Einige Monate in meinem Leben - Michel Houellebecq - E-Book

Einige Monate in meinem Leben E-Book

Michel Houellebecq

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Beschreibung

»Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich wie der Gegenstand einer Tierdokumentation; es fällt mir schwer, diesen Augenblick zu vergessen.«

Das E-Book Einige Monate in meinem Leben wird angeboten von DUMONT Buchverlag und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Houellebecq, Porno, Skandal, neues Buch, Interview, Zeitung, Kirac, le Figaro, Islam

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Seitenzahl: 108

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© Philippe Matsas, Flammarion

»Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich wie der Gegenstand einer Tierdokumentation; es fällt mir schwer, diesen Augenblick zu vergessen.«

MICHEL HOUELLEBECQ, 1958 geboren, gehört zu den wichtigsten Autoren der Gegenwart. Seine Bücher werden in über vierzig Ländern veröffentlicht. Für den Roman ›Karte und Gebiet‹ (2011) erhielt er den renommierten Prix Goncourt. Sein Roman ›Unterwerfung‹ (2015) stand wochenlang auf den Bestsellerlisten und wurde mit großem Erfolg für die Theaterbühne adaptiert und verfilmt. Zuletzt erschien der Roman ›Vernichten‹ (2022).

STEPHAN KLEINER, geboren 1975, lebt als literarischer Übersetzer in München. Er übertrug u.a. Geoff Dyer, Chad Harbach, Nick Hornby, Bret Easton Ellis, Charlie Kaufman und Hanya Yanagihara ins Deutsche.

MICHEL HOUELLEBECQ

EINIGE MONATEIN MEINEM LEBEN

(Oktober 2022 – März 2023)

Aus dem Französischenvon Stephan Kleiner

Die französische Originalausgabe erschien 2023

unter dem Titel ›Quelques mois dans ma vie‹ bei Flammarion, Paris.

© Michel Houellebecq und Flammarion, Paris, 2023

eBook 2023

© 2023 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Stephan Kleiner

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-6098-2

www.dumont-buchverlag.de

2022

Das medienwirksamste – aber nicht gravierendste – Ereignis im letzten Drittel des Jahres 2022 war für mich die Diskussion, die sich an meinem Gespräch mit Michel Onfray in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Front Populaire entzündete. Eher als eine Kontroverse um gewichtige Themen sehe ich darin einen Auswuchs meiner ewigen Zankereien mit den Muslimen. Ich verwende dieses kindliche Wort bewusst, um zu unterstreichen, wie viel Dummheit in diesen Querelen steckt – Dummheit, an der ich, das gebe ich ohne Zögern zu, mehr als einen bescheidenen Anteil gehabt habe.

Das gilt besonders für die erste Episode, die 2002, im Jahr nach der Veröffentlichung von Plattform, infolge eines Interviews im Magazin Lire Anlass zu einem Gerichtsprozess gab. Ich trage unbestreitbar die Hauptschuld daran, einige meiner Sätze strahlen eine Aggressivität aus, die ich in der Praxis nie empfinde; mich der »Aufstachelung zum Rassenhass« anzuklagen, war aber auch nicht ganz treffend. Das war unnötig beleidigend und verfehlte vor allem völlig das Thema. Wie jeder weiß, ist der Islam keine Rasse, sondern eine in der ganzen Welt und unter den verschiedensten ethnischen Gruppierungen verbreitete Religion.

Nicht nur ist der Islam keine Rasse, der Islamismus ist es ebenso wenig, und das wiederum war vor dem blutigen Anschlag von Bali, der so sehr an denjenigen in Plattform erinnert, etwas weniger bekannt.

Meine einzige Entschuldigung – sie ist allerdings nicht unbedeutend – besteht darin, dass ich dieses Interview nicht gegengelesen hatte. In einem mündlichen Interview kann man nicht nur alles Beliebige erzählen, man muss es oft auch tun, zumindest gilt das für bestimmte Menschen, die das Bedürfnis haben, extreme, ja widersprüchliche Vorschläge zu formulieren, ehe sie ihren eigenen erläutern; die gewissermaßen erst einmal das Feld des Sagbaren abstecken müssen. Zu diesen Personen gehöre ich ganz offensichtlich.

Eine dritte Quelle der Dummheit spielt eine Rolle bei der Entstehung des Konflikts, wenngleich es sich hier eher um Bosheit handelt. Ohne den vernichtenden Leitartikel von Pierre Assouline hätte es diese Affäre nie gegeben. Pierre Assouline verfolgt mich schon so lange mit einem so erbitterten Hass, dass ich es aufgegeben habe, die Ursache zu erörtern. Als ich auch ihn in seiner Eigenschaft als Herausgeber auf der Anklagebank sah, dachte ich an das berühmte Gleichnis vom Skorpion, der mitten auf dem anschwellenden Fluss das Nilpferd, das ihm beim Überqueren des Flusses hilft, in den Rücken sticht und sie so beide dem sicheren Tod ausliefert; alles in allem fand ich, er verdiene es ebenso sehr und mehr noch als ich, dort zu sitzen.

Die zweite Episode ereignete sich 2015 im Zuge der Veröffentlichung meines Romans Unterwerfung. Diesmal lag die Dummheit nicht bei mir. Unterwerfung ist auf keinen Fall, daran habe ich bis zuletzt festgehalten und tue es noch immer, ein »islamophober« Roman, und im Übrigen hat nicht ein einziger Geistlicher aus der muslimischen Gemeinschaft diesen Vorwurf geäußert. Die Dummheit liegt also auch nicht bei den Muslimen, sondern bei der altvertrauten Meute der Medienschwachköpfe, die mir im Nacken sitzen. Dummheit oder Bosheit? Pierre Assouline hat viele unangenehme Eigenschaften, aber er ist nicht dumm, zumindest nicht völlig. Bei anderen, wie etwa Ali Baddou, gerät man schon eher ins Zögern, man muss von Fall zu Fall entscheiden.

Ist Unterwerfung kein islamophober Roman, so ist er dagegen ohne jeden Zweifel ein zutiefst mehrdeutiger Roman, der die Mehrdeutigkeit im letzten Satz auf die Spitze treibt. Eines der bemerkenswertesten literarischen Komplimente, die man mir je gemacht hat, stammt von Emmanuel Carrère. Er vergleicht diesen letzten Satz, »Ich hätte nichts zu bereuen«, mit dem von 1984: »Er liebte den Großen Bruder.« Tatsächlich könnte »Ich hätte nichts zu bereuen« mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit bedeuten: »Ich hätte alles zu bereuen«. Und dieses »alles« ist nicht der Übertritt zum katholischen Glauben, der Huysmans glückte und seinem Exegeten ein Jahrhundert später missglückte. Es ist Myriam, seine verlorene jüdische Geliebte. Aber das Sujet der verlorenen Liebe und der Reue darüber, sie allein durch eigenes Verschulden verloren zu haben, sollte ich in meinem nächsten Roman Serotonin noch einmal auf eindringlichere Weise aufgreifen.

Ich verfehle selbst das Thema, ich rede zu viel über mich. Um auf das Gespräch mit Michel Onfray zurückzukommen, muss ich gestehen, dass ich beim nochmaligen Lesen der vom Leiter der Großen Moschee von Paris inkriminierten Stellen betreten war. Denn diesmal hatte ich das Interview zweifellos gegengelesen. Zwar handelte es sich um ein außerordentlich langes Interview und meine Aufmerksamkeit mochte bei einigen Abschnitten nachgelassen haben, aber das ist in diesem Fall wirklich keine gute Entschuldigung: In Anbetracht meiner Verbindlichkeiten dem Islam gegenüber hätte ich gerade diesen Abschnitten besondere Aufmerksamkeit schenken sollen.

Ich war betreten, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte; da schaltete sich Haïm Korsia, Oberrabbiner von Frankreich, ein und ermöglichte eine Begegnung. Meiner Ansicht nach konnte dieses Vorhaben allein einem religiösen Führer aus der jüdischen Gemeinschaft gelingen. Aus Gründen, die ich nicht weiter erläutern werde, war ich nur bereit, mich einem Vertreter der jüdischen Gemeinschaft anzuvertrauen.

Ein wenig aus Gewohnheit hatte ich die Auszüge, die man mir zum Vorwurf machte, irgendwo als »uneindeutig« bezeichnet; beim ersten Auszug war es leider schlimmer. Er war so knapp, so vage, dass er dadurch schlicht falsch und sogar dumm wurde. Ich gebe ihn hier wieder, da es notwendig ist:

Ich glaube, die – wie man so sagt – »angestammten« Franzosen wünschen sich überhaupt nicht, dass die Muslime sich assimilieren, sondern dass sie schlicht aufhören, sie zu bestehlen und sich ihnen gegenüber aggressiv zu verhalten, dass sie letztlich die Gesetze und die französische Bevölkerung achten. Oder eben, auch eine gute Lösung, dass sie wieder gehen.

Es ist nicht verwunderlich, dass der Leiter der Großen Moschee von Paris der Lektüre dieses Texts entnommen hat: »Sie haben gesagt, alle Muslime seien Diebe.« Ich bereue das aufrichtig und möchte mich bei allen Muslimen entschuldigen, die dieser Text womöglich gekränkt hat – also, wie ich fürchte, bei so gut wie allen. So dachte ich nie, ich dachte vielmehr nahezu das Gegenteil. Ich distanziere mich daher ohne Zögern von diesem idiotischen Text, den ich gern durch den folgenden ersetzen möchte:

Meiner Ansicht nach wünschen sich die – wie man so sagt – »angestammten« Franzosen nicht in erster Linie, dass die Muslime sich assimilieren. Die ganzen Geschichten über Schleier, Burkini, Halal-Ernährung etc. werden sie überhaupt nicht mehr interessieren, sobald sie die Muslime nicht mehr als Bedrohung ihrer Sicherheit wahrnehmen; und es liegt hier ein Phänomen vor, das nichts mit Nachdenken zu tun hat. Sobald sie nachdenken, erkennen diese »angestammten« Franzosen, dass die eifrige Ausübung einer wie auch immer gearteten Religion nicht mit Kriminalität vereinbar ist, dass es sich dabei um zwei radikal voneinander abweichende Lebenseinstellungen handelt. Aber man denkt nicht nach, wenn man Angst hat, und aufgrund empirischer Daten wissen sie ebenfalls, dass Viertel mit zahlreichen Muslimen auch Viertel mit zahlreichen Straftätern sind. Und sie tendieren logischerweise dazu, diese Viertel zu meiden. Was kann man da machen? Ich weiß es nicht. Betonen die Imame in ihren Predigten nicht ausreichend, dass Rauschgifthandel in den Augen des Islam nicht zulässig ist? Ich weiß es nicht. Und erzielen ihre Predigten irgendeine Wirkung? Auch das weiß ich nicht. Was ich weiß, oder was mir jedenfalls als offensichtlich erscheint, ist, dass wir es nicht mit einem Problem der Religion, sondern ganz einfach mit einem Kriminalitätsproblem zu tun haben. Man höre sich noch einmal die Sendungen an, die der Radiomoderator Maurice vor fünfundzwanzig Jahren auf Skyrock den sogenannten »heiklen« Banlieues gewidmet hat – einige sind im Internet verfügbar. Sie sind zeitlos, und es geht darin nie um den Islam. Fügt man allenthalben das Wort »Islam« hinzu, verschleiert man nur eine Frage, die Maurice mit völliger Klarheit abhandelte. Worum die Franzosen, angestammt oder nicht, bitten, ja, was sie einfordern, ist, dass Kriminelle aus dem Ausland tatsächlich ausgewiesen werden und dass die Justiz mit Straftätern, einschließlich der sogenannten »Kleinkriminellen«, allgemein strenger verfährt. Deutlich strenger.

Die Sätze mit Fragezeichen am Ende stellen, wie mir bewusst ist, den Leiter der Moschee vor ein schwieriges Problem. Der Islam, in diesem Punkt war er sehr deutlich, ist eine Religion, bei der vor allem das Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer zählt, ein Verhältnis, in das sich kein Klerus ernsthaft einmischen darf. Er hat seinerseits sehr wohl verstanden, dass ich aus einer anderen Kultur komme, geprägt von einem Katholizismus, dessen Klerus sich durch eine vertikale Struktur auszeichnet, die mit dem Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit in der Absurdität gipfelt. Das könnte in einigen Fällen zu unauflösbaren Situationen führen, nicht aber im vorliegenden, und ich wiederhole meine Schlussfolgerung: Das Problem ist nicht der Islam, es ist die Kriminalität. Und das letzte Wort gebührt dabei der Justiz, von der die Bürger schlicht erwarten, dass sie ihre Arbeit tut.

Der zweite Auszug, länger und dadurch fast automatisch weniger dumm, mündet leider in einer unbestimmteren und beängstigenderen Problematik. Ich gebe zunächst den ursprünglichen Text wieder:

Zu Beginn der echten Reconquista war Spanien wirklich unter muslimischer Herrschaft. In dieser Situation sind wir heute noch nicht ganz. Aber es lässt sich schon feststellen, dass die Leute sich bewaffnen. Sie beschaffen sich Gewehre, sie üben am Schießstand. Und das sind keine Heißsporne. Wenn ganze Landstriche wirklich unter muslimischer Kontrolle sein werden, dann wird es meiner Meinung nach zu Widerstandshandlungen kommen. Es wird Anschläge und Schießereien in Moscheen geben, in von Muslimen besuchten Cafés, kurz, umgekehrte Bataclans. Und die Muslime werden sich nicht damit begnügen, Kerzen und Blumensträuße niederzulegen. Also, ja, es kann alles ziemlich schnell gehen. Bemerkenswert an den Reaktionen auf den »Brief der Generäle« war doch unter anderem der Anteil der Franzosen, die einen Bürgerkrieg in der nahen Zukunft erwarten.

Nur besonders boshafte und falsche Personen, solche wie Edwy Plenel, konnten diesen Text für einen Aufruf zu gegen Muslime gerichteten Anschlägen halten. Das war eindeutig nicht der Fall; vielmehr schien dieser Text unleugbar darauf hinzuweisen, dass ich diesem »Anteil der Franzosen, die einen Bürgerkrieg in der nahen Zukunft erwarten« angehöre.

Auch das war nicht der Fall, und ich wollte das dringend in der folgenden Richtigstellung erklären:

Wenn ganze Landstriche wirklich unter muslimische Kontrolle fielen, käme es meiner Meinung nach zu Widerstandshandlungen. Es gäbe Anschläge und Schießereien in Moscheen, in von Muslimen besuchten Cafés, kurz, umgekehrte Bataclans. Und die Muslime würden sich nicht damit begnügen, Kerzen und Blumensträuße niederzulegen. Also, ja, es könnte alles ziemlich schnell gehen. Bemerkenswert an den Reaktionen auf den berühmten »Brief der Generäle« war doch unter anderem der Anteil der Franzosen, die einen Bürgerkrieg in der nahen Zukunft erwarten. Ich für meinen Teil glaube nicht, dass momentan die notwendigen Bedingungen herrschen. Die Voraussetzung dafür wäre, dass die Polizei nicht mehr wirksam in bestimmte Stadtbezirke vorrücken könnte; dem ist nicht so. Es ist nicht einfach, sie müssen mitunter schwere Geschütze auffahren, aber sie schaffen es. Eine weitere Voraussetzung wäre, dass selbst die Armee nicht mehr in diese Bezirke eindringen könnte, was ich im Augenblick für unwahrscheinlich halte. Eine letzte Voraussetzung wäre, dass die dschihadistische Fraktion der Salafisten, eine kleine Minderheit, die Oberhand über die quietistische Mehrheit gewinnt. Aus diesen Gründen erscheint mir ein Bürgerkrieg in Frankreich zur Stunde unwahrscheinlich. Man darf jedoch eine eigenartige, aber beständige Lehre aus der Geschichte nicht vergessen: Es sind nicht die Mehrheiten, die sie schreiben, sondern die gewaltsamen und entschlossenen Minderheiten. Nichts ließ zu Beginn der Französischen Revolution darauf schließen, dass eine extremistische Splittergruppe der Montagnards die Oberhand gewinnen und die Terrorherrschaft antreten würde. Nichts deutete zu Beginn der Russischen Revolution darauf hin, dass die Bolschewiken die Macht an sich reißen und umgehend mit der Errichtung des Gulags beginnen würden. Sicher, der Vergleich mit der gegenwärtigen Situation erscheint absurd: Die Dinge wiederholen sich nie auf identische Weise, die Russische Revolution ist anders verlaufen als die Französische Revolution, mit der Revolution in Iran verhält es sich wieder anders; dessen ungeachtet darf die Gefahr extremistischer Minderheiten niemals unterschätzt werden.