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Die zehnjährige Milli, die eigentlich Emilia heißt, lebt mit ihren Eltern Emma und Paul und dem kleinen Hund Paul II in einem Städtchen im US-Bundesstaat Maine. Das aufgeweckte Mädchen erklärt sich die Welt mit dem Computer. Das ist ein schlauer Bursche, der weiß manchmal schon vorher, was man wissen will. Wenn auch das nicht hilft, hat sie immer noch ihre beste Freundin Sophie, deren ältere Schwester über absolut alles Bescheid weiß. Eines Tages verspürt Milli Schmerzen, die zunächst niemand richtig ernst nimmt. Die Eltern sind mehr mit sich und ihrer Ehekrise beschäftigt, sie vermuten eine harmlose Entzündung und verschenken so wertvolle Zeit. Die wiederkehrenden Krämpfe sind kaum noch auszuhalten und dann taucht auch noch nachts ihr ehemaliger Schulfreund Timmy auf, der doch angeblich im Himmel ist. Aber das hat Milli sowieso nicht geglaubt. Die Erwachsenen erzählen ständig merkwürdige Geschichten. Leute, die sich die Cranberries von unten anschauen oder keine Nase mehr haben, all solche Sachen. Und außerdem, sie war schließlich selbst dabei, als Timmy in der Erde begraben wurde. Eine alte Frau, vor der sich die anderen Kindern des Ortes fürchten, weil sie eine Hexe sei, wird zu ihrer wichtigsten Verbündeten.
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Seitenzahl: 312
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L.U. Ulder
Für
Frau 1, die immer da ist.
Frau 2 für die schlaflosen Nächte.
Frau 3, die sowieso macht, was sie will.
Zum Inhalt:
Die zehnjährige Milli, die eigentlich Emilia heißt, lebt mit ihren Eltern Emma und Paul und dem kleinen Hund Paul II in einem Städtchen im US-Bundesstaat Maine. Das aufgeweckte Mädchen erklärt sich die Welt mit dem Computer. Das ist ein schlauer Bursche, der weiß manchmal schon vorher, was man wissen will. Wenn auch das nicht hilft, hat sie immer noch ihre beste Freundin Sophie, deren ältere Schwester über absolut alles Bescheid weiß.
Eines Tages verspürt Milli Schmerzen, die zunächst niemand richtig ernst nimmt. Die Eltern sind mehr mit sich und ihrer Ehekrise beschäftigt, sie vermuten eine harmlose Entzündung und verschenken so wertvolle Zeit.
Die wiederkehrenden Krämpfe sind kaum noch auszuhalten und dann taucht auch noch nachts ihr ehemaliger Schulfreund Timmy auf, der doch angeblich im Himmel ist.
Aber das hat Milli sowieso nicht geglaubt. Die Erwachsenen erzählen ständig merkwürdige Geschichten. Leute, die sich die Cranberries von unten anschauen oder keine Nase mehr haben, all solche Sachen. Und außerdem, sie war schließlich selbst dabei, als Timmy in der Erde begraben wurde.
Eine alte Frau, vor der sich die anderen Kindern des Ortes fürchten, weil sie eine Hexe sei, wird zu ihrer wichtigsten Verbündeten.
Die Möglichkeit von Glück
Inhaltsverzeichnis
1. Feuer und Wasser
2. Emilia, Himmelsdinge und der Engelsblick
3. Cupcakes und Schimpfworte
4. Nachtgespenster
5. Spurensuche
6. Die Seele brennt
7. Durchschaut
8. Phase Eins bis Drei
9. Freundinnen
10. Die Katastrophe
11. Nachts
12. Sexualkunde und ein nächtlicher Besucher
13. Erste Beobachtungen
14. Ahnungen
15. Kettenreaktion
16. Nicht an diesem Tag
17. Ein Verdacht
18. Entspannung und eine Schwesternfernbedienung
19. Biobzieh
20. Antworten, die niemand braucht
21. Schlechte Nachrichten und ein Plan
22. Bittere Wahrheiten
23. Ein Tropf, ein Trick
24. Ein Tunnel aus Licht
25. Stillstand und eine andere Welt
26. Was ist überzählige Zeit?
27. Die Suche nach der überzähligen Zeit
28. Eine Flasche voll Zeit
29. Die Zeit läuft
30. Die Möglichkeit von …., Glück?
31. Am Ende
Ein Dankeschön
Die Gegend um den Cobbosseecontee Stream herum ist früher Indianerland gewesen, heilige Erde der Urväter. Die Stämme der Kennebec, aber auch vereinzelte Arosaguntacooks trieben sich über Jahrhunderte dort herum. Sicher, auch ein paar Passamaquoddys und Mi'kmaqs hat man ab und zu gesehen. Das Gewässer zog sie magisch an. An ausgewählten, geheimen Stellen mit besonderer spiritueller Kraft pflegten sie ihre Riten und vor allem ihren althergebrachten Totenkult.
Tote bahrten sie auf hölzernen Plattformen oder in Bäumen auf und verbrannten sie. Rauch steigt auf, erst wenig, dann immer mehr. Man kann ihn verfolgen, wie er langsam in den Himmel aufsteigt, dicke Wolken, die sich auflösen und am Ende ganz verschwinden. Sinnbild für die Seele des Verbrannten, die in die ewigen Jagdgründe aufsteigt.
Andere glaubten an Adler, die die Seele des Toten mit ihren Krallen an den Schultern packten und hinauf in den Himmel trugen, der Seelenflug, all solche Dinge.
Als die Neuzeit hereinbrach, wurde es unmodern, Verstorbene in einem Baum zu stopfen und anzuzünden und dann kamen auch noch die Bürokratie und der Umweltschutz dazu, Auflagen über Auflagen.
Die Menschen verlegten sich schließlich ganz darauf, ein Loch zu scharren, ihre Verstorbenen in Särge zu legen, Deckel zu, etwas Erde darüber und er ist für immer verschwunden. Verschwunden tief unten im Bauch der Erde und er taucht nicht mehr auf.
Er taucht nicht mehr auf?
Nun, das ist ein anderes Thema.
Die Stämme jedenfalls sind längst vertrieben worden, viele der alten Riten zur Touristensensation verkommen. Das Land jedoch, um den Stream herum, ist immer noch heilig und an einigen verborgenen Stellen, die nur wenigen Sehenden bekannt sind, brodelt es geradezu vor spiritueller Energie.
Es geschehen immer noch seltsame Dinge hier und manchmal, aber wirklich nur manchmal, erfährt man von ihrer Existenz.
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand bereits vor Stunden passiert. Bevor sie sich endgültig daran machte, hinter dem Horizont das Weite zu suchen, tauchte sie die Landschaft Maines in ein warmes, freundliches Rotgold. Fast schien es, als wollte sie den Bewohnern einen Vorgeschmack auf den nicht mehr lange entfernten Indian Summer geben. In der Luft konnte man ihn riechen, den Abgesang des Sommers, eine Melange aus würzigen Hölzern, Blütendüften, Erde und Moos.
Emilia, die alle nur Milli nannten, hockte im Garten auf der verwitterten Bank, gleich neben der Magnolie, die ihre Blüten längst abgeworfen hatte. Emilia, das klang nach alter Oma mit Kopftuch, gestopften Socken und diesen hässlichen, abgeschnittenen Handschuhen, fand zumindest ihre beste Freundin Sophie.
»Und die Magnolie?«, hatte Dad geantwortet und verärgert sein Gesicht verzogen. »Wie ist die denn drauf? Die ist wie die Schlampe aus der Church Road, die sich nur einmal im Jahr für Thanksgiving anständig anzieht. Für zwei Wochen im Jahr sieht sie mit ihren Blüten chic zurechtgemacht aus, die restliche Zeit vernachlässigt sie sich und wirkt wie der Weihnachtsbaum vom vorletzten Jahr.«
»Sag nicht vor dem Kind solche Worte«, hatte Ma geschimpft.
Da waren Millis Ohren überhaupt erst größer geworden. Wieder so ein neues Wort, das sie nicht hören sollte und das deshalb so interessant war. Weil sie es sich nicht erklären konnte, gab sie es in den Computer ein. Das war ein schlauer Bursche, der wusste manchmal sogar schon vorher, was man wissen wollte. Nur bei dem Wort SCHLAMMPE klappte das irgendwie nicht.
Er fragte: Meinten Sie SCHLAMPE?
Und weil Milli die genaue Schreibweise nicht wusste, dachte sie JA und drückte auf den Knopf. Aber was darunter stand, warf noch viel mehr Fragen auf. Bevor ihr schwindelig davon wurde, beschloss sie, Sophie zu fragen. Die hatte ihre große Schwester, die über alles Bescheid wusste. Mit ihrer Hilfe würde sich das klären lassen.
Daran dachte Milli, als ihr Paul II zum wiederholten Mal den Ball vor die Füße legte und dabei auffordernd kläffte. Erstaunlich, wo der Hund den Ball immer wieder herzauberte. Sie hatte ihn unter die Büsche gepfeffert, er fand ihn mit traumwandlerischer Sicherheit. Genauso, als sie ihn über die hohen Hecken geworfen hatte. Die waren so hoch, dass sie im Sommer nicht darüber hinweg schauen konnte. Auch nicht, wenn sie sich auf die Sitzfläche der Bank stellte. Sie hatte auch versucht, sich auf die Rückenlehne der alten Bank zu stellen, aber das hatte Ma im Haus sofort spitzgekriegt und beinahe die Fensterscheibe kaputt geklopft, da war sie lieber wieder heruntergeklettert. Kaputte Fensterscheiben und wütende Mütter waren keine gute Kombination. Paul II jedenfalls lief zu der Stelle, an der der Ball die Hecke überquert hatte. Dort sah er, dass er nicht weiterkam, weil dahinter ein dichter Metallzaun war. Dann rannte er hinunter zur Einfahrt und verschwand auf der anderen Seite der Hecke. Jedenfalls dauerte es nicht lange und er stand wieder schwanzwedelnd vor ihr, den Ball im Maul. Ganz schön schlau für so einen kleinen Hund, das hätte sie so manchem aus ihrer Schulklasse nicht zugetraut.
Jetzt saß sie schon über eine Stunde hier draußen auf der Bank, weil sie Dad unbedingt von der Eins in Mathe berichten wollte. Das war wichtig, weil es sonst Ma tat und ihr die ganze Überraschung kaputtmachte, aber er tauchte einfach nicht auf. Um auf ihn zu warten, war das hier der beste Platz. Sie konnte Paul II mit dem Ball beschäftigen, weil er womöglich andauernd an ihr hochspringen und ihre Hose verschmutzen würde und sie konnte in die Einfahrt schauen.
Endlich, ein Motorengeräusch war zu hören, schnell wurde es lauter. Das konnte, das musste er sein. Milli warf den Ball besonders weit in die letzte Ecke des Gartens hinein, damit Paul II, der beinahe Paul III genannt worden wäre, eine Weile beschäftigt war.
Die Front eines blank geputzten, schwarzen Autos tauchte hinter der Hecke auf. Ihre erste Freude war jedoch sofort wieder verflogen, es war nur der Nachbar von gegenüber, der von der Arbeit kam und auf sein Grundstück fuhr. Kies knirschte unter den Reifen, Bremslichter flammten auf. Ein Mann im dunklen Anzug stieg aus. Ein graumelierter Kopf wurde gedreht, der Mann sah Milli auf der Bank sitzen und nickte freundlich herüber.
Aber die hatte längst enttäuscht die Unterlippe vorgeschoben. Jetzt wandte sie den Kopf abrupt zur Seite, und zwar genau so, dass er es sehen konnte. Was mussten die auch da einziehen, sagte sie sich. Es war schließlich Timmys Haus. Niemand hatte sie gebeten, hier angetanzt zu kommen. Als sie vor beinahe einem Jahr gegenüber einzogen, standen sie tatsächlich einige Tage später vor ihrem Haus und sie sollte ihnen auch noch die Hand geben. Aber da hatte sie nicht mitgespielt, nicht bei diesen Hausdieben.
»Milli!«, hatte Ma gesagt. »Das sind wirklich sehr nette Leute, die haben das Haus ganz normal gekauft. Es stand lange leer und wo Timmy doch jetzt im Himmel ist.«
Wieder so eine Lüge der Erwachsenen. Schließlich war sie selbst dabei gewesen, als er in die Erde gelegt wurde, wie sollte er da im Himmel sein? Er schaute sich die Cranberries von unten an, war so ein Spruch von Dad, wenn jemand gestorben war. Oder, er oder sie hat keine Nase mehr. Das hatte er jedenfalls von Timmys Mutter gesagt, und die Vorstellung kam ihr merkwürdig vor. Keine Nase mehr zu haben erinnerte sie an jemanden Berühmtes, aber dessen Name fiel ihr nicht mehr ein. Und dann sollte sie auch noch mit hinüber, weil die neuen Nachbarn alle anderen Nachbarn zum Barbecue eingeladen hatten. Und sie spürte instinktiv, dass sie mit einer einfachen Verweigerung nicht durchkommen würde, nicht bei Ma. Also machte sie es anders und sagte, dass sie sich schon so darauf freue, endlich mal wieder in Timmys Zimmer schauen zu können. Und Ma freute sich, weil Milli sich so freute. Und dann an dem Tag, als sie alle fein herausgeputzt hinübergehen sollten, war ihr furchtbar schlecht. Und sie schaute mit dem Blick, den Grandpa Harper immer so schön traurig fand. Der hatte sie mal angesehen und gemeint, dass sie mit ihren großen dunklen Augen so traurig aussehe wie ein Engel mit einem gebrochenen Flügel. Da hatte sie noch trauriger geguckt und Grandpa nahm sie auf den Schoß, drückte sie ganz fest und ließ einen Zehner springen. Den Zusammenhang von Ursache und Wirkung kannte sie wohl noch nicht, zumindest nicht wissentlich, aber sie hatte schnell genug gelernt, dass sich mit diesem traurigen Engelsblick etwas herausschlagen ließ. Das klappte eigentlich immer, na ja, fast immer. Ma fiel meistens nicht darauf herein.
An jenem Tag aber funktionierte er reibungslos und sie konnte zu Hause bleiben. Ausschlaggebend war sicher der Umstand, dass sie sich schon Tage vorher auf die Zimmerbesichtigung gefreut hatte. Manche Dinge wollen halt ein wenig vorbereitet werden.
Mit dem letzten Licht des Tages flog ein großer Schwarm Wildgänse mit lautem Geschnatter über das Haus hinweg. Sie kamen von den angrenzenden Feldern und zogen sich in die Sicherheit des nahen Naturschutzgebietes zurück. Milli schaute mit ihren großen, traurigen Augen hinauf. Und weil Paul II gerade genau vor ihr stand, schnappte sie ihn sich und zeigte ihm mit ausgestrecktem Arm die Vögel am Himmel.
»Schau mal, Pauli. Wenn wir auch fliegen könnten, dann könnten wir mal nachsehen, ob Timmy wirklich da oben im Himmel ist.«
Dem Hund aber fehlte jegliches Verständnis für Himmelsdinge und solche Sachen, er wand sich und zappelte unter dem Griff. Und weil er dabei so mit seinen Pfoten kratzte, setzte ihn Milli wieder zurück auf den Boden und machte mit dem Ballspiel weiter. Irgendwann rief Ma nach ihr, und weil Dad immer noch nicht gekommen war, schlurfte sie die wenigen Schritte zum Haus. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal um und machte ein letztes Mal den Engelsblick, aber heute funktionierte er nicht, also ging sie hinein. Mit einem satten Geräusch fiel die Tür ins Schloss. Anschließend kehrte eine behäbige Ruhe in das Wohnviertel am Rand der kleinen Ortschaft in Maine ein. Etwa eine Stunde vor Mitternacht erloschen die Lichter hinter den Fenstern im Haus, zuerst im Erdgeschoss, kurz danach wurden auch die letzten in der oberen Etage ausgeknipst. Die Dunkelheit hatte sich wie eine träge, schützende Hülle über das Gebäude und ihre Bewohner gelegt.
****
Drei Stunden später hob Paul II, der kleine Jack Russell Terrier, seinen Kopf. Er lauschte angespannt in den nur von einem Orientierungslicht erhellten Flur. Nach einem kurzen Augenblick voller Konzentration sprang der Hund von seinem Kissen auf und lief zu einer verschlossenen Tür. Mit einer Pfote kratzte er mit schnellen Bewegungen am Holz und schaute dabei leise jaulend nach oben zum Türgriff. Als sein Kratzen erfolglos blieb, drehte er sich um, lief mit tippelnden Schritten zurück und quetschte sich durch die nur einen spaltbreit offenstehende Tür in das Schlafzimmer der Eltern. Wieder jaulte er und machte sich mit einer Pfote am Bett bemerkbar. Genau in Höhe des Kopfkissens verursachten seine Krallen auf der stoffbespannten Oberfläche ein unangenehmes Geräusch. Es übertrug sich penetrant auf das ganze Bett und verfehlte seine Wirkung nicht.
»Paul II, verschwinde! Ich geh nicht mit dir raus. Geh wieder in dein Körbchen. Los, ab!«
Schlaftrunken verdrehte Emma die Augen und wollte sich zur anderen Seite drehen, aber der Hund gab keine Ruhe. Es schien, als würde er seine Bemühungen verstärken, nachdem sein Frauchen wach war.
»Was will denn der verdammte Köter?«, brummte Paul, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, auf den Hund zu reagieren. Emma wartete kurz, ob er sich vielleicht doch erbarmen und aufstehen würde, dann warf sie verärgert die Bettdecke zur Seite und stand schwungvoll auf.
»Na los, ich komme ja schon. Aber eins sage ich dir, ich lasse dich nur schnell vorn aus der Tür.«
Sie folgte dem Hund, der vorweg lief und bereits im Flur verschwunden war. Erstaunt stellte sie gleich darauf im trüben Licht fest, dass er nicht die Treppe hinunter gerannt war, sondern im oberen Stockwerk blieb und vor Millis Tür stand. Wieder benutzte er seine Pfote, schabte an der Tür und schaute dabei zu Emma hoch. Stirnrunzelnd schaltete die das Flurlicht ein, trat an das Zimmer ihrer Tochter heran und dirigierte den kleinen Hund mit dem Fuß vorsichtig zur Seite. Ein Ohr legte sie auf die Oberfläche und horchte konzentriert. Hören konnte sie nichts, deshalb drückte sie vorsichtig die Klinke nach unten, schob die Tür auf und trat in den Raum hinein.
Die Nachttischlampe und die Leuchte über dem Schreibtisch brannten. Das war ungewöhnlich, normalerweise begnügte sich Milli mit dem eingesteckten Nachtlicht. Sie mochte zum Einschlafen die völlige Dunkelheit genauso wenig wie eine eingeschaltete Lampe. Es musste immer gerade so viel Licht im Raum vorhanden sein, dass sie die Umrisse aller Gegenstände und Möbelstücke noch schwach erkennen konnte. Die Bettdecke war am Fußende auf den Boden gerutscht, auch das hatte sie noch niemals bei ihr gesehen. Sie trat direkt neben das Bett und erschrak beim Anblick ihrer Tochter. Das Mädchen lag in ihrem Nachthemd auf dem Rücken. Der gesamte Körper und die Beine waren starr durchgestreckt, wie bei einem starken Krampf. Die Beine lagen nur auf den Hacken auf, dadurch schienen die Waden zu schweben. Ihre kindlichen Hände ballten mit aller Kraft Fäuste und ließen die Knöchel hell heraustreten. Das ebenmäßige Gesicht war vor Anstrengung verzerrt, sie atmete flach und mit hoher Frequenz durch den weit geöffneten Mund. Emma setzte sich neben ihre Tochter auf das Bett und legte ihre Hand auf die Stirn. Haut und Haaransatz waren schweißnass, aber kühl. Im gleichen Moment bewegte Milli ruckartig den Kopf hin und her und wimmerte leise. Mit besorgtem Blick strich die Mutter über die Wange des Kindes.
»Hallo Milli. Wach auf. Du träumst nur schlecht.«
Weil keinerlei Reaktion erfolgte, schüttelte sie die Kleine an der Schulter, erst vorsichtig, dann immer energischer. Endlich reagierte sie, öffnete verhalten die Augen, als fürchte sie sich vor etwas. Das Mädchen richtete den Oberkörper auf und fing an, die Arme um sich zu werfen, ein Kampf mit unsichtbaren Dämonen. Nur mit Mühe gelang es Emma, die Hände zu erwischen und sie festzuhalten Milli öffnete die Augen, aber sie war noch nicht zurück, schien weit entfernt, immer noch in ihrer Traumwelt gefangen.
»Milli, ich bin’s, Ma. Wach auf. Es ist alles gut.«
Langsam, ganz langsam kehrte Milli in die Realität zurück, ihre Augen fanden wieder Halt, sie erkannte ihre Mutter. Sie stutzte kurz, dann klammerte sie sich mit beiden Armen an ihrem Oberkörper fest und begann, hemmungslos zu weinen.
»He, was ist denn los? Was hast du geträumt?«
Milli schüttelte den Kopf. Unfähig zu sprechen, presste sie sich umso fester an die Mutter.
****
»Was war denn letzte Nacht mit Milli los?«, fragte Paul kauend, als Emma am Morgen die Küche betrat.
Sie blieb im Türrahmen stehen und musterte ihren Mann, der auf einem der Thekenhocker hinter der Kochfläche saß, eindringlich. Er trug bereits seinen Anzug, ein Geschirrtuch war um seine Hüfte gebunden, um sich nicht zu bekleckern. Paul war auf dem Sprung ins Büro. Die Arbeitsplatte vor ihm war übersät mit Krümeln, ein benutztes Messer lag dicht am Rand.
»Oh, es interessiert dich also doch noch, was in dieser Familie vor sich geht.«
Sie legte soviel Süffisanz wie möglich in ihre Worte. Ohne ihn weiter zu beachten, trat sie in die Küche ein und öffnete den Kühlschrank. Sie konnte hören, wie er hinter ihr den Hocker wegschob und aufstand.
»Herrje, wie bist du denn heute Morgen drauf?«
»Ich mein ja nur. In der Nacht hast du dich ja nicht grade vorgedrängelt.«
Er grinste verlegen, während er an seine Frau herantrat.
»Ich wusste doch, dass sie bei dir viel besser aufgehoben ist als bei mir. Eine Mutter spürt doch eher, was ihrem Kind fehlt. Du weißt doch, die emotionale Nähe der Mutter und so. Sagt dir auch jeder Psychologe.«
Ein Arm umschlang von hinten ihre Schulter, die andere Hand wanderte über ihre schmale Taille. Normalerweise genoss sie seine zärtlichen Berührungen, sog dabei bewusst den Geruch seiner Haut und seines Aftershaves auf, seit einigen Tagen aber war alles anders.
»Ich weiß«, knurrte sie. »Mit dieser Ausrede verdrückst du dich bereits ihr ganzes Leben lang.«
»Und was war nun los? Du hast es mir immer noch nicht gesagt.«
Er ignorierte ihre zurückhaltende Kritik, also musste sie eins draufsetzen.
»Wann bist du gestern Abend nach Hause gekommen?«, ignorierte sie seine Frage. »Milli hat lange im Garten auf dich gewartet, es war beinahe dunkel. Irgendwann sind wir dann ins Bett gegangen, als wir gemerkt haben, dass es keinen Sinn macht, auf dich zu warten.«
Sie ärgerte sich, dass sie ihm bei dieser Frage nicht ins Gesicht schauen konnte. Dafür war er zu dicht an sie herangerückt und hielt sie fest, umdrehen konnte sie sich nicht. Täuschte sie sich oder war sein Griff während der Frage noch fester geworden?
»Überstunden. Das wird in der nächsten Zeit öfter vorkommen. Hatte ich dir doch gesagt. Die Planungen für die neue Filiale. Was war denn nun?«
»Sie hat schlecht geträumt. War völlig nass geschwitzt. Sie musste sich mitten in der Nacht umziehen und ich habe ihr Bett neu bezogen, so konnte sie unmöglich weiter schlafen.«
Sein Griff löste sich.
»Ach so. Ich dachte schon, es wäre etwas Schlimmes geschehen. Diese Träume habe ich auch gehabt, in der Pubertät. Meistens war es der Traum, in dem du verfolgt wirst und weglaufen …«
»Milli ist erst zehn und außerdem körperlich noch zurück. Sie ist noch nicht in der Pubertät.«
»Na und? Mädchen sind frühreifer als Jungen.«
Mit versteinertem Gesicht beobachte Emma gleich darauf, wie Paul seine Aktentasche im Flur aufhob und aus dem Haus verschwand. Seinen zuvor flüchtig angedeuteten Kuss hatte sie ignoriert.
Milli schob Sophie an der Schulter zur Seite weg, schon waren sie nicht mehr im Strom der anderen Kinder. Es gab keinen Grund, hektisch zu werden, schließlich hatten sie nur Sport in der kommenden Unterrichtsstunde und der war nach Millis Ansicht völlig überflüssig. Sie schob die Freundin dicht an die Gebüschreihe, die den Schulhof von der Sportanlage abgrenzte. Ein paar vorbeidrängende Mitschülerinnen schauten natürlich neugierig herüber, um mitzubekommen, was die beiden vorhatten. Davon ließ sich Milli nicht beeindrucken. Sie ging in die Hocke, öffnete die Sporttasche und zog in aller Seelenruhe eine kleine Papiertüte heraus.
»Milli, mach schneller! Sie ruft schon alle zusammen.«
Sophie drängelte unruhig und hatte schon wieder Schiss. Die Sportlehrerin mochte es nicht, wenn jemand später kam, weil sie dadurch ihre Anweisungen wiederholen musste. Sie konnte dann richtig biestig werden. Und Sophie hasste es, aus der Masse heraus zu stechen, schon gar nicht, wenn es durch einen Tadel geschah. Sie schwamm lieber brav und still mit der Masse mit. Dabei war sie sonst so cool und hatte immer die besten Sprüche drauf, alle von ihrer großen Schwester gelernt. Vorhin, in der ersten großen Pause, hatte Sophie gerade ihre Wasserflasche geöffnet, als Philipp von hinten ankam und ihr einen Schubs versetzte. Das ganze Wasser war auf ihrer Brust verteilt, ein riesiger, fieser Fleck. Er haute sofort ab, lief schnell zurück zu seinen Freunden, Sophie hinterher. Vor der halben Klasse baute sie sich vor ihm auf. Brust raus, die Schultern leicht verdreht, ihre Augen hinter der Brille blitzten, als sie mit dem Finger auf ihn zeigte und ihn anbrüllte, so laut sie konnte.
»Du blöder alter Wichser!«
Wumms! Das hatte gesessen. Philipp machte sich ganz klein und verschwand zwischen seinen Freunden, die sich kaputtlachen wollten über ihn. Obwohl die meisten vermutlich gar nicht wussten, was es bedeutete. Milli auch nicht, aber das machte nichts. Hinterher hatte sie Sophie gefragt, ob sie noch mehr von solchen Worten von ihrer Schwester hätte. Wenn die alle solche Wirkung hätten, konnte man ja nie wissen, wofür das gut war.
»Na klar«, hatte Sophie geantwortet, ein ernstes Gesicht gemacht und mit ihren kurzen, etwas dick geratenen Fingern mitgezählt, ohne eine Miene zu verziehen.
»Arschloch, Tunte, blödes Schwein, Schweinebacke, Arschloch.«
Und Milli hatte bewundernd zu ihrer Freundin aufgesehen und sie um ihre große Schwester beneidet. Was man alles von großen Schwestern lernen konnte. Sie hätte auch so gern eine große Schwester. Obwohl, blödes Schwein und du Schweinebacke kannte sie schon, Arschloch war doppelt und die anderen beiden Worte musste sie erst nachlesen. Das nahm sie sich für den Abend vor. Als Henry kurz danach an ihnen vorbeiging und sie wieder einmal mit diesem 'Du-kleines-Würstchen-Blick' anstarrte, überlegte sie kurz, ob sie eins der neu gelernten Worte an ihm ausprobieren sollte. Sie hatte schon eins auf der Zunge, ließ es dann aber doch lieber bleiben, immerhin war Henry der größte Junge der Klasse und einen ganzen Kopf größer als Milli. Außerdem guckte er, je länger sie darüber nachdachte, noch böser und ihr fiel ein, dass Philipp ein Stückchen kleiner war als Sophie.
Endlich war die Tüte aufgefummelt und Sophies Hals wurde immer länger. Als Milli damit vor ihren Mund wedelte und sie den verführerischen Inhalt nicht nur sehen, sondern auch riechen konnte, griff sie schnell hinein.
»Wir hauen uns erst die Cupcakes weg. Die soll nicht so viel Wind machen mit ihrem blöden Sport. Als wenn den jemand braucht. Ich hab einen Riesenhunger.«
»Du hast immer Hunger. Aber wir sollen doch nichts essen vor dem Sport. Und heute müssen wir die 800 Meter laufen«, sagte Sophie mit vollem Mund, Krümel fielen auf den Boden..
»Na und? Was soll denn da passieren? Ich komme ja schon.«
Mit diesen Worten schob sie sich den letzten Bissen in den Mund und erhob sich wieder. Milli schnappte sich ihre Sporttasche und trabte kauend hinter ihrer Freundin Sophie her. Um das Gebüsch herum quer über die Tartanbahn hinüber zur gegenüberliegenden Seite des Platzes, dort wo schon die anderen Schüler und die Sportlehrerin warteten.
»Emilia und Sophie, wie immer die Letzten. Ich glaube, ihr solltet mal wieder einen Eintrag bekommen.«
Die Sportlehrerin, eine grauhaarige Endfünfzigerin mit der ausgezehrten Figur einer Marathonläuferin, was daran lag, dass sie Marathon lief, stemmte die Fäuste in die Hüften. Verärgert blickte sie von einer zur anderen.
»Es war meine Schuld«, antworte Milli. Sie lächelte entwaffnend mit ihrem Engelsblick und flunkerte, ohne rot zu werden. »Mein Schnürband ist gerissen und ich musste erst ein neues einfädeln.«
Wenig später standen die Mädchen bereit zum Start. Weil sie zu viele waren und die Lehrerin ihr Programm so schnell wie möglich durchziehen wollte, sollten immer zwei von ihnen in einer Bahn starten. Milli und Sophie warteten konzentriert auf das Startzeichen.
Die erste Runde bereitete Milli keinerlei Probleme. Sie war ein schlankes Mädchen mit guten sportlichen Anlagen, die ihr einfach zugefallen waren. Egal, ob von ihr eine Ausdauerleistung oder ein Sprint verlangt wurde, ihre Ergebnisse bewegten sich immer im vorderen Drittel der gesamten Schulklasse. Zu Beginn der zweiten Runde spürte sie plötzlich Seitenstiche, die sie ignorierte. Das hatte bisher immer ganz gut geklappt. Aber diesmal nicht, diesmal war es anders. Die Stiche wurden heftiger, eine unangenehme Hitze breitete sich vom Rücken kommend aus. Gleichzeitig verstärkte sich das Gefühl, nicht mehr genügend Sauerstoff zu bekommen, so sehr sie auch versuchte, nach Luft zu schnappen. Eine Läuferin nach der anderen zog an ihr vorbei, während ihre Beine immer weicher und sie immer langsamer wurde.
»Was ist los mit dir?«, rief ihr Sophie schwer atmend zu. Die Schulfreundin war nicht ganz so schlank und sportlich wie Milli, eher ein wenig rundlich geraten. Deshalb war sie deutlich zurückgefallen und schloss jetzt erst zu ihr auf. Das war immer so, tat aber ihrer Freundschaft keinen Abbruch. Sie nahm ihr Tempo raus, um neben Milli zu laufen. Hinter ihnen ertönte der scharfe Pfiff der Sportlehrerin, der das plötzliche langsame Tempo aufgefallen war. Natürlich vermutete sie, die Mädchen würden absichtlich trödeln.
»Ich weiß nicht, was los ist. Ich habe Seitenstechen«, japste Milli mit hochrotem Kopf. Ihre Schritte fielen ihr immer schwerer. Sie konnte kaum noch die Beine anheben und sie spürte, wie sie die Füße unkontrolliert aufsetzte.
»Lauf weiter, ich komme schon hinter dir her.«
Aber das schaffte sie nicht. Sie konnte noch sehen, wie Sophie als Drittletzte durch die Kurve lief, dann hielt sie die Schmerzen nicht mehr aus und sackte in die Knie. Es kam ihr vor, als würde der gesamte Unterleib brennen. Die Schmerzen schienen sich einmal um den ganzen Körper herum zu ziehen. Schweiß stand ihr auf der Stirn, als sie sich zusammengekrümmt auf den Rasen sinken ließ.
»Was ist los mit dir?«
Die Lehrerin beugte sich über sie und schaute mit strengem Blick. Die anderen Schülerinnen trudelten nach und nach ein, jede warf einen neugierigen Blick auf Milli.
»Keine Ahnung, es tut alles so weh.«
Tränen liefen ihr über das Gesicht, weil sie es kaum mehr aushielt.
»Sie hat etwas gegessen, kurz bevor sie gelaufen ist. Hab ich genau gesehen. Selbst schuld.«
Trotz ihrer Schmerzen nahm Milli Helens Gesicht wahr. Es war immer so mürrisch, als würde ein böser Schatten auf ihm liegen. Nur ganz kurz beugte sich die unbeliebteste Schülerin der gesamten Klasse über sie, grinste gehässig, dass für einen Moment sogar der Schatten nicht mehr zu sehen war und war gleich darauf wieder verschwunden. Und Milli fiel vor lauter Schmerzen grad keines von Sophies Schimpfworten ein.
****
Wie ein Häufchen Elend saß Milli ihrer Mutter gegenüber. Sie zwirbelte nervös eine Strähne ihres langen, dunklen Haares und blickte auf einen imaginären Punkt vor ihren Füßen, während sie mit eindringlichen Blicken gemustert wurde.
»Wieso setzt du dich ständig über irgendwelche Regeln hinweg? Deine Sportlehrerin hat dich sowieso schon auf dem Kicker wegen deiner großen Klappe. Musst du ihr auch noch Futter geben?«
»Ich habe einen einzigen Cupcake gegessen, winzig klein.« Sie zeigte mit den Fingern die Größe einer Erdnuss. »Deshalb habe ich doch keine Schmerzen bekommen. Ich weiß auch nicht, was plötzlich los war.«
Emma schnitt ihr das Wort mit einer Handbewegung ab.
»Darum geht es doch gar nicht, wo deine Schmerzen herkamen. Du hast ihre Regeln nicht befolgt und auch noch gelogen. Sie wird dich das spüren lassen. Auch eine schlechte Sportzensur kann dir das Zeugnis versauen. Emilia, ich warne dich! Reiß dich in Zukunft zusammen. Ich möchte das nicht noch einmal erleben.«
****
Es war längst dunkel geworden, Motorengeräusch machte sich in der Auffahrt bemerkbar. Gleichzeitig vernahm Emma die tippelnden Schritte des kleinen Terriers, er stürzte sich von seinem Kissen in der oberen Etage die Treppe herunter zur Eingangstür. Das Klappern des Schlüssels ging unter im Gejaule des Hundes, der an den Hosenbeinen hochsprang. Emma kniff ihre Augen noch weiter zusammen. Die Haustür wurde geschlossen, Schritte näherten sich, mit leisem Klicken ging das Licht im Wohnzimmer an.
»Wieso sitzt du denn im Dunklen?«
»Du bist immer sehr spät dran in letzter Zeit.«
Emma musterte ihren Mann von oben bis unten. Er blieb im Durchgang zum Esszimmer stehen und sah aus wie immer, wenn er aus dem Büro kam. Die Krawatte abgenommen, das Hemd zwei Knöpfe geöffnet. Sie wusste, dass er die Notwendigkeit des Anzugtragens hasste wie nichts sonst in seinem Beruf. Früher, während des Studiums, hatte er sich selbst lustig gemacht über die Schlipsträger. Jetzt gehörte er auch zu ihnen. Seine Kleidung betrachtete er wie eine Uniform, die es so schnell wie möglich abzulegen galt. Dabei war es ihr immer egal gewesen, was er trug. Sie fand, dass er in Jeans eine ebenso gute Figur machte wie in eleganter Garderobe.
Emma widerstand der Versuchung, aufzustehen und ihn mit einem Kuss zu begrüßen. Zu sehr wäre es ihr in dieser Situation wie ein Hinterherschnüffeln vorgekommen. Zu groß ihr Stolz und gleichzeitig zu groß ihre Angst, etwas zu bemerken, was ihre Befürchtungen bestätigen könnte. Ein fremder Geruch auf seiner Haut, in seinen Haaren, der Hauch eines anderen Parfüms, der sich noch nicht verflüchtigt hatte. Womöglich ein fremdes Haar auf seiner Schulter. Sie war noch nicht so weit.
»Du weißt doch, die neue Filiale. Das bedeutet nun mal Überstunden. Wieso sitzt du im Dunklen?«
»Ich habe nachgedacht, dazu brauchte ich kein Licht.«
»Ist irgendwas los? Gibt es ein Problem?«
Täuschte sie sich oder wurde seine Stimme lauernder, vorsichtiger? Bleib ruhig, sagte sie zu sich. Rede dir nichts ein.
»Die Kleine hat einen Tadel von ihrer Sportlehrerin bekommen.«
»Was hat sie denn angestellt? Mit Sport hatte sie doch noch nie ein Problem?«
»Sie hat eine Anweisung missachtet und vor dem Sport etwas gegessen. Deshalb konnte sie ihre Leistung nicht erbringen und musste einen Lauf abbrechen. Und weil sie gelogen hat, war der Tadel fällig.«
»Ach so. Und dafür machst du so einen Aufriss? Sitzt hier im Dunkeln rum, ich dachte schon, sie hätte etwas wirklich Schlimmes getan. Ich gehe erst mal duschen.«
Seine Stimme klang erleichtert. Nachdenklich schaute Emma ihm nach, wie er mit lockeren Schritten im Flur verschwand und gleich danach die Treppe hinauf ging.
Sie konnte nur den Hinterkopf und den Rücken des Mannes erkennen. Bekleidung trug er nicht, der Oberkörper zumindest war nackt und irgendwie kam er ihr bekannt vor. Wenn nur nicht alles so verschwommen wäre.
Vielleicht, wenn ich etwas hören könnte.
Sie versuchte sich zu konzentrieren, aber da war nichts. Nur absolute Stille und der Mann. Um ihn herum war alles dunkel, nichts Vertrautes zu sehen. Wieso konnte sie ihn nicht erkennen? Die Perspektive kam ihr vor, als würde sie über ihm schweben. Er bewegte sich, sein Körper vollzog Bewegungen, die sie nicht einordnen konnte.
Ich muss mich konzentrieren.
Der kräftige Rücken, die Schultern, aus denen bei jeder seiner Bewegungen Muskeln hervortraten. Erinnerte sie sich? Jetzt geschah etwas, Hände kamen unter dem Mann hervor, umschlangen ihn. Sie wanderten über den Rücken, liebkosten ihn. Dann wurden sie derber und hinterließen blass rote Linien. Er drehte und wand sich wie unter Schmerzen, aber er ließ es weiter geschehen.
Es ist Paul, jetzt erkenne ich ihn. Seine dunklen Haare, er ist es. Da ist eine Frau unter ihm. Das bin ich, das MUSS ich sein. Er schläft mit mir. Er liebt mich noch. Er liebt mich ganz bestimmt. Ich tue ihm Unrecht. Das ist ein Zeichen.
Eine tiefe Zufriedenheit breitete sich in ihr aus. Mit dem wohligen Gefühl emotionaler Geborgenheit beobachtete sie weiter die Szene, die mal schärfer und dann wieder verschwommener wurde. Wie lange es so ging, vermochte sie hinterher nicht einzuschätzen, fast wäre sie in eine traumlose Dunkelheit weggesackt. Der Wechsel kam abrupt, wie ein Schnitt. Die Hände auf Pauls Rücken hinterließen plötzlich klaffende Wunden, geradezu absurd tiefe Krater, aus denen das Blut und Eingeweide wie dicke Würmer herausquollen. Paul wand sich, wollte sich lösen, aber es gelang ihm nicht. Die Hände umklammerten ihn wie ein Schraubstock. Dann drehte er den Kopf und schaute zu ihr auf, in seinem Gesicht ein Ausdruck unendlichen Schmerzes. Als ihre Blicke sich berührten, veränderte sich der Ausdruck und wurde zu Schreck, Entsetzen, bei etwas Verbotenem erwischt worden zu sein. Die Geborgenheit war schlagartig verschwunden, ihr Atem ging schneller. Unter Paul tauchte plötzlich ein Kopf auf, ein fremdes Gesicht ohne Konturen. Der Mund öffnete sich, wurde größer und größer, als wollte er alles verschlingen und ein Schrei drang an ihre Ohren. Ein kläglicher Schrei voller Angst. Sie spürte, wie etwas an ihr zerrte, das Bild wurde kleiner wie in einer umgedrehten Fokussierung, bis es schließlich ganz verschwunden war.
»Wach auf, schnell. Hörst du denn nicht?«
Paul beugte sich über sie, er drückte an ihre Schulter.
»Was ist los? Was willst du von mir?«, stammelte Emma ärgerlich. Gleichzeitig ertappte sie sich dabei, wie sie sein Aussehen überprüfte. Er wirkte verschlafen und trug ein weißes T-Shirt. Verschwitzt sah er nicht aus.
»Ich glaube, Milli hat eben geschrien. Geh du lieber zu ihr.«
Von den Eindrücken des Traumes und dem plötzlichen Aufwachen noch benommen richtete sich Emma auf. Sie stieg aus dem Bett und wankte mehr als sie ging, Millis Zimmer entgegen. Durch die Tür war kein Laut zu hören. Leise, um ihre Tochter nicht unnötig zu stören, drückte sie die Klinke nach unten und schob die Tür einen Spalt auf. Der Raum lag völlig im Dunklen, noch nicht einmal die Nachtlampe brannte, die Kleine schien zu schlafen.
Warum bloß hatte Paul sie geweckt?
Sie zuckte mit den Schultern und war bereits im Begriff, die Tür wieder zu verschließen. Im letzten Moment vernahm sie ein leises Wimmern, wie von einem gequälten Tier. Emma runzelte die Stirn, ihre Sinne funktionierten wieder und ihr Ohr sagte ihr eine Richtung für das Geräusch an, die das Gehirn nicht akzeptieren wollte. Vorsichtig glitt sie in das Zimmer hinein. Die Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, erkennen konnte sie trotzdem nichts. Kurz entschlossen schaltete sie das Licht ein.
Das Bett war leer!
Kopfkissen und Bettzeug waren zerwühlt, aber lagen an ihrem Platz, Milli befand sich nicht darin. Emma unterdrückte einen Schrei, besorgt wanderten ihre Augen durch den Raum, nach rechts zu dem Schreibtisch, vor dem der Stuhl an seinem Platz stand. Auf der anderen Seite der große Kleiderschrank, ihr Kind konnte sie nirgends entdecken.
»Milli? Wo bist du?«
Keine Antwort.
»Milli! Das ist nicht witzig.«
Es wimmerte erneut kläglich. Emma trat an den Kleiderschrank. Ungläubig zog sie die rechte Schiebetür auf und zuckte augenblicklich vor Schreck zurück. Das kleine Mädchen hockte im Schrank, die Beine angezogen und von den Armen umklammert. Verweinte Augen blickten weit aufgerissen in die Dunkelheit des Verstecks.
»Was ist passiert?«
Sie ging hinunter in die Hocke und reichte dem Kind die Hand.
»Komm heraus.«
Milli umklammerte weiter ihre Knie und schaukelte wie abwesend mit dem Kopf vor und zurück. Die Hand der Mutter ignorierte sie.
»Da ist jemand«, hauchte sie tonlos, als befürchtete sie, gehört zu werden.
»Wo denn, mein Kind?«
»Da drüben.«
Sie zeigte mit dem Finger in die leere Zimmerecke schräg gegenüber. Emma schaute mehr auf die kleine Hand, die heftig am Zittern war.
»Hast du konkrete Beweise für deinen Verdacht oder ist es nur eine Vermutung? Ich meine, es gibt immer mal schwierige Phasen in einer Ehe, das ist doch ganz normal. Ein Streit, ein unbedachtes Wort, das man selbst vielleicht gar nicht wahrgenommen hat.«