wohnmobil sprang barfuß eine Frau heraus und brachte einen Schwall Klaviermusik mit. »Verzeihung«, sagte sie und legte beide Hände auf die heruntergekurbelte Fensterscheibe, »aber wären Sie so freundlich und würden mich in die Einfahrt lassen?«

Konstanze starrte wie hypnotisiert auf die schmalen Handgelenke und die zarten Finger mit den akkurat geschnittenen Nägeln, die Schmutz nicht zu kennen schienen. Bevor sie den Kopf hob, glitt ihr Blick für einen Moment auf ihre eigenen Hände. Groß und kräftig ruhten sie auf dem Steuerrad. Maulwurfshände, wie ihre Mutter sie aus Spaß zu nennen pflegte. »Ich will auch in die Einfahrt hinein!«, sagte sie eine Nuance zu leise, wie sie fand, und stellte fest, dass ihre Gesprächspartnerin trotz des ernsten, gesammelten Ausdrucks im Gesicht Ansätze von winzigen Lachfältchen um die Augen hatte.

»Könnt ihr euer Kaffeekränzchen nicht woanders abhalten?«, schimpfte der Mann mit der Brille und hupte aggressiv. Einige Wartende machten es ihm nach.

»Gerettet!«, jubilierte die Frau, als die Autos Stoßstange an Stoßstange in der Toreinfahrt standen. »Ich glaube, die hätten uns bei Sonnenaufgang hier im Torbogen gelyncht.« Sie zog die rote Samtschleife von ihrem Handgelenk und band damit ihr Haar zusammen.

»Ich würde eher auf Sonnenuntergang tippen«, sagte Konstanze, betrachtete den aschblonden Zopf, der jetzt über die rechte Schulter nach vorne hing, und stellte sich mit wenigen Worten vor.

Die Frau in den abgeschnittenen Jeans und dem engen Trägerhemd schlüpfte in ihre rosafarbenen Stoffschuhe und deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Anita Nicole Cielinsky. Wohnen Sie hier?« Sie zog eine Rolle Drops aus ihrer Hosentasche und hielt sie auffordernd in die Höhe.

Konstanze schüttelte den Kopf. »Wenn das Auto leer geräumt ist, ja«, sagte sie und musste beim Anblick der grünlich schimmernden Augen der anderen an Gewässer in schneebedeckten Bergen denken. Ursprünglich hatte sie auch Nicole heißen sollen. Es war der Wunsch des Vaters gewesen. Später hatte er ihr gern erzählt, wie froh er war, von den Frauen der Familie in dieser Frage überstimmt worden zu sein. Eine Nicole muss klein, zierlich und blond sein, hatte er gesagt, nicht so kräftig und so schwarz wie mein geliebtes Zigeunermädchen. Meist hatte er sie nach diesen Worten in den Arm genommen und fest an sich gedrückt.

»Was denn, Sie ziehen auch ein?«

Konstanze nickte. »Ja, gerade eben. Sie auch?«

»Aber ja! Meine Habseligkeiten sind in diesem phänomenalen Auto verstaut, das mir ein ehemaliger Schüler freundlicherweise geliehen hat.«

»Sind Sie Lehrerin?«

»Ich war Musiklehrerin, jetzt komponiere ich.«

Konstanze stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete abwechselnd das schmale Gesicht und die dünne Taille der anderen. Kein Zweifel, in diesem Körper steckte Musik, jeder Zentimeter strotzte vor Harmonie. Der kennt bestimmt keine Essprobleme, dachte sie und versuchte, den Gedanken wie eine lästige Fliege zu verscheuchen. In der Klinik hatte man sie vor Vergleichen gewarnt, und ein Geistlicher hatte sie lächelnd darauf hingewiesen, dass bereits im Paradies alles Elend aus dem Vergleich zweier mit einem Dritten entstanden sei. »Komponieren – mit Verlaub –, das klingt irgendwie brotlos«, sagte sie. »Ist es auch, bereitet mir dafür aber mächtig viel Spaß. Was machen Sie?«

»Ich bin Fotografin an der hiesigen Oper …«

»Oh, vielleicht können Sie dort, bei Gelegenheit, an richtiger, wichtiger Stelle ein gutes Wort für meine Musik einlegen!«

»Ja, vielleicht. Im Moment allerdings bin ich beurlaubt.«

»Forschungssemester?« Anita grinste.

»So könnte man es nennen. Auf jeden Fall nutze ich diese Zeit, um mich künstlerisch weiterzuentwickeln. Ich möchte mich auf Porträts und Aktaufnahmen spezialisieren und meine Arbeiten demnächst in Ausstellungen präsentieren.«

Es dauerte nicht lange, und Anita duzte sie. Konstanze machte es ihr nach.

Gemeinsam standen sie in der Einfahrt, mit den Rücken an die Autos gelehnt, rauchten und unterhielten sich über ihre künstlerischen Ambitionen. Konstanze gefiel das Gespräch. Weder bemerkte sie den Mann mit der braunen Schürze, der aus der Druckerei im Hof herauskam, einen übervollen Aschenbecher in der Mülltonne ausleerte und lange Blicke zu ihnen hinüberwarf, noch den Hausmeister, der mit einem Spaten in der Hand mehrmals hin- und herlief, schließlich hinter das Wohnmobil trat und grüßte. »Hallo!«, sagte er etwas lauter, schob seinen Kopf an dem mächtigen Seitenspiegel vorbei und schielte zu ihnen hinüber.

Die beiden Frauen verstummten und guckten ihn gleichzeitig an. Er strich über seinen Kittel, trat von einem Bein aufs andere und schien zu überlegen, was er jetzt, da er Hallo gesagt hatte, hinzufügen könnte. Konstanze kam ihm zu Hilfe. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, sprach mit sanfter, warmer Stimme seinen Namen aus und stellte die beiden einander vor. Als wolle er sich revanchieren, begann er von ihr wie von einer guten Freundin zu reden. Konstanze staunte, was er nach dieser flüchtigen Begegnung am Morgen, diesem ersten kurzen Beisammensein, alles zu erzählen wusste. Sie stand da wie ein verschämtes Kind, hilflos und ausgeliefert, und freute sich dennoch an jedem Wort, das er über sie verlor.

Der Mann hatte eine kleine Erfrischung zurechtgemacht, wie er sich ausdrückte, und bot an, sie zu holen. Als er mit dem Tablett in der Hand zurückkam, ging er zum Eingang der Druckerei und rief: »Auf! Auf! Herr Conrad, wir haben auf einen Schlag zwei neue Mieterinnen bekommen, darauf müssen wir anstoßen! Zwar nur mit selbst gemachter Zitronenlimonade, aber immerhin!«

»Was heißt hier ›nur‹«, sagte Konstanze und betrachtete die appetitlich gelbe Flüssigkeit in der glitzernden Kristallkaraffe. Auf dem Boden klingelten Eiswürfel aneinander.

René Conrad trat pfeifend aus seiner Druckerei heraus und wischte sich die Hände an seiner Schürze ab. Er begrüßte erst Konstanze, dann Anita mit einem kumpelhaften Schulterklopfen und fügte ein fröhliches »Küss die Hand, die Damen!« hinzu. Anschließend stellte er erfreut fest, das Haus habe sich ja nun in den reinsten Musentempel verwandelt, und begann, da er sich ebenfalls zu den Musen zählte, mit Witz und Charme vom Einzug in seine Werkstatt zu erzählen. Konstanze beobachtete jede seiner Bewegungen und kam zu dem Schluss, dass er homosexuell sei. Sie kannte diese gezierte, leicht aufgeregte Art, zu reden und zu gestikulieren, von Kollegen aus der Schneiderei und der Maske.

Anita hatte an der Unterhaltung mit René Conrad offensichtlich großen Spaß. Sie konterte viele seiner Bemerkungen mit enormer Schlagfertigkeit und fügte jeder Episode eine eigene Geschichte hinzu, die nicht weniger lustig und originell war. Auch sie schien über einen schier unerschöpflichen Vorrat an Anekdoten zu verfügen. Konstanze hörte schweigend zu. Sie staunte über die Fähigkeit der anderen, spielerisch von einem Thema zum nächsten zu gleiten, amüsante Geschichten wie Asse aus dem Ärmel zu schütteln und dabei nicht aufdringlich, nicht unangenehm zu wirken. Natürlich konnte sie sich mit einer so zierlichen Musikerin, die zudem noch einen Doktortitel vor ihrem Namen trug, nicht messen. Eigentlich wollte sie das auch gar nicht. Und doch, es ärgerte sie, dass Anita den sympathischen Mann bereits duzte und völlig selbstverständlich mit dem Vornamen anredete. Sie getraute sich eine solche Intimität nicht. Auch an ihrem Arbeitsplatz, wo ein Du unter den Kollegen oft selbstverständlich war, blieb sie so lange zurückhaltend und höflich beim Sie, bis man sie zum vertraulicheren Umgangston aufforderte. Sie wollte nicht plump wirken, hasste das Gefühl, zudringlich zu sein.

Konstanze zuckte zusammen. René Conrad hatte ihr auf die Schulter geklopft. »Ich bin der René!«, sagte er und prostete ihr mit der Limonade zu. »Ich hoffe, du hast etwas Aufregendes geträumt, ansonsten würde ich dir deine mentale Abwesenheit jetzt direkt übel nehmen.«

Sie lächelte verlegen. »Ich heiße Konstanze!«

»Ah! Von Lateinisch constantia, meint die Beständigkeit, die Festigkeit, die Standhaftigkeit«, rief er.

Hoffentlich, dachte Konstanze und nickte freundlich. Obwohl er sie aufforderte, sich in das Gespräch einzumischen, schwieg sie die meiste Zeit und hörte zu. Anita und er redeten über die Kunstszene der Stadt und kamen, je nachdem, welcher Blumenduft herüberwehte, auf den südländisch anmutenden Innenhof zu sprechen. Im Wechsel lobten sie die üppig mit Lavendel bepflanzten Terrakotta-Kübel, den wilden Wein am Schuppen, den wogenden Efeu entlang der Mauern, die dunkelroten Rosenbeete und die Ansammlungen aromatisch riechender Küchenkräuter im Schatten der Robinie. Hin und wieder, wenn das Telefon schellte, verschwand René in seiner Druckerei. Auch Anita verließ die kleine Gruppe ab und zu, um Gespräche an ihrem Handy entgegenzunehmen. Wenn sie wenig später wiederkam, fädelte sie sich in die Unterhaltung wie in einen Kreisverkehr ein. Im Gegensatz zu ihr, die mehr und mehr Spaß an der improvisierten Situation bekam und sogar mit dem Gedanken spielte, in der gegenüberliegenden Gaststätte eine Flasche Rotwein zu besorgen, wurde Konstanze immer unruhiger. Nervös knipste sie vertrocknete Blätter aus den Rosen, zerbröselte sie zwischen Daumen und Zeigefinger und blickte in immer kürzeren Abständen zu der Uhr in der Druckerei hinüber, die sie durch das Fenster sehen konnte. Ratlos zuckte sie mit den Schultern. »Ich glaube, ich fange jetzt mal an, mein Auto leer zu räumen. Mein Helfer lässt offensichtlich auf sich warten. Es war abgesprochen, dass er nachkommt.«

»Wenn Sie gestatten, springe ich für den Säumigen ein.« Kossmann hob den Aschenbecher vom Boden auf die Fensterbank und legte seine Zigarette hinein.

Konstanze wandte sich ihm spontan zu. Am liebsten hätte sie ihn an sich gedrückt, seine weichen Wangen geküsst und ihm versichert, sich bei nächster Gelegenheit zu revanchieren. Stattdessen bedankte sie sich mit einem Lächeln und legte kurz ihre Hand auf seinen Arm.

René wiederholte Kossmanns Vorschlag, überlegte, nickte dann zustimmend, tauschte seine Schürze gegen einen Kittel ein und zog sich geblümte Gartenhandschuhe an. Anita lachte hell bei seinem Anblick. Im nächsten Moment wurde sie wieder ernst. »Es ist zum Haareraufen, aber meine Helfer kommen auch nicht.« Achselzuckend tippte sie auf ihr Handy.

»Na, trefflich! Dann räumen wir doch zuerst mit flinken Händen das dicke Wohnmobil leer«, sagte René, »das steht näher an der Tür, anschließend fahren wir es raus und entleeren dein Auto. Auch flottweg, versteht sich.« Er schaute Konstanze fragend an. »Ist das ein akzeptabler Vorschlag?«

Sie nickte.

Anita tat so, als spucke sie in die Hände. »Auf denn! Tutta la forza, mit voller Kraft!«

»Was ist in diesen vielen Kisten drin?«, fragte Konstanze wenig später und ließ sich aufatmend auf einem der beiden Stühle nieder, die sie heraufgebracht hatte.

»Kompositionen«, sagte Anita und schob Kossmann, der allein die Holzplatte vom Küchentisch getragen hatte, den zweiten Stuhl hin. Er zog ein Taschentuch aus seinem Kittel und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.

»Deine Kompositionen?« Konstanze nahm einen langen Schluck aus der Wasserflasche.

Anita schüttelte den Kopf.

»Also Fremdkompositionen«, sagte sie, reichte Kossmann eine Flasche Bier und prostete ihm zu.

»Leider ja!«

Konstanze schaute sich um. »Deine Wohnung gefällt mir auch. Sie ist zwar nicht so hell wie meine, aber du musst ja auch nicht fotografieren. Wann kommt dein Klavier?«

»Morgen früh.«

Kossmann setzte erschrocken die Flasche ab.

»Ein Klavier! Ein Klavier!«, rief René und stellte den Notenständer und den dunkelbraunen Hocker, den er wie eine Zeitung lässig unterm Arm trug, mitten im Zimmer ab. »Wird das Klavier gebracht, oder müssen wir armen Mannsbilder das auch noch schleppen?« Er zog die geblümten Handschuhe aus und nahm sich ebenfalls eine Flasche Bier.

Konstanze schaute zu dem Hausmeister hinüber, der ein gequältes Gesicht machte. Er tat ihr Leid. So wie er sich über seine Knie strich und sich immer wieder in die Seite griff, sah es aus, als würde er seine Gelenke und seinen Rücken bereits auf eine Art spüren, die nicht gesund sein konnte. Das Tragen strengte ihn offensichtlich mehr an, als er vermutet hatte.

Anita schüttelte vehement den Kopf. »Um Gottes willen, nein, das Klavier wird von einer Spedition geliefert. Freundlicherweise bringen die Männer mir auch noch einige Kleinmöbel mit, die nicht mehr in das Wohnmobil gepasst haben.«

Kossmann atmete hörbar auf. »Ich werde Ihnen in der nächsten Zeit jede erdenkliche Hilfe zukommen lassen, das können Sie mir glauben, aber ich kann unmöglich noch einmal mit einer solchen körperlichen Anstrengung aufwarten. Mit Schrecken denke ich daran, dass wir noch nicht einmal das erste Auto leer geräumt haben.«

Es schellte auf allen Etagen.

Er äugte auf seine Armbanduhr. »So spät noch Reklame? – Nein! Das kann nicht sein. Außerdem habe ich gestern ein Emailleschild angebracht, mit dem ich den Einwurf von Werbung ein für alle Mal untersage.« Er kratzte sich am Kopf. »Mir fällt gerade auf, dass ich das Schild im Hausflur über den Briefkästen montiert habe. Die Reklamefritzen werden also nach wie vor schellen, mein Schild wahrscheinlich absichtlich übersehen und ihre Stapel bunt bedruckten Papiers wie eh und je auf der Treppe zurücklassen. – Na warte!« Er erhob sich schwerfällig. »Ich mach das schon!«, sagte er und ging zur Tür. Im nächsten Moment kam er zurück. »Unten im Hausflur ruft jemand nach Ihnen.«

»Nach mir?« Konstanze tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust.

Er nickte.

Sie sprang auf, rannte hinaus und schaute am Geländer vorbei in die Tiefe. »Wir sind leider ein wenig spät dran!«, brüllte Ralph und winkte. »Sollen wir hochkommen?«

Konstanze juchzte vor Freude. »Wir kommen runter!«, rief sie und schämte sich im nächsten Moment für ihren kindischen Schrei, der hier im Treppenhaus noch mal so laut geklungen hatte.

Auf der Straße lehnte Ralph neben der Banane an der Wand und rauchte. »Wie du siehst, habe ich zwei andere Kollegen als heute früh mitgebracht«, sagte er und wies auf die beiden Männer in den blauen Overalls. »Der Kerl mit dem unverschämt dichten Haar, der tätowierten Rose auf dem Unterarm und der verwegenen Kerbe in der Augenbraue ist Kurt. Er ist ebenfalls Beleuchter, kommt aus München, ist auf Abstecher in unserem Haus und hat sich zu meiner großen Freude bereit erklärt zu helfen.«

René kicherte, legte dem Genannten seine geblümten Hände auf die Schultern, sprach davon, wie klitzeklein die Welt doch sei, und erkundigte sich nach einem gewissen Karl, den er auch den charismatischen Karl nannte. Der Angesprochene befreite sich aus der Umarmung, erklärte die »leidige Geschichte«, wie er sich ausdrückte, für abgeschlossen und schien bemüht zu sein, den Händen auch weiterhin zu entkommen.

»Und der kräftige Bube mit dem Zopf ist Andreas aus der Requisite«, fuhr Ralph fort und starrte, während er sprach, mit unverhohlener Neugierde Anita an.

Sie begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln und übernahm es, die restlichen Anwesenden miteinander bekannt zu machen.

Konstanze fluchte im Stillen. Wieder brachte sie nicht den Mut auf, die beiden Männer so selbstverständlich und ungeniert bei ihren Vornamen anzureden wie Anita. Sie schluckte. Plötzlich fühlte sie sich unwohl in diesem Kreis. Am liebsten hätte sie sich verabschiedet und wäre gegangen.

»Auf los geht’s los, Stück für Stück!«, rief Kossmann und zeigte auf das noch volle Auto.

Die Angesprochenen nickten, schlugen sich gegenseitig aufmunternd auf den Rücken und begannen, den Wagen leer zu räumen.

Konstanze atmete erleichtert auf, als sie die letzte Kiste auf den Boden stellte, und schaute auf die Uhr. In knapp zwei Stunden war ihr Einzug über die Bühne gegangen. Sie richtete sich auf und stemmte die Hände in die Seiten. »Das wäre geschafft!«, sagte sie und bedankte sich bei allen Beteiligten.

»Herrschaften, ich muss mich jetzt entschuldigen«, stellte Kossmann schulterzuckend fest, versprach den beiden Künstlerinnen, sich gleich in der Früh um die Namensschilder zu kümmern, und wünschte ihnen eine angenehme Nacht im neuen Zuhause.

»Zum Glück ist unser Tagwerk geschafft!« Ralph klatschte in die Hände. »Und jetzt plädiere ich dafür, dass wir im ›Laternchen‹ essen gehen. Der Hausmeister hat mir die Küche von Freund Georg wärmstens empfohlen. ›Gutbürgerlich, preiswert, alles frisch und genug zum Sattwerden‹, hat er gesagt und mir mit glänzenden Augen erzählt, dass er an manchen Tagen dort bereits zum Frühschoppen ein leicht gebratenes Kotelett mit Kartoffelsalat zu sich nimmt.« Er schaute Anita, die am Klavier lehnte, fragend an. »Du gehst doch mit, nicht wahr?« Da sie nichts sagte, fügte er hinzu: »Denk dran, was man dem Augenblick ausschlägt, bringt keine Ewigkeit zurück!«

»Schön gesagt! Und trotzdem …« Sie winkte ab und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mehr. Ehrlich, in bin völlig fertig. Ich bin seit heute Morgen um fünf Uhr auf den Beinen und sehne mich nur noch nach meinem Bett. Anders als geplant, habe ich das Auto fast ganz allein beladen. Die Helfer, die ich über die Studentenvermittlung angeheuert habe, sind erst gekommen, als alles bereits verstaut war. Die haben sich nicht einmal entschuldigt. Zum Glück hat ein Bekannter, der zufällig in seinem Rettungswagen vorbeigefahren ist und mich hantieren gesehen hat, angehalten und mit seinem Beifahrer die restlichen Möbel aus der Wohnung geholt. Ich habe derweil das Funkgerät abgehört.« Sie massierte mit einer Hand ihren Nacken. »Irgendwie war das heute nicht mein Tag. Schließlich hat das hier mit den Studenten ja auch nicht geklappt. Ich hatte so gehofft, sie würden verlässlicher sein. Anscheinend habe ich kein Glück mit Studenten.« Sie lächelte müde. »Wie darf ich mich denn für eure großartige Hilfe erkenntlich zeigen?«

»Wenn dein Klavier eingetroffen ist und ihr beide euch ein wenig im neuen Zuhause eingelebt habt, dann bittest du uns, die treuen, unermüdlichen Helfer, zu einem privaten, zwanglos intimen Hauskonzert«, sagte Kurt. »Zu solch einem Ereignis würde ich glatt wieder anreisen.«

»Was haltet ihr von seinem Vorschlag?« Anita schaute von einem zum anderen.

Alle nickten zustimmend.

Kurt zog eine Tüte mit Lakritzstäbchen aus seiner Brusttasche und hielt sie Konstanze auffordernd entgegen. »Nimm dir!«

Konstanze schob zum wiederholten Mal die Ärmel ihres Pullovers in die Höhe und lehnte ab. Sie brachte Anita zur Tür und drückte ihr zum Abschied lange die Hand. »Auf gute Nachbarschaft!«

»Kennt ihr euch von früher?«, fragte Ralph, als sie zurückkam und sich neben ihn auf die Kiste setzte.

»Nein, ich habe sie heute erst kennen gelernt, sie wollte mir die Vorfahrt nehmen.«

Er schaute sie erstaunt an. »Ist das wahr?«

»Dass sie mir die Vorfahrt nehmen wollte?«

»Nein! Dass du sie heute erst kennen gelernt hast.«

Konstanze nickte.

Er stutzte. »Ich habe die ganze Zeit überlegt, ob sie die blonde Frau aus der Clique ist, weißt du, diese Zierliche mit dem schmalen Gesicht, mit der damals jeder tanzen wollte. Da ich mich aber nicht einmal mehr daran erinnern kann, ob diese Frau mit den hellen Augen tatsächlich Anita geheißen hat, habe ich mich nicht getraut zu fragen. Aber seltsam, ich hatte das Gefühl, als ob sie auf Knopfdruck Erinnerungen in mir weckt.«

»Wollten mit dir auch alle tanzen?«, fragte Kurt und schaute Konstanze an.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich war den Jungen damals wohl zu pummelig.«

»Quatsch!«, sagte Ralph. »Du warst doch nicht pummelig. Du warst genau richtig. Aber du hast vor lauter Schüchternheit stets die Schritte durcheinander gebracht, und irgendwann bist du immer gestolpert und musstest aufgefangen werden.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Im Gegensatz zu den anderen Kavalieren habe ich trotzdem ganz oft mit dir getanzt, wenn ich dich mal daran erinnern darf. Obwohl du gestolpert bist und immer so teuflisch nach Seife und Haarwaschmittel gerochen hast, dass es einem den Atem verschlagen konnte.« Er grinste. »Um noch einmal auf Anita zurückzukommen«, fuhr er fort, »ich finde es irritierend, ich hatte wirklich das Gefühl, ihr kennt euch bereits seit Ewigkeiten.«

»Tja!« Konstanze starrte nachdenklich auf die Tüte mit den bunten Lakritzstäbchen. »So ist das manchmal mit den Gefühlen.«

Ralph zog sie am Arm in die Höhe, schaute in die Runde und schlug vor, endlich essen zu gehen.

Konstanze zuckte zusammen. Er hatte das Wort »essen« mit solcher Vehemenz und Bestimmtheit ausgesprochen, dass es sie erschreckte. Damals, an ihrem Arbeitsplatz, hatte sie sich mehr und mehr von den gemeinsamen Essen zurückgezogen und immer neue Gründe erfunden, warum sie mit den Kollegen nicht in die Kantine gehen konnte. Aus Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, hatte sie schließlich ganz aufgehört, in Gesellschaft zu essen.

Ralph hakte sie unter und zog sie mit zur Tür. »Du bist noch genau so eine Träumerin wie früher.«

»Darf man fragen, wovon du träumst?« Kurt schaute sie neugierig an.

Konstanze winkte müde ab.

Als sie an Kossmanns Tür vorbeikamen, hörten sie ihn laut über schwäbische Maultaschen reden. Er schien in der Diele zu telefonieren. Der Geruch von erhitztem Olivenöl und Basilikum lag in der Luft.

»Ich glaube, der Hausmeister ist ein exzellenter Koch«, flüsterte René und erzählte von raffinierten Gerüchen, die in den letzten Tagen durch den Garten gezogen seien und ihm den Mund wässrig gemacht hatten.

»Ich denk, der lebt allein?«, sagte Ralph.

Konstanze schüttelte den Kopf. »Was soll das denn bitte schön heißen? Meinst du, alle Menschen, die allein leben, ernähren sich von Fertiggerichten? Es gibt genügend Alleinlebende, die verwöhnen sich regelrecht, studieren Kochbücher, zelebrieren jeden Tag eine neue Mahlzeit ganz für sich allein, decken sich den Tisch mit besonders viel Liebe, genießen und …«

»Ist ja gut, ist ja gut!«, unterbrach er sie. »Du brauchst dich nicht gleich so zu ereifern, so wichtig ist das nun wirklich nicht! Aber fragen wir doch der Einfachheit halber mal unsere beiden Singles hier, was sie sich während der Woche denn so alles Gutes zubereiten. – Kurt«, sagte er und stieß den Mann, der vor ihm ging und immer noch den süßlichen Duft verströmte, mit der Faust in den Rücken.

Der Angesprochene, der sich gerade eine Zigarette angezündet hatte, blies den Qualm zur Decke und ließ sein Feuerzeug in die Brusttasche gleiten. »Wenn ich heute tot umfallen würde, könnte mein Bäcker morgen dichtmachen. Der Mann ist meine nährende Brust, und was in seinen Auslagen schlummert, mein Manna. Aber da mein eigentliches Zuhause das Theater ist, esse ich mittags selbstverständlich in der Kantine, Stammessen für vier Euro fünfzig, und abends …«, er grinste und fuhr sich mit der Hand durchs dichte Haar, »auch in der Kantine, nur kein Stammessen, das wäre ja langweilig. Ach ja, und wenn meine Mutter zu Besuch kommt, dann esse ich besonders gut.«

»Seine Mutter ist eine mordsmäßig gute Köchin!«, erklärte Ralph.

Kurt drehte sich zu ihm um und lachte. »Da wäre jetzt bestimmt niemand drauf gekommen!«

»Was ist mit dir, Andreas?« Ralph schlug dem rundlichen Mann mit dem Pferdeschwanz auf die Schulter.

Der Angesprochene betonte das Wort »Ich« mit Nachdruck, strich sich genüsslich über seinen Bauch und fuhr dann fort: »… speise abwechslungsreich, gesund, ausgewogen …«

»Aha!«, unterbrach ihn Konstanze. »Das klingt doch viel versprechend.«

»Aber ich lasse kochen.« Er grinste. »Mein Singlehaushalt ist seit neuestem aufgehoben.«

Ralph schaute Konstanze von der Seite an. »Hast du gekocht, als du verheiratest warst?«

Sie nickte. »Während meiner Ehe habe ich jeden Abend gekocht. Viele Frauen schimpfen ja über diese leidige Pflicht. Für mich war es ein Ritual, das ich nie infrage gestellt habe, das mir ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt hat und auf das ich nur verzichtet habe, wenn Stefan unterwegs war. Für mich allein etwas zuzubereiten hat damals für mich überhaupt keinen Sinn gehabt. Da habe ich lieber Butterbrote und Obst gegessen, manchmal auch ein Stück Kuchen zum Mittag.« Sie schwieg. Vor ihrem geistigen Auge tauchten Szenen ihrer jüngeren Vergangenheit auf. Sie sah sich in der Küche am Herd stehen, schwitzend in mehreren Töpfen rühren, mit bloßen Händen Gares und Halbgares in den Mund stopfen, ohne zu merken, was sie eigentlich aß, sah sich mit weit nach hinten gelegtem Kopf trinken, ohne zu spüren, dass ein Teil der Flüssigkeit aus ihren Mundwinkeln wieder herauslief und sich über ihre Brust ergoss.

»Was meinst du, wirst du hier, in deiner neuen Wohnung, für dich kochen?«, fragte Ralph.

Sie verschluckte sich. »Mal sehen«, stotterte sie hustend, »ich weiß noch nicht.«

2.

Es war bereits lange nach Mitternacht, als sie ihre Wohnungstür aufschloss und mit klopfendem Herzen ihr Atelier betrat. Jetzt und hier würde es beginnen, ihr neues Leben. Sie stieg über Kisten und Kartons ins Badezimmer, warf den verschwitzten Pullover und die Hose auf den Boden und trank in der Küche den Rest Mineralwasser aus einer der herumstehenden Flaschen. Leise summend räumte sie die leeren Gläser in die Spüle, setzte sich auf die Anrichte und rauchte eine Zigarette. Dann bezog sie ihr Bett, öffnete das Fenster, blickte in den dunklen Hof hinunter und atmete die frische Nachtluft ein. Sie meinte den Lavendel zu riechen. Irgendwo schrie eine Katze. Konstanze schloss für einen Moment die Augen. Außer dem Flüstern der Kastanie war nichts zu hören. Die Stadt lag erstaunlich still da. Sie schien zu schlafen, mit all ihren Geräuschen, mit all ihren Gerüchen. Selbst die Straße schwieg. Ein vorbeifahrender Lastwagen ließ sie kurzzeitig erwachen. Konstanze schaute auf die Uhr. Nicht mehr lange, und die ersten Straßenbahnen würden folgen.

Sie bückte sich nach dem Rucksack, der auf dem Boden stand, und zog eine dicke schwarze Kladde heraus. Seit sie auf eigenen Wunsch aus der Klinik entlassen worden war, führte sie ein Tagebuch. Auf die erste Seite hatte sie in großen roten Buchstaben notiert: Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer, die Fluten umgaben mich. Alle deine Wogen und Wellen gingen über mich dahin … Daneben hatte sie einen freundlich lächelnden Wal gemalt und gekräuseltes Wasser.

Mit wenigen Worten beschrieb sie jetzt ihren Einzug in die neue Wohnung und erzählte ausufernd von Anita und René. Dann hielt sie plötzlich inne, lauschte erneut der wispernden Kastanie und notierte, ohne weiter nachzudenken, so, als würde sie die Worte aus dem Mund eines anderen hören:

Noch bin ich eine, die ihre Heimat nicht gefunden hat. Eine, die atemlos umherirrt und sich nach Ruhe sehnt, die Gräber besucht, auf denen blaugelbe Stiefmütterchen blühen. In meinen Träumen begegne ich Orten, die ich aus Kindertagen zu kennen meine. Landschaften, angefüllt mit Erinnerungen und Gerüchen. Noch bin ich eine Suchende …

Sie klappte das Buch zu, nickte zufrieden und ging ins Bett. Kaum hatte sie sich hingelegt, ein Bein unter der Decke hervorgestreckt, das Licht gelöscht und noch einmal den Duft genossen, der von draußen hereinwehte, schlief sie ein. Im Traum musste sie einen reißenden Gebirgsbach überqueren. Seltsamerweise in Sandalen. Sie starrte in die Tiefe, ihr schwindelte, sie klammerte sich mit beiden Händen an den schroffen Felsen fest und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

Kossmanns Stimme weckte sie. Er schien zu schimpfen. Sie warf einen Blick auf die Uhr, stellte erschrocken fest, dass der Tag bereits auf Mittag zuging, und sprang aus dem Bett. Das Fenster hatte die ganze Nacht aufgestanden. Sie lehnte sich hinaus und schaute in den Hof hinunter. Aus der Druckerei erklang Musik. Kossmann stand neben den Hortensien und drohte der Katze, die zusammengekauert auf der Mauer saß, mit einer Gartenschere. »Ich schneid dir ja auch nicht nur zum Vergnügen deine Ohren ab!«, rief er.

René kam aus seiner Werkstatt heraus, schüttete einen Eimer Wasser ins Rosenbeet und schaute zu ihm hinüber. Wie am Vortag war er ganz in Schwarz gekleidet, hatte die rote Aids-Schleife am Pullover und trug die schwere braune Lederschürze. »Hat er wieder aus purer Lust getötet, der sadistische kleine Mistkerl?« Er ließ den leeren Eimer wie eine Handtasche am Arm hin und her pendeln.

Kossmann nickte und rammte die Gartenschere unmutig in den Boden. »Hier liegen eine zerteilte Maus und ein kaputt gebissenes Rotschwänzchen. – Lange gucke ich mir das sinnlose Morden in meinem Garten nicht mehr an!« Mit energischen Schritten marschierte er über die Wiese zum Schuppen, schulterte den Spaten, suchte mit gekrümmtem Rücken die richtige Stelle für ein neues Grab, hob schließlich mit zwei Stichen ein Loch aus und ließ die sterblichen Überreste von Maus und Vogel darin verschwinden. Bei allem, was er tat, hielt er immer wieder für Augenblicke inne. So, als müsse er sich ausruhen oder nachdenken.

Konstanze beobachtete jede seiner Bewegungen sehr genau, fast akribisch. Ganz plötzlich lief sie los, kramte ihre Kamera und ein Objektiv aus einer der Kisten, suchte die Schachtel mit den Filmen und eilte zurück zum Fenster. Den Blick stur nach unten gerichtet, begann sie den Mann im grauen Kittel zu fotografieren. In kurzen Abständen entstanden immer neue Momentaufnahmen. Kossmann, wie er sich auf den Spaten stützte, Kossmann, wie er vertrocknete Blüten aus den Hortensien schnitt, die Arme vor der Brust verschränkte, die Rosen nach Läusen absuchte, Unkraut zupfte, seine Brille putzte, mit ausgestreckten Beinen auf der Bank saß, den wilden Wein nach Schnecken absuchte, offenen Mundes lachte. Sie fing an zu schwitzen, trat von einem Fuß auf den anderen, atmete angestrengt, konzentrierte sich mit Mühe und befahl ihrem Finger in immer kürzeren Abständen, noch rascher auf den Auslöser zu drücken.

Erschöpft legte sie schließlich die Kamera aufs Bett und rieb sich ihre schmerzenden Handgelenke. Anschließend ging sie in die Dunkelkammer und entwickelte den Film. Später verteilte sie die Bilder auf dem Boden, beugte sich darüber, schob sie hin und her, überlegte, sortierte und wusste es schließlich. Die Fotografie, die Kossmann mit rundem Rücken und einem Fuß auf der Kante des Spatens zeigte, war am besten gelungen. Sie hob sie auf und heftete sie mit einer Stecknadel über das Klavier. Mein erstes gutes Foto im neuen Heim, dachte sie und nickte zufrieden.

 

Die nächsten Tage verbrachte Konstanze mit dem Einrichten ihrer Wohnung. Sie packte fest verschnürte Bilder aus, bügelte Kleider, Blusen und Hosen und verstaute sie mit der Wäsche im Schrank, zog Teppiche von rechts nach links, hängte Bilder auf, verteilte Krimskram auf den Fensterbänken, sortierte Bücher in die Regale, las zwischendurch Gedichte, räumte das wenige Geschirr weg, das sie besaß, legte ab und zu eine Schallplatte auf und betrachtete immer wieder das Foto von Kossmann, das über dem Klavier hing.