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"Im Bann des Clans" ist der Folgeband des im Droemer Knaur Verlag veröffentlichten Thrillers "Ein dunkler Trieb". Ein totes, kleines Mädchen, eine Gruppe von Schwerstkriminellen und ein außer Kontrolle geratener Verfassungsschützer. Björn Liebermann von der Ermittlungsgruppe Bandenkriminalität und die Mordkommission unter Claudia Harder ermitteln gegen dieselben Verbrecher, ohne voneinander zu wissen. Der Verfassungsschützer Keppler hat unterdessen ganz andere Probleme. Sein Vorgesetzter setzt ihn unter Druck, weil er Ergebnisse sehen will, die seiner Karriere förderlich sind. Am liebsten wäre ihm die Enttarnung eines IS-Rückkehrers. Der V-Mann-Betreuer Keppler greift in die polizeilichen Ermittlungen ein und fasst einen verhängnisvollen Entschluss, bis es zu einem katastrophalen Anschlag kommt. Das BKA schaltet sich ein und übernimmt den Fall. Die Berliner Ermittler jedoch bleiben verdeckt am Ball, zu viele Rechnungen sind in diesem Fall offengeblieben. Und plötzlich beginnt eine der bizarrsten Mordserien, die Berlin jemals gesehen hat.
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Seitenzahl: 595
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LU. Ulder
Im Bann des Clans
Über dieses Buch:
"Im Bann des Clans" ist der Folgeband des im Droemer Knaur Verlag veröffentlichten Thrillers "Ein dunkler Trieb".
Ein totes, kleines Mädchen, eine Gruppe von Schwerstkriminellen und ein außer Kontrolle geratener Verfassungsschützer.
Björn Liebermann von der Ermittlungsgruppe Bandenkriminalität und die Mordkommission unter Claudia Harder ermitteln gegen dieselben Verbrecher, ohne voneinander zu wissen. Der Verfassungsschützer Keppler hat unterdessen ganz andere Probleme. Sein Vorgesetzter setzt ihn unter Druck, weil er Ergebnisse sehen will, die seiner Karriere förderlich sind. Am liebsten wäre ihm die Enttarnung eines IS-Rückkehrers. Der V-Mann-Betreuer Keppler greift in die polizeilichen Ermittlungen ein und fasst einen verhängnisvollen Entschluss, bis es zu einem katastrophalen Anschlag kommt. Das BKA schaltet sich ein und übernimmt den Fall. Die Berliner Ermittler jedoch bleiben verdeckt am Ball, zu viele Rechnungen sind in diesem Fall offengeblieben. Und plötzlich beginnt eine der bizarrsten Mordserien, die Berlin jemals gesehen hat.
Inhaltsübersicht
In der Nacht
Nur ein Film
Eine falsche Entscheidung
Erste Spuren
Fundsachen
Konsequenzen
Cadaverin
Vermisst
Erste Schritte
Leichenschau
Eine Patientin und ein alter Bekannter
Wurfübungen
Streifzüge
Befunde
Kettenreaktion
Ultimatum
Zusammenführung
Druckaufbau
Gewissheiten
Druckableitung
Technische Erkenntnisse
Geeignet
Gute Nachricht
Derangiert
Abgehängt
Fehlversuch
Ein Wagnis
Wie ein Uhrwerk
Ein Desaster
Verschwunden
Sündenbock
Wunden lecken
Auf Null gestellt
Noch mehr Druck
Alte und neue Verbündete
Ein Feldzug
Trauerfeier
Wieder am Ball
Der Nächste
Ein wunderbares Exemplar
Über die Schulter schauen
Vorkehrungen
Eine Serie
Neue Verbindungen
Pechvögel
Lieblingsermittlerin
Befürchtungen
Aller guten Dinge
Zugriff
Neue Theorien
Fragen
Böse Überraschung
Debakel
Versteckt
Krankenbesuch
Flugmodus
Nicht ganz fit
Jungenspiele
Kontaktaufnahmen
Kaltblütig
Beobachter
Ein Schatz
Drittes Leben
Vorbereitungen
Rendezvous
Dunkle Ringe
Tête-à-Tête
Auf der Brücke
Nachtgesichter
Geht so
,,, am Ende
Impressum
Personenregister:
Die Ermittlungsgruppe Bandenkriminalität:
Björn Liebermann, Kriminalhauptkommissar, stellvertretender Leiter,
Moritz Hübner, sein Chef,
die Kollegen Jürgen Kurth, Michael Peschel, Stefan Zogg, Philipp Wuttke.
Die Mordkommission (Untergruppe)
Claudia Harder, Leiterin, Spitzname ErSieEs.
Harald Breugel, Jan Eggert, Sophie Sell, Sven Krauss.
Weitere Figuren auf Ermittlerseite:
Jörg, Kriminaltechniker
Prof. Dr. Thiel, Rechtsmediziner
Carmen Hauschildt, leitende Kriminaldirektorin beim BKA, Abt. Terrorismus.
Die Gegenspieler:
Akram Fadel, der Mann mit der Narbe,
Bilal Al Mossa, der Kopf der Bande,
Mahamad und Mahdi El Zein, Zwillinge, Schlägertrupp der Bande,
Hussein El Merhi, der Fahrer,
Süreyya El-Zein, die Frau des Fahrers.
Der Flüchtling:
Karam Davod
Verfassungsschützer:
Leif Keppler, V-Mann Betreuer
Frank-Ulrich Hesse, sein Vorgesetzter
Security im Lageso:
Aladin Demir und Dogan Coskun
Weitere Nebenfiguren:
Werner Groth, ein Spanner,
Kristine Keppler, Ehefrau von Leif Keppler,
Rita, Imbissbudenbesitzerin,
Gerrit Winter, ein Lkw-Fahrer
Katja Bergmann, seine Freundin,
Petra Maruhn, ihre Bekannte,
Karl-Heinz Bender, ein Zeuge,
Albin Klein, Schlachter, Neonazi,
Dr. Karl Hempf, ehemaliger Internist,
Gabriele Ottenberger, seine ehemalige Patientin,
Sybille Aust, eine Zeugin,
Jasmin, Prostituierte und Bekannte von Björn,
Mariola, Dolmetscherin und Bekannte von Björn,
1. In der Nacht
Sie war tot!
Und wenn er noch so sehr starrte.
Der Schreck beim Berühren, diese beinahe unwirkliche Kälte, als er sie anhob und zur Ladefläche trug. Selbst durch das Leinentuch hindurch, das ihren Körper umhüllte. Kalt und leblos, eine unangenehme Empfindung, die er so schnell wie möglich wieder abschütteln musste.
Sie war tot, ein Stück seelenloses Fleisch.
Obwohl er es wusste, erwischte er sich dabei, wie er bei jeder Gelegenheit den Kopf ein wenig weiter zur Seite drehte, als es zum Fahren nötig gewesen wäre, nur um einen Blick nach hinten auf die Ladefläche zu werfen. Im Schein der wenigen Straßenlaternen, die den Innenraum schlaglichtartig erhellten, zeichnete sich unter der dicken Plane lediglich ein undefinierbares Etwas ab, eine nichtssagende Erhebung. Er aber wusste genau, in welcher Position sie dort lag. Ihm war, als könne er sie mit seinen Blicken beschwören, zurückzukehren in ein Leben, das seine Tochter noch hatte. Naime war genauso alt wie das tote Mädchen. Er musste die Gedanken daran und alles andere, was er jetzt tun musste, tief in seiner Seele vergraben, wollte er seiner Familie jemals wieder unter die Augen treten.
Die nächtliche Fahrt lief wie ein Film an seinen Augen vorbei. Ein fremdes Leben, auf das er mit Abstand hinunterschaute. Während der verstohlenen Blicke nach hinten fiel immer wieder Lichtschein auf das Gesicht seines Beifahrers. Die hässliche Narbe am Hals schimmerte, als hätte sie jemand mit einem roten Stift nachgezeichnet, um sie besonders hervorzuheben. Sie verstärkte die Wirkung der brutalen Gesichtszüge um ein Vielfaches. Niemand von ihnen sprach ein Wort, bis sie ihr Ziel erreichten. Akram, der Mann, den alle nur 'Die Narbe' nannten, öffnete die Tür und rutschte vom Beifahrersitz nach draußen. Er ließ die Beifahrertür einen Spaltbreit offen stehen und war mit zwei Schritten am Eisentor. Bevor er sich am Vorhängeschloss mit der schweren Kette zu schaffen machte, drehte er seinen Schädel in alle Richtungen, der Blick blieb für einen kurzen Augenblick auf das einzige noch bewohnte Haus in der Straße hängen. Hinter keinem der Fenster brannte Licht, das hatten sie bereits bei der Einfahrt in die kurze Sackgasse gesehen. Die muskulöse, dunkel bekleidete Gestalt verschmolz fast vollständig mit der Umgebung.
Hussein schaute erneut nach hinten zur Ladefläche, seufzte unterdrückt. Draußen klirrte es verhalten, als der Stämmige die Kette aus dem geöffneten Schloss aushängte. Gleich darauf war das Quietschen der Eisenrollen hören. Akram schob das schwere Rolltor gerade soweit beiseite, dass der Kleinbus hineinfahren konnte. Sofort danach wiederholte er den Ablauf in der umgekehrten Reihenfolge und kletterte zurück in den Wagen.
„Sieht alles ruhig aus. Die Trottel sind am Saufen, wie immer.“
Der Beifahrer zeigte mit dem Daumen hinüber zu den beiden hell erleuchteten Fenstern des flachen Anbaus, der sich ganz rechts auf dem im Dunklen liegenden Areal befand.
„Spätestens, wenn das Licht anspringt, kommt einer von denen an.“
„Dafür sind sie da.“
Der Fahrer rangierte den Transporter, bis er rückwärts mittig auf das Sektionaltor des größten Gebäudes zurollte. Auf den letzten Metern, unmittelbar, bevor er die im Tor eingelassene Tür erreichte, sprang ein Scheinwerfer an und tauchte das Fahrzeug in gleißendes Licht. Der Motor erstarb, beide Türen wurden geöffnet, die Männer stiegen aus. Nur Augenblicke später wurde die Stahltür am Flachbau geöffnet, Lichtschein drang heraus, in dem sich eine hagere Gestalt abzeichnete. Trotz der Entfernung von beinahe hundert Metern war Musik zu hören, harte, schnelle Rhythmen schallten plötzlich über das verwahrloste Gelände. Sie erstarben mit dem Zufallen der Tür, gleichzeitig war die Figur nur noch schemenhaft zu erkennen.
„Ich sage dem Spinner, dass er wegbleiben soll. Du schaffst das allein.“
Der Beifahrer setzte sich in Bewegung. Hinter ihm öffnete Hussein zuerst die im Tor eingelassene Tür, danach ließ er die Heckklappe nach oben schwingen. Geduldig wartete er im Schutz der Klappe auf das Erlöschen der von einem Bewegungsmelder gesteuerten Lichtquelle. Dabei ließ er seinen Mitfahrer, der sich dem entgegenkommenden Mann aus dem Flachbau näherte, nicht aus den Augen. In der Mitte des Platzes trafen sie aufeinander, blieben stehen, unverständliche Gesprächsfetzen drangen zu ihm herüber.
Das Licht erlosch, das Gelände lag schlagartig wieder im Dunklen wie zuvor, nur noch die Umrisse der beiden Personen waren durch die Umgebungshelligkeit zu erkennen. Der Fahrer beugte sich tief in den Innenraum und hob einen schmalen, in ein weißes Tuch gewickelten Körper hoch. Mit dem Bündel auf den Armen drehte er sich um, damit ihn die Männer auf dem Hof nur von hinten sehen konnten, und schlüpfte durch die Tür in die Halle hinein. Seine Vorsicht war unnötig gewesen, der Scheinwerfer sprang kein weiteres Mal an. Er drückte die Tür hinter sich mit der Schulter ins Schloss und bewegte sich im Dunklen mit vorsichtigen Schritten auf eine bestimmte Stelle an der Wand zu. Schmutzpartikel knirschten unter seinen Sohlen. In der Halle roch es nach Öl, Gummi und verbranntem Diesel. Das monotone Brummen eines eingeschalteten Elektrogerätes füllte den Raum aus.
Der Mann erreichte die Wand, warf sich den zierlichen Körper über die Schulter. Seine Finger tasteten sich an einer Reihe von Schaltern entlang nach unten. Auf den Letzten drückte er, im hinteren Bereich der Halle sprang ein trübes Licht an, so schwach, dass es vorn von der Straße aus kaum zu sehen sein dürfte.
Ein Sattelschlepper parkte rückwärts in dem riesigen Raum. Vom Fahrzeug führte ein Kabel zu einer Steckdose in der Wand und versorgte das Aggregat für den Kühlauflieger mit Strom.
Hussein hastete an dem Lastzug vorbei. Aus seiner Hosentasche fischte er einen Schlüssel und versuchte, mit einer Hand die Heckklappen zu öffnen. Als ihm dies nicht gelang, musste er den eingewickelten Körper auf dem schmutzigen Boden ablegen. Er entriegelte das Schloss und zog mit beiden Händen an den klemmenden Türen, erst beim zweiten Mal gelang es ihm, sie aufzuziehen. Anschließend hob er den Körper auf und platzierte ihn behutsam auf die vordere Kante des Laderaumes, bevor er selber hinterher kletterte.
Gekühlte Luft umgab ihn und ließ ihn augenblicklich frösteln. Trotz der Kühle nahm er den typischen Geruch von Fleisch wahr, rohes Fleisch und geronnenes Blut. Im schwachen Licht der Hallenbeleuchtung sah er die geschlachteten und halbierten Tierkörper dicht an dicht an den Haken hängen. Er schob sich vorsichtig weiter in den Anhänger hinein, bis er meinte, etwa die Mitte erreicht zu haben. Den Körper auf seiner Schulter ließ er erneut vorsichtig zu Boden gleiten und wickelte ihn aus dem Tuch heraus. Dabei stieß sein Kopf immer wieder gegen eine der Tierhälften, die unangenehmen Berührungen ließen ihn zusammenzucken. Als der blasshäutige Körper ohne den Schutz des Tuches vor ihm lag, wandte er den Blick ab, er konnte nicht hinschauen. Seine persönlichen Empfindungen musste er unbedingt verdrängen, er war nur noch funktionierendes Glied in einer Kette. Hussein stand auf und versuchte, zwei der Tierhälften auseinander zu schieben, um einen Zwischenabstand zu bekommen. Mit spitzen Fingern drückte er gegen das von der Haut befreite Fleisch, zuckte aber sofort zurück. Auf der Oberfläche war bereits ein schleimiger Film entstanden. Angewidert nahm er das Tuch und band es um eines der Tiere, um seine Hände und seine Kleidung zu schützen. Der Versuch, es zu verschieben, scheiterte an dem zu hohen Gewicht. Es schwang nur minimal hin und her und kehrte sofort in seine Ausgangsstellung zurück. Kopfschüttelnd bewegte er sich durch die hängenden Tierkörper hindurch zum Heck des Lastzuges. Er sprang von der Ladekante herab und erschrak, als sein Blick auf Beine fiel, die unmittelbar vor ihm auftauchten. Erleichtert registrierte er, dass es sein Beifahrer war, der lautlos in die Halle gekommen war.
„Was brauchst du denn so lange?“, herrschte Akram ihn an.
„Du musst mir helfen, komm mal rein.“
„Wirf sie auf den Boden, das wirst du doch hinbekommen.“
„Nein“, beharrte Hussein. „Wir müssen sie verstecken, falls jemand hineinguckt. Der Fahrer vielleicht, eine Kontrolle, wer weiß.“
„Der Idiot wird sich hüten.“
„Wir könnten sie in das Versteck legen“, schlug Hussein vor.
„Viel zu aufwendig, das zu öffnen. Du nervst mich, Mann.“
Schließlich kletterte er dem Fahrer hinterher, die Erwähnung einer Kontrolle während der Fahrt hatte ihm anscheinend zu denken gegeben. In seinem Rücken konnte Hussein die Flüche hören, während sie sich durch die schweren Körper hindurchzwängten.
»Wir müssen eines der Viecher verschieben, das schaffe ich nicht allein. Fass mit an.«
Gemeinsam gelang es ihnen, eine der Tierhälften zu verrücken. Durch die Form der Rippen ergab sich ein kleiner Hohlraum. Sie rissen das Tuch in Streifen, banden die kalten Hände zusammen und hängten den Leichnam zwischen die Hälften. Mit einem weiteren Tuchstreifen zurrten sie die Haken am Kopfende zusammen, um ein Auseinanderklaffen des Arrangements zu verhindern.
Ein schlankes Bein schob sich heraus und musste in die alte Position gedrückt werden.
„Eine Schande ist das“, brachte der Fahrer mit belegter Stimme heraus. Niemand hatte es verdient, so entsorgt zu werden, niemand.
„Und ob“, brummte Akram und wischte sich die Hände ab.
Hussein war das Glitzern in Akrams Augen beim Betrachten des Körpers nicht entgangen.
Niemand hatte es verdient, bekräftigte Hussein seine Gedanken und schaute zur Seite. Niemand, außer Akram vielleicht.
2. Nur ein Film
Berlin, Frühsommer 2015.
Björn Liebermann warf im Gehen einen Blick auf die Uhr. Er war spät dran an diesem Morgen, beinahe dreißig Minuten später als üblich. Seine Gedanken kreisten immer noch um Mariola, während er in gemächlichem Tempo über den Flur ging. Seine Abneigung, was Besprechungen im Allgemeinen und tägliche Frühbesprechungen im Besonderen anging, hatte sich bei seinen Kollegen längst herumgesprochen. Kein Grund also, sich zu beeilen. Mit etwas Glück käme er um das ungeliebte Ritual herum, irgendwer würde ihm schon die wenigen wichtigen Neuigkeiten erzählen.
Mariola. Ihr klammerndes Verhalten wurde bei jeder ihrer Verabschiedungen anstrengender. Was als One-Night-Stand gedacht gewesen war, entwickelte sich immer mehr zu einer festen Teilzeitbeziehung, einer Art Freundschaft-Plus. Dabei hatte er sich überhaupt nur auf die Beziehung eingelassen, weil die attraktive Dolmetscherin in Polen verheiratet war.
Der Hauptkommissar erreichte die Tür zum Besprechungsraum und öffnete sie. Eine Wolke warmer, verbrauchter Luft nahm ihn in Empfang, gleichzeitig stutzte er, weil das Zimmer abgedunkelt und nur durch einen eingeschalteten Beamer schwach erhellt wurde.
„Immer noch zu früh“, war deshalb sein erster Gedanke.
Mit einem knappen 'Moin' schob er sich an drei Kollegen vorbei, um seinen angestammten Sitzplatz zu erreichen.
„Fang mit dem Video noch mal von an, Jürgen. Es läuft ja erst seit zwei Minuten.“
Moritz Hübner, Kriminaloberrat und seit drei Monaten sein Vorgesetzter in der Ermittlungsgruppe für Banden- und Schwerstkriminalität, wandte sich Björn direkt zu.
„Das Video kam gestern Nachmittag per Mail rein, es wurde von den Kollegen der Bundespolizei aufgenommen. Sie ermitteln, angeblich nach einem anonymen Anruf, wegen illegaler Schleusungen und fragen an, ob wir die aufgezeichneten Personen identifizieren können. Ich hab schon mal reingeschaut. Die Aufnahmen geben einen interessanten Ansatz auf unseren speziellen Freund, das könnte vielleicht für uns von Bedeutung sein.“
Björn nickte. Schlagartig war sein Interesse geweckt. Mit 'unserem speziellen Freund' meinte sein Chef den Mann, der sich immer wieder im erweiterten Blickfeld der Ermittler befand, an dem sie sich aber bislang die Zähne ausgebissen hatten.
Akram Fadel, Mitte dreißig, Mhallami-Kurde, hielt sich seit einiger Zeit in Berlin auf. Gesichert bekannt war nur, dass er in München an einer heftigen Auseinandersetzung zwischen zwei verfeindeten Clans beteiligt gewesen war. Eine Narbe an Hals und Kinn war ein bleibendes Andenken davon. Er wurde als brutal und absolut skrupellos beschrieben, einer, der die Ausputzer des Clans unter sich hatte, keiner der Bosse, aber ziemlich dicht in der Nähe angesiedelt. In Berlin hatte er sich bislang unauffällig verhalten, außer dass er bemüht war, seinen Aufenthaltsort zu verschleiern. Das einzig Auffällige war sein Lebensstil. Ein teures Auto und regelmäßige Nachtklubbesuche passten nicht zu einem Mann ohne Einkommen. Für konkrete operative Maßnahmen waren diese ersten Ermittlungsergebnisse nicht ausreichend, deshalb war es bislang bei einer lockeren Beobachtung geblieben.
Björn war mittlerweile zum stellvertretenden Leiter der EG aufgestiegen. Neben seiner Tätigkeit als Verbindungsbeamter für ausländische Dienststellen konnte er nun selbst bestimmen, ob und wie tief er in laufende Ermittlungen einstieg.
Die Vita des M-Kurden, der ganz offensichtlich eine Menge zu verbergen hatte, begann ihn mehr und mehr zu interessieren. Gespannt blickte er auf das startende Überwachungsvideo.
Datum und Uhrzeit wurden eingeblendet, die Aufnahmen waren über eine Woche alt. Wenn die Uhrzeit des Gerätes stimmte, spielte sich das Geschehen unmittelbar vor Mitternacht ab.
Ein Einfamilienhaus der gehobenen Kategorie, Typ Villa, dem Stil nach aber bereits in die Jahre gekommen. Es lag beinahe vollständig im Dunkeln. Nur neben der doppelflügeligen, schweren Eingangstür spendete eine altmodisch wirkende Laterne trübes Licht. In der grobkörnigen Aufnahme, die unter der mangelhaften Qualität des Beamers zusätzlich litt, war ein dunkler Kleintransporter mit eingeschaltetem Licht zu sehen, der rückwärts in der Zufahrt parkte. Die Seitenscheiben waren abgedunkelt, der Wagen wirkte neuwertig. Im schwachen Zwielicht der Eingangslaterne war zeitweise eine dünne Rauchwolke am Heck zu erahnen, der Motor lief also. Personen im Inneren des Fahrzeugs waren nicht zu erkennen.
Björn begann schon, unruhig zu werden, als sich die Haustür öffnete. Ein stämmiger Mann trat heraus, Hand in Hand mit einem zierlichen Mädchen. Den Kerl erkannte er trotz der schlechten Beleuchtung sofort, zu oft hatte er in der letzten Zeit die Akte des Typen studiert, ihn in natura beobachtet, sich das Gesicht, seine Bewegungen eingeprägt.
Akram Fadel.
Die Narbe, wie er intern nur noch genannt wurde, weil sich von seinem Kinn am Unterkiefer entlang bis fast zum rechten Ohr eine dünne Narbe zog. Der Kontrahent hatte seine Kehle nur knapp verfehlt.
Björn konzentrierte sich auf das Mädchen an der Hand des Kriminellen. Dunkle, glatte Haare, helle Haut, der Kopf war nach unten gesenkt, nur einmal war für einen winzigen Augenblick ein Teil des Gesichtes zu erkennen. Das Alter ließ sich durch die unzureichende Beleuchtung nur schätzen. Björn tippte auf zehn bis höchstens dreizehn Jahre. Es trug ein helles, festlich wirkendes Kleidchen und begleitete den Mann bis zum Wagen. Als wäre es völlig normal, kletterte es durch die geöffnete Schiebetür ins Innere und war gleich darauf den Blicken entzogen. Fadel nahm auf dem Beifahrersitz Platz, es hatte sich also eine weitere Person am Steuer befunden. Der Kleinbus setzte sich in Bewegung. Nun folgte eine Fahrt durch das nächtliche Berlin, unterbrochen von einem Schnitt im Video. Offensichtlich verfügte das Observationsteam nur über eine einzige Kamera, wenn die Verfolger sich abwechselten, gab es zwischenzeitig keine Aufzeichnung. Nach einem Schnitt von mehreren Minuten befand sich der Kamerawagen wieder hinter dem Bus. Plötzlich aber war etwas anders als zuvor, der Fahrer im Kleinbus änderte seine Fahrweise. Er verzögerte und rollte langsam auf die nächste Kreuzung zu, obwohl die Ampel grün zeigte. Erst beim Umspringen der Phase beschleunigte er und fuhr bei Rot in die Kreuzung hinein.
„Er hat es bemerkt“, raunte Björn und nahm neben sich im diffusen Licht nickende Köpfe wahr.
An der nächsten Kreuzung bestätigte sich seine Einschätzung, der Vorgang wiederholte sich. Diesmal kamen bereits Fahrzeuge des Querverkehrs ins Bild. Gleich darauf war das Video zu Ende, der Kleinbus war entwischt.
Unruhe machte sich breit, Stühle wurden verrückt, Neonlampen flammten auf. Jemand zog die Rollläden hoch und stellte zwei Fenster auf kipp, das nervige Lüftungssurren des Beamers erstarb endlich.
„Das war definitiv Akram Fadel, ich habe mir extra noch mal seine Bilder angesehen. Endlich haben wir etwas Konkretes.“
Moritz Hübner schaute unternehmungslustig in die Runde, er war wesentlich engagierter als sein Vorgänger, für den der Dienstposten nur eine Warteposition für höhere Weihen gewesen war.
„Was ist mit dem Auto?“, fragte jemand in die Runde.
„Eine Dublette. Das Originalfahrzeug stand an dem Tag der Aufzeichnung in einer Werkstatt. Es hat nicht die abgedunkelten Seitenscheiben, ansonsten ist es identisch. Mit Sicherheit sind auch die Fahrzeugpapiere sehr gute Fälschungen.“
„Wie sind die Kollegen auf dieses Auto gestoßen?“, wollte Björn wissen. Ihn wunderte vor allem, dass die Ermittler nicht auf den Namen von Akram Fadel gekommen waren.
„Keine Ahnung.“
Hübner zuckte mit den Schultern.
„Alles haben sie uns anscheinend nicht erzählt.“
„Habt ihr schon geklärt, wem das Haus gehört?“
„Ein Arzt im Ruhestand, verheiratet. Viel mehr wissen wir noch nicht. Wir müssen ihn noch auf Links drehen, die Info ist zu frisch. Dem ersten Anschein nach war er bislang sauber.“
„Seht zu, dass ihr den Wagen auftreibt“, mischte sich Hübner ein. „Immerhin hat uns das Video Kenntnis von einem weiteren Fahrzeug gebracht, das sich mit Fadel in Verbindung bringen lässt, besser als nichts. Wenn wir den Wagen finden, stoßen wir auf weitere Querverbindungen. Was guckst du so nachdenklich?“, wollte er von Björn wissen.
„Das Video eben sah mir verdammt nach Kinderprostitution aus. Wenn sich ein Mann wie Akram Fadel herablässt, selber Kindermädchen zu spielen, kann das keinen harmlosen Hintergrund haben. Ich schlage vor, dass wir uns ab jetzt mit einer kleinen Ermittlungsgruppe ganz auf unseren Mann konzentrieren.“
„Das war doch noch nicht alles, was du auf dem Herzen hast.“
„Nein.“
Björn fuhr sich mit der Hand an den Dreitagebart und massierte ihn. Dann schaute er seinen Chef an, den er noch nicht lange genug kannte, um ihn einschätzen zu können.
„Die Kollegen haben die Observation gründlich versaut. Ich frage mich, ob es sinnvoll ist, unsere Erkenntnisse zu teilen und die Ermittlungen dadurch womöglich zu gefährden. Wurden explizit wir angeschrieben oder ging die Anfrage an mehrere Dienststellen?“
Hübner grinste breit.
„Mehrere, der übliche Verteiler.“
„Na dann.“
3. Eine falsche Entscheidung
Die zerknüllte Zigarettenschachtel hüpfte, von den Bewegungen des schweren Fahrzeuges angetrieben, auf dem breiten Armaturenbrett hin und her. Gerrit Winter kam es so vor, als wollte sie ihn verhöhnen, wie vor ihm hin und her rollte, immer gerade so weit entfernt, dass er sie nicht mehr erwischen und endlich aus dem Fenster werfen konnte. Dabei war er selbst es gewesen, der die leere Schachtel verärgert mit der rechten Hand solange gequetscht und gepresst hatte, bis aus ihr beinahe eine runde Papierkugel geworden war. Die letzte Zigarette der Packung war längst geraucht, von hastigen Zügen fast bis zum Filter verbrannt, mit nikotinverfärbten Fingern im Aschenbecher ausgedrückt. Und weil naturgemäß alles, was nur noch begrenzt oder gar nicht mehr vorhanden ist, einen besonderen Reiz ausübt, wollte er sofort eine neue Kippe anzünden. Er hielt die leere Schachtel in der Hand, bis er am Stadtrand von Berlin endlich eine Möglichkeit sah, sich neu einzudecken. Gerrit ging vom Gas und wollte gerade anfangen, den Sattelschlepper abzubremsen, um ihn in zweiter Reihe auf dem Hauptfahrstreifen abzustellen, als im linken Außenspiegel ein blau-silberner Streifenwagen von hinten auftauchte, der sich auf der linken Spur heranschob. Die Cops wurden ebenfalls langsamer, als ob sie sich für ihn interessierten. Ob es möglicherweise einen anderen Grund gab, konnte Winter in dem vibrierenden Außenspiegel nicht erkennen. Die Gelegenheit zum Zigarettenkauf jedenfalls strich provozierend langsam am rechten Seitenfenster vorbei.
„Scheiß Bullen“, knurrte Winter, ließ seinen Frust an der leeren Packung aus, schleuderte sie aufs Armaturenbrett und beschleunigte sein Gefährt auf Ortstempo. Im Spiegel wurde der Streifenwagen immer kleiner.
Auf der A 24 war der Drang, einen Glimmstängel zwischen die Zähne zu bekommen, kaum noch zu beherrschen.
„Gerrit“, halten ihm die Worte in den Ohren, „fahr die Strecke in einem Stück durch. Bau keine Scheiße, dass dich die Bullen anhalten und kontrollieren, das kostet nur unnötige Zeit. Halte nirgends an, hörst du. Nirgends! Stell den Zug vor dem Gelände ab und warte auf mich.“
Nirgends anhalten, Anweisungen dieser Art erhielt er nur selten. Das heißt, eigentlich waren sie schon regelmäßig. Im Schnitt alle zwei Monate, so genau wusste er das nicht und es war ihm auch egal. Es musste wohl besonders heikle Ware sein, die er wieder mal transportierte. Die Strecke schaffte er, wenn er wollte, jedes Mal ohne Zwischenstopp, es ging ja nur rund hundert Kilometer weit. Er konnte keine Rast machen, das würde man auf der Fahrerkarte mit den Fahrtaufzeichnungen problemlos sehen können, aber eine Pinkelpause sollte doch wohl drin sein.
Eine Zigarette, wenn er wenigstens noch eine einzige Zigarette hätte. Auf der Strecke wurde eine Raststätte angekündigt. Mit sehnsüchtigem Blick passierte er die ersten Entfernungsangaben.
Und wenn am Wagen etwas nicht in Ordnung war? Ein Rumpeln an der Hinterachse vielleicht? Etwas, das eine schnelle Überprüfung erforderlich machte. In wenigen Augenblicken würde er den Autohof erreichen.
Da kam auch schon das Schild näher. Gerrit kaute angespannt auf der Unterlippe, bevor er nach rechts zog.
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Der Sattelschlepper wurde verfolgt, nicht lange nach seinem Start hatte sich ein Kleintransporter an ihn angehängt. Dessen Fahrer war penibel darauf bedacht, den Abstand so groß zu halten, dass überholende Pkw problemlos einscheren konnten und der Fahrer im Lkw vor ihm im Rückspiegel keine Einzelheiten erkennen konnte. Sein Beifahrer hatte sich ganz nach rechts außen gequetscht, fast zwischen dem Sitz und der Tür. So konnte er seine Füße schräg auf dem Armaturenbrett ausstrecken.
Sie hielten bereits seit Stunden nach dem passenden Objekt Ausschau, waren zuletzt über eine längere Strecke einem vielversprechenden Lkw auf der A 24 bis nach Ludwigslust gefolgt, um dann mit ansehen zu müssen, wie der Lastzug auf einem geschlossenen Firmengelände verschwand. Entsprechend wortkarg und lustlos bewegten sie sich zurück nach Berlin, um von dort aus die Jagd neu zu beginnen. Als sie auf der Landstraße auf den durch seine Größe auf 60 km/h limitierten Sattelschlepper aufliefen, waren sie zunächst nur mäßig interessiert. Das Heck wirkte auf den ersten Blick zu ungepflegt, der Unterfahrschutz war völlig zerkratzt und rostig, die untere Falz war an der linken Seite aufgebogen. Dann aber fuhr das Gefährt durch eine enge Kurve. Starkes Einlenken machte es möglich, das flache Kühlaggregat zu erkennen, das an der Stirnseite des Aufliegers montiert war. Mit einem Schlag waren sie hellwach. Der Beifahrer setzte sich auf, strich sich über seinen rasierten Kopf und ließ den Wagen vor ihnen nicht aus den Augen, während er zum Handy griff und einen Gesprächspartner über ein neues, dem Anschein nach lohnendes Objekt informierte. Sie befanden sich bereits wieder auf der A 24, als ein silberner BMW zu ihnen stieß und den Lkw bei der ersten Gelegenheit überholte. Der Beifahrer schaute aufmerksam aus dem Fenster, während der Lkw langsam an ihm vorbei nach hinten zog. Die Sichtkontrolle musste zur Zufriedenheit ausgefallen sein, denn der silberne Wagen fuhr in der nächsten Ausfahrt von der Autobahn, um sich sofort wieder hinter den hellgrauen Kleintransporter zu hängen.
Als der Lkw die Ausfahrt nahm und auf den Autohof bog, waren die Beifahrer der beiden Verfolgerfahrzeuge längst am Telefonieren, um das weitere Vorgehen abzusprechen.
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Gerrit Winter fuhr langsam auf das Gelände des Autohofes, an den Zapfsäulen vorbei bis zum hinteren Bereich, dort, wo kurz vor der Ausfahrt die Trucker parkten. Ein Sattelschlepper mit einem Container stellte sich gerade auf den letzten freien Parkplatz, der sich im Sichtbereich des Restaurantgebäudes befand. Notgedrungen umrundete er die stehenden Fahrzeuge bis zum äußersten Rand, um weit entfernt zu parken. Im rechten Rückspiegel sah er, wie der Auflieger gegen die Äste der Bäume stieß, die den Autohof von der Zufahrtsstraße trennten. Der schwere Lastzug kam mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Das Führerhaus wippte noch einmal nach vorn, bevor der Fahrer die Luft der Handbremse mit einem lauten Zischlaut entweichen ließ und den Sattelschlepper so sicherte. Der schmächtige Bursche in Jeans und verblichenem rötlichen Muskelshirt kletterte aus dem Lkw heraus und schloss die Fahrertür ab. Mit fahrigen Handgriffen ordnete Gerrit seine abgerissene Kleidung, zog die Hose stramm und drückte sich das rote Basecap, auf dem ein springendes Pferd abgebildet war, tief in die Stirn. Dann schlurfte er in seinen offenstehenden Basketballstiefeln über den Parkplatz des Autohofes. Während das Gebäude näherkam, dachte er über die Ausrede nach, die er auftischen würde, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand die kleine Auszeit bemerken würde. Polternde Geräusche von der Hinterachse vielleicht. Ja, das wäre gut. So etwas ließ sich nicht widerlegen, ein Fremdkörper vielleicht, verkeilt in den Zwillingsreifen, bestimmt bei der langsamen Fahrt über das Gelände wieder verloren. Alles gewissenhaft kontrolliert, Chef, so ein Sattelschlepper stellt ja einen ordentlichen Wert dar, alles in Ordnung, weitergefahren. Zufrieden mit sich selbst schob er sich durch das Gedränge, wartete geduldig, bis er an die Reihe kam, und kaufte zwei Packungen Zigaretten. Er überlegte einen Moment unschlüssig und ließ sich dann noch einen Flachmann Rum geben, der er sofort in seiner Hosentasche verschwinden ließ. An der Toilette musste er wieder warten. Uringeruch stieg ihm in die Nase, er fing Wortfetzen anderer Trucker auf, die eindeutig osteuropäischer Herkunft waren und konnte endlich seine Notdurft verrichten. Noch im Ausgangsbereich der Toiletten steckte er sich mit hektischen Bewegungen eine Zigarette an und drehte sich verstohlen zur Seite, um einen Schluck aus dem Flachmann zu nehmen. Im Führerhaus lagen noch Pfefferminzbonbons, von denen er sich einen zwischen die Zähne schieben würde.
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Der Mann mit dem Handy am Ohr ließ Gerrit nicht aus den Augen. Kaum, dass der Lkw auf dem Parkplatz stand, war er aus dem BMW gestiegen und schlenderte langsam dem Gebäude entgegen, als würde er sich nach langer Fahrt die Beine vertreten. In seiner schwarzen Tuchhose und dem weißen Hemd wirkte er auf den ersten Blick wie einer der vielen Handelsreisenden, die die Autobahn bevölkerten. Eine große Sonnenbrille verhinderte, dass sein offensichtliches Interesse an dem Lkw-Fahrer auffiel. Er stand in sicherer Entfernung und schaute zu, wie Gerrit an der Kasse Zigaretten und Alkohol kaufte und beobachtete ihn, wie er mit der Warteschlange nach und nach in der Toilette verschwand. Jeden Schritt von ihm gab an seine Komplizen weiter, die sich draußen auf dem Parkplatz an dem Lkw zu schaffen machten. Einer von ihnen hantierte mit einem Aufbruchswerkzeug, das in einschlägigen Kreisen als Polenschlüssel bekannt war. Der schmächtige Gerrit trat aus dem Gebäude und inhalierte tief den Rauch seiner Zigarette, aber da war schon alles gelaufen.
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Die Zigarette war beinahe bis zum Filter geraucht, als er am Sattelschlepper ankam, beziehungsweise meinte, dass er jetzt angekommen sein musste. Nur war dort, wo er sein Fahrzeug vermutete, jetzt ein freier Parkplatz. Ungläubig und wie hypnotisiert starrte er auf die freie Fläche, bis ihn ein dumpfer Hupton aufschreckte. Hastig drehte er sich um, beinahe so, als ob er hoffte, aus einem Albtraum aufzuwachen. Aber es war kein Traum, ein Gliederzug mit blauem Führerhaus und grauen Planen stand hinter ihm, der Fahrer wedelte ärgerlich mit der Hand, weil er auf diesen freien Platz fahren wollte und er im Weg stand. Wie in Trance trat Gerrit zur Seite, trabte in Richtung Ausgang, kehrte um und ging die Reihe der parkenden Lkw ab, hoch und runter. Kein Zweifel, sein Lastzug war verschwunden. Wärme stieg in ihm auf, wie eben, als er den Rum getrunken hatte, nur war dieses Gefühl jetzt nicht mehr so angenehm. Immer noch tief in Gedanken versunken, die sich einfach nicht ordnen lassen wollten, bewegte sich Gerrit auf dem Gelände, bis ihn ein erneuter Hupton zurück in die Realität holte. Er ging mitten auf dem Durchfahrtsweg des Rastplatzes. Ein orangefarbener Klein-Lkw der Straßenmeisterei war bis auf Tuchfühlung herangefahren. Dessen Fahrer neigte den Kopf aus dem geöffneten Seitenfenster.
„Alles klar. Meister?“
„Nix ist klar“, murmelte Gerrit noch völlig geschockt. „Mir haben 'se den Laster geklaut.“
„Was für einen denn? Farbe? Groß?“
„Und ob groß. Kühlsattel. Hellgrau.“
Der Beifahrer des Straßenmeistereiwagen griff zum Hörer des Betriebsfunkgerätes, sprach in das Mikrofon hinein und raunte seinem Nebenmann etwas zu.
„Mein Kollege hat unsere Dienststelle angerufen, die verständigt die Polizei. Wir müssen jetzt weiter.“
Wie betäubt starrte Gerrit dem orangefarbenen Wagen hinterher. Durch seine jugendliche Kleidung wirkte er nicht wie ein Endvierziger, sondern wie ein verloren gegangener kleiner Junge. Endlich besann er sich, zog ein Handy aus der Hosentasche und drückte eine Kurzwahltaste.
„Wieso hältst du Idiot auf einem Rastplatz an?“
Die Stimme am anderen Ende überschlug sich beinahe.
„Hinten an der Achse hat es gerumpelt, da musst ich doch …“
„Laber nicht so einen Scheiß, du verdammter Trottel. Du wolltest dir Kippen oder Schnaps holen, oder beides.“
„Die Typen von der Straßenmeisterei haben die Bullen angerufen“, stammelte Gerrit aufgeregt und musste erleben, wie das Gebrüll seines Gesprächspartners die Leistungsfähigkeit des kleinen Handylautsprechers auf eine harte Probe stellte.
„Die Bullen? Bist du bescheuert? Sieh zu, dass du dort verschwindest und hier auftauchst. Wie, ist mir scheißegal. Aber lass dich ja nicht von den Bullen erwischen.“
„Wie soll ich denn zurückkommen?“, fragte der verunsicherte Mann in das Mikro, aber da war das Gespräch bereits beendet worden. Er schob das Handy zurück in die Hosentasche und stierte schuldbewusst in Richtung der Tankstelle. Während er noch überlegte, wie er mit den paar Kröten, die sich noch in seiner Tasche befanden, zurück in die Firma gelangen konnte, fiel ihm im rechten Augenwinkel der Streifenwagen der Autobahnpolizei auf. Der blausilberne Kombi kam zügig von der Autobahn, fuhr an der Ausfahrt vorbei und verschwand hinter dem Gebäude. In wenigen Augenblicken würde er links vom Rasthof auftauchen und über die Tankstelle fahren. Geistesgegenwärtig nahm Gerrit die rote Kappe ab, faltete sie und schob in die Gesäßtasche. Er glättete mit beiden Händen seine strähnigen, rotblonden Haare und verdrückte sich zwischen parkenden Lkw.
4. Erste Spuren
Michael Peschels Halbglatze tauchte in der geöffneten Tür auf, der Kollege warf Björn einen dünnen Stapel zusammengehefteter Blätter auf den Tisch.
„Das gesammelte Wissen über Dr. No“, grinste er in Anspielung auf einen uralten James-Bond-Film und ließ sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. „Ehemaliger Internist, seit drei Jahren im Ruhestand, obwohl er gerade erst sechzig geworden ist.“
„Hat bestimmt genug auf der hohen Kante“, erwiderte Björn.
Die Überprüfung von Dr. Karl Hempf, dem Mann, aus dessen Haus das kleine Mädchen abgeholt worden war, war schnell gegangen.
„Und? Wie sauber ist seine Weste?“
„Sie hat einen grauen Fleck. Unmittelbar vor seinem Ruhestand hat sich eine Patientin über ihn beschwert, dass er sich ihr gegenüber unangemessen verhalten hätte, ohne das näher zu konkretisieren.“
„Woher hast du das alles?“, staunte Björn.
„Kurzer Draht zur Ärztekammer“, erwiderte Michael, der anscheinend nicht näher darauf eingehen wollte, den er fuhr ungerührt fort. „Als sie dazu gefragt werden sollte, hat sie sich aber nicht mehr geäußert. Wenn du mich fragst, ist Schweigegeld geflossen. Kurz danach hat Hempf seine Praxis geschlossen, von diesem Zeitpunkt an hat es niemanden mehr interessiert. Aber ich habe noch etwas anderes.“
Björn sah den Kollegen mit neutralem Gesichtsausdruck an, ohne auf das geheimnisvolle Getue einzugehen.
„Er war am besagten Abend allein im Haus. Seine Frau befand sich in einem stationären Klinikaufenthalt, weil sie wegen ihrer Diabetes medikamentös neu eingestellt wurde.“
Jetzt pfiff Björn durch die Zähne, endlich etwas, wo sie den Hebel ansetzen konnten.
„Nimm mal Kontakt zu dieser ominösen Patientin auf, vielleicht kannst du ihr ja doch etwas entlocken. An Hempf selbst können wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht herantreten, der würde sowieso alles bestreiten. Was ist mit dem Wagen?“
Peschel schüttelte den Kopf.
„Wir haben den Narbenmann unter Beobachtung. Seinem Auto wurde ein Peilsender verpasst, um mal zu schauen, was er sonst noch so treibt. Der Kleinbus ist übrigens noch nicht wieder aufgetaucht.“
5. Fundsachen
Der Mann in der orangefarbenen Arbeitshose stand breitbeinig am Rand der Zufahrt zum Parkplatz, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Unter dem Latz wölbte sich ein beachtlicher Bauch, der nicht zu den dünnen Beinen passen wollte. Das gerötete und verschwitzte Gesicht war der Stelle zugewandt, die ihm sein Mitarbeiter von der Streckenkontrolle per Funk genannt hatte. Weil er das, was da kratzend und rauschend aus dem Lautsprecher kam, nicht glauben konnte, hatte sich der übergewichtige Vorarbeiter der Autobahnmeisterei selbst auf den Weg gemacht. Jetzt standen beide Straßenwärter nebeneinander und betrachteten die Spuren, die in das kleine Wäldchen an der Autobahn führten.
„Die müssen rückwärts reingefahren sein. Wenn ich nicht dringend hätte austreten müssen, wäre es mir gar nicht aufgefallen. Ich habe mich nur über die abgebrochenen Äste gewundert.“
Runge, der seit über dreißig Jahren an und auf der Autobahn arbeitete, hatte schon alles erlebt und gesehen, was die Abfallentsorgungsmentalität seiner Mitmenschen hergab. Kanisterweise Altöl, Autoreifen, zerlegte Autowracks, Matratzen, Fässer mit Chemieresten, eben alles, was bei bestimmungsgemäßer Entsorgung Kosten verursacht hätte. Abgeklärt zeigte er auf die Eindrücke im weichen Boden.
„Das muss ein großer Lkw gewesen sein, eindeutig Zwillingsreifen.“
Sein Mitarbeiter nickte nur und setzte sich in Bewegung. Vorsichtig bahnten sich die beiden Männer durch die am vorderen Rand stehenden, lädierten Bäume und waren gleich darauf in dem winzigen Wäldchen verschwunden. Sofort stürzten sich in der feuchtwarmen Atmosphäre des schattigen Bereiches Myriaden von Mücken auf die Männer.
„Das wird gleich noch viel schlimmer“, meinte der vor ihm gehende Kollege und wedelte hektisch mit den Händen. „Man riecht schon etwas.“
Wie um es zu beweisen, bewegte er die Luft samt der Mücken mit seinen zu einer Schaufel geformten Hände nach hinten, Runge entgegen. Der grunzte nur und stiefelte unverdrossen weiter.
Nach gut dreißig Metern stießen sie auf mannshohe Büsche, denen man ansah, dass etwas Schweres über sie gewalzt war, auch wenn sie sich zum Teil wieder aufgerichtet hatten. Der Gestank wurde unerträglich. Der Straßenwärter blieb stehen und zog die Büsche auseinander, damit sein Vorgesetzter hineinsehen konnte.
„So eine Sauerei“, meinte der, ohne Anstalten zu machen, auch nur einen Schritt weiter nach vorn zu machen.
„Wie viele sind das? Was schätzt du?“, presste er stattdessen heraus. Die Hand hielt er vor die Nase, als könnte er so den beißenden Geruch fernhalten.
„Zwanzig mindestens. Können wir wieder zurück? Ich halte das nicht aus hier.“
Seine Augen waren glasig, sie tränten bereits. Der Mann sah leidend aus, als müsste er körperliche Schmerzen ertragen.
Runge nickte nur und drehte auf dem Absatz um.
„Wir müssen die Polizei anrufen.“
Deutlich schneller als auf dem Hinweg verließen die Männer den Grüngürtel. Auf dem Parkplatz steckten sie sich hastig Zigaretten an und inhalierten den Rauch so tief sie konnten.
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Das Schauspiel mit dem leidenden Gesicht wiederholte sich exakt dreiundzwanzig Minuten später. Der Beamte der Autobahnpolizei kam unter wüsten Flüchen zurück durch das Unterholz gestakst. Mit den Händen versuchte er, die sich auf ihn stürzenden Stechmücken abzuwehren und zog sich dabei eine tiefe Schmarre auf der Stirn zu, weil er gegen einen Ast lief. Als er mit der Hand den Schmerz ertastete, verwischte er das frische Blut und stachelte die Insekten umso mehr an. Schwer atmend lehnte sich der schlanke Uniformierte an den Streifenwagen und klopfte mit der sauberen Hand seine Kleidung ab, bevor er den im Wagen sitzenden Fahrer ansprach.
„Das ist ja widerlich. Sprich die Wache an, die sollen einen Abdecker verständigen. Aber der muss einen großen Wagen samt Kran mitbringen, da liegen mindestens zwanzig Rinderhälften rum. Lass uns verschwinden, die können sich melden, wenn sie hier sind.“
Neunzig Minuten später war der Fahrer der Tierkörperbeseitigung auf dem Parkplatz. Der Streifenführer der Autobahnpolizei schaute skeptisch auf den roten lackierten Hubkran, der hinter dem weißen Führerhaus montiert war und die Tierkadaver in den silbernen Container hieven sollte.
„Der schafft was, keine Angst“, brummte der Fahrer zwischen zwei Zügen an seinem Zigarillo, als er den abschätzigen Blick bemerkte.
„Der Lkw stinkt ja jetzt schon zum Himmel. Zum Aufladen brauchst du uns ja bestimmt nicht, oder?“
„Ist nicht meine erste Tour heute. Zeigt mir die Stelle, an der ich am dichtesten herankomme, dann könnt ihr abhauen.“
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Der Streifenwagen kam mit hohem Tempo in die Abfahrt des kleinen Rastplatzes gefahren. Die Reifen sangen, weil das Fahrzeug fast bis zum Einsetzen des ABS scharf abgebremst wurde. Die Karosserie schaukelte noch, da war der Beifahrer bereits ausgestiegen. Der Mann trug jetzt ein längliches Pflaster auf der Stirn. Sichtlich verärgert stapfte er zu dem Fahrer der Abdeckerei, der nur wenige Schritte entfernt völlig entspannt auf der Bordsteinkante saß, ein Handy in der Hand hielt und an einem Zigarillo zog, der im Mundwinkel steckte.
„Was ist denn jetzt schon wieder? Ich dachte, das bekommst du alleine hin, die paar vergammelten Viecher einzusacken.“
Der Mann drehte sich provozierend langsam zur Seite, Asche seines Zigarillo fiel auf die offenstehende Brusttasche der Arbeitsjacke.
„Was wollt ihr denn hier? Meine Firma hat angerufen und gesagt, dass die Kripo kommen wird.“
„Das lasst mal schön unsere Sache sein, wer wann kommt. Also, was ist los?“
Der Mann machte keinerlei Anstalten aufzustehen. Er hob die Hand und zeigte mit dem Daumen hinter sich. Durch die grüne Wand war die Front seines Lkw kaum noch zu sehen.
„Wenn das eure Sache ist, dann mach dich mal auf den Weg. Immer dem Geruch nach, viel Vergnügen. Ich sage nur so viel, da hat jemand nicht nur Viecher entsorgt.“
Der Streifenbeamte machte sich wieder auf den Weg, diesmal kletterte auch sein wesentlich jüngerer Fahrer aus dem Wagen und folgte ihm. Am Lkw des Abdeckers angekommen, hüllte sie beißender Gestank ein. Die vom Fahrzeug verdrängten Sträucher drückten derartig fest an das Blech, dass die Beamten weit zur Seite ausweichen mussten, um den Gürtel der Büsche zu durchbrechen. Schließlich standen sie vor einer kleinen Lichtung, hielten sich mit einer Hand die Nase zu, während die andere versuchte, die aggressiven Insekten zu vertreiben.
Auf einer Fläche von dreißig bis vierzig Quadratmetern lag eine auf den ersten Blick kaum zu definierende Fleischmasse. Unzweifelhaft enthäutete Tierhälften, mit schleimiger Verwesungsflüssigkeit und Eiterblasen bedeckt. Der Abdecker hatte einige der Körper bereits angehoben und in den Hochboardcontainer verfrachtet, der als Aufbau des Lkw diente. An der Ladekante triefte eine dunkle Flüssigkeit von sirupartiger Konsistenz herab. Der Kran war wieder in Richtung der Kadaver zurückgefahren und auf halbem Weg stehen geblieben. Der Streifenführer ließ seinen Blick über den Bereich unterhalb der leicht pendelnden Kranschlinge wandern. Anhand einer Schleifspur, die sich über die Körper mit aufgerissenen, faustgroßen Eiterblasen hinwegzog, war der letzte Arbeitsschritt des Abdeckers nachzuvollziehen. Zwischen zwei verwesenden Tierhälften ragten Fremdkörper hervor, die nicht ins Bild passten. Füße, zierliche Füße. Der Beamte machte einen großen Schritt zur Seite und wäre beinahe gestolpert bei dem Versuch, nicht in die zum Heck des Lkw führende Schleimspur zu treten. Die nackte Haut war an verschiedenen Stellen aufgeplatzt, sie hatte beinahe die gleiche Farbe angenommen wie die sie umgebenden Kadaver. Der Blick des Polizeibeamten folgte der verdrehten Gestalt, von den in ihre Richtung weisenden Füße bis hinauf zu den Schultern. Hier stoppte der Mann abrupt und gab seinem Kollegen aufgeregt Handzeichen. Der junge Mann machte ebenfalls weitere Schritte seitwärts, kopfschüttelnd, weil sein Verstand das, was er sah, nicht glauben wollte. Auch er wäre beinahe gestolpert und konnte sich nur mit Mühe abfangen. Den Kopf ungläubig weit nach vorn gereckt starrte er auf den von Fäulnis entstellten Leichnam vor ihnen.
„Mein Gott“, presste er würgend hervor und drehte sich weg.
6. Konsequenzen
Der Fahrer kletterte zurück in den schweren Geländewagen und ließ ihn langsam durch das schäbige Tor rollen, nur um gleich darauf wieder anzuhalten. Mit langen, zügigen Schritten war er erneut am Tor, zog es zu und vergewisserte sich, dass der Verschlusszapfen einrastete. Misstrauisch schaute er den Rückleuchten eines vorbeifahrenden Pkw nach, bevor er zurück in den Wagen kletterte und bis zu einem schmuddelig aussehenden Rolltor am Hauptgebäude der ungepflegten Anlage fuhr. Weitere Fahrzeuge waren auf dem Areal nicht zu sehen. Wieder stieg der dunkel Gekleidete aus, der von einem Bewegungsmelder gesteuerte Scheinwerfer flammte auf. Der Mann trat dicht an das Rolltor, stieß zweimal kräftig mit seiner Fußspitze dagegen und blickte hinauf zu den Oberlichtern. Es dauerte nicht lange, bis im Inneren der Halle Licht aufflackerte und gleich darauf öffnete sich die in das Rolltor eingelassene Schlupftür.
Ein Kopf schaute heraus, lauernd blickten die Augen erst über das verlassene Gelände, dann hinüber zum Wagen. Die dunklen Haare des Mannes, der langsam einen Schritt nach draußen machte, waren bereits oberhalb der Ohren ausrasiert. Der Typ trug Jeans und ein blaugestreiftes Hemd, dazu eine weiße Schürze und schwarze Gummistiefel. Seine Hände steckten in hellblauen Gummihandschuhen.
Der Neuankömmling trat an ihn heran, mit einander zugeneigten Köpfen sprachen sie leise miteinander. Die Gestik des Mannes in der Schlachterkluft passte nicht zu dem kaum hörbaren Geraune, immer wieder machte er heftige Bewegungen mit seinen Händen.
Fadel kehrte zum Fahrzeug zurück, trat an die Beifahrerseite. Die stark abgetönte Scheibe rollte einen spaltbreit herab. Von dem Mann im Wagen war nur ein kleiner Teil des rasierten Schädels zu sehen. Er machte eine auffordernde Geste.
„Sie haben ihn stundenlang bearbeitet, er ist total am Ende. Aber er bleibt dabei, dass er nichts damit zu tun haben will.“
„Und was sagt er? Warum war er dort?“
„Erst hat er behauptet, dass die Hinterachse Geräusche gemacht hätte. Er wollte das nur kontrollieren. Als sie ihn härter angefasst haben, hat er schließlich zugegeben, dass er Zigaretten kaufen wollte und auf der Toilette war. Und dabei bleibt er jetzt, egal, was sie alles mit ihm angestellt haben.“
Der Mann im Wagen blieb stumm. Akram Fadel, der Mann mit der Narbe, stand breitbeinig neben dem luxuriösen Geländewagen und wartete geduldig. Er kannte seinen neuen Boss noch nicht lange genug, aber er wusste, dass der keine unüberlegten Entscheidungen traf. Ihm war jedoch klar, je länger es dauerte, umso einschneidender würde es für Gerrit Winter werden.
„Er weiß zu viel. Wenn der Inhalt der Ladung bekannt wird, kann er eins und eins zusammenzählen, spätestens nach dem heutigen Tag.“
Die Scheibe surrte nach oben.
Fadel ging zurück zu dem Wartenden, der sich in den Türrahmen zurückgezogen hatte und eine Zigarette rauchte. Leise raunte er ihm eine Anweisung zu.
Gleich danach verließ der Wagen das Gelände.
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Mahdi El Zein blickte dem Wagen nach, bis das Tor wieder verschlossen war und die Rücklichter verschwanden. Er schnippte die Zigarettenkippe in hohem Bogen weg und warf einen Blick auf den Anbau am anderen Ende des Grundstücks. Beide Fenster waren mit Vorhängen zugezogen, Lichtschein war nur an den Rändern zu erahnen. El Zein schlüpfte in die Halle zurück. Sorgfältig verriegelte er die Tür und schlurfte dann in seinen Gummistiefeln quer durch die Beladehalle zu einer anderen Tür, die aus stabilem Eisen war. Er hatte eben mit dem Vertreter seines Chefs gesprochen und die Anweisungen waren klar und unmissverständlich gewesen.
Mahdi schaltete die Hallenbeleuchtung aus, bevor er den Nebenraum betrat und auch diese Tür hinter sich verriegelte. Der Mann, der wartend an einem der Arbeitstische gelehnt hatte, schaute auf. Er trug die gleiche Frisur wie Mahdi, nur war seine Figur wesentlich muskulöser. Bekleidet war er nicht mit einer Schlachterkluft, sondern mit Jeans, T-Shirt und Sportschuhen. Auf Mahdis Kopfnicken hin setzte sich sein Zwillingsbruder Mahamad in Bewegung, den metallenen Baseballschläger ließ er am langen Arm auf dem gefliesten Boden schleifen, ein leises Knirschen begleitete seine Schritte wie eine unausgesprochene Drohung.
Gerrit Winter befand sich in der Mitte des Kühl- und Zerlegeraumes. Er war nackt. Seine Hände waren vorn mit Handschellen gefesselt. Ein derbes Seil zog hinter seinem Rücken die Ellenbogen zusammen und war in dem Flaschenzug eingehakt, der von der Decke hing und ihn soweit anhob, dass nur noch seine Zehenspitzen den Boden erreichten. Das Seil zerrte seine Hände gegen die Brust und zwang ihn in eine nach vorn gebeugte Haltung, als hätte er sich bereits aufgegeben. Gerrits Augen waren von Schlägen zugeschwollen, aus seiner Nase lief ein zäher, roter Schleimfaden bis hinunter zum Kinn. Von dort tropfte er auf die weißen Fliesen, löste sich in dem Urin, den Gerrit vor Angst verloren hatte, wolkenförmig auf und floss langsam dem Ausguss entgegen.
Gerrit hatte die Schritte gehört, er drehte den Kopf und versuchte, mit den verquollenen Augen etwas zu sehen.
„Lasst mich doch bitte zufrieden“, brachte er undeutlich hervor. Bei jedem Wort bildete das Blut in seinem Mund eine rötliche Blase zwischen seinen Lippen. „Ich habe doch alles gesagt, was ich gemacht habe.“
Mahamad hob bereits den Baseballschläger an, aber sein Bruder gebot ihm mit einem knappen Handzeichen Einhalt.
„Keine Angst, Gerrit. Wir schlagen dich nicht mehr.“
„Echt? Macht ihr mich auch los?“
Die Erleichterung war der Stimme trotz der nuschelnden Aussprache anzuhören.
„Gleich, Gerrit, gleich.“
Mahdi gab dem Bruder ein Zeichen mit Kopf. Neugierig trat er der an ihn heran.
„Ich habe es mir überlegt. Lass mich mit ihm allein. Ich werde das ohne dich erledigen.“
Der Zwillingsbruder zuckte mit den Schultern, drehte sich um und verließ den Raum genauso, wie er ihn betreten hatte. Erst als sich die Tür wieder schloss, war das Kratzen des Sportgerätes nicht mehr zu hören. Mahdi war der Ältere der beiden Bruder und damit der unangefochtene Patriarch nach dem Tod des Vaters. Auch wenn es nur wenige Minuten waren, die die beiden voneinander trennten, wurde seine Führungsrolle innerhalb der Familie niemals infrage gestellt.
Er starrte einen Moment auf die verschlossene Tür, als müsse er sich innerlich für das, was nun folgen sollte, wappnen. Nachdem die Starre abfiel, blickte er sich suchend im Raum um. Er trat dann an einen der Schränke heran und öffnete die Schubladen. In der Dritten fand er endlich, was er suchte, einen von jahrelanger Benutzung abgegriffenen Gegenstand in Form eines kurzen Metallrohres. Er hantierte daran herum, während Gerrit unruhiger wurde.
„Was ist denn jetzt? Machst du mich los? Du hast es versprochen. Oder etwa nicht?“
Je mehr er sprach, umso deutlicher wurden seine Worte.
„Ja, warte. Keine Angst, versprochen ist versprochen. Ich finde nichts, womit ich das Seil durchgeschnitten bekomme.“
Das Gerät war nicht geladen, die Suche ging weiter. Ganz hinten in der Schublade war ein zerbeulter Metallkasten, den er unter kratzenden Geräuschen nach vorn zog. Neben einigen Utensilien, deren Verwendungszweck er nicht einmal erahnte, befanden sich drei kleine Schachteln darin, die verschiedenfarbig markiert waren. Aufmerksam las er die Aufschriften, bis er die geeignete gefunden hatte. Rot, extrem starke Ladung für schwerste Tiere.
Umständlich lud er das Gerät, bis er endlich fertig war. Er trat langsam von hinten an Gerrit heran, passte auf, dass er dabei nicht in die Pissepfütze trat, hörte den rasselnden Atem des Gefesselten und registrierte mitleidlos, dass der ganze Körper zitterte.
„Weißt du, was dein Fehler war?“
„Nein, wie soll ich das wissen? Ich habe nichts Unrechtes gemacht.“
„Doch, hast du. Du bist Raucher, oder?“
„Ja und?“
„Rauchen führt zum Tod. Das weiß doch jeder Trottel.“
Bevor Gerrit noch einmal etwas sagen konnte, führte Mahdi das Bolzenschussgerät seitlich an die Schläfe und drückte ab.
7. Cadaverin
Jan Eggert wischte mit der Hand über seinen rasierten Schädel und schaute angewidert auf die stinkende Schleimspur, die quer vor seinen Gummistiefeln über dem Erdboden führte. Die Tierkadaver waren, nachdem der Leichnam geborgen worden war, unter äußerster Vorsicht in den Lkw des Abdeckers gehoben worden. Vorausgegangen war eine heftige Diskussion zwischen Claudia Harder und dem Leiter der Kriminaltechnik, der sich ihrem Ansinnen verweigert hatte, wenigstens einen der Kadaver als Beweismittel sicherzustellen. Als Kompromiss hatten seine Mitarbeiter Gewebeproben entnommen.
„Die bescheuerte Alte wollte tatsächlich so ein halbes Schwein einfrieren. Wie hältst du eigentlich diesen Gestank aus?“
Der Angesprochene richtete sich auf und setzte sich in Bewegung. Mit einem großen Schritt überquerte er die Schleifspur, wischte sich die Gummihandschuhe an seinem Papieroverall ab und verschob den Mundschutz, der das halbe Gesicht bedeckt hatte.
„Erkältungssalbe“, tippte er auf den weißen Pappdeckel, „anders geht es nicht.“
Der Kollege schien froh zu sein, für einen Moment die beengende Maske nicht tragen zu müssen. Seine Haut war schweißnass, die Augen tränten. Er zog einen der Gummihandschuhe aus und nahm die Zigarette entgegen, die ihm Jan vor das Gesicht hielt. Tief atmete er den Rauch ein.
„Das waren keine halben Schweine.“
„Nee? Was denne? Rinderhälften?“
„Wir sind uns nicht sicher. Rinder oder vielleicht auch Pferde. Mal sehen.“
„Und die Kleene? Könnt ihr schon etwas zu ihr sagen?“
Der Mann zuckte mit den Schultern und schaute hinüber zu dem von der Fäulnis verfärbten Körper, der auf einem Tuch lag. Zwei weitere Kollegen knieten neben der zierlichen Gestalt.
„Die Verwesung ist schon weit fortgeschritten. Ein Kind, wenn du mich fragst. Ich glaube nicht, dass sie älter als zwölf oder dreizehn ist. Keine äußerlichen Verletzungen, wenn man von den Handgelenken absieht.“
„Was ist denn mit den Handgelenken?“
„Sie sind offen. Ob das an der Fesselung lag oder ob es einen anderen Grund dafür gibt, lässt sich hier draußen nicht zweifelsfrei feststellen. Deshalb will ich gar nicht erst spekulieren.“
Kopfschüttelnd wandte sich Jan ab und ging einige Schritte in die Richtung des Rastplatzes zurück. Ein weiterer Kollege der Spurensicherung war gerade damit beschäftigt, einen über einen Meter langen Gipsabdruck der Reifenspur vom Erdboden zu lösen. Vorsichtig bewegte er sich daran vorbei, immer parallel zum im Erdreich zu sehenden Abdruck der Reifen.
Auf dem Rastplatz, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der zunächst ein unbekannter Lastwagen und danach das Abdeckerfahrzeug in das Wäldchen gefahren waren, stand der Zivilwagen. Harry Breugel hockte auf dem Beifahrersitz, die Tür weit geöffnet, als könnte er nicht genug Frischluft bekommen. Auf seinen Knien lag ein Klemmbrett, das oberste Blatt war randvoll mit Notizen beschrieben.
Mit gequältem Gesichtsausdruck schaute er auf, als er den Kollegen näherkommen sah.
„Ekelhaft, was?“, stieß Jan hervor.
Harry nickte. Er wirkte blasser als sowieso schon. Seine teigige Gesichtshaut war schneeweiß.
„Ich hab ja schon einiges gesehen und vor allem gerochen, aber diese Masse an Verwesung, nicht auszuhalten. Selbst mit Salbe in der Nase.“
Er hob den Arm und roch am Ärmelstoff.
„Sogar hier stinkt es, und dass, obwohl wir draußen im Freien waren.“
„Was ist mit den Reifenspuren?“, wollte Jan wissen.
Harry schüttelte den Kopf.
„Die Kollegen nehmen zwar Gipsabdrücke, aber das könnten sie sich sparen. Der Abdecker ist mit seinen Zwillingsreifen genau über die andere Spur gefahren und hat das, was eventuell nach der vergangenen Zeit noch da gewesen wäre, überlagert.“
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Ihre Augen waren hellblau, kalte Augen. Fast wie bei einem Fisch. Und weil sie auf jegliche Schminke verzichtete, wirkten die Augen noch kleiner in ihrem blassen Gesicht mit den vereinzelten Sommersprossen auf der Nase. Der Pony stand struppig ab, beinahe so, als hätte sie sich ihre blonden Haare selber geschnitten. Jan Eggert, der an der Tischecke im 90-Grad-Winkel zu ihr saß, musste sie ständig anschauen, ob er wollte oder nicht. Es war aber eher so, dass er es wollte. Ihre Figur war ganz passabel, ein bisschen knabenhaft vielleicht für seinen Geschmack, aber ihr Gesicht war durchaus sehenswert. Nicht, weil es übermäßig schön gewesen wäre, sondern weil es so anders war als all die Gesichter der Kolleginnen, denen Jan bislang begegnet war. Trotz ihres noch jungen Alters war die Stirn voller Mimikfalten. Bei jeder Regung legte sie sich in tiefe Falten, wie bei einem Schauspieler, der eine besonders übertriebene Gestik darstellen wollte.
Auf dem letzten gemeinsamen Umtrunk der kleinen Ermittlungsgruppe, bei der Sophie Sell und der andere Neue, Sven Krauss, ihren Einstand gegeben hatten, war er ihr ein bisschen auf den Leib gerückt. Zu fortgeschrittener Stunde und mit reichlicher Schräglage verkürzte er den Intimbereich bis auf Anschlag und flötete dabei ihren Vornamen in ihr rechtes Ohr, immer wieder, wie eine Schallplatte mit einem Sprung. Irgendwann, sie konnte aus Platzgründen nicht mehr ausweichen, platzte ihr der Kragen und sie gab ihm deutlich zu verstehen, was sie von seinen Annäherungsversuchen hielt.
Das nahm er ihr aber nicht weiter übel, denn Sophie war noch am gleichen Abend in der Kneipe in seinem Ansehen gestiegen. Ein anderer Gast hatte ebenfalls Gefallen an ihrer Figur gefunden und sie am Hinterteil betatscht, als sie auf dem Weg zur Toilette war. Ihre Reaktion war eine blitzschnell ausgeteilte Ohrfeige und eine Flut von Beschimpfungen, die gar nicht mehr enden wollte. Jan hatte noch nie eine Frau kennengelernt, die in der Lage war, so viele Schimpfworte in solch kurzer Zeit auszustoßen.
Nachdem nun geklärt war, dass sie nicht auf alte Säcke mit Alkoholproblemen stand, wie sie es sehr direkt formulierte, verlegte sich Jan aufs Beobachten. Er ließ sich keine ihrer Gesten entgehen und behielt dabei den schräg gegenübersitzenden Krauss im Auge. Der war wie Sophie neu in der Gruppe, zur gleichen Zeit dazu gestoßen und kaum älter als die Kollegin. Verschüchtert saß er am Tisch, hatte ein Notizheft aufgeklappt vor sich liegen, in dem er geflissentlich all das notierte, was ihm wichtig erschien und das, was ErSieEs Harder von sich gab, sowieso. Der ewige Streber, dachte Jan verächtlich.
Harry Breugel, der links von Jan saß, blätterte in einer dünnen Akte. Sein Gesicht war dabei völlig ausdruckslos, ob er nur so tat, den Inhalt zu studieren, war ihm nicht anzusehen.
Claudia Harder kam herein. Ihr Gesicht war hochrot und die Haare standen ungekämmt in alle Richtungen ab. Auf dem Ärmel ihres Schlabberpullis war immer noch der Kaffeefleck vom Vortag zu sehen, nur jetzt getrocknet und deshalb leicht verblichen wirkend. Ihrem Spitznamen ErSieEs machte sie beinahe täglich alle Ehre. Sie hatte mit Professor Thiel telefoniert, lautstark, das war den Kollegen im Besprechungsraum nicht entgangen.
„Dieser eingebildete Pinsel“, zischte sie und nahm umständlich Platz.
Mehrere dünne Fallakten, die sie vorher unter ihrem Arm geklemmt hatte, verteilten sich fächerartig vor ihr.
Das Verhältnis zwischen ihr und dem Rechtsmediziner Thiel war äußerst angespannt. Der arrogante und überheblich wirkende Pathologe hielt die ungepflegte und bisweilen unsicher wirkende Hauptkommissarin für die unfähigste Ermittlerin der Dienststelle und ließ keine Gelegenheit aus, ihr seine diesbezügliche Einschätzung unter die Nase zu reiben. Claudia Harder ihrerseits wusste sich auf ihre eigene Art zu wehren, indem sie den eitlen Arzt an seiner Achillesferse erwischte. In Anspielung auf den verbliebenen, ergrauten Haarkranz fragte sie ihn einmal scheinheilig, um wie viele Jahre er bereits das Pensionsalter überschritten hätte. Zu einem entspannteren Verhältnis hatte diese Frage definitiv nicht geführt.
„Wir bekommen heute keine Obduktion mehr, der große Meister hat zu viel zu tun.“
Umso besser, dachte Jan, der sich bereits bis zum späten Abend in der Pathologie gesehen hatte.
„Aber das macht nichts, wir haben genug zu tun. Jan, du kümmerst dich um die Schlachthöfe. Hier ist eine Liste. Vielleicht wird eine Anlieferung vermisst.“
Sie schob eines der Mäppchen über den Tisch.
„Unsere beiden Neulinge können sich um den Lkw kümmern. Überprüft, ob und welche Fahrzeuge in letzter Zeit geklaut wurden. Und wenn ihr nicht weiterkommt, klappert die großen Werkstätten ab.“
„Wir beide“, sie blickte hinüber zu Harry, „kümmern uns um die Vermisstenfälle.“
Jan grinste verstohlen, als sich sein Blick mit Harrys kreuzte. Die Beiden würden sich mit Sicherheit noch eines ganz besonderen Vermisstenfalles annehmen.
8. Vermisst
Katja Bergmann wippte nervös auf dem Hocker in der Küche, vor und zurück, immer soweit, dass das altersschwache Möbelstück nur noch auf zweien der vier Füße stand und sich die Holzkonstruktion leise quietschend verzog. Mit einer Hand presste sie das Handy fest an das linke Ohr, die andere hielt eine Zigarette, deren Asche unablässig auf den Linoleumboden fiel, weil die Hand so zitterte.
„Wer, sagten Sie, sind Sie?“, drang es aus dem Handy.
Trotz ihrer Anspannung nahm sie den genervten Unterton wahr.
„Katja Bergmann, die Lebensgefährtin von Herrn Winter.“
Sie war total angespannt und was noch viel schlimmer war, sie musste unbedingt etwas zum Trinken bekommen, wenn sie diesen Tag überstehen wollte. Nur herrschte in ihrer Geldbörse chronische Ebbe. Gerrit musste unbedingt wieder aufkreuzen, oder wenigstens sein Geld. Jetzt bloß keinen Fehler machen.
„Hier steht nichts von einer Lebensgefährtin“, kam es misstrauisch zurück. „Nach unseren Unterlagen ist Herr Winter allein lebend.“
Katja spürte, dass sich das Gespräch in eine ungünstige Richtung entwickelte, sie würde noch mehr aufpassen müssen.
„Wir haben, wir sind ...“, verhaspelte sie sich, „also wir leben noch nicht solange zusammen.“
Aufgeregt fuhr ihre Zunge über die trockenen Lippen.
„Am Telefon kann ich Ihnen keine Auskünfte geben.“
Die Stimme der Sachbearbeiterin der Arbeitsagentur wurde zunehmend unfreundlicher.
„Aber woher hätte ich denn sonst wissen sollen, dass er kein Geld bekommen hat, ich wohne doch mit ihm zusammen.“
Am anderen Ende blieb es einen Augenblick still. Katja Bergmann freute sich bereits und nahm einen tiefen Zug aus der beinahe verglimmten Zigarette.
„Herr Winter hat den letzten Gesprächstermin nicht eingehalten. Deshalb haben wir die Leistung gestoppt und um einen persönlichen Termin gebeten.“
„Aber Gerrit ist doch weg.“
„Wie weg?“
„Na verschwunden. Spurlos. Mit dem Lkw.“
„Moment mal. Herr Winter fährt nebenbei Lkw?“
Katja hätte sich ohrfeigen können, jetzt würde nur noch ein Wunder helfen.
„Ich vermerke das jetzt hier in der Akte. Wenn Herr Winter weitere Leistungen beziehen will, muss er hierher kommen, sagen Sie ihm das.“
Das Wunder war ausgeblieben.
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Karl-Heinz Bender wurde auf das Gekeife nur deshalb aufmerksam, weil er einen anderen Sender an seinem Fernseher einstellen wollte und sich durch mehrere Programmplätze zappen musste, die nicht belegt waren. Normalerweise war der Ton so laut gestellt, dass er auch bei dem auf kipp stehenden Fensters nichts hören würde. Der Rentner runzelte die Stirn und drehte den Kopf. Nein, er hatte sich nicht verhört, draußen war eindeutig eine weibliche Stimme zu hören.
Neugierig erhob sich der schwergewichtige Mann, durchquerte das altmodisch eingerichtete Wohnzimmer und trat an das Fenster. Vorsichtig schob er den Vorhang beiseite und spähte durch den entstandenen Spalt. Verblüfft stellte er fest, dass nichts zu sehen war. Sein Blick wanderte über den verlassenen Wendeplatz, an dessen Rand das Unkraut bereits kniehoch stand. Hatte er sich getäuscht? Bender wollte sich bereits abwenden, als er doch noch etwas entdeckte. Am seitlichen Pfeiler des vergammelten Eisentors gegenüber stand eine Frau. Das Geschlecht war nur durch die langen dunkelbraunen Haare zu vermuten, die Figur wirkte verhärmt und geschlechtslos. Die Person war dunkel gekleidet und hatte sich kaum vom Hintergrund abgehoben. Jetzt machte sie einen Schritt zur Seite, ergriff mit beiden Händen zwei Metallstangen des Tores und rüttelte an ihnen, ohne dass dies irgendeine Wirkung zeigte. Dabei zeterte sie mit einer kratzigen Stimme. Interessiert betrachtete Bender die Person und wartete auf die Reaktion, die vermutlich bald erfolgen würde. Normalerweise war vor seiner Haustür nichts mehr los. Er war der letzte Bewohner im alten Backsteinhaus, dessen Wohnungen die Stadt zeitweilig als Quartier für Sozialschwache und Asylsuchende genutzt hatte. Häufige Mieterwechsel jedoch hatten den Zustand des maroden Hauses immer weiter in Mitleidenschaft gezogen, bis niemand mehr einquartiert werden konnte. Als Alternative gab es nur Abriss oder Grundsanierung. Die Räumungskündigung für Bender war nur eine Frage der Zeit. Früher gab es wenigstens noch ordentlich Bewegung vor dem Haus, die Arbeiter und Fahrer der alten Fleischfabrik, die genau gegenüberlag, hatten ihre Autos in Höhe seiner Wohnung, am Wendeplatz der alten Gewerbestraße, geparkt. Regelmäßig hatte er mit einigen von ihnen ein paar Worte gewechselt, um sich die Zeit zu vertreiben.