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Viele Jahre auf dem Tanzparkett haben Tanzlehrer Colin Duffot zu einem ausgezeichneten Beobachter gemacht, der in den Bewegungen seiner Mitmenschen lesen kann wie in einem Buch – das behaupten wenigstens seine Freunde Norma und Jasper. Zusammen mit der quirligen Krankenschwester und dem schrulligen Pfarrer hat er als Hobby-Detektiv schon mehrere Mordfälle in dem kleinen Dorf in Mittelengland gelöst, in dem er eigentlich seinen Vorruhestand genießen wollte. Doch von Ruhe kann auch in der Vorweihnachtszeit nicht die Rede sein: Während einer Krippenspielprobe kommt der Organist der kleinen Kirchengemeinde gewaltsam zu Tode und Jasper ruft Colin zu Hilfe, um den Mörder zu finden. Auf den ersten Blick scheint der Mord etwas mit einer einige Monate zurückliegenden Tombola zu tun zu haben, über die das Mordopfer kurz vor seinem Tod sprechen wollte. Doch was für eine Rolle spielt die ominöse Künstlerkommune, der Mordopfer und potentielle Täter in den Neunzigern angehörten? 'Die Melodie des Mörders' ist der vierte Band der Colin-Duffot-Reihe.
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Seitenzahl: 344
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© 2018 Carpathia Verlag GmbH, Berlin
Umschlagillustration: Christoph N. Fuhrer, www.fuhrer.me
ISBN 978-3-943709-30-8 (Print)
ISBN 978-3-943709-31-5 (EPUB)
ISBN 978-3-943709-32-2 (MOBI)
ISBN 978-3-943709-33-9 (PDF)
www.carpathia-verlag.de
Somewhere in My Memory
Little Town of Bethlehem
Pipes of Peace
I’ll Be Home For Christmas
I saw Mama kissing Santa Claus
Here is Christmas
Mistletoe and Wine
This One’s for the Children
Rockin’ Around the Christmas Tree
My gift to you
What Child is This?
Winter Wonderland
Candles in the Window
Give a little peace
Pretty Paper
In dulce jubilo
Merry Christmas everyone
Sleigh Ride
A Heavy Christmas Message
Another Rock and Roll Christmas
Run, Rudolph, Run
O Come All Ye Faithful
Shepherd’s Pipe Carol
Silent Night
Rezept: Ruths Gewürzbrot
Regen prasselte auf die Windschutzscheibe seines Dienstwagens. Obwohl die Scheibenwischer ihr Bestes gaben, konnte Sergeant Hoffer kaum die Landstraße vor sich in der Dunkelheit erkennen. Dies war eine Nacht wie geschaffen dafür, in der Polizeistation zu bleiben und einen neuen Rekord im Kaffeetrinken oder Kartenhausbauen aufzustellen. Stattdessen schwamm er mehr als er fuhr über die schlechten Straßen am Rande seines Dorfes. Wenn jemand schon ausgerechnet in dieser Nacht sterben musste, warum konnte er es nicht schön zentral in der Nähe der Wache tun? Warum hatte es eigentlich nicht den Bäcker Jones erwischt? Dann hätte Hoffer dessen hübsche Witwe am nächsten Wochenende zum Tanz ausführen können. Gut, ein plötzliches Ableben des einzigen Bäckers hätte im Dorf eine spontane Versorgungskrise ausgelöst, aber Hoffer hatte schon seit langem eine Schwäche für die junge Gattin des Bäckers, die dessen Brötchen locker ausstach.
Bobby Hoffer war noch nicht lange Sergeant. Er war gerade neunundzwanzig Jahre alt geworden und hatte doch schon all seine Ideale begraben. Hier, in Mittelengland, als Polizist in einem kleinen Kaff, würde ihm keine große Karriere beschieden sein, egal wie sehr er sich auch bemühte. Ein Grund dafür, seine Bemühungen von vornherein in einem gewissen Rahmen zu halten, wie er fand.
Der Regen klatschte weiter auf das Autodach und ließ seine ohnehin schon schlechte Laune in ungeahnte Tiefen absacken. Heute Abend war er allein unterwegs, weil sich die meisten seiner wenigen Kollegen wegen einer Magen-Darm-Grippe in der Nähe von Toiletten aufhalten wollten. Auch er selbst verspürte schon ein ungutes Grummeln in den Eingeweiden. Und jetzt auch noch eine Tote auf der Gleech-Farm. Wen kümmerte das eigentlich? Da draußen auf dem Hügel wohnten ohnehin nur Idioten. Junge Spinner, die sich für Künstler hielten, hausten dort zusammen in einem ehemaligen Bauernhaus. Angeblich schrieben sie Gedichte und Songs und malten Bilder. Doch Hoffer war sich sicher, dass in der Künstlerkommune am Dorfrand vor allem eines praktiziert wurde: Sex. Und auch wenn er es sich nur ungern eingestand, so war er stinksauer, dass er nicht mit von der Partie war. Das hatte man eben davon, wenn man einen anständigen Beruf erlernt hatte.
Jetzt bog er schwungvoll in die ungepflasterte Zufahrt zum Hof ein. Schlamm spritzte bis an die Seitenfenster seines Wagens, was seine Laune weiter verschlechterte. Die Reinigung des Dienstfahrzeugs würde sein Vorgesetzter zweifellos ihm aufbrummen.
Im Lichtkegel seiner Scheinwerfer entdeckte er eine Ansammlung von Menschen in der Dunkelheit. Einige hielten sich ihre Jacken zum Schutz vor dem Regen wie kleine Zelte über den Kopf. Andere hatten sich zu Gruppen unter Regenschirmen zusammengefunden. Hoffer hatte es doch gewusst. Auf der Gleech-Farm hatte es wieder eine Party gegeben. Von wegen Künstler. Hier war den ganzen Abend über nur gesoffen und rumgeknutscht worden. Vermutlich alle wild durcheinander. Und nun hatte es einen von ihnen also erwischt.
Er erkannte Ralph Porter, den bekanntesten Schürzenjäger des Dorfes mit gleich zwei verschreckten Blondinen im Arm. Und da stand auch Una, die dralle Maus, in einem viel zu kurzen Röckchen. Und was hatte der alte Gregory, dieser nichtsnutzige Penner, hier oben bei den jungen Leuten verloren?
Nachdem Hoffer seinen Wagen vor den Wartenden zum Halten gebracht und sie mit einem Schwall Pfützenwassers zurückgedrängt hatte, stieg er aus. Eine Gestalt löste sich aus dem Pulk und kam auf ihn zu. Er erkannte in ihr den Dorfarzt Cleo Grumming, der es trotz seiner fast siebzig Jahre irgendwie geschafft hatte, schneller hier zu sein als er. Und das, wo das Auto des Arztes einen kaum jüngeren Eindruck machte als er selbst.
Der Dezemberregen war nicht nur nass, er war auch kalt. Er war lausig kalt, und ein eisiger Wind tat sein Übriges, um Hoffers Sehnsucht nach der warmen Wachstube weiter anzuheizen.
»Guten Abend, Bobby. Hässliches Wetter, nicht wahr? Ich habe den jungen Leuten gesagt, dass sie genauso gut drinnen auf die Polizei warten können, aber das wollten sie nicht. Sie sind alle sehr verstört«, begrüßte ihn Grumming und streckte ihm eine nasse Hand entgegen, die Hoffer beiläufig ergriff.
»Wo ist die Leiche?«, fragte er statt einer Begrüßung. Er fror jetzt schon und er hatte nicht vor, mehr Zeit als nötig im Regen zuzubringen.
»Gleich da vorn unter der Laterne. Ich bring dich hin.«
Grumming ging mit langen Schritten voraus, und Hoffer folgte ihm, wobei er die gaffende Meute bewusst ignorierte. Unter ihren Blicken hielt er sich ein wenig gerader und ging forscher als sonst, er war hier schließlich der Ermittler.
Sie brauchten nicht weit zu gehen. Der leblose Körper lag dicht neben der Hauswand auf einem Gehweg aus Steinplatten. Die Arme und Beine weit ausgestreckt, ruhten die in Turnschuhen steckenden Füße in einer Pfütze aus Regenwasser. Beim Näherkommen sah Hoffer die aufgerissenen Augen der Toten, die ausdruckslos im Licht einer schwachen Außenlaterne schimmerten. Ein Mädchen, fast noch ein Kind. Das Blut auf ihrem Gesicht und ihrem langen Haar mischte sich mit dem Regen, das Loch in ihrem Kopf schien sehr tief zu sein.
»Sie hat bei ihrem Sturz einiges mitgerissen«, sagte Cleo Grumming und deutete auf die vom Regen glänzende Schieferplatte neben der Toten. »Vermutlich wird sie dort ganz oben aus der Dachgaube gesprungen sein. Ein Wunder, dass sie die Dachrinne nicht auch noch mitgenommen hat, wenn sie so knapp gesprungen ist.«
Grumming wies nach oben, und Hoffer sah, dem Finger des Arztes mit den Augen folgend, zum Schieferdach des Bauernhauses hinauf. Hoch über ihnen stand ein Fenster weit offen. Im schwachen Licht der Hoflaterne konnte Hoffer erkennen, dass dem Dach weit mehr als nur eine Schindel fehlte. Schwer zu sagen, wo diese Schieferplatte von der Größe eines Atlanten aber nur einem halben Zentimeter Dicke ihren Platz verlassen hatte. Aber es schien ihm durchaus möglich, dass das Mädchen sie auf seinem Weg in die Tiefe mitgerissen hatte.
»Sieht mir nach Selbstmord aus, Bobby. Die Kleine ist scheinbar aus dem Fenster gesprungen. Aber ich hielt es in jedem Falle für richtig, die Polizei einen Blick auf den Ort des Geschehens werfen zu lassen. Man kann ja nie wissen«, sagte Grumming.
»Lebte sie hier oben auf der Farm oder war sie eine derjenigen, die nur zum Feiern hier rausfuhren?«, fragte Hoffer und zückte ein Notizbuch samt Kugelschreiber.
»Sie hat hier gewohnt«, erwiderte Grumming und schüttelte langsam den Kopf. »Traurig, so jung sterben zu wollen. Bestimmt befand sie sich in einer depressiven Verstimmung und schon morgen hätte die Welt wieder anders ausgesehen. Jetzt wird es für sie nie wieder morgen.«
Hoffer lauschte dem sentimentalen Gequatsche des Mediziners nur mit halbem Ohr, während er ein paar nichtssagende Notizen auf sein Blatt schmierte. Als diese durch Regentropfen drohten, verwischt zu werden, klappte er das Notizbuch wieder zu und ging mit großen Schritten und jenem ernsten Gesichtsausdruck, an dem er lange geübt hatte, auf die Partygesellschaft zu. Diesmal war es Grumming, der ihm folgte.
»Wer hat die Tote gefunden?«, rief Hoffer laut.
Daraufhin hob eine kleine Gestalt unter einem der Regenschirme den Zeigefinger und reckte ihn zögernd nach oben. Das unscheinbare Mädchen, das sich an den Arm eines jungen Mannes klammerte, kam Hoffer vage bekannt vor, aber es fiel ihm kein Name zu dem spitzen Gesicht mit den schmalen Lippen ein. Hinter den beiden drängte sich die ganz in schwarz gekleidete Gestalt der stets leidenden Dichterin Bella Black unter den schützenden Schirm. Dass Bella Black ein Künstlername war, wusste Hoffer genau. Zu ihrer Schulzeit hatte sie nämlich noch Margret Gardener geheißen. Sie war ein paar Klassen unter ihm gewesen.
»Auf ein Wort zu mir, bitte«, rief Hoffer und deutete auf das Mädchen, das sich gemeldet hatte. »Der Rest kann ins Haus oder am besten nach Hause gehen, das hier ist schließlich keine Party. Jetzt nicht mehr.«
Verärgertes Gemurmel erhob sich unter den Anwesenden, und Hoffer bemerkte, dass Bella Black dem kleinen Mädchen, das die Leiche gefunden hatte, beschützend eine Hand auf die Schulter legte. Hoffer ahnte, was kommen würde, als Bella den Mund öffnete. Und er behielt Recht.
»Sue-Sue hat einen Schock erlitten, Bobby. Ich möchte bei ihr bleiben, wenn du sie verhörst. Sie ist sehr labil.«
Hoffer rollte mit den Augen. »Ich verhöre sie nicht, ich nehme nur eine Aussage auf. Und nenn mich im Dienst nicht Bobby, Margret.« Er wählte bewusst ihren verhassten Taufnamen. »Aber meinetwegen kannst du ebenfalls gleich auspacken. Sie war ja wohl eine Mitbewohnerin von euch.«
Die kleine Frau namens Sue-Sue und Bella die Dichterin lösten sich aus der Menge heraus und kamen zu ihm herüber. Ihnen folgte unaufgefordert der junge Mann, dessen Arm diese Sue-Sue gerade noch gehalten hatte.
Der Sergeant erkannte in ihm jetzt den Musiker, der sich Brin nannte. Diesen albernen Künstlernamen, von denen fast jeder auf der Gleech-Farm einen trug, konnte Hoffer nichts abgewinnen. Brin hielt sich, dem Dorfklatsch nach, für einen neuen Paul McCartney und war dazu noch um einiges attraktiver als der Ex-Beatle, wie Hoffer neidvoll anerkennen musste. Ob Brin hörenswerte Musik komponierte, wusste der Sergeant nicht und es war ihm auch egal. Er nahm den Mann direkt aufs Korn.
»Sie habe ich nicht hergebeten«, blaffte er ihn an.
»Das ist mir aufgefallen. Doch ich wäre gern anwesend, wenn Sie die beiden Frauen ins Kreuzverhör nehmen.«
Hoffer kam aus dem Augenrollen gar nicht mehr raus. Kreuzverhör, das war ja lächerlich. Diese idiotischen Künstler konnten von Glück sagen, dass Dr. Grumming noch immer dabeistand und alle drei wohlwollend begrüßte.
Inzwischen lief dem Sergeant das Regenwasser in die Schuhe. Statt hier lange herumzudiskutieren, wollte er sich lieber beeilen.
»Wie hieß die Tote?«, fragte er den Musiker.
»Das ist Evelyn. Aber für uns war sie Sunshine«, antwortete er mit brüchiger Stimme. Er machte einen sehr betroffenen Eindruck auf Hoffer.
»Evelyn und wie weiter?«, hakte Hoffer nach.
»Evelyn Prize. Sie lebte hier. Genau wie Bella und ich. Und natürlich auch Sue-Sue.« Er drückte die kleine Spitzmaus an seiner Seite kurz an sich. Diese nickte hastig und klapperte dabei mit den Zähnen.
»Eine angehende Künstlerin also«, stellte Hoffer fest. »Und woraus bestand ihre Kunst?«
»Sie war Bildhauerin, Sergeant«, sagte Bella und ihr Tonfall klang frostig. »Sie war sehr begabt.«
Hoffer stellte zufrieden fest, dass sie ihn jetzt Sergeant nannte. »Nur scheint ihre Begabung sie nicht besonders glücklich gemacht zu haben. Sie ist aus einem Fenster gesprungen. Wenn sie denn gesprungen ist. Sie kann ja auch gestoßen worden sein«, sagte er.
»Aber sie hat doch eine Abschiedsbotschaft hinterlassen«, stieß jetzt das Mädchen namens Sue-Sue hervor und deutete auf den toten Körper, der nur wenige Schritte entfernt in seiner Pfütze lag. »Sehen Sie doch mal genau hin.«
»Eine Abschiedsbotschaft?« Hoffer runzelte die Stirn. Dann zog er die Stabtaschenlampe aus seinem Gürtel und ging erneut auf die Tote zu. Er richtete den Lichtkegel auf das kurzärmlige Hemd der Toten. Auf dem durchweichten T-Shirt der Leiche verlief in roten Schlieren eine offensichtlich nicht wasserfeste Farbe. Die Worte waren noch leserlich, ergaben für den Sergeant aber keinen Sinn. Mea Culpa, las Hoffer leise. Und laut rief er den zurückgebliebenen Möchtegernkünstlern zu: »Ist das eine Rockband?«
»Es ist lateinisch«, meldete sich Grumming zu Wort. »Die Worte sind ein Schuldeingeständnis.«
»Sie fühlte sich also schuldig, ja? Und welchen Vergehens hat sie sich schuldig gemacht?«, fragte Hoffer und kehrte zu der Gruppe Wartender zurück. Er versuchte, sich seinen Ärger nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Dass jetzt schon die Toten das Klugscheißen anfingen und ihre Abschiedsbriefe in Lateinisch verfassten, frustrierte ihn.
»Das werden wir wohl jetzt nicht mehr von ihr erfahren«, stellte Dr. Grumming fest. Er wandte sich den jungen Leuten unter dem Schirm zu. »Hatte sie Familie?«
»Ich denke schon. Vermutlich«, antwortete Brin zögernd.
»Vermutlich?«, wiederholte Hoffer. »Und wer weiß es genauer? Wie viele angebliche Künstler wohnen denn hier im Moment? Irgendjemand wird sie doch besser gekannt haben. Hatte sie keine beste Freundin?«
»Tja …« Brin zögerte und blickte ratlos zu den beiden Frauen, die mit den Schultern zuckten und die Köpfe schüttelten.
»Tja? Ist das die Antwort auf alle Fragen? Niemand weiß, wie viele Leute hier wohnen und niemand weiß, wer das Mädchen am besten kannte?«
Wieder erntete Hoffer nur ratloses Schulterzucken. Er hatte es ja geahnt. Auf diesem Künstlerhof herrschten unhaltbare Zustände.
»Wir kriegen sicher irgendwie raus, wo ihre Familie ist, und werden sie verständigen. Wir kümmern uns darum«, versprach Bella und machte ein ernstes Gesicht.
Hoffer war sich da nicht so sicher, doch weil die kleine Spitzmaus ebenfalls nickte und der Regen ihm vom Kragen seiner Jacke jetzt langsam den Rücken runterlief, fixierte er die Dichterin und antwortete: »Na gut. Ich verlasse mich darauf, Margret.«
Bella reagierte nicht auf ihren Taufnamen, doch der Sergeant erntete ein erneutes Nicken von Sue-Sue, was ihn daran erinnerte, dass er an die Frau noch ein paar Fragen hatte.
»Wann haben Sie die Leiche entdeckt? Und warum haben Sie sie überhaupt entdeckt? Ist ja nicht gerade eine Nacht für einen kleinen Spaziergang.«
»Das war so gegen kurz nach zehn.« Sue-Sue sprach so leise, dass Hoffer sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. »Ich dachte, ich hätte ein Geräusch gehört. Und durch eines der Fenster in der Küche konnte ich sehen, dass draußen der Bewegungsmelder angegangen war. Ich dachte, es sei ein verspäteter Gast, doch als niemand hereinkam, bin ich mal nachsehen gegangen. Einfach so.«
»Aha«, erwiderte Hoffer. »Und da lag die gute Sunshine dann. Einfach so.«
Sue-Sues Nicken ging nahtlos in ein Erschauern über. »So war es. Glücklicherweise war Nathe mir nachgegangen. Er hat sich gleich um mich gekümmert, weil ich nicht aufhören konnte zu schreien.«
»Nathe? Wer ist Nathe?«, fragte Hoffer, doch bevor ihm jemand darauf eine Antwort geben konnte, hatte er der noch immer im Regen herumstehenden Partygesellschaft zugerufen: »Ist ein Nathe bei euch?«
Die gedrungene Gestalt, die sich daraufhin aus der Gruppe löste und auf Hoffer zugetrabt kam, war mit einer schwarzen Lederjacke und schwarzen Jeans bekleidet. Das Gesicht des Mannes unter dem Stoppelschnitt erinnerte Hoffer irgendwie an einen Igel.
»Sie sind Nathe?«, wollte er wissen.
Der junge Mann nickte.
»Und Sie trafen gleich nach diesem Mädchen am Tatort ein?«
Der Mann nickte wieder. Hoffers Ungeduld entlud sich mit lauter Stimme.
»Können Sie nicht sprechen, verdammt nochmal?«
»D-doch. Sch-schon. A-aber …«
Ein Stotterer. Das hatte Hoffer in dieser Nacht gerade noch gefehlt. Wenn er es recht bedachte, konnte er auf die Aussage dieses Mannes vielleicht doch verzichten.
»Vielen Dank, Sie können wieder gehen«, ranzte er den kleinen Mann an, der erleichtert davoneilte und in der Menge der Wartenden untertauchte.
»Kann ich jetzt bitte auch gehen?«, fragte Sue-Sue und sah Dr. Grumming mit flehendem Blick an. Der strich ihr über die Wange und warf Hoffer einen Blick zu, der einen leichten Vorwurf enthielt.
Zur Antwort löschte der Sergeant das Licht seiner Taschenlampe. »Dann mache ich mich jetzt wieder vom Acker, Doktor. Sieht für mich ebenfalls nach Selbstmord aus. Und der ist ja bekanntlich nicht mehr strafbar. Kann ja jetzt jeder machen was er will, hier in unserem schönen Land.« Sein Blick ruhte bei diesen Worten auf Brin und den beiden Mädchen unter dem Regenschirm, doch die Spitze verfehlte ihr Ziel. Die drei zeigten keinerlei Reaktion. Sie schienen zu sehr erschrocken über den Tod ihrer Kameradin, als dass Hoffers Worte sie hätten berühren können.
»In Ordnung, dann erledige ich hier nur noch den Papierkram und lasse die Tote abholen, Bobby. Wir sehen uns dann zu deinem Check-up-Termin nächste Woche in meiner Praxis.«
Hoffer gab einen Grunzlaut von sich und nahm sich vor, den Check-up-Termin zu versäumen. Grumming würde ihm sowieso nur wieder einen Vortrag über gesunde Ernährung und ausreichende sportliche Betätigung halten.
Der Sergeant hatte seinen Wagen erreicht und schon den Schlüssel ins Schloss gesteckt, als er bemerkte, dass der Doktor zur Leiche zurückgekehrt war und scheinbar fasziniert auf das tote Mädchen zu seinen Füßen starrte. Dann zauberte Grumming eine Pocketkamera aus seinem Parka hervor, nahm die Tote ins Visier und drückte zweimal auf den Auslöser. Hoffer fragte nicht weiter, warum der Doktor sich die Mühe machte, einen offensichtlichen Selbstmord bildlich festzuhalten.
Und das war eines jener Versäumnisse, für die ihn ein junger Sergeant fast ein Vierteljahrhundert später zur Rechenschaft ziehen würde.
»Aber sollten die Schafe nicht auch Text bekommen, Jasper? Mal ehrlich: Das, was die Hirten von sich geben, ist nur debiles Gewäsch. Wäre es nicht lustig, wenn die Schafe den Hirten intellektuell überlegen wären?«
»Das wäre es ganz bestimmt, aber das hier ist ein Krippenspiel, Norma, und kein Gesellschaftsdrama. Und nimm bitte endlich diesen albernen Elchhelm ab, es gab keine Elche in Betlehem.«
Jasper Johnson, der Pfarrer einer aufmüpfigen Gemeinde in Mittelengland, war mit den Nerven am Ende. Da sich auch in diesem Jahr zu wenig freiwillige Kinder für ein Krippenspiel gefunden hatten, war er dem Rat seiner guten Freundin, der etwas kurz geratenen Krankenschwester Norma, gefolgt, an Heiligabend Erwachsene in seiner Kirche auftreten zu lassen. Doch er hatte nicht vorausgesehen, dass erwachsene Laiendarsteller noch schlechter zu handhaben waren als eine Horde Kinder. Jeder hatte eine eigene Meinung zum Drehbuch, jeder nahm eigenmächtig Verbesserungen des eigenen Textes vor und jeder quatschte ihm in seine Regiearbeit. Und jetzt hatte Norma, die auf ihrem Kopf einen Elchhelm mit blinkenden Schaufeln spazieren trug, es sich in den Kopf gesetzt, den Schafen das Wort zu erteilen.
Ein revolutionärer Gedanke, zweifellos. Zu revolutionär für einen genervten Pfarrer an einem Samstagabend.
Jasper konnte sich nicht erinnern, wann es in seiner Kirche das letzte Mal so laut zugegangen war. Vor dem Altar stand Maria, die im wirklichen Leben Una Porter hieß und den einzigen Friseurladen im Ort betrieb, und stritt mit Balthasar alias Jacob Gregory um ein blaues Seidentuch, das dieser als Turban, Una aber als Stola verwenden wollte. Gleich mehrere Hirten und Schafe planten ihren nächsten Herrenabend, während einer von ihnen geistesabwesend Mary had a little lamb auf der Gitarre zupfte.
»Baron, bitte«, ermahnte Jasper den Gitarristen und steckte sich demonstrativ die Zeigefinger in die Ohren. »Spiel nur, wenn die Hirten dran sind. Und hatten wir nicht besprochen, dass der dritte Hirte eine Flöte oder eine Leier spielen soll? Ich kann mir nicht vorstellen, dass vor mehr als zweitausend Jahren auf einem Feld bei Betlehem die Gitarre gezupft wurde.«
Baron Wiseman, der sich seine Brötchen mit einem eigenen Fotoladen verdiente, legte sein Instrument mit schuldbewusstem Blick zur Seite und antwortete: »Flöte ist öde und Leier habe ich keine. Sei nicht so streng mit mir, Jasper. Das ist künstlerische Freiheit.«
»Und dein Kostüm ist auch künstlerische Freiheit? Du bist der dritte Hirte und kein Cowboy.« Jasper zog sich die Finger aus den Ohren und deutete auf Barons Wildlederstiefel, die er zu Jeans und Lederjacke trug.
»Ich hab noch einen Poncho zu Hause. Sieht zwar mehr nach Clint Eastwood aus, geht aber sicher auch als cooler Hirte durch«, erwiderte Baron und grinste schief.
Cooler Hirte. Jasper beschloss, die Diskussion über ein passendes Instrument und passende Garderobe auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Zumal ihm jetzt jemand von hinten auf die Schulter tippte. Er fuhr herum und sah sich seinem Organisten Clifford gegenüber, der einige Noten unter den Arm geklemmt bei sich trug und ihn unsicher ansah.
»Hallo Clifford. Was gibt es?«
Clifford St. Clare, ein rundlicher Mann mit ebenso rundem Gesicht, akkurat gescheiteltem Resthaar und einer Vorliebe für einfarbige Pullunder, stand starr da und wich Jaspers Blick aus, als er leise sagte: »Ich wage ja kaum zu fragen. Bei all dem Trubel hier hast du gewiss genug um die Ohren, aber könnte ich dich kurz sprechen? Vielleicht nach deiner Probe? Es geht um die Tombola, die wir beim Gemeindefest hatten. Es ist mir wichtig.«
Obwohl der Mann leise gesprochen hatte, hatte Jasper sein Anliegen verstanden. »Natürlich, Clifford. Tombola. Gemeindefest. Klingt für mich, als wäre das schon eine Ewigkeit her, dabei war das erst Anfang Oktober. Und eine Ewigkeit wirst du wohl auch auf unser Gespräch warten müssen, denn das hier kann sich noch hinziehen.«
Jasper machte eine allumfassende Geste, um Clifford zu verdeutlichen, wovon er sprach. Dem Organisten war anzusehen, dass er bereits begriffen hatte. Der Lautstärkepegel war im Gotteshaus inzwischen noch weiter angestiegen. Auf der Bühne zerrten Maria und Balthasar noch immer an dem blauen Seidentuch, während sich Hirten und Schafe Stammtischwitze erzählten und Norma ihren Elchhelm mit beleidigtem Gesicht in die Krippe legte. Ihr so zum Vorschein gekommenes Haar war flammend rot. Auch wenn sie hartnäckig behauptete, es solle christbaumkugelrot sein.
Clifford lächelte den Pfarrer mitleidig an und sagte: »Das macht gar nichts. Ich muss sowieso noch rauf zur Orgel und ein paar Dinge für den morgigen Adventsgottesdienst vorbereiten. Wir sprechen dann später miteinander.«
»Fein«, antwortete Jasper. »Wenn du hinaufgehst, dann wirf doch mal kurz die Orgel an und hau so richtig kräftig in die Tasten, ja? So bekomme ich vielleicht kurzfristig Ruhe in diesen Haufen.«
»Klar. Mach’ ich gern«, erwiderte sein Organist, durchschritt die Kirche, erklomm eine schmale Holztreppe und war kurz darauf aus Jaspers Blickfeld verschwunden.
Eine quälend lange Minute später donnerten die ersten Takte von Beethovens Fünfter durch das Kirchenschiff. Wie erwartet, trat sofort verblüfftes Schweigen ein und alle Blicke wandten sich den Orgelpfeifen auf der Empore zu. Balthasar alias Jacob Gregory nutzte die Gunst des Augenblicks und brachte das Seidentuch in seine Gewalt.
Jasper ergriff das Wort: »Leute, so geht das nicht. Wenn wir nicht ein bisschen Ordnung in die Proben bringen, werden wir niemals bis zum Gemeindefest fertig!«
»Gemeindefest?«, fragte Baron und zupfte an seiner Gitarre. »Wieso Gemeindefest? Ich dachte hier geht es um das Weihnachtsfest.«
»Weihnachtsfest, das meinte ich natürlich. Clifford hat mich ganz durcheinandergebracht mit seinem Gerede von der Tombola. Aber das tut jetzt nichts zur Sache, das kläre ich später. Jetzt ist erst einmal das Weihnachtsfest dran. Und dafür ist es zwingend notwendig, dass alles auf mein Kommando hört. Zuerst werden Josef und Maria …«
Eine rasche Folge von Orgeltönen unterbrach Jaspers Monolog. Irritiert wandte auch er sich den großen Orgelpfeifen hoch auf der Empore über dem Eingang zu. Die Orgel spielte weiter und weiter. Dann brach das Spiel ab.
»Clifford!«, schrie Jasper. Denn auch, wenn es vom Kirchraum aus nicht möglich war, den Organisten hinter der Orgel zu sehen, hören konnte man einander, wenn man nur laut genug sprach. »Muss das wirklich jetzt sein?«
»Entschuldigung! Ist schon vorbei! Ich wollte nur etwas ausprobieren!«
Jasper grummelte etwas, das niemand außer ihm selbst verstehen sollte, und wandte sich wieder seinem Ensemble zu. Alle sahen ihn erwartungsvoll an. Jasper sprach rasch weiter, solange er noch ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte: »Bildet Gruppen und geht eure Texte durch. Aber leise, bitte. Die Heilige Familie übt am Altar, die Hirten am Taufbecken und der Engel der Verkündigung schnappt sich zusammen mit den Heiligen Drei Königen die Kostümkiste und stattet alle Herrscher fachmännisch aus. Und schaut nach, ob ihr noch etwas Passendes für den dritten Hirten findet.«
Der Engel der Verkündigung, der normalerweise im Drogeriemarkt jobbte und Grace hieß, neigte lächelnd seinen goldgelockten Schopf, hakte sich bei Balthasar unter und führte den Alten zu einem Umzugskarton, der auf der vordersten Bank stand. Leichtes Gemurmel erhob sich, als alle Jaspers Anweisungen Folge leisteten. Jasper atmete tief durch und gesellte sich zu den Hirten, um ihrer Textprobe zu lauschen. Viel hatten sie nicht zu sagen, doch der Text unterschied sich deutlich von den Witzen, die sie bisher während dieser Probe zum Besten gegeben hatten.
Für einige Minuten wurde es friedlich in seiner kleinen Kirche, einem bescheidenen Bau aus der Nachkriegszeit. Dann erhob sich erneutes Stimmengewirr. Josef, verkörpert durch Unas Ehemann, Ralph Porter, hatte seine Textpassagen über Gebühr verlängert und sich damit den heiligen Zorn seiner Gattin zugezogen. Jasper ging zu ihnen an den Altar, in der Absicht, zwischen den Eltern des Heilands zu vermitteln.
»Es ist nicht richtig, wenn Josef mehr zu sagen hat als Maria«, rief Una, als sie Jasper kommen sah. Sie war puterrot angelaufen.
»Josef ist schließlich der Mann im Haus und dieses Weib hat ihm Hörner aufgesetzt. Ich wette, Maria durfte bei Josef überhaupt gar nichts mehr sagen«, verteidigte sich Ralph, doch er schien seine Worte nicht klug gewählt zu haben.
»Wer hat hier wem Hörner aufgesetzte, hä?«, schrie Una und warf ihrem Mann die Babypuppe, die sie gerade noch durch die Luft geschwenkt hatte, vor die Brust. Der Dialog schien soeben die Ebene des Krippenspiels verlassen zu haben.
»Immer mit der Ruhe«, sagte Jasper und meinte sich damit selbst genauso wie die beiden Zankhähne. »Und hör auf, mit der Puppe zu werfen, Una. Die ist eine Leihgabe und ihre kleine Besitzerin möchte sie in unbeschadetem Zustand zurückhaben. Ralph? Du hast den Text, der im Drehbuch steht und nicht eine Zeile mehr. Wenn du meinst, dass du im Stück zu kurz kommst, darfst du gerne am Heiligabend auch noch die Kollekte einsammeln.«
Ralph murrte zwar, reichte aber die nackte Babypuppe zurück an seine Frau und verhielt sich in den kommenden Minuten friedlich.
Währenddessen war der Geräuschpegel in der Kirche wieder angeschwollen. Die Hirten lachten schon wieder über irgendeinen niveaulosen Schenkelklopfer, die Könige verhandelten über ihre Umhänge, und über allem klimperte Clifford gerade erneut ein paar Töne auf der Orgel. Jasper wünschte sie alle zum Teufel und sich selbst vor seinen Kamin im Pfarrhaus und eine Tasse heißen Grogs als Dreingabe. Doch irgendwie schaffte er es, erst sich selbst und dann alle anderen erneut zur Ordnung zu rufen. Um Clifford brauchte er sich nicht zu bemühen. Sein Spiel brach kurz darauf dankenswerterweise mit einem leicht schrägen Akkord ab.
Für kurze Zeit arbeiteten alle harmonisch an der Darstellung der Heiligen Nacht. Doch dann brach ausgerechnet Norma einen Streit über das Bühnenbild vom Zaun, eine Diskussion an der sich jeder der Anwesenden beteiligte, woraufhin Jasper die Probe für beendet erklärte und alle aufforderte, den Kirchraum in einen ordentlichen Zustand zu versetzen, bevor sie sich bitte auf den Heimweg machten. Noch auf dem Weg zur Kirchentür stritten Una und Ralph darüber, wie viel Text dem Stiefvater des Jesuskindes gerechterweise zustand.
Jake, einer der Hirten, im Schlepptau seine chinesische Freundin Bo, die den König Kaspar aus dem Morgenland gab, was Jasper als herrlich absurd empfand, klopfte Jasper zum Abschied auf die Schulter. »Nimm es nicht so schwer. Es sind ja noch ein paar Tage bis Weihnachten. Dein Gott hatte auch nur eine Woche Zeit, um die ganze Welt auf Vordermann zu bringen. Da wirst du doch nicht vor einem Krippenspiel kapitulieren.«
Jasper musste grinsen und fühlte sich etwas getröstet. »Es ist nur wegen der Lautstärke. Ich bin kein Freund hoher Geräuschpegel.«
Bo nickte mitfühlend. »Wir sagen Baron, er soll die Gitarre nächstes Mal zu Hause lassen und sie erst zur Generalprobe wieder mitbringen. Oder vielleicht versucht er es doch noch mit einer Flöte?« Winkend verließen beide die Kirche und endlich kehrten wieder Ruhe und Frieden in Jaspers Kirche ein.
Es wurde so ruhig, dass Jasper Clifford oben auf dem Orgelboden fast vergessen hätte. Die Finger schon auf dem Lichtschalter rief er hinauf: »Clifford? Komm mit rüber zu mir, wir besprechen das, was du auf dem Herzen hast, am Kaminfeuer! Mrs Hobbs macht uns sicher einen heißen Grog!«
Die Antwort war Schweigen. Unwillig stapfte Jasper zu der schmalen Holztreppe und stieg die ersten Stufen hinauf.
»Clifford? Es ist schon spät! Mach Schluss da oben und lass uns zusammen einen Grog trinken!«
Wieder keine Antwort. Jasper stieg höher und befand sich bald in dem Raum hinter den Orgelpfeifen. Hier war der Platz des Organisten, hier häuften sich Notenhefte und manch anderer Krempel. Der Raum war fensterlos und dunkel, doch die Lampe über den Tasten des Instruments strahlte hell und ließ das Elfenbein schimmern. Jasper sah, dass der Platz vor der Orgel verlassen war. Doch vor dem leeren Stuhl lag etwas auf dem Boden. Etwas, das Jasper entfernt an ein biblisches Motiv erinnerte. Jemand schien unter einer schweren Last zusammengebrochen zu sein.
Eine böse Vorahnung befiel Jasper und sie sollte sich als richtig erweisen. Ein Blick auf den verwüsteten Scheitel des niedergestreckten Organisten und in seine erstarrten Gesichtszüge machte deutlich, dass hier ein Mensch den Tod gefunden hatte. Und auf dem Toten lag noch immer sein Mörder. Es war das tiefe D. Jasper sprang auf Clifford zu, wobei er es vermied, die Orgelpfeife zu berühren, griff nach dem Handgelenk und tastete nach dem Puls. Er fand keinen, tastete erneut und schloss für einen Moment die Augen, um nicht in die weit offenen des anderen blicken zu müssen. Seine Bemühungen waren sinnlos, und er wusste es.
Einen Moment lang hockte Jasper noch wie innerlich zu Eis erstarrt vor der Leiche seines Organisten, dann richtete er sich auf und seine Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung. Wie er die Treppe heruntergekommen war, wusste er später nicht mehr zu sagen, auch der Weg bis zur Kirchentür blieb ihm nicht im Gedächtnis. Erst als er draußen stand und die nasse Kälte des Dezemberabends ihn frösteln ließ, war er wieder ganz Herr seines Handelns. Und er fand, dass sein Unterbewusstsein und seine Füße ihre Sache gut gemacht hatten, denn vor ihm erstrahlten in der Dunkelheit die hell erleuchteten Fenster des Gemeindehauses. Dort würde er die Hilfe finden, die er jetzt so dringend brauchte.
So schnell er konnte, rannte Jasper über den Kirchplatz. Das Pfarrhaus, der Ort, an dem es ein Telefon gegeben hätte, interessierte ihn nicht. Das, was er suchte, war dort hinter den erleuchteten Fenstern des Gemeindehauses zu finden. Dort wurde an diesem Samstagabend Salsa getanzt, und das war auch der Hauptgrund gewesen, die Probe in den Kirchraum zu verlegen.
Schon vor der Tür hörte Jasper die hektischen Rhythmen und Gelächter. Man amüsierte sich prächtig, und Jasper war nicht gekommen, um jemandem den Spaß zu verderben. Aber er würde den Tänzern ihren Lehrer entführen müssen. Seinen besten Freund und den einzigen Detektiv im ganzen Dorf, Colin Duffot.
Colin, der als Tanzlehrer im Ruhestand hierher nach Mittelengland gekommen war, hatte der Tanz hier wieder eingeholt. Zum Detektiv hatte ihn das Schicksal gemacht, das ihm in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Mordopfern beschert hatte. Und jetzt war es wieder einmal so weit. Sein Freund musste ermitteln.
Colin beobachtete interessiert das Treiben vor sich auf der Tanzfläche. Mary Bittner, eine attraktive Blondine und alte Bekannte von ihm, tanzte eng umschlungen mit einem Herrn, dessen Gesichtszüge eine auffällige Ähnlichkeit mit einem niedlichen Ferkel hatten. Seine Hautfarbe sah zudem nach erhöhtem Blutdruck aus, was angesichts seiner Körperfülle auch keineswegs verwunderlich war. Das ungleiche Paar genoss seine Bewegungen, die nicht einmal im Entferntesten an Salsa erinnerten, sichtlich. Colin korrigierte ihren Tanzstil nicht. Die beiden waren glücklich und zufrieden und Salsa spielte dabei gerade eine eher untergeordnete Rolle. Das rosige Ferkel erfreute sich an seiner attraktiven Eroberung und Mary schien selig. Vermutlich verfügte der kurznasige Dicke über ein ebenso dickes Bankkonto. Colin wusste, dass Mary Wert auf solche Dinge legte.
Weit weniger glücklich wirkte an diesem Abend der junge Sergeant Mike Dieber, und das ärgerte Colin. Er hatte den schlaksigen jungen Mann mit dem Bürstenschnitt zu diesem Salsa-Abend überredet, damit Mike sich mal amüsierte, hatte ihm ein Blind Date mit einer Frau namens Shelby vermittelt und war nicht weniger nervös gewesen als Mike Dieber selbst, da auch er Shelby nur vom Telefon kannte. Solche ersten Begegnungen waren immer ein bisschen heikel. Auch wenn es sicher nicht darum ging, eine Eroberung zu machen (Dieber interessierte sich in dieser Hinsicht überhaupt nicht für Frauen), so musste die Chemie trotzdem stimmen. Und niemand konnte sagen, was sich Shelby von diesem Abend versprach. Jeder Mensch kam schließlich mit gewissen Erwartungen in einen Tanzsaal, und hätte Shelby einen reifen, männlichen Typ zum Verlieben erwartet, so wäre sie beim Anblick des Sergeants bitter enttäuscht worden. Einer selbstbewussten Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand, hätte Mike nichts zu bieten gehabt.
Doch als das zierliche Wesen mit den braunen Haaren in ihrer geblümten Bluse und dem bestimmt sehr gesunden Schuhwerk im Gemeindehaus erschienen war, hatte Colin aufgeatmet. Shelby war genau die richtige Frau und Tanzpartnerin für Mike, wenn es für den Polizisten denn überhaupt eine richtige Frau geben konnte. Sie wirkte wie das, was Colin gern ein Mäuschen nannte. Schüchtern, anspruchslos und eigentlich schon damit zufrieden, wenn man nur nett zu ihr war und ihre Gefühle nicht verletzte. Um ihr den Start in der fremden Umgebung so angenehm wie möglich zu machen, hatte Colin sie freudestrahlend begrüßt und sie mit ihrem Tanzpartner für diesen Abend bekannt gemacht.
Und dann hatte Mike es einfach versaut.
Er war nicht einmal aufgestanden, hatte kaum ein Wort der Begrüßung über die Lippen gebracht, geschweige denn gelächelt. Er hatte es sogar vermieden, das Mädchen auch nur anzusehen. Als die Musik für den ersten Tanz erklang, hatte er sich, statt Shelby aufzufordern, auf die Toilette verdrückt.
Colin hatte es übernommen, dem verunsicherten Mädchen einen Drink an der provisorischen Theke zu spendieren, und war Mike umgehend in die sanitären Anlagen gefolgt, um sich den jungen Mann vorzuknöpfen. Es waren von Colins Seite deutliche Worte wie »Höflichkeit« und »Benehmen« gefallen, und jetzt tanzte ein noch immer schamroter Mike Dieber mit einer stummen Shelby, die nicht einmal zu lächeln wagte.
Im Allgemeinen war es nicht Colins Art, seine Tanzschüler anzuschnauzen, doch Diebers Benehmen hatte auf ihn wie der klassische Auftritt des enttäuschten Mannes gewirkt, der mindestens eine Marilyn Monroe erwartet hatte, aber selbst nicht über einen Jerry Lewis hinauskam. Auch bei Shelby musste sich der Eindruck aufgedrängt haben, dass sie für Mike eine Enttäuschung darstellte. Und dabei ging es doch gerade im Falle dieser beiden ausschließlich um das gemeinsame Tanzen. Niemand erwartete von Dieber, dass er die Kleine heiratete. Colin ertappte sich seit Beginn des Abends immer wieder bei einem fassungslosen Kopfschütteln, das auch Dieber nicht entgehen konnte, obwohl er die meiste Zeit verlegen zur Decke hinaufschaute.
In diesem Moment wurde die Tür des Gemeindehauses aufgerissen und Jasper kam herein.
Auch wenn Colin ein ganz besonderes Gespür für seine Mitmenschen hatte und häufig aus ihren Bewegungen Rückschlüsse auf ihre Stimmung und die Lebensumstände ziehen konnte, brauchte er einen Moment, um Jaspers Auftritt richtig zu deuten.
Der Pfarrer schien außer Atem, seine Bewegungen wirkten fahrig, sein Blick unstet und er bewegte unablässig und anscheinend unbewusst die Lippen. Aus dem runden Gesicht mit der kleinen Nickelbrille unter dem angegrauten Kraushaar war alle Farbe gewichen.
Zu Tode erschrocken, war schließlich das erste, was Colin zum Erscheinungsbild des Pfarrers einfiel. Der Mann sah aus, als hätte er einen Schock erlitten.
In diesem Moment schien Jasper inmitten der tanzenden Paare denjenigen gefunden zu haben, nach dem er gesucht hatte. Sein Blick blieb an Colin selbst hängen. Dann begann er, wild zu gestikulieren. Colin kam seinem Freund sofort entgegen und packte ihn bei den Schultern, sobald er ihn erreicht hatte.
»Was ist los mit dir? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen«, stellte er fest.
»Keinen Geist, genau das nicht. Colin, ich fürchte, wir haben wieder einen Mord im Dorf. Kannst du dich für einen Augenblick freimachen?«
Colin sah sich unschlüssig um. Er konnte nicht einfach alles stehen und liegen lassen und die Tanzenden sich selbst überlassen. Er musste sie zumindest irgendwie für eine Weile beschäftigen. Da kam ihm auch schon der rettende Gedanke.
So gelassen wie möglich ging er zur Musikanlage hinüber und zog den Lautstärkeregler nach unten. Dann klatschte er demonstrativ in die Hände, um sich Gehör zu verschaffen.
»Tanzmarathon. Eine Flasche Schampus und eine Privatstunde bei mir gewinnt derjenige, der am Ende noch auf der Fläche steht!«
Einige johlten, andere klatschten, ein paar Fußlahme und Konditionsschwache flüchteten sich von der Tanzfläche an die provisorische Theke, an der heute Abend Ruth bediente. Ruth Dimbridge, seit einem Sprung in unbekanntes Gewässer an den Rollstuhl gebunden, warf Colin einen fragenden Blick zu. Er legte rasch eine Salsa-CD ein und bedeutete Ruth mit einem kurzen Schulterzucken, dass er zum jetzigen Zeitpunkt selbst über mehr Fragen als Antworten verfügte. Ihre Antwort bestand aus einem kurzen Wackeln mit den Augenbrauen.
Schon im Gehen begriffen fiel Colins Blick auf Mike und Shelby. Wenn Jasper mit seiner Vermutung recht und sich wirklich ein neuer Mord ereignet hatte, würde der Tanzabend für die beiden schnell beendet sein. Colin war sich nicht ganz sicher, wer von ihnen darüber mehr erleichtert sein würde.
In diesem Moment hatte auch der Pfarrer den Sergeant unter den Tanzenden entdeckt. »Da ist ja Mike. Ob wir ihn gleich mitnehmen sollten?«, schlug er vor.
»Das hat Zeit. Der Junge arbeitet gerade an seinem guten Benehmen, da wollen wir ihn doch nicht stören. Ich verschaffe mir erst einmal selbst einen Eindruck«, antwortete Colin.
Seite an Seite verließen sie das Gemeindehaus. Kaum draußen an der frischen Luft begannen beide wie auf ein geheimes Zeichen hin zu rennen. Das Portal der Kirche stand offen und schien sie zu erwarten.
»Das ist wirklich ganz unglaublich«, keuchte Colin leicht außer Atem, als sie das Gotteshaus erreichten. Es wurde anscheinend dringend Zeit, dass er mal wieder etwas für seine eigene Fitness tat. »Du hast einen Toten in deiner Kirche gefunden? Weißt du überhaupt, was das bedeutet?«
»Dass die Mörder in diesem Dorf wirklich vor gar nichts zurückschrecken? Oder dass der, den wir suchen, ein Freund der kurzen Wege ist?«, schlug Jasper nach kurzem Nachdenken vor.
»Nein, nein. Es bedeutet, dass der Fluch gebrochen ist. Endlich einmal hat jemand anderes die Leiche entdeckt. Zum ersten Mal bin nicht ich es, der über den Toten gestolpert ist.«
»Stimmt«, bestätigte Jasper. »Wahrscheinlich hat der Fluch seine Wirkung verloren, als du dich endlich entschlossen hast, als Detektiv zu arbeiten und nicht mehr widerwillig versucht hast, alle Ermittlungen auf andere abzuwälzen.«
»Abzuwälzen? Du bist doch derjenige, der kaum zu bremsen ist, wenn es darum geht, einen Mörder zu jagen«, widersprach Colin.
Jasper tupfte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Diesmal nicht. Gute Güte, ich bin noch immer ganz von der Rolle. Wenn ich es mir recht überlege, war es eigentlich ganz nett, dass du bisher immer über die Mordopfer gestolpert bist. Ich will diese Aufgabe nicht übernehmen. Die nächste Leiche ist bitte für Norma reserviert.«
»Wo steckt die überhaupt?«, fragte Colin. »Ich denke, sie spielt in deinem Krippenspiel den Melchior?«
»Erinnere mich bloß nicht daran. Sie scheint Melchior mit Rudolph dem rotnasigen Rentier zu verwechseln. Ich bin froh, wenn ich ihr blinkendes und dudelndes Elchgeweih für eine Weile nicht sehen muss. Hättest du ihr nicht ein anderes Andenken aus New York mitbringen können?«
»Es erschien mir passend für Norma. Es macht sie auch irgendwie größer, findest du nicht?«
»Norma ist und bleibt eine halbe Portion, da hilft auch ein Geweih nichts.«
Colin war Jasper während ihres Wortgeplänkels die Treppe hinauf auf die Empore gefolgt. Er erreichte den Raum hinter der Orgel und automatisch verlangsamte sich sein Schritt. Fast andächtig näherte er sich dem toten Clifford und betrachtete ihn dann eingehend.
»Wer war der arme Mann?«
»Clifford St. Clare, mein Organist. Wir kannten einander schon ewig. Seit ich diese Stelle hier angetreten habe, spielte Clifford regelmäßig für mich. Es gibt nur wenige gute Organisten in unserer Gegend«, erklärte Jasper. »Heute kam er her, um den morgigen Adventsgottesdienst vorzubereiten.«
»Und du bist dir sicher, dass es kein Unfall war? Die Orgelpfeife kann nicht von irgendwoher auf ihn herabgestürzt sein?«, fragte Colin und musterte die Pfeife, die noch immer halb auf Cliffords totem Körper lag. Das Ding war fast so lang wie der Tote selbst und hatte fast zehn Zentimeter Durchmesser. Ein langer Riss in ihrer Außenhülle wies darauf hin, dass auch die Pfeife die Begegnung mit Cliffords Schädel nicht unbeschadet überstanden hatte.
»Natürlich bin ich mir sicher«, sagte Jasper. »Oder siehst du über uns vielleicht irgendwelche Orgelpfeifen? Die befinden sich auf der anderen Seite dieser Wand. Im Kirchraum.«
»Aber wie ist dann diese Pfeife hierhergekommen?«, wollte Colin wissen.
»Die stand schon seit einer Ewigkeit auf dem Orgelboden herum. Wir wussten nicht, wohin damit. Sie wurde bei einer Reparatur gegen eine neue Pfeife ausgetauscht und vom Orgelbauer vergessen. Danach stand sie irgendwie immer im Weg und wanderte von einer Ecke in die andere.«
»Das heißt also, dass die Tatwaffe dem Mörder quasi auf einem Silbertablett serviert wurde. Sieht mir nicht nach einer geplanten Tat aus. Und du hast keine Ahnung, wer bei ihm hier oben gewesen sein könnte?«
»Clifford ist allein hier heraufgestiegen. Und ich habe auch nicht bemerkt, dass ihm irgendwer gefolgt ist. Die Schauspieler waren alle bei mir unten im Kirchraum«
»Gibt es einen anderen Weg hierher?«, fragte Colin und sah sich im Halbdunkel des Raumes um.
»Nein. Hierher führt nur diese eine Treppe, die wir beide gerade heraufgekommen sind.«
Colin zog eine Augenbraue hoch. »Das bedeutet, der Mörder muss durch den Kirchraum zu ihm heraufgekommen sein. Kann es sein, dass ein Fremder an allen Schauspielern der Krippenspielprobe vorbei unbemerkt bis hierher gelangt ist?«
Jasper legte die Stirn in Falten. »Nein, das kann ich mir kaum vorstellen. Natürlich ist denkbar, dass ich einen Fremden, der die Kirche betrat, übersehen habe. Ich kann meine Augen ja nicht überall haben. Aber er kann unmöglich von uns allen unbemerkt rein- und wieder rausgeschlichen sein. Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.«