Die Möglichkeit einer Insel - Michel Houellebecq - E-Book

Die Möglichkeit einer Insel E-Book

Michel Houellebecq

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Beschreibung

Nur archaisch lebende Wilde bleiben nach der Klimakatastrophe vom Menschengeschlecht übrig. Und auch der Neo-Mensch hat überlebt – geklont und unsterblich. Daniel24 ist ein Neo-Mensch der vierundzwanzigsten Generation, der auf seinen genetischen Prototyp Daniel1 zurückblickt. Dieser Daniel1 war ein Mensch unserer Gegenwart: Er war Komiker und zynisch-scharfer Beobachter einer Gesellschaft, die längst alle Tabus gebrochen hatte. Aber sein Leben mit der schönen Isabelle war ihm nicht genug … In ›Die Möglichkeit einer Insel‹ befreit sich Michel Houellebecq von der Gegenwart und liefert den radikalen Entwurf einer Zukunft, in der sich die Menschheit selbst erledigt hat. »Houellebecq ist etwas Seltenes gelungen: die poetische Beschwörung einer unmittelbar drohenden Entmenschlichung.« ECKHART NICKEL, WELT AM SONNTAG

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Seitenzahl: 596

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Über das Buch:   Nur archaisch lebende Wilde bleiben nach der Klimakatastrophe vom Menschengeschlecht übrig. Und auch der Neo-Mensch hat überlebt – geklont und unsterblich. Daniel24 ist ein Neo-Mensch der vierundzwanzigsten Generation, der auf seinen genetischen Prototyp Daniel1 zurückblickt. Dieser Daniel1 war ein Mensch unserer Gegenwart: Er war Komiker und zynisch-scharfer Beobachter einer Gesellschaft, die längst alle Tabus gebrochen hatte. Aber sein Leben mit der schönen Isabelle war ihm nicht genug …

In ›Die Möglichkeit einer Insel‹ befreit sich Michel Houellebecq von der Gegenwart und liefert den radikalen Entwurf einer Zukunft, in der sich die Menschheit selbst erledigt hat.

Über den Autor:

Michel Houellebecq

MICHELHOUELLEBECQ

DIE MÖGLICHKEITEINER INSEL

Aus dem Französischen von Uli Wittmann

Vollständige eBook-Ausgabe der im DuMont Buchverlag erschienenen Taschenbuchausgabe

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

Die französische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel

›La possibilité d’une île‹ bei Fayard, Paris.

© Michel Houellebecq und Librairie Arthème Fayard, 2005

© 2005 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Übersetzung: Uli Wittmann

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © plainpicture/Benoit Audureau

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

eBook ISBN eBook: 978-3-8321-8917-4

www.dumont-buchverlag.de

Für Antonio Muñoz Ballesta und seine Frau Nico,

ohne deren freundschaftlichen, liebevollen Zuspruch

ich dieses Buch nicht hätte schreiben können.

Willkommen im ewigen Leben, meine Freunde.

Dieses Buch verdankt seine Entstehung der deutschen Journalistin Harriet Wolff, die ich vor ein paar Jahren in Berlin kennengelernt habe. Harriet hatte den Wunsch geäußert, mir eine kleine Fabel zu erzählen, bevor sie mich befragte. Ihr zufolge drückte diese Fabel in symbolischer Form meine Haltung als Schriftsteller aus.

Ich stehe nach dem Ende der Welt in einer Telefonzelle. Ich kann so viele Telefongespräche führen, wie ich will, mir sind keine Grenzen gesetzt. Ob auch andere Menschen überlebt haben oder ob meine Gespräche nur die Monologe eines Psychopathen sind, ist unklar. Manchmal sind es nur ganz kurze Anrufe, als sei auf der anderen Seite sofort wieder aufgelegt worden; doch manchmal dauern sie länger, als höre man mir neugierig und voller Schuldgefühle zu. Es gibt weder Tag noch Nacht; die Situation kann nie zu Ende gehen.

Willkommen im ewigen Leben, Harriet.

Wer von euch

verdient das ewige Leben?

Meine gegenwärtige Inkarnation verschlechtert sich; ich glaube nicht, daß sie noch lange währt. Ich weiß, daß ich bei meiner nächsten Inkarnation meinen Gefährten wiederfinde, den kleinen Hund Fox.

Die Gesellschaft eines Hundes ist deshalb so angenehm, weil man ihn glücklich machen kann; was er verlangt, ist so einfach zu erfüllen, sein Ego ist so begrenzt. Möglich, daß sich die Frauen in früheren Zeiten in einer ähnlichen Lage befanden – vergleichbar der eines Haustiers. Es gab vermutlich so etwas wie häusliches Glück, das mit der Zweckgemeinschaft verbunden war und das wir nicht mehr verstehen können; wie auch die Freude, einer zweckdienlichen, funktionalen Körperschaft anzugehören, deren Ziel es war, eine bescheidene Reihe von Aufgaben zu erledigen, wobei das stete Wiederholen dieser Aufgaben die unauffällige Reihe der Tage bildete. All das gibt es nicht mehr, ebensowenig wie die Reihe der Aufgaben; und wir haben auch kein deutlich festgesetztes Ziel mehr; die Freuden des Menschen bleiben uns unergründbar, doch sein Leid kann uns auch nicht mehr die Brust zerreißen. Unsere Nächte sind nicht mehr von bebendem Entsetzen oder ekstatischem Rausch erfüllt; dennoch leben wir, gehen freudlos durch ein Leben ohne Geheimnisse, und die Zeit erscheint uns kurz.

Ich habe Marie22 auf einem billigen spanischen Server kennengelernt; es dauerte endlos, bis die Verbindung zustande kam.

Die Müdigkeit,

Die der alte tote Holländer auslöst,

Läßt sich nicht bescheinigen

Ehe der Meister zurückkehrt.

39, 334497, 44512, 33711. Unter der angegebenen Adresse konnte ich mir ihre Muschi ansehen – flimmernde, digitalisierte, aber seltsam reale Bilder. War sie eine Lebendige, eine Tote oder eine Intermediäre? Wohl eher eine Intermediäre; aber dieses Thema war tabu.

Frauen vermitteln den Eindruck von Ewigkeit, mit ihrer Muschi als Zugang zum Geheimnisvollen – als wäre sie ein Tunnel, der zum Wesen der Welt führt, dabei handelt es sich nur um ein Zwergenloch, das niemanden mehr interessiert. Aber es freut mich für sie, wenn sie diesen Eindruck noch hervorrufen können; meine Worte sind voller Mitleid.

Die starre,

Sichtlich erdrückende Anmut,

Die von den sich ablösenden Zivilisationen ausgeht,

Führt nicht zum Tod.

Ich hätte damit aufhören sollen. Hätte das Spiel, die Intermediation, den Kontakt abbrechen sollen; aber es war zu spät. 36, 9115, 333410147, 5533.

Die erste Sequenz war von einem höher gelegenen Punkt aufgenommen. Große graue Plastikplanen bedeckten die Ebene; wir befanden uns nördlich von Almería. Früher wurde das Obst und Gemüse, das in diesen Gewächshäusern angebaut wurde, von Landarbeitern geerntet, von denen die meisten aus Marokko stammten. Nach der Automatisierung hatten sie sich in die umliegenden Sierras verzogen.

Außer der üblichen Ausrüstung – Elektrizitätswerk, das den Schutzzaun mit Strom versorgte, Relaissatellit, Sensoren – verfügte die Einheit Proyecciones XXI,13 über einen Mineralsalzgenerator und eine eigene Trinkwasserquelle. Sie lag abseits der großen Verkehrslinien und war auf keiner Karte verzeichnet – sie war erst nach der letzten Geländeaufnahme errichtet worden. Seit der Flugverkehr abgeschafft war und die Frequenzbänder der Übertragungssatelliten systematisch gestört wurden, war es praktisch unmöglich geworden, sie ausfindig zu machen.

Die nächste Sequenz hätte aus einem Traum stammen können. Ein Mann, der mein Gesicht hatte, aß in einem Stahlwerk einen Joghurt; die Bedienungsanleitung der Werkzeugmaschinen war auf Türkisch; es war unwahrscheinlich, daß die Produktion wieder in Gang kommen würde.

12, 12, 533, 8467.

Die zweite Botschaft von Marie22 lautete:

Ich sitze da wie eine blöde Tussi

Allein mit meiner Pussi.

3523455, 6365. Wenn ich »ich« sage, lüge ich. Gehen wir von dem »ich« der Wahrnehmung aus, das neutral und klar ist. Setzen wir es in Bezug mit dem »ich« der Intermediation – mein Körper als solcher gehört mir; oder genauer gesagt, ich gehöre meinem Körper. Und was stellen wir fest? Den fehlenden Kontakt. Hütet euch vor meinen Worten.

Ich möchte euch nicht von diesem Buch ausschließen; denn ihr seid, lebendig oder tot, die Leser.

Das findet ohne mein Zutun statt; und ich möchte, daß es stattfindet – und zwar lautlos.

Dem verbreiteten Gedanken zuwider

Erschaffen Worte keine Welten;

Der Mensch spricht, wie der Hund bellt,

Um seinen Zorn oder seine Angst auszudrücken.

Die Lust ist lautlos,

Genau wie das Glücksgefühl.

Das Ich ist die Synthese unserer Fehlschläge; aber es ist nur eine lückenhafte Synthese. Hütet euch vor meinen Worten.

Dieses Buch verfolgt das Ziel, die Zukünftigen zu erbauen. Die Menschen, werden sie sich sagen, waren fähig, so etwas hervorzubringen. Das ist keine Kleinigkeit, aber das ist auch nicht alles; es handelt sich nur um etwas Intermediäres.

Marie22 ist, wenn es sie gibt, in ebensolchem Maß eine Frau, wie ich ein Mann bin; in begrenztem, widerlegbarem Maß.

Auch ich bin bald am Ende meines Wegs angelangt.

Erster Teil

Daniel1,1

»Was tut eine Ratte im Wachzustand?

Sie schnuppert.«

Jean-Didier – Biologe

Wie gut sind mir noch die ersten Augenblicke meiner Berufung zum Clown im Gedächtnis! Damals war ich siebzehn und verbrachte trübselig den August in einem »Alles inklusive«-Ferienclub in der Türkei – es war im übrigen das letzte Mal, daß ich mit meinen Eltern in Ferien fuhr. Meine beknackte Schwester – sie war damals dreizehn – fing an, alle Typen anzumachen. Es war beim Frühstück; wie jeden Morgen hatte sich vor dem Rührei, für das die Urlauber anscheinend eine große Schwäche hatten, eine Schlange gebildet. Neben mir stand eine alte Engländerin (eine hagere boshafte Alte, der man ohne weiteres zutraute, daß sie Füchsen das Fell abzog, um ihren Livingroom damit zu schmücken), die sich schon reichlich mit Rührei bedient hatte und nun ohne zu zögern auch noch die letzten drei Würstchen nahm, die den Metallbehälter garnierten. Es war fünf vor elf, die Frühstückszeit ging zu Ende, und es war kaum vorstellbar, daß der Ober noch weitere Würstchen bringen würde. Ein Deutscher, der hinter ihr stand, erstarrte; seine Gabel, die schon nach dem Würstchen ausgestreckt war, machte auf halbem Weg in der Luft halt, und das Gesicht des Mannes rötete sich vor Entrüstung. Der Deutsche war ein riesiger Kerl, ein wahrer Koloß von über zwei Metern und wenigstens drei Zentnern. Einen Augenblick lang glaubte ich, er würde der gut achtzigjährigen Alten mit seiner Gabel die Augen ausstechen oder ihr den Hals abschnüren und ihr den Kopf auf dem Buffet zertrümmern. Die Frau in ihrem greisenhaften Egoismus, der ihr wohl nicht einmal mehr bewußt war, trippelte an ihren Tisch zurück, als sei nichts geschehen. Der Deutsche riß sich zusammen, ich spürte, wie sehr er sich zusammenriß, dann nahm sein Gesicht wieder einen friedlichen Ausdruck an, und er kehrte traurig, ohne Würstchen, zu seinen Artgenossen zurück.

In Anlehnung an diesen Zwischenfall erfand ich einen kleinen Sketch über eine blutige Revolte in einem Ferienclub, die dadurch ausgelöst wurde, daß winzige Einzelheiten im Widerspruch zu der »Alles inklusive«-Formel standen: die Würstchenknappheit beim Frühstück und dann der Aufpreis für das Benutzen der Minigolfanlage. Noch am selben Abend trug ich diesen Sketch im Rahmen des Programms Sie haben Talent! vor (einmal in der Woche ersetzten die Urlauber die Profi-Animateure und gestalteten das Abendprogramm mit eigenen Auftritten); ich übernahm selbst sämtliche Rollen in meinem Sketch und gab damit mein Debüt auf dem Sektor der One-Man-Show, auf dem sich praktisch meine ganze Karriere abspielen sollte. Fast alle erschienen nach dem Abendessen bei dieser Vorführung, um die Zeit bis zur Öffnung der Diskothek totzuschlagen; da kam schon ein Publikum von achthundert Leuten zusammen. Mein Auftritt war ein voller Erfolg, viele lachten Tränen, und ich bekam stürmischen Applaus. Noch am selben Abend sagte eine hübsche Brünette namens Sylvie zu mir, daß sie sich halb totgelacht habe und daß sie Jungens mit Humor sehr schätze. Die gute Sylvie. Und so verlor ich meine Unschuld und entdeckte meine Berufung.

Nach dem Abitur ging ich auf eine Schauspielschule; dann folgten einige nicht sehr ruhmreiche Jahre, in denen ich immer bösartiger und folglich immer bissiger wurde; unter diesen Umständen ließ der Erfolg nicht lange auf sich warten und nahm Ausmaße an, die mich selbst überraschten. Ich begann mit kleinen Sketchen über Patchwork-Familien, über die Journalisten von Le Monde und die Armseligkeit der Mittelschicht im allgemeinen – ich war sehr überzeugend in der Rolle von Intellektuellen, die die Hälfte ihrer Karriere bereits hinter sich hatten und angesichts des entblößten Bauchnabels und des aus der Hose hervorschauenden Strings ihrer Töchter oder Schwiegertöchter plötzlich inzestuöse Gelüste entwickelten. Kurz gesagt, ich war ein scharfer Beobachter der gegenwärtigen Realität; man verglich mich oft mit Pierre Desproges. Ich widmete mich weiterhin der One-Man-Show, nahm aber auch hin und wieder die Einladung zu Fernsehsendungen an, vorausgesetzt, sie hatten hohe Einschaltquoten und waren von niedrigem Niveau. Ich unterließ es nie, darauf hinzuweisen, wie niedrig das Niveau war, tat es aber immer in subtiler Form: Der Moderator sollte sich ein bißchen in Frage gestellt fühlen, aber nicht zu sehr. Mit einem Wort, ich war ein echter Profi; ich wurde nur ein wenig überschätzt, aber da war ich nicht der einzige.

Ich will damit nicht sagen, daß meine Sketche nicht witzig waren, das waren sie durchaus. Ich war tatsächlich ein scharfer Beobachter der gegenwärtigen Realität; ich hatte einfach nur das Gefühl, daß alles ziemlich primitiv geworden war und daß es in der gegenwärtigen Realität nur noch wenig zu beobachten gab: Wir hatten so vieles vereinfacht, so vieles gestrichen, so viele Barrieren überwunden, Tabus gebrochen, falsche Hoffnungen und alberne Bestrebungen aufgegeben; da blieb nicht mehr viel. Gesellschaftlich gesehen, gab es Reiche und Arme und nur wenige Übergangsmöglichkeiten – der soziale Aufstieg war zu einem Begriff geworden, den man fast nur noch ironisch verwenden konnte. Es gab allerdings noch die konkrete Möglichkeit, sich zugrunde zu richten. Auf sexueller Ebene gab es die Menschen, die bei den anderen Lust erweckten, und die, die das nicht taten: ein simpler Mechanismus, der nur ein paar modale Komplikationen kannte (die Homosexualität usw.) und sich leicht in den Begriffen Eitelkeit und narzißtischer Wettkampf zusammenfassen ließ, mit denen die französischen Moralisten sie schon vor dreihundert Jahren sehr treffend beschrieben hatten. Natürlich gab es außerdem noch die einfachen Leute, jene, die arbeiteten, die Waren für den täglichen Bedarf produzierten und sich für ihre Kinder aufopferten – häufig auf etwas drollige oder, wenn man so will, rührende Weise (aber ich war ja vor allem Komiker); jene, die in ihrer Jugend nicht schön, später nicht ehrgeizig und zu keinem Zeitpunkt reich waren und dennoch aus tiefstem Herzen, sogar als erste und ehrlicher als alle anderen, Schönheit, Jugend, Reichtum, Ehrgeiz und Sex als verbindliche Werte anerkannten; jene, die gleichsam das Bindemittel der Soße bildeten. Sie konnten, das muß ich zu meinem Bedauern sagen, kein Thema für mich sein. Dennoch nahm ich sie manchmal in meine Sketche auf, damit sie etwas Abwechslung hineinbrachten und die Sache wie aus dem Leben gegriffen wirkte; aber mir ging das Ganze trotzdem allmählich auf die Nerven. Das Schlimmste daran war, daß ich als Humanist angesehen wurde; ein Humanist zwar wider Willen, aber doch ein Humanist. Um etwas konkreter zu werden, hier einer der Scherze, den ich bei meinen Auftritten häufig angebracht habe:

»Weißt du, wie man den Fettkloß nennt, der die Scheide umgibt?«

»Nein.«

»Frau.«

Obwohl ich solche Knaller auf der Bühne zum Besten gab, bekam ich seltsamerweise weiterhin gute Kritiken in Elle und Télérama; allerdings waren seit dem Erfolg der nordafrikanischstämmigen Komiker wieder Macho-Entgleisungen in Mode gekommen, und meinen Entgleisungen haftete eben immer eine gewisse Eleganz an: Ich ließ die Sache vom Stapel, setzte noch eins drauf, aber alles immer schön unter Kontrolle. Das Gute an dem Beruf des Humoristen und ganz allgemein an der humoristischen Haltung im Leben ist, daß man sich völlig ungestraft wie eine Drecksau benehmen kann, sich noch dazu die Bösartigkeit finanziell vergolden oder mit sexuellen Erfolgen vergüten läßt, und das alles mit Zustimmung der Öffentlichkeit.

Mein angeblicher Humanismus stand in Wirklichkeit auf ziemlich wackligen Füßen: Ein paar lockere Bemerkungen über den bedrohten Berufsstand der Tabakhändler sowie eine Anspielung auf die an der spanischen Küste angeschwemmten Leichen illegal einwandernder Neger hatten mir den Ruf eines Linken und Verteidigers der Menschenrechte eingebracht. Ich, ein Linker? Ich hatte gelegentlich in meinen Sketchen ein paar jüngere Globalisierungsgegner auftreten lassen und ihnen dabei keine direkt unsympathische Rolle zugewiesen; und ich hatte mich auch wohl gelegentlich zu einer demagogischen Haltung hinreißen lassen, ich war eben, wie schon gesagt, ein Profi. Außerdem sah ich aus wie ein Araber, was die Sache erleichterte; das einzige, was damals an Inhalten noch von der Linken übriggeblieben war, war die Ablehnung des Rassismus oder, genauer gesagt, ein gegen die Weißen gerichteter Rassismus. Ich begriff im übrigen nicht so recht, wie es kam, daß ich im Verlauf der Jahre immer stärker einem Araber glich: Meine Mutter war spanischer Abstammung und mein Vater, soweit ich weiß, Bretone. Meine Schwester zum Beispiel, diese dumme Nudel, stammte vom Typ her eindeutig aus dem Mittelmeerraum, aber ihre Hautfarbe war nicht halb so dunkel wie meine, und sie hatte glattes Haar. Man konnte sich durchaus fragen, ob meine Mutter es mit der Treue immer so genau genommen hatte. Oder ob ich womöglich irgendeinen Mustafa als Erzeuger hatte. Oder sogar – eine weitere Hypothese – einen Juden? Aber fuck with that: Araber kamen in Scharen zu meinen Auftritten – Juden übrigens auch, wenn auch nicht ganz so zahlreich; und alle zahlten den vollen Eintrittspreis. Man fühlt sich vom eigenen Tod und dessen Umständen ohne Zweifel betroffen; von der eigenen Geburt dagegen und deren Umständen nicht unbedingt so sehr.

Und was die Menschenrechte anging, so hatte ich damit natürlich nichts am Hut; ich hatte schon Mühe genug, mich für die Rechte meines Schwanzes zu interessieren.

Auf diesem Gebiet hat sich mein erster Erfolg im Ferienclub bei meiner späteren Karriere durchaus bestätigt. Frauen haben im allgemeinen wenig Humor, und deshalb betrachten sie den Humor als eine männliche Eigenschaft; die Gelegenheiten, mein Organ in eine der dazu geeigneten Körperöffnungen einzuführen, haben mir also während meiner ganzen Karriere nicht gefehlt. Aber, ehrlich gesagt, waren diese Geschlechtsakte nicht sonderlich aufregend: Frauen, die sich für Komiker interessieren, sind im allgemeinen nicht mehr ganz jung, gehen schon auf die Vierzig zu und spüren, daß es bald bergab geht. Die einen hatten einen dicken Hintern, die anderen Brüste wie leere Mehlsäcke und manche beides. Kurz gesagt, sie konnten einen nicht besonders anmachen; und wenn die Erektionen nachlassen, interessiert man sich weniger für die Sache. Aber sie waren auch nicht direkt alt; ich wußte, daß sie, wenn sie auf die Fünfzig zugingen, wieder auf der Suche nach unaufrichtigen, beruhigenden, leicht zu habenden Abenteuern waren – die sie übrigens nicht fanden. In der Zwischenzeit konnte ich ihnen nur – unwillkürlich, denn das ist nie sehr angenehm, glauben Sie mir das – bestätigen, daß ihr erotisches Kapital im Wert sank; ich konnte nur bestätigen, daß sie mit ihrem Verdacht recht hatten, und ihnen ungewollt ein trostloses Bild vom Leben vermitteln: Nein, nicht die Reife erwartete sie, sondern nur das Alter; der Weg, der vor ihnen lag, führte nicht zu einem erneuten Aufblühen, sondern zu einer Reihe von Frustrationen und schmerzvollen Dingen, die anfangs kaum merklich waren, sehr bald aber unerträglich wurden; all das war nicht sehr aufmunternd, nicht sehr aufmunternd. Das Leben beginnt mit Fünfzig, das stimmt – wenn man davon absieht, daß es mit Vierzig endet.

Daniel24,1

Schau dir die kleinen Wesen an, die sich dort in der Ferne bewegen; schau sie dir an.  Das sind Menschen.

Im abnehmenden Licht sehe ich ohne Bedauern zu, wie die Menschheit verschwindet. Der letzte Sonnenstrahl streift die Ebene, gleitet über die Bergkette, die im Osten den Horizont versperrt, und taucht die öde Landschaft in rötliches Licht. Das Drahtgitter des Elektrozauns, der das Anwesen umgibt, glitzert. Fox knurrt leise; er spürt vermutlich die Nähe der Wilden. Ich habe nicht das geringste Mitleid mit ihnen und auch nicht das Gefühl, irgendwie mit ihnen verwandt zu sein. Für mich sind sie nur Affen, die ein bißchen intelligenter als richtige Affen und daher auch gefährlicher sind. Manchmal schließe ich das Tor auf, um ein Kaninchen oder einen streunenden Hund zu retten, doch nie, um einem Menschen zu helfen.

Es käme mir auch nie in den Sinn, ein Weibchen ihrer Spezies zu begatten. Die bei Wirbellosen und Pflanzen häufig territorial geprägte artspezifische Schranke ist bei den höheren Wirbeltieren zumeist verhaltensgeprägt.

Irgendwo in Central City wird ein Wesen entwickelt, das mir gleicht; zumindest hat es meine Züge und meine inneren Organe. Wenn mein Leben zu Ende ist, wird nach ein paar Nanosekunden das Ausbleiben des Signals festgestellt, und sogleich wird mit der Herstellung meines Nachfolgers begonnen. Schon am nächsten oder spätestens am übernächsten Tag wird das Tor im Elektrozaun geöffnet, und dann läßt sich mein Nachfolger in dieser Residenz nieder. An ihn richtet sich dieses Buch.

Der erste Piercesche Lehrsatz vollzieht die Gleichsetzung der Persönlichkeit mit dem Gedächtnis. Die Persönlichkeit umfaßt nichts anderes als das, was sich im Gedächtnis festhalten läßt (egal ob es sich dabei um ein kognitives, prozedurales oder affektives Gedächtnis handelt); dem Gedächtnis verdanken wir zum Beispiel, daß der Schlaf nicht das Gefühl der Identität zerstört.

Dem zweiten Pierceschen Lehrsatz zufolge beruht das kognitive Gedächtnis auf der Sprache.

Der dritte Piercesche Lehrsatz definiert die Bedingungen einer nicht verzerrten Sprache.

Die drei Pierceschen Lehrsätze sollten den riskanten Versuchen ein Ende machen, mit Hilfe eines Datenverarbeitungsgeräts das Gedächtnis downloaden zu wollen, um statt dessen einerseits einen direkten Molekültransfer vorzunehmen und andererseits das weiterzuentwickeln, was uns heute unter dem Namen Lebensbericht bekannt ist und was zunächst nur als einfache Ergänzung, als vorläufige Lösung, konzipiert war, aber in Anlehnung an die Arbeiten von Pierce große Bedeutung gewann. Seltsamerweise sollte dieser entscheidende Fortschritt auf dem Gebiet der Logik somit eine alte Form wieder zur Geltung bringen, die im Grunde dem ziemlich nahe kommt, was früher eine Autobiographie genannt wurde.

Daniel1,2

»Wenn man sieht, welchen Erfolg

die Sonntage ohne Auto und die

Spaziergänge auf den Uferstraßen haben,

kann man sich gut vorstellen,

wohin das führt…«

Gérard – Taxifahrer

Ich kann mich heute beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, warum ich meine erste Frau geheiratet habe; wenn ich ihr auf der Straße begegnete, würde ich sie vermutlich nicht einmal wiedererkennen. Manche Dinge vergißt man einfach, vergißt sie tatsächlich; die Annahme, daß alles im Gedächtnis gespeichert wird, ist ein Irrtum; manche, sogar die meisten Begebenheiten werden ganz einfach getilgt, sie hinterlassen keine Spur, als hätte es sie nie gegeben. Um auf meine Frau zurückzukommen, meine erste Frau jedenfalls, glaube ich sagen zu können, daß wir zwei oder drei Jahre zusammengelebt haben; als sie schwanger wurde, habe ich sie fast augenblicklich sitzen lassen. Ich hatte damals noch keinen Erfolg, und daher hat sie nur eine dürftige Unterhaltsrente bekommen.

An dem Tag, an dem mein Sohn Selbstmord beging, habe ich mir Rührei mit Tomaten zubereitet. »Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe«, meint der Prediger Salomo zu Recht. Ich hatte dieses Kind nie geliebt: Es war so dumm wie seine Mutter und so gemein wie sein Vater. Sein Tod war wirklich keine Katastrophe; auf solche Menschenwesen kann man verzichten.

Nach meinem ersten Auftritt vergingen zehn Jahre, die von sporadischen, ziemlich unbefriedigenden Abenteuern gekennzeichnet waren, ehe ich Isabelle kennenlernte. Ich war damals neununddreißig und sie siebenunddreißig; ich hatte großen beruflichen Erfolg. Als ich die erste Million Euro verdient hatte (damit meine ich, als ich sie wirklich verdient hatte, nach Abzug der Steuern und sicher angelegt), begriff ich, daß ich keine Figur aus Balzacs Romanen war. Eine Balzacsche Figur, die gerade eine Million Euro verdient hätte, würde darüber nachgrübeln, wie sie an die zweite Million herankommt, zumindest traf das auf die meisten von ihnen zu – mit Ausnahme der wenigen, die von dem Moment an zu träumen beginnen, in dem sie in zweistelligen Zahlen rechnen können. Ich dagegen fragte mich vor allem, ob ich meine Karriere nicht abbrechen könnte – ehe ich beschloß, es nicht zu tun.

In den ersten Phasen meines Aufstiegs zu Ruhm und Reichtum hatte ich gelegentlich die Freuden des Konsums genossen, durch die sich unser Zeitalter den vorangegangenen so überlegen zeigt. Man konnte endlos die Frage wälzen, ob die Menschen in den früheren Jahrhunderten glücklicher waren als wir oder nicht; man konnte das Verschwinden der Religionen oder die Schwierigkeiten, sich zu verlieben, kommentieren, die Vor- und Nachteile dieser Entwicklung gegeneinander abwägen; konnte das Aufkommen der Demokratie, den Verlust des Sinns für das Heilige, den Zerfall der sozialen Bande anführen. Ich hatte es übrigens in vielen meiner Sketche, wenn auch in humoristischer Form, getan. Man konnte sogar den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt in Frage stellen und den Verdacht äußern, daß die Verbesserungen in der Medizin zum Beispiel die soziale Kontrolle verstärkt und ganz allgemein die Freude am Leben verringert haben. Es ließ sich jedoch nicht leugnen, daß das 20.Jahrhundert auf dem Gebiet des Massenkonsums allen anderen Jahrhunderten überlegen war: In keiner anderen Zivilisation, zu keiner anderen Epoche hatte es etwas gegeben, das sich mit der Perfektion eines schnell reagierenden zeitgenössischen Einkaufszentrums vergleichen ließ, das auf Hochtouren lief. Ich hatte also mit dem Konsumrausch Bekanntschaft gemacht, vor allem was Schuhe anging, aber nach und nach verlor ich die Freude daran und begriff, daß mein Leben ohne dieses elementare, immer wieder erneuerte Vergnügen fortan nicht mehr so einfach sein würde.

Zu der Zeit, als ich Isabelle kennenlernte, war ich bei etwa sechs Millionen Euro angelangt. Eine Balzacsche Figur würde sich in diesem Stadium eine Prachtwohnung kaufen, die sie mit Kunstgegenständen füllt, und sich wegen einer Tänzerin zugrunde richten. Ich wohnte in einer banalen Dreizimmerwohnung im 14. Arrondissement und hatte noch nie mit einem Top-Model geschlafen – hatte nicht mal die geringste Lust darauf verspürt. Ich hatte wohl nur einmal mit einem halbwegs bekannten Mannequin kopuliert; aber sie hat keinen unauslöschlichen Eindruck auf mich hinterlassen. Die Frau war nicht schlecht, hatte ziemlich große Brüste, aber auch nicht größer als viele andere; letztlich war ich nicht so gekünstelt wie sie.

Das Gespräch fand in der Garderobe nach einem Auftritt statt, den man wohl als triumphal bezeichnen darf. Isabelle war damals Chefredakteurin von Lolita, nachdem sie lange bei 20Ans gearbeitet hatte. Ich hatte anfangs keine große Lust auf dieses Interview. Beim Durchblättern der Zeitschrift war ich überrascht, was für ein unglaublich beknacktes Niveau die Zeitschriften für junge Mädchen hatten: T-Shirts in der Größe für Zehnjährige, weiße enge Shorts, der String, der auf allen Seiten hervorschaute, die kalkulierte Verwendung von Chupa-Chups … nichts fehlte. »Ja, aber sie sind seltsam positioniert…«, hatte die Pressefrau nachdrücklich gesagt. »Und die Tatsache, daß die Chefredakteurin persönlich kommt, ist doch, finde ich, ein gutes Zeichen…«

Es scheint Leute zu geben, die nicht an die Liebe auf den ersten Blick glauben; auch wenn sie nicht immer buchstäblich durch den allerersten Blick ausgelöst wird, läßt sich nicht leugnen, daß man die gegenseitige Anziehung sehr schnell spürt; schon in den ersten Minuten, in denen ich mich mit Isabelle unterhielt, wußte ich, daß sich zwischen uns etwas abspielen und daß es eine lange Geschichte sein würde; ich wußte auch, daß ihr das klar war. Nach ein paar anfänglichen Fragen über Lampenfieber, die Methode, wie ich mich vorbereitete, usw., verstummte sie. Ich blätterte erneut die Zeitschrift durch.

»Das sind doch keine richtigen Lolitas…«, bemerkte ich schließlich. »Sie sind sechzehn oder siebzehn.«

»Ja«, räumte sie ein. »Nabokov hat sich um fünf Jahre geirrt. Den meisten Männern gefällt an den jungen Mädchen nicht die Zeit vor der Pubertät, sondern der Moment direkt danach. Wie auch immer, er ist kein besonders guter Schriftsteller.«

Ich habe diesen mittelmäßigen, manierierten Pseudodichter auch nie ausstehen können, der Joyce so ungeschickt nachzuahmen versuchte und nicht einen Funken von dem Feuer hatte, das einen die gelegentliche Anhäufung von Schwerfälligkeiten bei dem verrückten Iren verzeihen läßt. Mich hat Nabokovs Stil immer an einen mißlungenen Blätterteig erinnert.

»Ja«, fuhr sie fort, »aber wenn ein so schlecht geschriebenes Buch, das noch dazu durch einen groben Fehler hinsichtlich des Alters der Protagonistin gehandikapt ist, trotzdem als ausgezeichnetes Buch durchgeht, das sogar zu einem dauerhaften Mythos geführt und Eingang in die Umgangssprache gefunden hat, kann das nur heißen, daß der Autor an etwas Wesentliches gerührt hat.«

Wenn wir uns über alles einig waren, drohte das Interview ziemlich langweilig zu wirken. »Vielleicht können wir die Diskussion beim Essen weiterführen…«, schlug sie vor. »Ich kenne ein tibetisches Restaurant in der Rue des Abbesses.«

Wie bei allen ernsten Geschichten haben wir schon in der ersten Nacht miteinander geschlafen. Als sie sich auszog, wirkte sie erst ein wenig verlegen und dann plötzlich stolz: Ihr Körper war unglaublich straff und geschmeidig. Erst viel später sollte ich erfahren, daß sie siebenunddreißig war; im ersten Augenblick schätzte ich sie auf höchstens dreißig.

»Was tust du, um dich so in Form zu halten?« fragte ich.

»Klassisches Ballett.«

»Kein Stretching, Aerobic oder so was Ähnliches?«

»Nein, das ist alles völliger Humbug; das kannst du mir glauben, ich arbeite schließlich nicht umsonst seit zehn Jahren für Frauenzeitschriften. Das einzige, was wirklich Effekt hat, ist klassisches Ballett. Aber das ist ganz schön hart, das erfordert eiserne Disziplin; doch das stört mich nicht, ich bin ziemlich rigide.«

»Was, du und rigide?«

»Ja, ja … du wirst schon sehen.«

Wenn ich an Isabelle zurückdenke, dann wundert mich vor allem, wie offen und ungezwungen unsere Beziehung von Anfang an war, sogar was Themen anging, die Frauen im allgemeinen lieber mit einem Schleier des Geheimnisses umgeben, weil sie in dem Irrglauben sind, daß Geheimnisse den erotischen Reiz einer Beziehung steigern, dabei finden die meisten Männer eine direkte sexuelle Anmache viel aufreizender. »Es ist nicht sehr schwer, einen Mann zum Orgasmus zu bringen…«, hatte sie beim Abendessen in dem tibetischen Restaurant halb im Spaß, halb im Ernst zu mir gesagt. »Mir ist es auf jeden Fall immer gelungen.« Und damit hatte sie recht. Sie hatte ebenfalls recht, wenn sie behauptete, daß dieses Geheimnis nichts Besonderes und auch nichts Seltsames hat. »Man darf nur nie vergessen«, fuhr sie seufzend fort, »daß Männer auch einen Sack haben. Daß sie einen Pimmel haben, das wissen die Frauen nur zu gut, denn seit die Männer zu einem Sexualobjekt herabgewürdigt worden sind, interessieren sich die Frauen nur noch für den Pimmel; aber wenn sie mit einem Typen schlafen, vergessen sie fast immer, daß auch die Eier ein höchst empfindliches Organ sind. Egal, ob es sich um eine Masturbation, eine Penetration oder um eine Lutschpartie handelt, ab und an muß man die Eier in die Hand nehmen und sie mehr oder weniger intensiv streicheln oder sie gar pressen, das hängt davon ab, wie fest sie sind, aber das merkt man sofort. Das ist alles.«

Es war etwa fünf Uhr morgens, ich war gerade in ihr gekommen und fühlte mich so richtig wohl, es war eine friedliche, zärtliche Atmosphäre, und ich spürte, daß jetzt wohl eine glückliche Phase meines Lebens begann, als ich plötzlich ohne besonderen Grund die Inneneinrichtung ihres Schlafzimmers wahrnahm – ich erinnere mich noch, daß das Mondlicht auf eine Graphik fiel, die ein Rhinozeros darstellte, eine alte Graphik, wie man sie in Enzyklopädien der Tierwelt aus dem 19.Jahrhundert findet.

»Gefällt es dir bei mir?«

»Ja, du hast Geschmack.«

»Wundert es dich, daß jemand, der bei einer beschissenen Zeitschrift arbeitet, Geschmack hat?«

Es würde wirklich nicht so einfach sein, ihr zu verheimlichen, was ich dachte. Diese Feststellung erfüllte mich erstaunlicherweise mit einer gewissen Freude; ich vermute, daß das wohl eines der Anzeichen für wahre Liebe ist.

»Ich werde gut bezahlt … Und das ist schon ein hinreichender Grund.«

»Wieviel?«

»Fünfzigtausend Euro im Monat.«

»Das ist allerdings viel, aber im Moment verdiene ich noch mehr.«

»Das ist normal. Du bist wie ein Gladiator in der Arena. Völlig normal, daß du dafür gut bezahlt wirst: Du setzt dein Leben aufs Spiel, in jedem Augenblick kann Schluß sein.«

»Ach, weißt du…«

Das sah ich etwas anders, und ich erinnere mich, daß ich mich auch darüber wieder gefreut habe. Es ist schön, wenn man mit jemandem völlig einverstanden und sich in allen Dingen mit ihm einig ist – anfangs ist das sogar unerläßlich; aber kleine Meinungsverschiedenheiten sind auch nicht schlecht, und sei es nur, um sie anschließend in einer lockeren Unterhaltung auszuräumen.

»Ich nehme an, daß du mit ziemlich vielen Frauen geschlafen hast, die zu deinen Auftritten gekommen sind…«, fuhr sie fort.

»Ja, mit einigen.«

In Wirklichkeit waren es gar nicht so viele: vielleicht fünfzig, höchstens hundert; aber ich sagte ihr nicht, daß die Nacht, die wir gerade verbracht hatten, mit Abstand die schönste war; ich spürte, daß sie es wußte. Nicht aus Überheblichkeit oder übertriebener Eitelkeit, sondern rein intuitiv, einfach, weil sie einen ausgeprägten Sinn für menschliche Beziehungen hatte und auch, weil sie ihre eigene erotische Ausstrahlung genau einzuschätzen wußte.

»Frauen, die von Männern, die im Rampenlicht stehen, sexuell angezogen sind«, fuhr sie fort, »suchen nicht nur die Berühmtheit, sondern sie spüren, daß einer, der im Rampenlicht steht, ständig seine Existenz aufs Spiel setzt, denn das Publikum ist wie ein wildes Tier, das sein Geschöpf in jedem Augenblick wegjagen, es zwingen kann, schmachvoll, unter dem Gespött der Menge davonzulaufen. Die Belohnung, die sie dem zu bieten haben, der seine Existenz auf der Bühne aufs Spiel setzt, ist ihr Körper; das ist genau wie mit den Gladiatoren oder den Stierkämpfern. Es wäre dumm, sich einzubilden, daß diese primitiven Mechanismen verschwunden sind: Ich kenne sie, ich setze sie ein, ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt damit. Ich kenne genau die erotische Anziehungskraft eines Rugbyspielers, die eines Rockstars, eines Schauspielers oder eines Rennfahrers: All das läuft nach einem alten Schema ab, das nur gewissen zeit- oder modebedingten Schwankungen unterliegt. Ein gutes Teeny-Magazin versteht es, diese Schwankungen ein wenig zu antizipieren.«

Ich dachte eine gute Minute lang nach; ich mußte ihr meinen Standpunkt auseinandersetzen. Das war wichtig oder auch nicht – sagen wir besser, ich hatte Lust dazu.

»Du hast völlig recht…«, sagte ich. »Allerdings mit der Einschränkung, daß ich gar nichts aufs Spiel setze.«

»Wie meinst du das?« Sie richtete sich im Bett auf und blickte mich überrascht an.

»Selbst wenn das Publikum Lust haben sollte, mich abzuservieren, kann es das nicht tun; es gibt niemanden, den es an meine Stelle setzen kann. Ich bin ganz einfach unersetzlich.«

Sie runzelte die Stirn und blickte mich an; es war inzwischen hell geworden, und ich sah, wie sich ihre Brustwarzen beim Atmen bewegten. Ich hatte Lust, eine in den Mund zu nehmen, daran zu saugen und an nichts mehr zu denken, aber ich sagte mir, daß es wohl besser war, wenn ich ihr ein wenig Zeit zum Nachdenken ließ. Dazu brauchte sie nicht mehr als dreißig Sekunden; sie war wirklich eine intelligente Frau.

»Du hast recht«, sagte sie. »Du bist jemand, der eine völlig unnormale Offenheit besitzt. Ich weiß nicht, ob irgendein besonderes Ereignis in deinem Leben dafür verantwortlich ist oder ob es durch deine Erziehung oder sonstwas ausgelöst wurde; auf jeden Fall besteht kaum die Chance, daß sich so ein Phänomen in dieser Generation wiederholt. Die Leute brauchen dich tatsächlich, mehr als du sie brauchst – die Leute in meinem Alter zumindest. In ein paar Jahren dürfte sich das ändern. Du kennst ja die Zeitschrift, für die ich arbeite: Wir versuchen eine Welt zu propagieren, in der sich die Leute nur noch für gekünstelte, oberflächliche Dinge interessieren; Ernst oder Humor haben darin keinen Platz mehr, statt dessen stürzen sich die Leute bis zu ihrem Tod in eine Suche nach fun und Sex, die immer verzweifelter wird, eine Generation von endgültigen kids. Und das wird uns auch garantiert gelingen; in einer solchen Welt hast du dann keinen Platz mehr. Aber ich nehme an, daß das nicht allzu schlimm ist, du hast sicher Zeit genug gehabt, um eine ordentliche Summe Geld zu sparen.«

»Sechs Millionen Euro.«

Ich hatte mechanisch, gedankenlos geantwortet; mich beschäftigte seit mehreren Minuten eine andere Frage: »Deine Zeitschrift … Du hast natürlich recht, ich habe mit deinen Lesern so gut wie gar nichts gemein. Ich bin zynisch und verbittert, das kann im Grunde nur Leute interessieren, die einen gewissen Zweifel zulassen, Leute, die sich in einer Art Untergangsstimmung befinden. Das Interview paßt nicht zu der Politik, die ihr betreibt.«

»Da hast du recht…«, sagte sie mit erstaunlicher Ruhe, wie ich rückblickend sagen muß, denn Isabelle war so offen und ehrlich, so unbegabt für die Lüge. »Das Interview wird nie erscheinen; das war nur ein Vorwand, um dich zu treffen.«

Sie blickte mir fest in die Augen, und ich war derart erregt, daß diese Worte genügten, um eine Erektion bei mir hervorzurufen. Ich glaube, sie war über diese so sentimentale, so menschliche Reaktion richtig gerührt; sie schmiegte sich an mich, legte den Kopf an meine Schulter und begann mich zu wichsen. Sie ließ sich Zeit, nahm meine Eier in die Hand und bewegte die Finger mal schneller, mal langsamer und mit unterschiedlichem Druck. Ich entspannte mich, überließ mich ganz ihrer Liebkosung. Etwas entstand zwischen uns, ein Zustand der Unschuld gleichsam, ich war offensichtlich nicht ganz so zynisch, wie ich geglaubt hatte. Sie wohnte im 16. Arrondissement auf den Höhen von Passy; in der Ferne führte eine Metrobrücke über die Seine. Der Tag begann, der Lärm des Verkehrs wurde hörbar; Sperma spritzte auf ihre Brust. Ich nahm sie in die Arme.

»Isabelle…«, flüsterte ich ihr ins Ohr, »ich würde gern hören, wie du bei dieser Zeitschrift gelandet bist.«

»Das ist erst ein gutes Jahr her, wir haben bisher 14Nummern von Lolita herausgebracht. Ich habe sehr lange bei der Zeitschrift 20Ans gearbeitet, in allen Bereichen; Evelyne, die Chefredakteurin, hat sich ganz auf mich verlassen. Zum Schluß, kurz bevor die Zeitschrift aufgekauft wurde, hat sie mich zu ihrer Stellvertreterin ernannt; das war wohl auch das mindeste, denn seit zwei Jahren hatte ich ihre ganze Arbeit gemacht. Und trotzdem haßte sie mich; ich erinnere mich noch an den haßerfüllten Blick, den sie mir zuwarf, als sie mir die Einladung von Lajoinie übergab. Du weißt doch, wer Lajoinie ist, der Name sagt dir sicher was, oder?«

»Ein bißchen…«

»Ja, er ist in der Öffentlichkeit nicht sehr bekannt. Er war Aktionär von 20Ans, keiner der Hauptaktionäre, aber er hatte die anderen zu dem Verkauf überredet; eine italienische Gruppe hat die Zeitschrift übernommen. Evelyne wurde natürlich vor die Tür gesetzt; die Italiener waren bereit, mich zu behalten, aber die Tatsache, daß Lajoinie mich zum Brunch an einem Sonntagmittag zu sich einlud, konnte natürlich nur bedeuten, daß er mir ein anderes Angebot machen wollte; das hat Evelyne natürlich gespürt, und das machte sie verrückt vor Wut. Er wohnte im Marais, ganz in der Nähe der Place des Vosges. Als ich dort ankam, habe ich zuerst einen richtigen Schock erlebt: Karl Lagerfeld war da, Naomi Campbell, Tom Cruise, Jade Jagger, Björk … Auf jeden Fall nicht die Kategorie von Leuten, mit denen ich bisher zusammengekommen war.«

»Hat er nicht eine Zeitschrift für Schwule gegründet, die sehr gut läuft?«

»Nein, die Sache ist ein bißchen anders: Ursprünglich hatte GQ als Zielgruppe nicht die Schwulen, sondern es war eher eine etwas abgehobene Macho-Zeitschrift: Supergirls, Autos und ein paar aktuelle Nachrichten aus dem Militärbereich; nach sechs Monaten haben sie dann gemerkt, daß unheimlich viel Schwule das Blatt kauften, doch das war eine Überraschung, ich glaube nicht, daß sie die Gründe dafür im einzelnen herausgefunden haben. Wie dem auch sei, kurz darauf hat er die Zeitschrift verkauft und damit die Branche ungeheuer beeindruckt: Er hat GQ zu einem Zeitpunkt verkauft, als sie ganz oben war und jeder glaubte, der Aufstieg würde immer noch weiter gehen, und dann hat er 21 gegründet. Seitdem ist es mit GQ ständig abwärts gegangen, ich glaube, sie haben landesweit 40% im Vertrieb verloren, und 21 ist zum ersten monatlich erscheinenden Herrenmagazin aufgestiegen – sie haben sogar Le Chasseur français übertroffen. Ihr Rezept ist ganz einfach: rein metrosexuell. Fitneß, Schönheitspflege, Modetendenzen. Nicht ein bißchen Kultur, keine Zeile über aktuelle Ereignisse, kein Humor. Kurz gesagt, ich fragte mich wirklich, was er mir anbieten wollte. Er hat mich sehr freundlich empfangen, mich allen Leuten vorgestellt und mir den Platz ihm gegenüber angeboten. ›Ich habe große Achtung vor Evelyne…‹ waren seine ersten Worte. Ich habe mich bemüht, nicht in die Luft zu gehen: Niemand konnte Achtung vor Evelyne haben; diese alte Schnapsnase konnte einem nur Verachtung, Mitleid, Abscheu und was weiß ich alles einflößen, aber auf keinen Fall Achtung. Später habe ich dann gemerkt, daß das die Methode war, wie er mit seiner Belegschaft umging: Er sagte nie etwas Schlechtes über jemanden, unter gar keinen Umständen; im Gegenteil, er war immer des Lobes voll über seine Mitarbeiter, auch wenn diese es überhaupt nicht verdienten – was ihn natürlich nicht davon abhielt, sie zu gegebener Zeit vor die Tür zu setzen. Mir war die Sache natürlich etwas peinlich, und daher versuchte ich das Gespräch auf 21 zu bringen.

›Wir müssen un-be-dingt…‹, er sprach seltsam abgehackt, betonte jede Silbe, fast so als drücke er sich in einer Fremdsprache aus, ›unsere Konkurrenz in-te-res-siert sich viel zu sehr für die a-me-ri-ka-nische Presse, habe ich den Eindruck. Wir sind doch Eu-ro-pä-er … Unser Vorbild ist und bleibt die eng-li-sche Presse…‹

Na gut, 21 hatte eindeutig ein englisches Konzept kopiert, aber GQ ebenfalls; das erklärte nicht, was ihn dazu bewogen hatte, von einer Zeitschrift zu einer anderen überzugehen. Hatte es vielleicht in England irgendwelche Untersuchungen gegeben, oder hatte sich das Interesse der Leserschaft gewandelt?

›Soweit ich weiß, nicht … Sie sind sehr hübsch…‹, fuhr er völlig unvermittelt fort. ›Man sollte Sie viel mehr in den Medien einsetzen…‹

Ich saß direkt neben Karl Lagerfeld, der unentwegt aß: Er nahm sich mit der Hand ein Stück gedünsteten Lachs nach dem anderen, tauchte es in die Dill-Sahnesoße und schob es in den Mund. Tom Cruise warf ihm ab und zu einen angewiderten Blick zu; Björk dagegen schien völlig fasziniert zu sein – man muß allerdings dazu sagen, daß sie schon immer versucht hatte, sich mit Sagadichtung, isländischer Energie usw. einen Namen zu machen, obwohl sie im Grunde völlig konventionell und äußerst manieriert war: Daher mußte der Anblick eines authentischen Wilden sie einfach faszinieren. Plötzlich wurde mir klar, daß man dem Modeschöpfer nur sein Rüschenhemd, seine Künstlerschleife, seinen Smoking mit Satinrevers auszuziehen und ihn in Tierfelle zu hüllen brauchte, und schon würde er völlig überzeugend die Rolle eines Teutonen aus Urzeiten spielen können. Er schnappte sich eine gekochte Kartoffel und bestrich sie reichlich mit Kaviar, ehe er sich an mich wandte: ›Man muß in den Medien präsent sein, wenigstens ein bißchen. Ich zum Beispiel bin ein großer Medienfreak. Ich bin geradezu mediengeil…‹ Ich glaube, er hatte gerade seine zweite Abmagerungskur abgebrochen, auf jeden Fall hatte er über die erste schon ein Buch geschrieben.

Irgend jemand legte Musik auf, es kam Bewegung in die Gruppe, ich glaube, Naomi Campbell begann zu tanzen. Ich starrte weiterhin Lajoinie an und wartete darauf, daß er mir ein Angebot machte. Aus lauter Verzweiflung knüpfte ich ein Gespräch mit Jade Jagger an, wir haben wohl über Formentera oder ein ähnlich leichtes Thema gesprochen, aber sie hat einen guten Eindruck auf mich gemacht, sie ist eine intelligente, lockere Frau; Lajoinie hatte die Augen halb geschlossen, als sei er eingeschlummert, aber ich glaube, daß er jetzt mein Verhalten den anderen gegenüber beobachtete – auch das gehörte zu der Methode, wie er mit seinen Mitarbeitern umging. Irgendwann hat er etwas gemurmelt, aber ich habe es nicht verstanden, die Musik war zu laut; dann warf er einen kurzen gereizten Blick nach links: Karl Lagerfeld ging inzwischen in einer Ecke des Raums auf den Händen; Björk sah ihm laut lachend dabei zu. Dann setzte sich der Modeschöpfer wieder neben mich, klopfte mir heftig auf die Schulter und brüllte: ›Alles klar? Alles klar?‹, ehe er Schlag auf Schlag drei Aale hinunterwürgte. ›Sie sind mit Abstand die hübscheste Frau hier! Da kommt keine von den anderen ran!…‹, dann machte er sich über die Käseplatte her; ich glaube, er war mir aufrichtig zugetan. Lajoinie sah ungläubig zu, wie er einen Livarot verschlang. ›Du bist wirklich ein geiler Freak, Karl…‹, flüsterte er; dann wandte er sich mir zu und sagte: ›Fünfzigtausend Euro.‹ Das war alles; mehr hat er an jenem Tag nicht gesagt.

Am folgenden Morgen bin ich in sein Büro gegangen, und da hat er mir etwas mehr erzählt. Die Zeitschrift sollte Lolita heißen. ›Das wichtigste dabei ist die Diskrepanz…‹, sagte er. Ich begriff in etwa, was er damit meinte: 20Ans zum Beispiel wurde vor allem von fünfzehn- oder sechzehnjährigen Mädchen gekauft, die den Eindruck hervorrufen wollten, sie seien total aufgeklärt, besonders, was Sex anging; mit Lolita wollte er die Sache umkehren. ›Unsere Zielgruppe beginnt bei den Zehnjährigen…‹, sagte er, ›aber es gibt keine Obergrenze.‹ Er ging davon aus, daß der Hang der Mütter, ihre Töchter zu imitieren, immer ausgeprägter würde. Es wirkt natürlich ein bißchen lächerlich, wenn eine Frau um die Dreißig eine Zeitschrift mit dem Titel Lolita kauft, aber auch nicht lächerlicher als ein hautenges Top oder superkurze Shorts. Außerdem ging er davon aus, daß das Gespür für Lächerlichkeit, das bei Frauen und insbesondere bei französischen Frauen sehr ausgeprägt war, allmählich verschwinden und durch einen regelrechten Jugendkult ersetzt werden würde.

Man muß schon sagen, daß er mit seiner Einschätzung recht behalten hat. Das Durchschnittsalter unserer Leserinnen ist achtundzwanzig – und jeden Monat nimmt es zu. Für die Werbefachleute sind wir inzwischen zur tonangebenden Frauenzeitschrift

Daniel24,2

Heute, da alles in der Helle der Leere erscheint, habe ich die Muße, den Schnee zu betrachten. Mein Vorgänger aus fernen Zeiten, der leidgeprüfte Komiker, hat sich hier in einer Residenz niedergelassen, die sich früher – wie Ausgrabungen und Fotografien bestätigen – am heutigen Standort der Einheit Proyecciones XXI,13 befand. Es handelte sich damals – das hört sich seltsam und ein wenig betrüblich an – um eine Residenz am Meer.

Das Meer ist verschwunden und auch die Erinnerung an die Wellen. Wir verfügen über Ton- und Bilddokumente; doch keines davon erlaubt uns, die hartnäckige Faszination – wie so viele Gedichte bezeugen – konkret zu empfinden, die die Menschen beim Anblick der sich anscheinend immer wieder auf dem Sand brechenden Wellen des Ozeans erfüllte.

Auch das erregende Gefühl bei der Jagd und beim Verfolgen der Beute können wir nicht verstehen, genausowenig wie die religiöse Ergriffenheit oder jene Art unbewegte, gegenstandslose Raserei, die die Menschen als mystische Ekstase bezeichnet haben.

Früher, als die Menschen zusammenlebten, verschafften sie sich mit Hilfe körperlicher Kontakte gegenseitige Befriedigung; das können wir verstehen, denn wir haben die Botschaft der Höchsten Schwester erhalten. Hier die Botschaft der Höchsten Schwester in der Sprache der Intermediation:

»Zugeben, daß die Menschen weder Würde besitzen noch Rechte haben; daß Gut und Böse einfache Begriffe sind, theoretisch wenig untermauerte Formen von Lust und Schmerz.

In allem die Menschen wie Tiere behandeln, die Verständnis und Mitleid verdienen, was ihre Seelen und ihre Körper angeht.

Nicht abweichen von diesem edlen, vortrefflichen Weg.«

Dadurch, daß wir den Pfad der Lust verlassen haben, ohne daß es uns gelungen ist, ihn zu ersetzen, haben wir nur eine der relativ spät entstandenen Tendenzen der Menschheit fortgesetzt. Als die Prostitution endgültig verboten worden war und das Verbot tatsächlich auf dem ganzen Erdball eingehalten wurde, begann für die Menschheit das graue Zeitalter. Sie haben es nie verlassen, jedenfalls solange nicht, bis die Herrschaft des Menschengeschlechts endgültig zu Ende war. Keine wirklich überzeugende Theorie, um das zu erklären, was allem Anschein nach ein kollektiver Selbstmord war, ist je formuliert worden.

Androide Roboter mit einer gut funktionierenden künstlichen Vagina kamen auf den Markt. Ein Expertensystem analysierte in Echtzeit die Beschaffenheit der männlichen Geschlechtsorgane, sorgte für die Temperatur- und Druckverteilung; ein radiometrischer Sensor ermöglichte es, die Ejakulation vorherzusehen, die Stimulation dementsprechend anzupassen und den Akt so lange wie gewünscht andauern zu lassen. Ein paar Wochen lang hatte dieses Produkt aufgrund der Neugier großen Erfolg, dann brach der Verkauf über Nacht zusammen: Die Firmen der Robotikbranche, von denen manche mehrere hundert Millionen Euro investiert hatten, meldeten eine nach der anderen Konkurs an. Dies wurde von einigen Kommentatoren als Ausdruck des Willens gewertet, zu menschlichen Beziehungen zurückzukehren, die natürlicher und authentischer waren; das war selbstverständlich ein eklatanter Irrtum, wie sich später klar herausstellen sollte: In Wirklichkeit waren die Menschen ganz einfach im Begriff aufzugeben.

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