Die Mittellosen - Szilárd Borbély - E-Book

Die Mittellosen E-Book

Szilard Borbély

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Beschreibung

Ein ungarisches Dorf, Ende der sechziger Jahre: Alle diejenigen sind noch da, die »damals« mitgemacht haben, aber auch der jüdische Ladenbesitzer Mózsi, der von der Zwangsarbeit ins Dorf und in seine ausgeplünderte Wohnung zurückgekehrt ist. Über seine ermordeten Töchter wird geschwiegen.
An diesem grausamen und mitleidslosen Ort wächst der junge Erzähler des Romans auf. Der Elfjährige muss schwere körperliche Arbeit verrichten, er friert und hungert. Seine Familie und er sind Außenseiter im Dorf. Von der Vergangenheit darf man nicht sprechen. Sind sie Juden? Aus Rumänien vertriebene orthodoxe Christen? Warum werden sie ausgegrenzt?
Szilárd Borbély schildert Kindheitsszenen aus einer erbarmungslosen Welt. In der Selbstbeobachtung des Außenseiters wächst dem Jungen ein unerhörter Scharfblick zu. Gebannt und atemlos folgt man seiner Erzählung, der es gelingt, scheinbar Unsagbares in Worte zu fassen.

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Seitenzahl: 453

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Alle kennen sich in dem kleinen Dorf am »Waldrücken«, im Nordosten Ungarns. Es gibt eine einzige Straße, den Glockenstuhl am Kirchplatz, die Kneipe an der Rampe. Zur Zeit, in der die Geschichte spielt, Ende der sechziger Jahre, wohnen die Verwandten noch hier, die »damals« mitgemacht haben – und Mózsi, der jüdische Ladenbesitzer, der zur Überraschung aller aus dem Lager in seine ausgeplünderte Wohnung zurückgekehrt ist.

Hier wächst ein kleiner Junge auf, der Erzähler des Romans. Früh lernt er, wie man Tiere tötet und sich mit halberfrorenen Fingern die Fusslappen bindet. Scharfäugig und empfindsam nimmt er wahr, mit welchem Misstrauen die Leute im Dorf ihn und seine Familie betrachten. Die Eltern sind keine Bauern, sondern Menschen, die »Fremdengeruch« umgibt. Sie kommen von anderswo – wie der Zigeuner namens Messias, der den Bauern das Plumpsklo ausleeren muss. Doch wer sind sie? Juden? Aus Rumänien vertrieben orthodoxe Christen? Warum werden sie ausgegrenzt?

Episode für Episode entsteht das Bild einer Landschaft, deren Bewohner den ungeborgenen geschichtlichen Vermächtnissen wie einer Strahlung ausgesetzt sind. Mit einer fast unheimlichen Sensibilität erspürt Szilárd Borbély die Verwüstungen, die Krieg, Nazikollaboration und Kommunismus angerichtet haben. Die Stimme des Erzählers, dem vor Erschöpfung die Sätze abbrechen, und der Blick des wehrlosen Kindes, in dem sich die Brutalität der dörflichen Welt spiegelt, verbünden sich zum poetischen Einspruch.

Szilárd Borbély schildert Kindheitsszenen in einer erbarmungslosen ländlichen Welt, wie man sie aus den Büchern von Agota Kristof und Herta Müller kennt. Er schildert sie so, dass man den Atem anhält und nicht aufhören kann zu lesen. In der Selbstbeobachtung des Außenseiters wächst dem Erzähler ein unerhörter Scharfblick zu. Auch wer verstehen will, warum Ungarn sich seit Jahren von Demokratie und Weltoffenheit entfernt, sollte dieses Buch lesen.

»Eine Entdeckung ersten Ranges.«

Ilma Rakusa

Szilárd Borbély, 1964 in Fehérgyarmat im nordöstlichsten Winkel Ungarns geboren, debütierte 1988 als Lyriker und veröffentlichte rund ein Dutzend Gedicht- und Prosabänden. Er war Hochschullehrer in Debrecen und übersetzte aus dem Deutschen, u.a. Lyrik von Monika Rinck, Robert Gernhardt und Durs Grünbein. Mit seinem Romandebüt Die Mittellosen hat er sich an die Spitze der ungarischen Gegenwartsliteratur geschrieben. Im Februar 2014 nahm er sich das Leben.

Heike Flemming, 1982 bei Dresden geboren, studierte Philosophie und Ungarisch in Leipzig, Wien und Budapest, lebt als Übersetzerin u.a. von László Krasznahorkai und Péter Nádas in Berlin. Zuletzt erhielt sie für ihr Übersetzung von Péter Esterházys Esti den Förderpreis zum Straelener Übersetzerpreis.

Lacy Kornitzer, in Budapest geboren, Theaterregisseur, Dramaturg und Übersetzer. Er dreht Kurzfilme, veröffentlicht Essays und übersetzt aus dem Ungarischen, u.a. Bücher von György Dragomán, Imre Kertész, Péter Nádas, Alaine Polcz, László Végel und István Örkény. Er lebt seit 35 Jahren in Berlin.

Szilárd Borbély

Die Mittellosen

Ist der Messias schon weg?

Roman

Aus dem Ungarischen

von Heike Flemming und Lacy Kornitzer

Suhrkamp Verlag

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch

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Umschlagfoto: Tibor Hrapka

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-73914-3

www.suhrkamp.de

Wir gehen und schweigen. Dreiundzwanzig Jahre trennen uns. Die Dreiundzwanzig kann man nicht teilen. Die Dreiundzwanzig ist nur durch sich selbst teilbar. Und durch eins. So ist die Einsamkeit zwischen uns. Man kann sie nicht in Teile zerlegen. Man schleppt sie als Ganzes mit sich. Wir bringen das Mittagessen. Wir laufen über die aufgeschüttete Erde. Feldrücken sagen wir dazu. Ogmands Feldrücken. Wir gehen immer hier entlang, wenn wir Holz aus dem Wald holen. Manchmal gehen wir auch durch die Szamoga-Senke, um den Rainweg nehmen zu können. Weil der nicht so schlammig ist. Wir sagen pfützig. Ein andermal nehmen wir den Pallóweg, durch den Grafenforst. Meine Mutter trägt ein Kopftuch. Wir sagen Flor. Frauen müssen immer eine Kopfbedeckung tragen. Die Alten knoten es unter dem Kinn zusammen. Es muss schwarz sein. Das Kopftuch meiner Mutter ist bunt. Sie bindet es hinten zu, unter ihrem Dutt. Im Sommer trägt sie ein leichtes dreieckiges Kopftuch. Mit blauen Punkten auf weißem Grund. Vater hat es ihr geschenkt, letztes Jahr auf dem Markt in Kölcse. Ihr Haar ist kastanienbraun. Rotkastanienbraun. Nicht alle Kastanien sind rot. Ich sammele sie immer im Herbst mit meiner Schwester. Es gibt nur noch einen Kastanienbaum im Dorf. Er steht dort, wo früher die Barkóczy-Meierei war. Die anderen wurden nach dem Krieg gefällt. In der ständig feuchten Erde hält es nur die Pappel aus. Und natürlich die Weide. Wir nennen sie Felbe. Im Frühling eine Pfeife daraus zu schnitzen, eine Felbpfeife, ist leicht. Wir dudeln dann herum, um unsere Mutter zu ärgern. Und die Hunde und die Nachbarn.

Im Herbst büchsen wir immer aus, zum Kastanienbaum hinter der Kepecwiese. Unten an den Gärten vorbei. Ende des Sommers fallen die fünffingrigen trockenen Blätter des riesigen Baums. Es ist, als lägen abgeschnittene Hände von Riesen im Laub. Ihre Blüte im Frühling ist eine weiße Kerze. Die grüne Schale ein Igel. Aus Streichhölzern machen wir für sie Beine. Wir bitten meine Mutter um die verbrauchten. Nur unsere Mutter darf die Streichhölzer anfassen, sie sind nicht für Kinder.

»Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht«, wiederholt sie ständig.

Denn wir sind die Herren. Heute hat das Volk das Sagen. Die Ausgebeuteten von gestern. Jetzt werden wir die Kulaken ausbeuten … Ob’s denen passt oder nicht! Und damit Punktum«, sagen die ehemaligen Tagelöhner.

»Die haben gut reden, die haben nicht mal einen Eisennagel mit ins Kollektiv gebracht«, sagt Großvater, der am meisten seinen Pferden nachtrauert. »Die nehmen sich nur.«

»Die leben auf Kosten anderer«, murmelt er angewidert.

»Nur verprassen, das können sie«, sagt er. »Alles verprassen. Vermehren, das können sie nicht. Alles geht den Bach runter.«

Die Bauern trauerten am meisten ihren Pferden nach. Mehr als dem Boden.

Statt ihrer quälte man die Pferde in der Genossenschaft. Man schindete sie zu Tode.

»Sie sind umgefallen. Verendet vor der Zeit. Und was hat’s gebracht?«, sagte mein Großvater immer.

Die neuen Herren waren ungeduldig und aggressiv. Sie redeten jeden mit Genosse an. Sie hatten ein neues Grußwort erfunden.

»Schon ihre Väter waren zu nichts nutze. Auch die lauerten nur darauf, was sie kriegen konnten«, knurrt er.

»Vorwärts!«, sagen die Genossen statt Guten Tag. Und sie reden ständig von Fortschritt.

»Man muss mit der Zeit gehen, Genossen, fortschrittlich sein! Wir produzieren, was uns gefällt. Wenn russischen Löwenzahn, dann eben russischen Löwenzahn. Wenn Reisbrei, dann Reisbrei. Was die Partei will, das geschieht. Was Genosse Stalin und Genosse Rákosi1 sagen, das ist heilig. Die Natur, Genossen, gehört bezwungen«, wiederholten die Brigadeführer bei den morgendlichen Anweisungen vor den fröstelnden Menschen ihre Parolen. Zwischendurch kippten sie ein oder zwei Schnäpse.

»Einen feuchten Dreck bin ich dein Genosse«, murrt dann mein Großvater in seinen Schnurrbart, damit es keiner hört. Oder damit man es gerade noch hört. Und wenigstens weiß.

»Na, na, halten Sie Ihr Mundwerk im Zaum«, murren die neuen Herren. Doch auch sie wollen keine Scherereien. Davon hat es genug gegeben. Die Kulaken haben sie bereits aus den Lagern entlassen. Die meisten sind dann fortgezogen. Sie hielten es im Dorf nicht länger aus. Leid tat es niemandem, man musste ihnen nicht länger in die Augen sehen.

Die Zierbäume wurden gefällt, die Gebäude des Meierhofs abgerissen. Dort, wo einst die Kastanienallee war, wurde das Haus der Partei errichtet. Von dem Gutshof spricht keiner mehr. Es herrscht tiefes Schweigen.

»Die Bauern verstehen sich aufs Schweigen«, sagt meine Mutter immer.

Über die Vergangenheit darf man nicht reden. Die alten Zeiten, wie es heißt. Worüber wir schweigen, das existiert nicht. Macht endlich Schluss mit dem Gewesenen …, singen sie unter der Leitung des Kantors, wie auf Beerdigungen.

Am Tag trägt meine Mutter die Haare zu einem Dutt gebunden. Wenn sie ihn löst, wird es Nacht. Ich kämme ihr die Haare. Ich mag es, sie zu kämmen. Die glänzenden Strähnen gleiten durch die breiten Ritzen im Hornkamm. Sie schimmern wie die Nacht. Der Himmel ist voller Sterne, und ihre Haare riechen gut. Sie riechen nach Gras. Nach Brot. Nach Milch. Der Hornkamm ekelt mich. Er erinnert mich an geschlachtete Tiere. Zwischen den Zinken klebt immer schwarzer Schmutz. Fettige Schuppen und Staub, das klebt zusammen. Die Frauen binden die Haare unter dem Tuch zu einem Knoten. Sie stecken es mit einer Hornklammer zusammen. Tagsüber verbirgt auch meine Mutter ihr Haar. Meine Schwester noch nicht. Samstags waschen wir Haare. Am Abend stellen wir den Waschtrog auf den Fußboden in der Küche. Auf der Kochplatte machen wir das Wasser heiß, und dann baden wir einer nach dem anderen. Zuerst meine Schwester, dann ich und zuletzt meine Mutter. Die Haare waschen wir mit Ölshampoo. Mit dem Litertopf spülen wir es aus. So riechen wir alle gleich.

Wenn ich durch die Tür trete, bemerke ich es sofort. Bei anderen riecht es anders. Jetzt gehen wir in den Wald, um Reisig zu holen. Meine Mutter trägt ein dunkles Kopftuch. Ein dickes Wolltuch. Das dicke graue Tuch. Jetzt hat sie es auch unterm Kinn festgebunden wie die Alten. Damit es die Ohren wärmt. Denn es ist noch kalt. Ich friere immer, ich halte meine Mutter an der Hand. Ihre Hand ist warm, meine eiskalt. Wenn sie etwas schleppt, stecke ich meine Hände in die Taschen. Sie schleppt immer etwas. Meine Finger wärme ich dann in meinen Taschen. Meine Fingernägel frieren. Ich verstehe nicht, wie Nägel frieren können. Darüber denke ich nach, während ich mit meiner Mutter Schritt zu halten versuche. Im Sommer nach der Ernte gehen wir immer Ähren sammeln. Ich denke daran, wie schön es wäre, wenn schon Sommer wäre. Die meisten Ähren findet man am Rande des Stoppelfeldes. Wenigstens ist es dann warm. Aber das mag ich auch nicht.

»Euch ist nichts gut genug. Würde man euch mit einer Nadel in den Hintern stechen, fändet ihr das auch nicht gut«, sagt meine Mutter. Und lacht. Als hätte sie etwas Witziges gesagt. Es war nicht witzig.

Wir laufen auf dem Gehweg, und ich schlottere. Ich schlottere ständig. Meine Hände frieren, und meine Zehen in den Schuhen. In den Maschen des Drahtzauns zeichnet der Raureif die Spinnennetze nach. Jetzt sind die wirren Linien gut zu sehen. Ich spiele und stoße die Spitze meines Zeigefingers hinein, und sie verschwinden wie durch einen Zauber. Es genügt, einen Faden zu zerreißen, und das Ganze zerfällt. Die Fäden reißen, die an Kristallzucker erinnernden Körnchen des Reifs rieseln zu Boden. Weil sie den Draht schwirren hören, kommen manchmal auch die Hunde angelaufen. Wenn meine Mutter mich lässt, ziehe ich einen Stock oder eine Rute am Zaun entlang. Dann verlieren die meisten die Lust am Kläffen. Manche Hunde folgen uns auf der anderen Seite des Zauns, bis wir ihr Revier hinter uns lassen. Das sind die nervösen Hunde. Sie blecken die Zähne. Zeigen, wie schneeweiß die sind. Beben vor Wut, rühren sich nicht von der Stelle.

»Reiz sie nicht«, sagt meine Mutter.

»Ich reize sie nicht«, antworte ich und ziehe den Kopf ein. Beobachte aus den Augenwinkeln ihre Hand. Ich stehe links von ihr. Mit der Linken schlägt sie normalerweise nicht zu. Ich atme auf.

»Lüg nicht«, sagt sie.

»Ich schlage nur die Spinnweben weg«, sage ich. Meine Mutter sagt nichts, reißt mich nur jäh an sich. Und beschleunigt ihre Schritte.

»Du Schuft«, sagt sie. Wenn sie Schuft sagt, ist sie nicht böse auf mich.

Meine Schwester ist die Eins. Ich bin die Zwei. Das ist meine Zahl, die Zwei. Meine Schwester ist die Große. Sie ist das Mädchen. Ich bin der Junge. Mein Bruder ist die Drei. Er ist der Kleine. So nennt man uns.

»Schaukelt den Kleinen«, sagt meine Mutter. Das heißt, wir sollen ihn in den Schlaf wiegen. Ich zähle das Wippen der Wiege. Eins, zwei, drei. Das sind die ersten Zahlen, die ich gelernt habe. Bis zehn kann ich schon lange zählen. Ich habe es an den Eiern geübt. Mehr als zehn Legehennen haben wir normalerweise nicht.

Meine Mutter lässt mich immer die Eier zählen, wie viele die Hühner am Tag gelegt haben. Morgens tastet sie die Hühner ab. Sie wirft sie einzeln aus dem Hühnerstall. Mit der linken Hand drückt sie die Flügel zusammen und steckt den rechten Zeigefinger in den Hühnerarsch. Da wartet schon das Ei, man kann es mit dem Finger spüren. Sie zählt, wie viele Hühner an dem Tag legen werden, und ich muss die Eier bis zum Abend finden, bevor die Sonne untergeht. Im Winter muss das schnell gehen, weil es früh dunkel wird.

Sind es weniger, als Mutter gezählt hat, schimpft sie mit mir. Meine Schwester hat andere Aufgaben, mit ihr schimpft sie wegen anderer Dinge. Bis Mittag haben die Hühner gelegt. Nach dem Mittagessen fange ich an, die Eier zu suchen. Ich weiß schon, wo sie sich und die Eier verstecken. Sie sind keine Glucken, sitzen nicht darauf, sie verstecken sie bloß. Im Heuhaufen, unter dem Holzstapel, hinter dem Schuppen. In die Legekiste setzt sich kaum eine Henne, obwohl sie für sie hingestellt ist.

Neuerdings muss ich die Hühner abtasten. Mir wird übel davon, weil meine Finger voller Hühnerscheiße sind. Sie frisst sich in den Rand meines Nagels, vergeblich schrubbe ich ihn. Das Gute daran ist, dass meine Mutter nicht weiß, wie viele Eier es an dem Tag sind. Ich sage ihr immer eins weniger. Sind es mehr, hebe ich eins für den nächsten Tag auf. Ein Ei lege ich stets für den nächsten Tag zurück. So kann meine Mutter nicht mit mir schimpfen.

»Stimmt es denn?«, fragt sie immer. Man sieht mir an, dass ich lüge.

Wenn es sieben Eier sind, freue ich mich. Die Zahl Sieben mag ich. Und die Drei.

Wenn ich sie zusammenrechne, bekomme ich zehn heraus. Bis dahin kann ich zählen.

Die Erde ist noch grauweiß vom Frost. Wir gehen den Weg, den von Wagenrädern zerschnittenen. Tiefe Furchen sind im Schlamm. Wegen des Frosts klebt er nicht. Große Schlammklumpen überall. Wir sagen Flatschen. Ich kicke sie. Sie zerbröckeln und zerbröseln. Oder rollen ein Stück weiter. Manchmal tun mir davon die Zehen weh. Doch das ist gut, so sind sie wenigstens nicht taub. Solange es wehtut, ist es gut. Meine Schuhe sind abgetragen. Ich trage nicht die Skihose, sondern die dünnere. Und den Mantel, aus dem ich herausgewachsen bin. Den abgelegten Schal und die abgelegte Mütze meiner Schwester. Meine Füße sind mit Lappen umwickelt. Sie verrutschen ständig. Und wenn sie verrutscht sind, frieren meine Füße noch mehr. Sie frieren immer, weil ich ungeschickt bin. Es gelingt mir nicht, den Lappen straff genug zu wickeln und das Ende hinten am Fuß unter der letzten Schicht zu befestigen. Wenn ich das richtig hinkriegen würde, könnte er nicht verrutschen. Und meine Füße würden nicht frieren. Meine Mutter hat keine Zeit, mir den Lappen um die Füße zu wickeln.

»Du bist schon groß und musst es lernen«, sagt sie, wenn ich sie um Hilfe bitte.

Wir laufen auf dem gefrorenen Fußweg, zwischen dem bereiften Unkraut. Es liegt kein Schnee mehr. Aber alles ist noch gefroren. Die Kleingärten sind zerzaust und zerwühlt.

»Beeil dich«, sagt sie zu mir.

Meine linke Hand friert. Die rechte hält meine Mutter. Ihre Hand ist groß. Die Haut ist hart und rissig. Ihre Fingernägel dreckig wie bei uns allen. Die Männer schneiden sich die Nägel mit dem Taschenmesser. Meine Mutter kaut dem Kleinen die Nägel ab, damit er sich nicht kratzt. Auch meine Nägel sind dreckig. Wenn ich mich langweile, stochere ich den schwarzen Dreck unter ihnen heraus. Vom Melken, Wäschewaschen, Entrußen und Auskehren der Asche ist die Haut aufgerissen, sind die Nägel eingerissen. Nur der Handrücken meiner Mutter ist weich und fleischig.

»Meine Füße frieren«, sage ich.

»Dein Problem«, murmelt sie, doch ohne mich wirklich zu beachten.

»Aber meine Füße frieren, Mutter«, sage ich, »sie frieren sehr. Nehmen Sie mich hoch.«

»Hilf dir selbst, so hilft dir Gott, ich kann dich nicht mehr tragen«, sagt sie, aber ich spüre, sie ist in Gedanken ganz woanders. Das ärgert mich. Ich bin wütend.

Ich bin böse auf sie, weil sie sich nicht mit mir beschäftigen will. Ich will aber, dass sie sich nur mit mir beschäftigt. Ich trete gegen ein Stück Beton. Schürfe dabei die braune Farbe von meinem Schuh ab. Sie merkt es nicht. Oder sie hat keine Lust, mich zu schlagen. Sonst sagt sie immer: »Dass auch du endlich krepierst! Hol dich die Pest …«

»Wart nur, bis wir zu Hause sind«, zischt sie mir ins Ohr. Wir sagen z’haus. Z’haus prügelt sie mit dem Putzlappen auf mich ein und weint dabei. Schnieft. Mit dem Handrücken wischt sie sich den Rotz ab. Dieser Lappen liegt immer eingeweicht im Putzeimer, damit er zur Hand ist, zum Aufwischen von Katzenscheiße oder verschüttetem Schweinetrank. Und dem ganzen Mist, der von unseren Schuhen herunterfällt. Weshalb das Wasser immer stinkt. Der Lappen ist aus der zerrissenen Trainingshose meiner Schwester. Indigoblau. Innen flauschig. Er saugt das Wasser ordentlich auf und wird schwer davon. Meine Mutter wringt ihn nie ganz aus, auch nicht, wenn sie mich damit schlägt. Ich schreie lauter, als es wehtut. Auch meine Schwester macht es so. Ich habe es von ihr gelernt. Und meine Mutter schlägt wütend auf mich ein.

»Hol dich die Pest«, wimmert sie. »Auch dich soll die Pest holen«, sagt sie. Und weint. Ich weiß, dass sie an sich denkt und an dieses Dorf, wo wir wohnen. Ich bin ihr nicht böse, es tut nicht weh. Ich habe mich schon daran gewöhnt.

Die Katze zittert vor Angst, trotzdem stiehlt sie sich ins Zimmer. Am meisten fürchtet sie sich vor dem Besen neben der Tür, die direkt ins Freie geht. Sie ist immer hungrig. Immer stöbert sie nach etwas Essbarem. Wegen der Mäuse, die man hinter der Lehmwand nicht ausrotten kann, duldet meine Mutter sie in der Wohnung, mag sie aber nicht. Katzen sind seltsam. Sie halten es mit den Menschen aus, mögen sie aber nicht. Meine Mutter mag die Katze auch nicht. Nur wenn sie in der Brennholzkiste liegt, tut sie ihr nichts. In der Kiste unter dem Herd wärmt sie sich. Morgens lässt sie sie rein, abends sperrt sie sie aus. Meine Mutter ekelt sich vor Katzen. Von irgendwas kriegen sie manchmal Durchfall und blähen sich auf. Und dann scheißen sie ins Zimmer. Meine Mutter riecht es und packt die Katze.

»Man muss sie mit der Nase reindrücken«, sagt sie zu uns. Sie packt sie am Nacken, und angewidert drückt sie die Katze mit dem Kopf in die Scheiße. Das Tier zappelt, will sich losreißen. Meine Mutter hält sie fest.

»Lassen Sie sie doch, Mutter! Tun Sie doch dem armen Tier nicht weh«, schreien wir. Aber Mutter hört nicht auf.

»Sie muss es fürs Leben lernen, nicht hierher zu scheißen«, kreischt sie. Sie ekelt sich vor der Katze. Und ich ekle mich vor der Scheiße. Erst als die Katze kratzt und winselt, lässt sie sie los. Und setzt mit dem Besen nach. Mit ganzer Kraft haut sie ihr eins drüber.

»Verrecke, du wirst mir nicht auch noch hierher scheißen«, sagt sie mehrmals und schlägt mit dem Besen auf das Tier ein.

Die Katze rennt im Zickzack durch den Raum. Meine Schwester schafft es, die Tür rechtzeitig aufzumachen, und die Katze flüchtet ins Freie.

Sie sind ständig hungrig. Katzen kriegen wenig.

»Sollen sie sich doch selbst was suchen«, sagt meine Mutter immer. »Es gibt genug Mäuse. Vögel und Käfer im Garten. Die können sie suchen.«

Sie waren ausgemergelt. Einmal sah ich eine Katze im Gemüsebeet zwischen den Kohlköpfen, sie gab komische Laute von sich. Sie merkte nicht, dass ich schon ganz nah an ihr dran war. Ich sah ihren Rücken, sie krümmte sich. Diese Katze trank nie die Milch, sie rührte nichts von dem an, was sie bekam. Ich ging nah an die sich quälende Katze heran, und da sah ich, was sie machte. Vornübergebeugt kotzte sie.

Sie versuchte, einen Frosch hinunterzuschlucken, nur die Beine hingen ihr aus dem Maul. Sie kämpfte mit dem Schlucken. Sie hörte nicht, sah nicht. Sie war mit dem Frosch beschäftigt. Mir wurde übel, so unerwartet traf mich, was ich sah. Aber ich konnte meine Augen nicht von ihr abwenden. Eine Zeitlang kämpfte sie, dann gab sie es auf und wollte den Frosch auskotzen. Winselnd würgte sie ihn hoch. Der ganze Körper zuckte rhythmisch. Allmählich kamen die Vorderbeine zum Vorschein. Zwischendurch erholte sie sich. Es dauerte lange, bis sie den zu großen Bissen durch ihren engen Hals hochgewürgt hatte.

Nachdem der Frosch herausgeplumpst war, schüttelte er sich und verschwand hüpfend zwischen den Kohlblättern.

Ich kann mich einfach nicht an sie gewöhnen«, sagt meine Mutter über die Dorfbewohner. »Ich hasse es, dass sie nie baden. Sie waschen sich auch nicht. Bei der Zahnpasta wissen sie nicht einmal, ob sie zum Essen oder zum Trinken ist. Ihre Kinder sind dreckig, kein Schwein kümmert sich um sie. Man lässt ihnen alles durchgehen, wie Gott dem Teufel. Und im Laden stinkt es dermaßen, dass sich mir der Magen umdreht …«

Meine Mutter ist immer unzufrieden. Ständig wäscht sie. Scheuert mit der Scheuerbürste. Putzt das eine Zimmer, in dem wir alle wohnen. Es sind zwei Betten drin, sie stehen längs an der hinteren Wand. Zwischen den Betten gibt es so viel Platz, dass ich gerade noch durchpasse. Ich stemme mich an den beiden Bettkanten hoch. Meine Arme sind stark. Aber das Schwingen kann ich noch nicht. Ich übe es. Ich schwinge hin und her, während meine Mutter mit meiner Schwester am Tisch lernt. Wir haben einen Tisch. Meine Schwester mag nicht lernen. »Sie ist langsam im Kopf«, heißt es von ihr. Sie starrt gleichmütig vor sich hin und wartet nur, dass es vorbei ist. Dass unser Bruder aufschluchzt oder jemand von der Straße hereinruft. Dass die Milch überkocht. Egal was, Hauptsache, das Ganze hat ein Ende. Sie starrt vor sich hin. Kriegt den Mund nicht auf.

Sie schweigt stur. Sie tut so, als blicke sie das Buch an. Aber sie blickt es nicht an. Sie lernt die Nationalhymne. Ich kann sogar schon die zweite Strophe, ich verstehe es nur nicht. Árpáds Söhne … Ich weiß nicht, wer Árpád ist.

Jetzt liegt das Buch mitten auf dem Küchentisch. In den ausziehbaren Teil der Tischplatte sind zwei Aluminiumspülbecken eingelassen. Wir sagen Alumonium. Wir benutzen sie nicht. Nur beim Schweineschlachten nehmen wir sie heraus. Zwei Hocker gehören noch zum Tisch. Der eine hat eine Schublade, in ihr bewahren wir die Schuhbürste auf und womit man polieren muss. Den Lappen und die Schuhpaste der Marke »Stern« in der flachen Metalldose. Schwarz und Braun. Mit der umgedrehten Dose wienert meine Mutter jedes Frühjahr den Boden unseres Zimmers. Wir haben noch einen Küchenschrank und eine Kleidertruhe mit Rückenlehne, darauf sitzen wir immer. Auf der Truhe liegt eine Flickendecke. Und die Kochplatte, mit der wir im Winter auch heizen, im Sommer nur kochen. Die Hauswände sind aus Lehm. Wir sagen Erdhaus, weil auch im Haus Erde ist. Gestampfte Erde. Im Frühling schmiert meine Mutter den Boden ein. Sie mischt Pferdemist mit lehmiger Erde und Spreu zu einer dicken Masse zusammen. Sie bekommt, wenn sie trocknet und genügend Pferdemist dabei war, eine harte Kruste. Auf die bestrichene Erde legen wir Teerpappe, dort in der Mitte des Zimmers, um den Küchentisch herum, halten wir uns meistens auf. Am Küchentisch passiert alles. »Unser ganzes verdammtes Leben«, wie meine Mutter immer sagt. Dort essen wir, dort macht meine Mutter die Wäsche. Dort knetet sie den Teig, und dort rupft sie das Huhn. Dort machen wir unsere Hausaufgaben. Dort liest uns unsere Mutter manchmal vor.

Meine Schwester schläft mit meinem Vater in dem einen Bett und ich mit meiner Mutter im anderen. Vor kurzem kam noch eine Wiege an unser Bett, damit meine Mutter neben ihr ist, wenn mein Bruder weint. Und für die Nacht stellen wir noch den einen Hocker daneben. Wenn der Kleine aufschluchzt, brummt meine Mutter im Halbschlaf. Im Halbschlaf streckt sie eine Hand aus und wiegt den Kleinen.

»Er hat schon wieder schlecht geträumt«, denke ich mir. Ich träume oft schlecht. Dann pinkele ich ins Bett. Am Morgen tobt meine Mutter. Wirft wütend mit Sachen um sich. Manchmal kriege ich eins hinter die Ohren, wenn sie das Laken neu aufzieht. Den Strohsack tauschen wir nur selten aus.

»Kinderpisse stinkt nicht«, sagt mein Vater.

»Das weiß ich«, sagt meine Mutter.

»Wir haben nicht so viel Stroh, dass wir es ständig wechseln können. Er wird schon damit aufhören. Als Kind habe ich auch ins Bett gepinkelt«, sagt er noch.

»Aber ich liege darauf, nicht du«, hält meine Mutter dagegen.

»Dann lass ihn zu mir rüber«, sagt mein Vater.

Deshalb schlafe ich gelegentlich bei meinem Vater im Bett. Und meine Schwester bei meiner Mutter. Ich bin dann lange wach. Mein Vater schnarcht und stinkt. Er riecht immer nach Zigaretten. Ich spüre das Maschinenfett an seiner Haut und den Benzingeruch. Den Benzingeruch mag ich, das Maschinenfett hasse ich. Oft verströmt er Bier- und Schnapsgeruch. Abgestandenen Kneipengestank. Er schläft dann ohnmächtig, und wenn er sich dreht, legt er sich auf mich. Ich kann meine Hand oder meinen Fuß kaum wieder befreien.

Aber ich muss nicht lange bei meinem Vater schlafen. Meine Schwester ist nämlich schon groß, weshalb es für meine Mutter unbequem ist mit ihr in einem Bett. Sie haben zu wenig Platz. Meine Mutter holt mich zurück, sie hofft, dass ich nicht wieder ins Bett pinkele. Die Jahre vergehen, aber ich vergesse immer noch, aufzustehen und den Nachttopf unter dem Bett hervorzuholen. Oder im Halbschlaf rechtzeitig zum Hof hinauszutaumeln, um mich an der Hauswand zu erleichtern. Am nächsten Morgen ist dann auf der Erde ein dunkler Fleck oder ein nasses Rinnsal an der Lehmwand, unten, wo der Sockel graublau getüncht ist. Bei den anderen ist es auch so. Im Sommer riecht es sogar, mit der Hitze fängt es an zu stinken. Meine Schwester verspottet mich deshalb.

»Kleiner Pisser, kleiner Pisser«, sagt sie und zeigt mir eine lange Nase. Dabei ist sie die Pisserin. Mädchen sind Pissnelken.

Doch am meisten hasste meine Mutter die Leute im Dorf. »Die Bauern«, wie sie immer sagte.

»Deine Großeltern sind Bauern. Sie lieben nur den Acker. Sie trauern dem hinterher, was ihnen weggenommen wurde. Sie können immer nur ans Ackerland denken. Sie lieben niemanden, sie haben vor nichts Respekt. Nur vor dem Ackerland. Jahrelang können sie hungern. Sie essen morgens Kleiesuppe, sie essen mittags Kleiesuppe und abends auch. Die können den Hals nicht vollkriegen. Würden für zwei Groschen die Ziege ficken, selbst wenn sie wüssten, dass sie sie hinterher nicht kriegen. Sie knausern. Sie hamstern. Geizhälse. Mickrige Leute. Sie neiden einem alles. Würden sich gegenseitig die Kehle durchschneiden. Das sind keine Menschen. Bauern …«, sagt sie mit Verachtung und spuckt hinterher auf den Boden. Ihr Gesicht ist voller Ekel, als hätte sie auf eine Wanze gebissen. Bei den Himbeersträuchern hinten im Garten beißen wir manchmal mit der Himbeere auf eine Wanze. Danach muss man viel spucken. Wer noch nie eine Wanze im Mund hatte, kann nicht wissen, wie das ist. Es ist bitter, wie Galle. Gut, dass wir keine Bauern sind.

Mein Vater ist heute am Vormittag nach Hause gekommen. Als wir ihm die Tür öffnen, um ihn zu begrüßen, brüllt er uns an.

»Raus, pflückt Bohnen«, sagt er.

»Guten Tag, Vater«, antworten wir, aber schon sind wir draußen.

Wir nehmen den Brotkorb und gehen hinunter zum Garten. Obwohl die Hülsen am Strauch noch ganz winzig sind.

Um diese Zeit ist unser Vater normalerweise bei der Arbeit. Früh am Morgen geht er, um sechs muss er in der LPG sein. Ich höre ihn nur, sehe aber nicht, wenn er aufsteht, die Arbeitshose anzieht, die Füße in die Gummistiefel steckt, die Luft durch die Zähne zieht, krächzt und spuckt. Sich kratzt. Laut die Nase hochzieht.

»Ich gebe der Kuh was«, sagt er immer. Dann taumelt er zum Stall. Er schläft noch halb.

In der Tränke neben dem Brunnen wäscht er sich das Gesicht. Währenddessen schnaubt er Wasser. Immer wenn er sich wäscht, schnaubt er Wasser. Er nimmt es in den Handteller, und wenn er es zum Gesicht hebt, schnaubt er hinein. Er wäscht sich nicht gern. Weder das kalte noch das warme Wasser kann er leiden. Wenn er sich in der Schüssel wäscht, ist alles um ihn herum nass. Meine Mutter schimpft, aber es ändert sich nichts. Er kann sich nicht anders waschen, nur wenn er prustet und schnaubt, im Wasser planscht. Deshalb wäscht er sich das Gesicht lieber an der Tränke. Um nicht mit meiner Mutter zu streiten. Mit den Fingerspitzen benetzt er die Augengegend, um aufzuwachen.

»Katzenwäsche«, sagt meine Mutter immer verächtlich.

Wenn mein Vater geht, schlafe ich noch mal ein. Es ist früh. Manchmal aber ist meine Mutter um die Zeit schon wach. Wenn sie Brot bäckt, wacht sie als Erste auf. Um vier Uhr beginnt sie. Sie macht Licht, der Backtrog steht schon da. Im Winter braucht man die Lampe. Im Sommer dämmert es um die Zeit bereits, man muss keinen Strom verschwenden. Sie tastet lieber blind herum. Nach dem Kneten, während der Teig geht, legt sich meine Mutter selten noch mal hin. Sie putzt oder bereitet die Wäsche vor. Dann habe ich das ganze Bett für mich. Bis sieben sind es noch drei Stunden, die schlafe ich ruhig.

Mein Vater geht um halb sechs weg. Bis zum Abend sehen wir ihn nicht. Oft auch am Abend nicht, wenn er in der Kneipe ist. Doch heute kommt er am Vormittag nach Hause. Er begrüßt meine Mutter.

»Was gibt es zum Mittagessen?«, fragt er.

Meine Mutter versteht nicht.

»Was suchst du hier? Bist doch wohl nicht rausgeschmissen worden?«, fragt sie.

Mein Vater schwingt große Reden.

Wir gehen hinunter und sehen uns im Gemüsebeet die Bohnen an. Sie sind ganz winzig, es sind noch keine Kerne drin. Selbst als Brechbohnen sind sie zu klein und zu schwach. Wir denken uns aus, zurückzugehen und zu fragen, ob wir sie wirklich ernten sollen.

An der Tür stutzen wir. Wir hören unseren Vater keuchen. Und unsere Mutter stöhnen.

»Schon wieder schlägt er sie«, flüstere ich meiner Schwester zu. Wir stehen still und horchen. Spähen durch die Glastür.

Meine Mutter liegt mit dem Bauch auf dem Küchentisch, mein Vater hinter ihr macht etwas. Seine Arbeitshose ist bis zu den Knöcheln hinuntergerutscht. Seine behaarten Beine leuchten. Weiß, als wären sie mit Scheuermilch abgerieben. Meine Schwester nimmt mich an der Hand und zieht mich weg.

»Er tut ihr nicht weh«, sagt sie. »Sie ficken.«

Wir gehen und schweigen. Einunddreißig Jahre liegen zwischen uns. Die Einunddreißig kann man nicht teilen, nur durch sich selbst. Und durch eins. So ist die Einsamkeit zwischen uns. Man kann sie nicht in Teile zerlegen. Man schleppt sie als Ganzes mit sich. Mein Vater hat immer schlechte Laune. Wenn er sehr schlechte Laune hat, geht er in die Kneipe. Man nennt es auch Scheißhaus, weil die Leute zu faul sind, zum Plumpsklo zu gehen. Guszti hat ein Plumpsklo machen lassen, weil beim Kreis gesagt wurde, er müsse mit der verschissenen Kneipe etwas machen. Aber vergeblich. Auch die Kneipe ist an der Rampe. So wie der Laden. Piris Laden. Wenn ich groß bin, gehe ich auch in die Kneipe. Männer gehen in die Kneipe. Aber ich bin noch klein. Wir gehen am Sonntagnachmittag nur zur Kegelbahn, mit den Jungen. Sie ist auch hinter der Kneipe. Neben der Mülldeponie. Wir stellen die Kegel auf und bringen den Männern die Kugel im Laufschritt zurück. Es kommt vor, dass wir dabei zwei, drei Forint verdienen. Die Kneipe zu betreten ist uns verboten. Auch die Frauen dürfen nicht rein. In die Kneipe dürfen nur Männer. Die Frauen schicken immer ihre Söhne in die Kneipe.

»Geh schon, bring deinen Vater heim«, sagen sie.

Die Männer sind abends immer dort.

Sie kaufen eine Flasche Bier und stellen sich damit auf die Rampe. Sie spucken aus. Davor kippen sie die Schnäpse. Sie rauchen. Krächzen. Ihre Zähne sind gelb vom Nikotin. Ein paar sind ihnen bei Schlägereien ausgebrochen.

Der Tresen der Kneipe ist mit Blech verkleidet. Neben dem Spülbecken stehen die Flaschen in einer Reihe. Aus ihren Korken guckt ein gebogenes Metallrohr heraus. Damit schenkt der Wirt die Schnäpse ein. Er stellt so viele kleine Gläser nebeneinander auf, wie bestellt wurden, und füllt sie mit klaren Schnäpsen aus der glucksenden Flasche. Da lächeln die Männer schon. Sie werden weicher. Ihre Gesichter werden klarer. Die harten Züge lockern sich. Die Falten sind weniger gespannt. Die gegerbte Haut glättet sich. Sie können kaum erwarten, das Schnapsglas zu greifen. Ihnen läuft das Wasser im Mund zusammen.

»Prost! Prost!«, rufen sie und kippen den Schnaps jäh hinunter. Später schreien sie halb besoffen »Gott! Gott!«. Dabei darf man das Wort nicht aussprechen. Nach Meinung der Eingeweihten gibt es keinen Gott. Parteimitglieder dürfen nicht an ihn glauben. Jede Woche gehen sie ins Parteihaus und glauben dort nicht an ihn.

»Wir gehen zu den Pinkas«, sagt meine Mutter immer. Dort sagt der Priester, es gibt ihn. Doch mein Vater ist sich nicht sicher. Manchmal diskutieren sie. Das endet immer im Streit.

»Wie, Gott verdammt, es gibt ihn nicht?«, fragt mein Großvater.

»Fluchen Sie nicht, Herrgott noch mal«, sagt Máli dann und lacht. Máli ist meine Tante. Wir sagen Base. Die Schwester meines Vaters. Sie ist auch meine Patentante. Ihr Gesicht ist voller Falten. »Wenn es ihn nicht gibt, dann gibt es ihn halt nicht. Man kann nicht alles haben. Wir sind hier nicht bei Wünsch dir was.«

»Hier ist es nicht wie bei den Armen: dass es dies nicht gibt und das nicht gibt. Bei uns gibt es nichts«, erzählt sie, es ist ein Witz, und alle lachen darüber.

»Sagen lässt es sich leicht«, sagt mein Vater, »dass es ihn nicht gibt. Doch nicht einmal die, die es sagen, glauben daran. Denn sie bringen ihre Kinder in ein anderes Dorf. So weit weg wie möglich, um sie dort klammheimlich taufen zu lassen«, brummt er. »Gott haben sich die Priester nur ausgedacht«, sagt Vater schließlich.

Meine Mutter glaubt nicht, dass es ihn nicht gibt. In Wahrheit auch mein Vater nicht. Doch er schweigt, weil er keinen Streit will. Er will nie Streit. Lieber lenkt er das Gespräch auf etwas anderes.

»Auch die predigen Wasser und trinken Wein …«

Meine Mutter will meinen Vater beruhigen.

»Wir haben mit denen nichts zu tun, das ist Sache der Parteileute. Der Eingeweihten. Sollen die’s doch sagen, Gott wird sie schon dafür strafen.«

Die Männer fürchten sich voreinander, deshalb gehen sie abends in die Kneipe. Denn wenn sie zusammen sind, können sie einander im Auge behalten. Die Frauen bleiben zu Hause. Weil die Männer sich mehr vor dem Mundwerk der Frauen fürchten als vor den anderen. Und sie fürchten sich, allein zu sein. Frauen können die Einsamkeit ertragen. Sie haben die Kinder. Frauen fürchten sich vor nichts. Nur vor den Männern, die spätnachts betrunken nach Hause kommen und die Kinder aufwecken.

Der Kneipenwirt ist der Bruder meines Vaters. Zuerst war die Kneipe beim Haus meiner Großeltern. In die eine Stube wurde von der Straßenseite eine Tür geschlagen. Mein Großvater hatte beim Juden gesehen, wie man das macht. Bevor sie ihn wegbrachten, war Mózsi der Kneipenwirt gewesen. Man muss panschen, damit es etwas abwirft.

Die Männer werfen den Kopf plötzlich nach hinten, wenn sie die Schnäpse kippen. Jede Arbeit beginnen sie so. »Na, noch eine Runde«, sagen sie beim Schweineschlachten. Die Frauen teilen unterdessen die Schnapsgläser aus und sammeln sie dann wieder ein. Die Männer trinken auf einen Zug aus. Manche schütteln sich. Manche räuspern sich. Andere spucken auf den Boden. Sie loben den Schnaps. Je stärker, desto besser. Ihre Gesichter verzerren sich. Sie fluchen.

Den Kneipenschnaps trinken sie einfach nur so. Alle wissen, er ist gepanscht. Beim Trinken fallen ihre Baskenmützen auf den schmutzigen Zementbeton. Vom Herbst bis zum Frühling wird vom Sägewerk Sägemehl geholt, damit ist der Boden ausgestreut. Solange es frisch ist, riecht die Kneipe nach Wald. Dann nach Morast. Erbrochenem. Urin. Auf die heruntergefallenen Mützen treten schlammige Schuhe.

»Gott verflucht! Gottverdammte Scheiße«, brüllen sie barhäuptig. Ihre Glatzen am Hinterkopf leuchten.

»Du Hurensohn, was trampelst du hier auf meiner Mütze herum …«, sagen sie. Und lachen sofort, wenn ein Stärkerer als sie darauf getreten ist. Weil sie sich voreinander fürchten. Sie fürchten sich vor den Hitzköpfen, die schlagen sich gern. Auch vor den Kommunisten fürchten sie sich. Und den Spitzeln, die im Parteihaus verraten, was sie sagen. Doch sie wissen nicht, wer der Spitzel ist, deshalb verdächtigen sie sich gegenseitig. Jeder jeden. Und sie haben Angst. Nur der Schnaps löst das in ihnen.

Sie trinken. Auf ihren Gesichtern ein blödes Grinsen. Selbst bei der schwachen Beleuchtung kann man in ihre Rachen sehen. Die nackten Glühbirnen leuchten blassgelb. Dadurch herrscht in der Kneipe Kryptastimmung. Als wären sie in einer Höhle. Sie lachen immer schriller. Alle brüllen, wenn sie sprechen. Sie verstehen ihr eigenes Wort nicht. Man wird taub davon. Sie bitten einander um eine Zigarette. Die Alten rauchen Pfeife. Die Jüngeren, wie mein Vater, rauchen nur Zigaretten. Sie sind immer nervös, immer in Eile. Die Stummel sammeln sie und drehen daraus neue. Sie schämen sich, doch sie bücken sich und heben die Stummel auf. Die meisten rauchen Machorka. Mit der Schere schneiden sie Zeitungspapier klein, in das drehen sie den Tabak. Alle kriegen ihn von der LPG aus dem Tabakbau.

»Besser, sie würden bezahlen«, sagt meine Mutter.

Geld gibt es keins. Mit dem Tabakmesser schneiden sie ihn zu Hause auf dem kleinen Hocker, der sonst unter dem Bett steht. Unter jedem Bett ist so ein kleiner Hocker. Jeder ist anders, weil jeder sich einen zusammengezimmert hat. Aber alle ähneln sie einander. Die Beine sind krumm. Die Männer haben sie aus den Stielen kaputter Heugabeln und Rechen zurechtgesägt. Auf den Tabak passen sie auf. Sie legen Packpapier unter den Hocker, weil jeder Tabakkrümel ein Schatz ist. Die Alten kehren sogar das Pulver zusammen. Sie schnupfen es, auch mein Großvater. Aus der Blase des Schweins machen sie sich ein Tabaksäckchen. Die Jüngeren aber bewahren den Tabak in Blechdosen auf und schnupfen ihn nicht. Manchmal kauen sie ihn, kauen die Stummel. Ihre Zähne bekommen einen Belag und werden gelb.

Einmal habe ich es mit Gedi ausprobiert, aber es war nicht gut. Es biss uns in der Nase. Die Alten sitzen auf den Bänken und rauchen Pfeife. Die Jüngeren, wie mein Vater, rauchen die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt. Ihre Nägel sind gelb vom Nikotin. Der Daumen auch, weil man die Kippe am Ende zwischen Daumen und Zeigefinger klemmen muss, bis sie auf die Nägel herunterbrennt.

»Gottverdammter Mist«, sagen sie dann und treten sie wütend aus.

Bis es so weit ist, rauchen sie mit hervortretenden Augen. Bei den echten Rauchern hängt die Kippe den ganzen Tag im Mundwinkel. Sie nehmen sie nicht raus, bis sie abgebrannt ist. Dabei verbrennt sie ihnen schon den Mund. Manchmal geht sie aus, weil Blattstiele drin sind. Doch auch dann nehmen sie die Kippe nicht raus. Sie nehmen sie in den Mund und kauen nervös darauf herum. Sie reden so, während sie im Mundwinkel glimmt. Manchmal machen sie sie aus und heben sie für später auf. Sie spucken in den Handteller und drücken sie dort aus. Niemals werfen sie sie weg. Sie kauen den verbliebenen Tabak, priemen. Ihr Speichel ist gelb und teerig. Sie spucken zähflüssigen Schleim. Ihre Zähne sind gelbe Stummel. Wegen der Kneipenschlägereien hat jeder ein paar ausgeschlagene Zähne. Sie putzen sie nie. Die Älteren haben kaum noch welche.

Die Männer ziehen immer in Gruppen irgendwoher irgendwohin. Tagsüber arbeiten sie, abends trinken sie. Ihre Gesichter sind bitter. Alle tragen sie indigoblaue Arbeitskleidung und Kittel. Im Winter ziehen sie Wattejacken über und tragen Pelzmützen. Die nennen sie Uschanka. Sie ist mit den Russen in Mode gekommen. Die Kleider hängen an ihnen herunter und sind immer schmutzig. Den ganzen Tag sind sie in der LPG und abends in der Kneipe. Sie sind verwahrlost und verroht. Ihre Haare sind fettig und zerzaust. Fast das ganze Jahr haben sie Gummistiefel an. Im Winter tragen sie sie mit dicken Lappen. Im Sommer nur so an den nackten Füßen. Die Gummistiefel meines Vaters helfe ich abends auszuziehen. Er steht in der Mitte des Zimmers, sein Kopf stößt gegen den Rand der Lampe. Er wankt vor und zurück. Meine Mutter schweigt. Mein Vater spricht lallend.

»Ich bin nicht betrunken«, sagt er zu meiner Mutter. Er fällt fast um. Er will zeigen, dass er nicht wankt, aber er wankt.

»Siehst du, dass ich nicht betrunken bin? Wir haben uns nur ein bisschen unterhalten, mit den Genossen geplaudert …«

»Sicher hast du bezahlt«, sagt meine Mutter.

»Ich habe sie auch einmal … zweimal eingeladen«, sagt er. »Na und, was ist dabei? Es ist mein Geld. Ich habe es verdient. Man muss auch mal einen ausgeben …«

»Spiel nicht den Herrn«, sagt meine Mutter. »Geh lieber schlafen und weck den Kleinen nicht auf.«

Mein Vater schwankt unterdessen vor und zurück.

»Zieh mir schon die Stiefel aus, mein Sohn«, sagt er zu mir. Ich rühre mich nicht. Ich habe Angst, dass er mich schlägt. Oder auf mich drauffällt.

»Zieh sie ihm aus, er fällt gleich um«, sagt meine Mutter. Als sich mein Vater doch vorbeugen will, kippt er. Es würgt ihn, dann erbricht er sich. Die Brühe quillt ihm aus dem Mund. Er schluckt sie zurück. Taumelt vor die Tür hinaus. Die Tür bleibt offen. Ich sehe die Sterne und den Rücken meines Vaters, wie er sich nach vorne beugt. Vom Bett aus sehe ich, wenn er sich würgend krümmt, die Venus. Der kühle Abendwind trägt den Geruch von Erbrochenem herein. Er bläst von der Rampe her und trägt auch den bitteren Tabakgestank der Kneipe ins Zimmer. Als mein Vater zurücktaumelt, fällt er auf sein Bett. Ich ziehe ihm die Stiefel aus. Das Erbrochene verschmiert mir die Hände. Es war an seinen Stiefeln. Ich gehe zur Waschschüssel. Wasche es ab. Mein Vater kippt rücklings aufs Bett. Seine Füße sind noch auf dem Boden. Er schläft auf der Stelle ein. Er schnarcht und wimmert im Schlaf. Leckt sich das Erbrochene aus den Mundwinkeln. Manchmal zuckt sein Körper. Er schlägt mit den Händen in die Luft. Dann fallen seine Arme kraftlos herab. Meine Schwester tut, als schliefe sie. Ich lege mich hin. Ich halte mir die Ohren zu, um einschlafen zu können. Zu dritt hören wir dem Schnarchen meines Vaters zu.

Ich gehe und zähle. Ich zähle stumm, wenn ich gehe. Ich zähle meine Schritte.

»Schau, wo du hintrittst«, sagt meine Mutter. Manchmal falle ich hin oder rutsche in den Graben, weil ich nicht aufpasse. Ich mache mir die Sachen schmutzig. Mein Kopf ist anderswo. Ich stelle mir vor, dass ein Engel herabsteigt und ins Dorf kommt. Ich zähle die Telegrafenmasten. Die Bäume. Die Hunde. Ich zähle die Fenster, während wir auf der Straße gehen. Die Blütenblätter der Riesendahlien. Den Kuckucksruf. Die Zaunpfähle. Ich zähle alles, was man nur zählen kann. Ich denke mir aus, was ich nun zählen werde. Ich zähle und stolpere dabei.

»Du bist so täppisch«, sagt meine Mutter. Mit einer Hand zerrt sie mich hoch. Mit der anderen gibt sie mir eine Ohrfeige. Dann staubt sie meine Hosen ab. Währenddessen schlägt sie mich einmal kräftig auf den Hintern.

»Halt keine Maulaffen feil. Pass auf, wo du hintrittst!«, zischt sie mir ins Ohr. Meine Knie sind immer abgeschürft. Wenn ich die kurze Latzhose anhabe, ist sie nicht so böse. Ich weine, weil mir die Knie wehtun. Die Wunde brennt. Der Splitt ist am schlimmsten. Und der Beton. Der Asphalt klebt in der Wunde.

Meine Mutter holt ein Taschentuch hervor und putzt mir die Nase. Sie spuckt in die Hand und streicht mir mit der Spucke den Pony glatt. Tränen laufen mir übers Gesicht.

»Heul nicht. Steh hier nicht herum wie ein Häufchen Elend«, schreit sie mich an. »Du bist so unfähig wie dein Vater.«

Ich spiele mit den Zahlen. Ich zerteile sie und setze sie zusammen. Ich prüfe, ob sie sich teilen lassen. Manche kann man durch nichts teilen. Die mag ich.

Du bringst mich um. Auch dein Vater war ein Mörder«, brüllt mein Vater. »Lass mich endlich in Ruhe«, und er rennt hinaus. Wir haben uns daran gewöhnt. Immer übergibt er sich, wenn er nach Hause kommt. Mein Vater hat einen schwachen Magen, heißt es.

»Trink nicht, wenn du es nicht verträgst«, sagt meine Mutter am nächsten Tag zu ihm.

»Ich trinke wegen dir«, sagt mein Vater.

»Scheißdreck«, sagt meine Mutter. »Weil du ein Lump bist, deshalb trinkst du.«

»Ich verspreche dir, ich hör auf«, beteuert mein Vater.

»Trink nicht wegen mir und versprich es nicht. Hör nur einfach damit auf«, sagt sie.

Meine Mutter speit Gift und Galle. Sie ist meinem Vater böse. Sie vermeiden, einander anzusehen. Mein Vater fühlt sich todkrank. Er hat schon den Saft vom Sauerkraut getrunken. Auch das hat nicht geholfen. Er leidet wie ein Hund. Er schwört, nie wieder. In solchen Momenten schwört er immer. Er geht auch nicht mehr dorthin, wo seine alte Brigade ist.

»Immer endet es damit«, sagt er.

Meine Mutter hört wortlos zu. Mein Vater hat keine Arbeit. Er geht in den Wald Zunder sammeln. Wir sagen Zundel. Er sammelt Reisig und Eicheln. Pilze. Was es gerade gibt. Tagsüber ernährt er sich von Wildbirnen. Bis zum Abend kommt er nicht nach Hause. Meine Mutter schämt sich dafür, sie geht nicht auf die Straße.

Vor dem Einschlafen erzählt mein Vater immer von Hexen. Oder von Schwarzkünstlern, von Geistern, von Unholden. Das Unheimlichste an ihnen ist, dass sie sich in Tiere verwandeln können.

»Jeder Hund, jede Katze, jedes Pferd und jeder Stier kann eine Hexe sein. Vor allem nachts. Nach Mitternacht verwandeln sie sich, ihre Macht dauert bis zum Hahnenschrei. Einmal sagte unser Nachbar, er glaube, in unserem Stall gehe eine Hexe in Gestalt eines weißen Hundes um. Als Kind wusste ich nur, weil meine Eltern es erzählt haben, dass die Hexe am Morgen die Milch aus dem Euter der Kuh saugt. Wenn der Hahn schreit, verschwindet sie. Die Kuh gab seit Wochen keine Milch. Der Nachbar hatte beobachtet, dass ein kleiner weißer Hund morgens durch das Katzenloch huschte. Von unserer anderen Nachbarin, der alten Kotvász, hieß es, sie sei eine Hexe. Wir beobachteten, wann der Hund kommt. Doch der konnte so durchschlüpfen, dass wir es nicht bemerkten. Mein Vater und ich warteten früh, als es noch dunkel war, mit Schaufel und Mistgabel am Katzenloch auf ihn. Als der Hahn krähte, hob mein Vater die Gabel und ich die Schaufel. Aber wir standen nicht vergeblich dort, denn der Hund kam auch. Wir schlugen auf ihn ein, doch er war geschickt. Mein Vater verletzte ihn mit der Gabel am rechten Hinterlauf. Hinkend rannte der Hund davon. Er verschwand bei den Pflaumenbäumen, huschte unter der Hecke hindurch. Ein paar Tropfen Blut zeigten, wo er langgelaufen war. Doch im Unkraut verlor sich die Spur. Den nächsten Tag warteten wir vergeblich, er kam nicht. Auch den dritten Tag nicht. Dann hörten wir, die Kotvász liege seit zwei Tagen danieder. Eine große Wunde ist an ihrem rechten Bein. Keiner weiß, wie sie sich das geholt hat. Als wäre ihr ins Bein gestochen worden. Der weiße Hund kam nicht mehr. Am Morgen konnte man wieder die Kühe melken«, sagt er.

Ich kann lange nicht einschlafen. Ich fürchte mich vor den Hexen. Vor den Schwarzkünstlern, den sich in Stiere verwandelnden Unholden. Mir graut vor dem bösen Blick, vor Verwünschung. Vor den Zigeunern, die die Kinder stehlen, um sie zu essen. Vor den Juden, die Kinder fangen. Ich fürchte mich vor den Brunnen. Ich wage nicht mal in ihre Nähe zu gehen, weil in ihnen Kröten wohnen, die die Kinder mit Lassos hineinzerren. Ich fürchte mich auch vor der Nacht, ich traue mich nicht, aus dem Haus zu gehen, weil eine Eule mit Kupferpenis in der Dunkelheit lauert. Mein Herz hämmert. Vor jedem Geräusch erschrecke ich. Alle schlafen schon. Ich horche. Dann schlafe ich ein, und in meinen Träumen geht alles weiter. Eine große dunkle Wolke senkt sich auf mich. Als sie mich fast erdrückt, schluchze ich auf. Es ist dunkel. Mein Vater geht im Zimmer herum, davon wache ich auf.

»Weine nicht. Alles ist gut«, sagt er.

Heute gibt es Matze, weil ich nur das machen kann«, sagt meine Mutter, als wir nach Hause kommen. Ich breche mit meiner Schwester Reisig. Die dickeren Zweige zerhacke ich im Schuppen mit der Axt. Als ich zurückkomme, hat meine Mutter schon das Mehl mit Wasser verknetet, es gesalzen und dünn ausgerollt. Sie legt es zum Backen auf die heiße Eisenplatte. Wir wärmen uns die Hände über dem Herd. Der Frühling beißt noch. Unser Vater ist auf Lehrgang. Er wurde aus der LPG geworfen. Lange hat er keine Arbeit gekriegt. Er war bei den Erdarbeitern. Eine Zeitlang hat er auch in der Betonmischung gearbeitet. Doch auch da wurde er vor die Tür gesetzt. Dann gab es niemanden, der den auswärtigen Lehrgang machen wollte. In Kenderes werden Pumpentechniker ausgebildet. Die Unterkunft ist im Horthy-Schloss2.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal beim Herrn Reichsverweser wohne«, sagt mein Vater zu Hause.

Mein Vater wird das Schöpfwerk bedienen, doch den Lehrgang muss er selbst bezahlen. Und schon seit einem Jahr verdient er nichts. Meine Mutter versucht, Geld zu machen. Sie mästet Enten, stopft Gänse, verkauft Hähnchen, Eier. Alles, was nur geht, verkauft sie auf dem Markt in der Kreishauptstadt. Einen Großteil der Bohnen, Zwiebeln, Kartoffeln. Nur die kleinen und die missgebildeten bleiben. Sie verdingt sich als Tagelöhner. Wir sagen Tagner. Und nachts macht sie Handarbeiten, stickt für die Heimindustriegenossenschaft. Selbst von den Zigeunern nimmt sie Hilfe an. Von Aranka Rézműves’ Familie, die unsere Zigeuner sind. Das heißt, die meiner Großeltern. Dabei geben sich Ungarn nicht mit Zigeunern ab. Aranka bringt manchmal Pilze, für das Schwein Eicheln, die sie im Wald finden. Sie helfen, denn solange wir etwas hatten, hat Mutter ihnen vieles gegeben.

»Sie sind nicht so wie die anderen Ungarn«, sagt Aranka.

Meine Mutter mag Aranka, aber die Zigeuner nicht.

»Euer Vater bekommt jetzt eine wichtige Aufgabe«, sagt Mutter. Doch ich spüre, sie freut sich nicht, hat eher Angst. Sie spricht mit uns, um sich selbst zu überzeugen. Sie hat Angst, dass Vater die ganze Arbeit alleine machen muss. Es gibt keinen, der ihn ablöst. Dann wird er Tag und Nacht draußen am Túr-Ufer sein. Darüber freut sich meine Mutter nicht. Und er wird auch wenig verdienen. Die Verantwortung ist zu groß.

»Aber nun wird es besser«, so macht sie uns Mut. »Euer Vater wird im Frühling die Reisfelder bewässern.« Die Planierraupen haben den Boden geebnet, niedrige Dämme, Kanäle, Ableitungsgräben wurden angelegt. Große Eisenrohre und daran festgeschweißte gewaltige Wasserhähne verlegt. In die Kanäle wurden Schleusen betoniert. Die Eisenplatten der Schleusen werden an langen Winden auf und ab bewegt. All das wird mein Vater bedienen. Er öffnet die Hähne, hebt die Schleusen, startet den laut knatternden Motor, der den Aggregator und die Pumpe betreibt.

Ich müsste stolz auf meinen Vater sein, doch ich bin es nicht. Ich fürchte mich vor diesen Maschinen. Ich kann das Motorengeräusch nicht leiden. Ich ekle mich vor dem Maschinenfett, dem Diesel, dem Geruch von Rost und Eisenspänen.

»Besser als nichts«, beruhigt er meine Mutter, »es wird gut sein, hab keine Angst.«

Meine Mutter versucht es zu glauben. Doch sie traut dem Ganzen nicht. Sie hat Angst.

»Es zahlt sich aus, du wirst sehen«, sagt mein Vater.

»Es war jetzt ein schlechtes Jahr für die LPG. Nicht einmal die Arbeitseinheiten konnten sie bezahlen. Aber das wird nicht immer so sein«, so zählt er leise weiter auf, monoton, gepresst. Meine Mutter schmettert den Topf, in dem sie Maisbrei kocht, auf den Tisch.

»Einen Scheißdreck! Du glaubst das auch noch, oder willst du nur mich für dumm verkaufen? Wenn du es glaubst, hast du einen echten Dachschaden«, sagt sie.

»Wir werden sehen. Wir werden sehen«, sagt mein Vater.

»Das hat auch der Blinde gesagt«, trumpft meine Mutter auf.

In der Stimme meines Vaters liegt verdrängte Nervosität. Vergangenes Jahr sind die Feldarbeiten fertig geworden. Dieses Jahr schon beginnt der Anbau auf den Schlammfeldern. Mein Vater wird die Maschinen bedienen. Es stimmt, er muss Tag und Nacht draußen in der Hütte wohnen. Es liegt im Interesse der Volkswirtschaft, dass er auf die Maschinen aufpasst. Es wird dort hochwertige Pumpen geben. Auch die Leitung der LPG knüpft große Erwartungen an den Erfolg des Reisanbaus. Der Genosse Parteisekretär und der Genosse Dorfratsvorsitzende, den mein Vater nur Guszti nennt, haben dem LPG-Vorsitzenden im Kulturhaus schon gratuliert. Er bezeichnete den Start der Schlammfelder am Feiertag zum fünfzehnten März3 als revolutionäre Veränderung.

Ich frage meine Mutter, was eine Revolution ist. Gerade wischt sie mit dem nassen Abwaschlappen den Tisch ab.

»Damit haben wir nichts zu tun«, sagt sie. Dann nichts mehr.

Sie schweigt starrköpfig. Wir sagen stierköpfig. Im Kulturhaus hat der Genosse LPG-Vorsitzende von der Revolution gesprochen und dass das Dorf den Reisanbau dringend braucht. Wie einen Bissen Brot, so hat er gesagt. Dann wurde die Internationale gesungen, zu der bei uns jeder Firlefanze sagt, weil der frühere Parteisekretär sie einmal so genannt hat.

»Genossen, singen wir die Firlefanze.« Seitdem kann man sie nicht ernst nehmen. Alle denken an diese Szene. Sie platzen vor Lachen. Ich mag die Internationale, aber die Hymne hasse ich. Ich hasse sie zu singen, weil sie klingt, als wären wir auf einer Beerdigung.

Guszti, der Dorfratsvorsitzende, hat über Petőfi4 gesprochen. »Petőfi ist unser Verwandter«, hat er gesagt. Ich verstehe nicht, warum wir mit der Revolution oder mit Petőfi verwandt sind. Auch Mutter sagt es mir nicht.

Immer hat sie schlechte Laune, sie spricht selten. Sie weint still und schreit laut. Ohne Übergang. Sie brüllt, dann tiefe Stille. Diese Stille ist am schlimmsten. Dann will sie in den Brunnen springen. Geht mit einem Strick auf den Dachboden. Meine Schwester und ich klammern uns an ihre Hände, hängen uns an ihre Beine, sie sträubt sich, will uns abschütteln. Doch wir lassen sie nicht.

»Mama, sterben Sie nicht! Lassen Sie uns nicht hier allein«, schreien wir. Auch meine Schwester weint.

»Lasst mich, lasst mich doch endlich verrecken«, schreit sie. Ihre Haare sind durcheinander, aufgelöst, zerzaust. Ihr Gesicht ist nass und aufgedunsen. »Lasst mich, in der Nacht bringe ich mich eh um, wenn ihr schlaft«, sagt sie.