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Ein autoerotischer Unfall in den Niederlanden, ein Suizid in Frankreich, ein tödlicher Motorradunfall auf der Hochalpenstraße, für die Polizei längst zu den Akten gelegte Todesfälle. Nur Anna-Lena im Personalbüro der NATO wittert einen Zusammenhang. "Jemand zieht durch Europa und bringt Soldaten um, zu Hause. Wo sie doch im Krieg sterben sollten." Viktor Huberts Worte lassen Valerie frösteln. Er ist die letzte bekannte Person, zu der Anna-Lena Kontakt hatte. Nur widerwillig und weil die ständig Verschwörungen witternde Anna-Lena nicht locker ließ, begann sie mit den Ermittlungen. Alle getöteten Soldaten gehörten einem geheimnisumwitterten Sonderkommando aus dem Jahr 2004 an. Valeries Recherchen treiben sie kreuz und quer durch Europa und führen sie wie in einer Zeitreise zurück in die Wirren des gerade beendeten Balkan-Krieges. Der Showdown soll am ehemaligen Zentrum der Welt, dem Forum Romanum, stattfinden, aber die Regie liegt längst in ganz anderen Händen. "Jahr der Ratten" ist der 4. und vorerst letzte Band der Leving & Holland Reihe um die Freundinnen Valerie Leving und Anna-Lena Holland. Erschienen sind in folgender Reihenfolge: 1. "Taubenzeit"- Independent-Veröffentlichung, 2. "Tödliche Zeiten"- Knaur Ebook, 3. "Angst macht große Augen", 4. "Jahr der Ratten" ( Wie alles begann ) - Independent-Veröffentlichung. Der Autor ist Mitglied im Autorennetzwerk Qindie. Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie also künftig auf das Qindie-Siegel! Für weitere Informationen, News und Veranstaltungen besuchen Sie unsere Website: qindie.de/
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L.U. Ulder
Jahr der Ratten
-Wie alles begann-
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Jahr der Ratten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Epilog
Impressum neobooks
( Wie alles begann )
L.U. Ulder
Leiden, Niederlande.
Frühsommer 2008
Der kleine Raum war nur spärlich möbliert, er ähnelte in seiner unpersönlichen Ausstrahlung mehr einer billigen Absteige als einem Appartement. Ein schmales Doppelbett mit Messingrahmen, von dem die verfärbte Beschichtung abblätterte, ein einzelner Nachttisch mit einer primitiven Lampe darauf. Das Sideboard bestand aus dem gleichen Material wie der Nachttisch, minderwertige Spanplatte mit einem gelblichen Plastikfurnier. An den Ecken bog sich der Umleimer hoch.
Vor dem Fenster ein Stoffvorhang aus unterschiedlichen Orangetönen, schachtelartig angeordnet. Die weißen Wände völlig kahl. Einziger persönlich wirkender Gegenstand war ein roter Ferrari GTO im Maßstab 1:18, der, wie von seinem Spielkameraden verlassen, auf dem Sideboard stand.
Die Nachttischlampe wäre in der Lage gewesen, der tristen Umgebung mit ihrem warmen, gelblichen Licht einen Hauch von gemütlichem Ambiente zu verleihen. Unter den gegebenen Umständen aber verstärkte sie nur die düstere Schmerzen und Blut verheißende Atmosphäre.
Der nackte Körper, regungslos in einem Geschirr hängend, warf in ihrem Licht den bizarren Schattenriss eines riesigen Vogels an die gegenüberliegende Wand.
Mit ausgebreiteten Armen an ein Aluminiumrohr geschnallt, das vom rechten Ellenbogen bis zur linken Hand reichte, baumelte nur der rechte Unterarm schlaff herunter.
Ein Kettenflaschenzug, an der Zimmerdecke und am Alurohr befestigt, zog den Mann in die Senkrechte auf seine weit abgewinkelten Knie. Eine an den Fußgelenken verzurrte Spreizstange verhinderte zuverlässig das Zusammenführen der Beine.
Durch den baumelnden Unterarm hing die Person schräg, die Anordnung wirkte asymmetrisch, ähnlich einer Jesusfigur, die jeden Moment vom Kreuz zu rutschen drohte.
Die zweite Person, die sich in dem Raum befand, hatte das Sideboard von der Wand gezogen und auf dem Fußboden verschoben, bis es genau mittig vor dem Bett stand.
Der dunkel gekleidete Mann trug dünne Lederhandschuhe, er arbeitete mit präzisen Handgriffen und ohne erkennbare Hektik. Aus dem mitgebrachten Rucksack hatte er einen Elektromotor von der Größe eines Scheibenwischerantriebes zutage gefördert und auf dem Sideboard abgelegt. Er richtete seine Lage penibel genau aus und befestigte ihn schließlich mit einer ebenfalls aus dem Rucksack stammenden Schraubzwinge. Dabei arbeitete er so vorsichtig wie möglich. Nur vereinzelt war ein leises, metallisches Klirren zu vernehmen.
Der Kopf des Gefesselten ruhte mit dem Kinn auf der Brust. Aus der Nase drangen schnaufende Atemgeräusche. Lautere Lebenszeichen ließ das Klebeband über dem Mund nicht zu.
Der andere Mann suchte in seinen Rucksack, bis er eine zwei Zentimeter breite Plastikschlaufe mit einer Öse daran in der Hand hielt. Mit spitzen Fingern ergriff er den Penis seines Opfers und schob die Schlaufe darüber, bis sie dicht am Körper saß. Eine Hand hielt die Schlaufe in ihrer Position, die andere zog sie fest zu. Augenblicklich begann sich die Hautfarbe des Geschlechtsteils in einen blass violetten Ton zu verändern. Die Blutstauung ließ das Glied ein wenig anschwellen, bis es rechtwinklig vom Körper abstand. Eine letzte nutzlose Erektion. Jetzt verband der Mann die Öse der Schlaufe mit einem Zahnriemen, der fest auf der Antriebswelle des Elektromotors saß und bis an den Körper heran ragte. Den Motor schloss er mit einem Trafo an das Stromnetz.
Plötzlich drang ein Geräusch in den Raum.
Der Kopf der unheimlichen Person wirbelte zur Seite, die Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Konzentriert horchte der Mann in den Flur der kleinen Wohnung, hielt dabei den Atem an. Aus dem Treppenhaus drangen die Geräusche zweier gut gelaunter Menschen, Gesprächsfetzen, aufgekratztes Kichern. Das durchdringende Klack Klack hoher Absätze wanderte die Treppe hinab, wurde erst lauter, danach entfernte es sich. Laute Rufe einer letzten Verabschiedung, die Haustür fiel schwer ins Schloss, gleich darauf kehrte Ruhe ein. Das Pärchen von vorhin hatte sein Tête-à-Tête beendet, die Frau die Wohnung ihres Liebhabers verlassen.
Der Mann konzentrierte sich wieder auf sein hilfloses Opfer. Er schaltete den Trafo ein, die Stromspannung erzeugte augenblicklich ein kaum wahrnehmbares, surrendes Geräusch. Er drückte auf einen Schalter der Kabelfernbedienung. Der Motor begann zu laufen und drehte langsam die Welle mit der Nylonschnur, die sich augenblicklich spannte. Unbarmherzig zerrte die tief im Fleisch sitzende Plastikschlinge den Penis in die Länge. Dabei schnitt sie ihre scharfe Kante immer weiter hinein in den Schwellkörper. Die Vorhaut wurde zu mehreren Falten zusammengeschoben, während sich die Haut um die Wurzel des Organs spannte und wie ein Zeltdach nach außen wölbte.
Sofort ließ er den Schalter los und drückte den Knopf daneben. Der Motor lief jetzt langsam rückwärts, die Schnur lockerte sich und der Penis kehrte in seine Ausgangsstellung zurück.
Er vergewisserte sich, dass das Kabel der Fernbedienung lang genug war, um sie dem Gefesselten in die Hand drücken zu können, auch das funktionierte zu seiner Zufriedenheit.
Die Zugkette des Flaschenzuges entfernte er aus der Reichweite des ungefesselten Unterarms und befestigte sie mit einem Draht, damit sie nicht zurückschwingen konnte.
Zuletzt nahm er eine Handvoll mitgebrachter Pornomagazine und verteilte sie in der Wohnung. Er legte sie auf dem Nachttisch und im Wohnzimmer auf dem Couchtisch neben dem Fernsehsessel ab. Der vorhin noch prall gefüllte Rucksack war nun leer, schlaff lag er auf dem Linoleumboden.
Der Mann trat nun dicht an sein Opfer heran, fasste ihm ins Gesicht und zog rücksichtslos ein Augenlid auf.
Keine Reaktion.
Ein paar hastig geschlagene Ohrfeigen brachten ebenfalls kein Ergebnis, noch nicht einmal die Atmung änderte sich.
Die Weckbemühungen waren ein Signal dafür, dass der Abend auf den von seinem Regisseur bestimmten Höhepunkt zustrebte.
Suchend schaute sich der Fremde um und machte einige Schritte in den Flur. Gleich darauf kehrte er mit einem hölzernen Baseballschläger zurück, den er prüfend durch seine Hände gleiten ließ. Er stellte sich zwischen sein Opfer und dem Sideboard, darauf bedacht, die feine Schnur nicht in ihrer Position zu verändern. Um einen festeren Stand zu haben, nahm er eine breitbeinige Haltung ein. Den verdickten Kopf des Schlägers führte er zwischen die Beine des Gefesselten und ließ ihn nach unten sinken. Ruckartig und mit voller Wucht riss er das Sportgerät nach oben. Mit einem klatschenden Geräusch schlug das Holz auf die ungeschützten Hoden. Der Schmerz ritt auf Schockwellen bis in die abgelegensten Nervenenden des Körpers, der sich jetzt in seiner Fesselung hin und her wand. Haut schnürte tief ein. Der freie Unterarm ruderte Halt suchend umher. Der Schmerzensschrei erstickte unter dem Klebeband, heraus kam lediglich ein gurgelndes Japsen, weil das Opfer sich verschluckte. Die Augen waren jetzt weit aufgerissen, angestrengt versuchte das benebelte Gehirn, die Situation zu erfassen.
Dabei hatte der Abend für Piet Lijsen unspektakulär begonnen. So wie beinahe jeder Abend in den letzten sechs Monaten, seit er aus dem Militär entlassen worden war. Nichts, überhaupt nichts hatte darauf hingedeutet, dass es sein letzter Abend werden sollte.
Wie immer war er in die Kneipe eingekehrt, die sich nur ein paar Straßenecken von seiner Wohnung entfernt befand. Früher, in seiner Jugendzeit, war sie ein beliebter Jugendtreff gewesen. Hier konnten sie flippern, Tischfußball spielen, ihre ersten Biere trinken und Mädchen anbaggern. Aber diese Zeiten waren lange vorbei. Andere Attraktionen ließen gut situierte Kundschaft fortbleiben. Jetzt freute sich der Wirt, wenn sich außer der Handvoll Alkoholiker als ständigem Stammpublikum ein neuer Gast in seine heruntergekommene Spelunke verirrte. Die Erinnerungen seiner Jugendzeit im Kopf hatten Piet hier hineingeführt. In der äußersten Ecke der Theke, weit weg von den anderen, laut schwatzenden und grölenden Gästen, saß er und trank ein Bier nach dem anderen, den ganzen Abend und fast jeden Abend in den vergangenen Monaten.
Die anderen Kneipengäste beäugten ihn neugierig, weil er sich absonderte und keinerlei Anstalten machte, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Grietje, eine grellrot gefärbte Endvierzigerin, die sich für unwiderstehlich hielt, startete eines Abends einen Versuch. Aus Neugierde und vielleicht auch, weil der achtundzwanzigjährige, schlanke Mann mit den kurzen blonden Haaren im Vergleich zu den anderen abgetakelten Gestalten einen ausgesprochen attraktiven Eindruck machte. Mit dem Bierglas in der Hand rutschte sie auf der Holzbank entlang, bis sie direkt neben Piet saß. Ihre Körpermotorik hatte alkoholbedingt bereits erheblich an Präzision verloren, beim Abstellen ihres Glases schwappte eine Pfütze Bier auf die Theke. Der Exsoldat bekam jetzt Gelegenheit, ihre aufgedunsene Haut und die roten Adern auf den Wangen aus nächster Nähe zu betrachten. Dazu schlug ihm ein feuchter Alkoholdunst entgegen, der ihm den Atem raubte. Piet fächelte sich mit einem Bierdeckel neutralere Luft zu. Die anderen Gäste konnten nicht verstehen, welche Worte die beiden wechselten, weil jemand kurz vor Grietjes Annäherungsversuch die alte Musikbox gefüttert hatte. Der Schankraum wurde plötzlich mit dröhnender Countrymusik geflutet. Man konnte aber erkennen, dass er immer weiter von ihr wegrutschte, bis er an der Wand angelangt war. Es dauerte nicht lange und sie kehrte zu den anderen Trinkern zurück. Piet hatte sie abblitzen lassen.
Diese Niederlage verarbeitete sie auf ihre Weise.
„Der ist bestimmt schwul“, übertönte sie mit ihrer rauchigen Stimme spielend das Musikgerät. Die anderen Gäste, alles Männer, lachten schallend und schauten grinsend zu ihm herüber. In der Folgezeit ließen sie ihn zufrieden. Aber aus den neugierigen Blicken waren misstrauische geworden.
Piet gehörte nicht zu ihnen und das wollte er auch gar nicht. Er wirkte wie ein Reisender in einer Wartehalle, der jeden Tag aufs Neue mit stoischer Ruhe vergebens auf seinen Zug wartete.
Der Wirt, ein grauhaariger Mann mit breiten Koteletten und einem mächtigen Bauch unter seiner Lederschürze, gesellte sich eines Abends zu ihm, als Piet wieder einmal als Letzter übrig geblieben war.
Vielleicht war es der Alkohol, der seine Zunge gelockert hatte, vielleicht auch die selbst gewählte Einsamkeit, Piet begann, von seiner Militärzeit zu erzählen. Mitglied einer Sondereinheit sei er gewesen, Kommando Spezialkräfte des Niederländischen Heeres, mit allen Ehren ausgeschieden. Im Moment lebe er von seiner Abfindung, aber er warte auf eine große Sache, ein dickes Ding, wie er es geheimnisvoll umschrieb, mehr war ihm nicht zu entlocken.
Aber das war auch nicht nötig gewesen. Stirnrunzelnd hatte der Wirt die Augen verdreht und sich wieder um seine Geschäfte gekümmert.
Kneipen wie seine waren voll von Geschichten über Spezialeinheiten, vergebenen Lebenschancen und Fantastereien über das lang ersehnte große Glück, das dicke Ding. Das Gespräch hatte der Kneipier sicher schnell wieder vergessen.
An diesem letzten Abend seines Lebens war Piet wieder einmal der einzige verbliebene Gast.
Die anderen waren vom Wirt nach und nach hinauskomplimentiert worden. Die Stühle an den Tischen im Schankraum waren bereits nach oben gestellt, damit die Putzfrau morgen früh gleich durchwischen konnte. Der Wirt stellte sich hinter seinem Tresen auf gleiche Höhe mit Piet, in der Hoffnung, ihn bald loszuwerden.
Aber der schwenkte mit energischen Bewegungen sein Glas im trüben Thekenlicht. Halbhoch stand der Schaum im Glas, so hastig hatte er getrunken.
Der Wirt seufzte. Unter der Woche legte er großen Wert darauf, vor Mitternacht Feierabend zu machen.
Vor zehn Minuten bereits hatte er ihm die letzte Bestellmöglichkeit angekündigt.
Achselzuckend stellte er ihm noch ein Bier hin.
Piet hatte schon deutliche Schlagseite, sein Kopf ruhte an dem Eckpfosten der Theke, beim Anblick des frischen Bieres huschte ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht.
Als ultimative Aufforderung zum Gehen spendierte der Wirt seinem letzten Gast noch einen Genever. Einen neuen Stammkunden wollte er schließlich nicht vergraulen.
„So Junge, der geht auf mich. Aber dann ist wirklich Schluss. Ich mache jetzt die Theke sauber, und wenn ich damit fertig bin, ist Zapfenstreich.“
Piet trank das Bier mit einem Zug aus und stürzte den Genever hinterher. Er wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche. Er fummelte darin herum, fand sich aber nicht mehr zurecht.
Also hielt er dem Wirt seine offene Börse hin und wartete ab, bis der sich daraus bedient hatte, um die Rechnung zu kassieren.
Dann klopfte er zweimal auf die Theke und machte sich auf den Weg.
Mit unsicherem Schritt trat er hinaus auf die Straße. Er blieb stehen und sog die Luft tief in seine Lunge ein. Es war kühl, die Luft roch nach feuchter Erde. Vom bevorstehenden Sommer war noch nichts zu spüren.
Im gegenüberliegenden Hauseingang zog sich eine Person tiefer in den Schatten zurück, als sie Piet erkannte. Geduldig wartete sie ab, bis er sich wieder in Bewegung setzte.
Die plötzliche Frischluft verstärkte die Wirkung des Alkohols, schwankend über eine ganze Gehwegbreite stolperte der Mann nach Hause. Die Person aus dem Hauseingang fluchte leise, dann folgte sie ihm wie ein unheilvoller Schatten.
Die wenigen Passanten, die noch unterwegs waren, nahmen keine Notiz von dem betrunkenen jungen Mann, der nach Hause wankte.
Laut hallten die unregelmäßigen, tapsigen Schritte auf dem nassen Pflaster. An der nächsten Hausecke blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen, angestrengt stierte er auf einen imaginären Punkt. Sein Verfolger drückte sich dicht in das Dunkel eines Mauervorsprungs und beobachtete Piet aufmerksam. Dann klärte sich das Problem. Breitbeinig tapste der Betrunkene auf die Hauswand zu und blieb dicht vor ihr stehen. Er fummelte vorn an seiner Hose. Aber es gelang ihm nicht, dabei still stehen zu bleiben.
„Holla“.
Er beugte sich nach vorn und stützte sich jetzt mit einer Hand an der Wand ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit der anderen Hand fingerte er an seinem Hosenschlitz. Gleich darauf ließ sich ein deutliches Plätschern vernehmen. Der Alkohol hatte ihn so enthemmt, dass er auf offener Straße seine Notdurft verrichtete.
Ein Pärchen ging eingehakt vorbei, die Frau sagte etwas zu Piet. Aber als der sich in die Richtung umdrehte, aus der er das Geräusch wahrgenommen hatte, waren die Leute bereits an ihm vorbeigegangen und er starrte ins Leere.
Piet pinkelte mit vollem Druck gegen die Hauswand und ein mit Schaumblasen besetztes Rinnsal lief hinunter, spielte an seinen Schuhen entlang und verlor sich in der Gosse.
Dabei war ein zufriedenes Grunzen zu hören.
Endlich setzte er sich wieder in Bewegung, bis ins Bett war es nun nicht mehr weit.
Der schwarz gekleidete Mann folgte ihm in kurzem Abstand. Wäre Piet nüchtern gewesen, hätte ihm der unheimliche Verfolger auffallen müssen, so dicht war der Mann hinter ihm, aber in seinem Zustand bemerkte er ihn nicht. Nach ein paar Straßenecken lagen die letzten belebten Straßen hinter ihm. Die Gassen hier waren wie ausgestorben. Kein Mensch war weit und breit unterwegs, nur der betrunkene Exsoldat, dem ein schwarzer Schatten wie ein Pilotfisch folgte.
Sie näherten sich schließlich dem Haus, in dem sich Piets Wohnung befand. Der Verfolger beschleunigte seinen Schritt und verkürzte so den Abstand.
In diesem Moment fuhr auf der Straße ein Wagen vor und hielt vor dem Haus. Am Steuer eine Frau, ein Mann auf dem Beifahrersitz. Das Pärchen stieg aus, krachend flogen die Türen zu. Durch die Grabesstille rundherum wirkten die beiden wie Randalierer, die laut schwatzend und lachend auf die Eingangstür zugingen. Piet registrierte die Personen und beschleunigte seinen Schritt. Er gelangte an die Tür, kurz bevor sie wieder ins Schloss fiel. Schwungvoll drückte er sich durch den Spalt.
Der junge Mann trat mit gespieltem Schrecken einen Schritt zurück.
„Hallo, Meneer Lijsen. Sie haben es aber eilig!“
Piet Lijsen schaute trübe aus glasigen Augen und stolperte an den beiden vorbei die Treppe hinauf.
Dass ihm der Mann ein vielsagendes „Ganz schön feucht geworden, was?“ hinterher rief, drang nicht in sein Bewusstsein vor.
Das Pärchen amüsierte sich köstlich. Der Mann drückte die Tür zu und imitierte auf den ersten Stufen Piets schwankenden Gang. Beide lachten ausgelassen und dann folgten sie ihm nach oben.
Auf der anderen Straßenseite zog sich der Verfolger in den Schatten eines Gebüschs zurück. Hier hatte er vorhin, nachdem es dunkel geworden war, einen prall gefüllten Rucksack versteckt. Erst danach hatte er sich auf den Weg zur Kneipe aufgemacht, um mit der Ruhe und Ausdauer eines erfahrenen Jägers auf sein Opfer zu warten. Jetzt schlug er den Kragen seiner Jacke hoch und setzte sich eine Strickmütze auf den Kopf.
Es ging auf den Sommer zu, tagsüber schaute die Sonne schon regelmäßig heraus, aber die Nächte waren immer noch empfindlich kalt. Die Nähe zur See trug mit ihrer feuchten Luft dazu bei. Der Regen vom Nachmittag hatte die Luft zusätzlich abgekühlt.
Der Mann ging in die Hocke und vermied es wegen der Feuchtigkeit, mit den Ästen des Busches in Berührung zu kommen.
In den vergangenen Tagen war diese Person, ausstaffiert mit Sonnenbrille und Mütze, damit beschäftigt gewesen, Piets Gewohnheiten zu studieren. Der Ex-Soldat verließ die Wohnung tagsüber nur zum Einkaufen. Er ging immer in den gleichen Supermarkt um die Ecke. Und immer war er dabei allein. Sein Einkaufswagen verriet dem Beobachter, dass auch in der Wohnung niemand auf ihn wartete. Fertiggerichte, meistens Pizza und dazu Dosenbier waren die häufigsten Artikel auf seiner imaginären Einkaufsliste. Abends zog es ihn wie ein Magnet in die schmierige Pinte ein paar Straßen weiter.
Das plötzliche Auftauchen des Pärchens zu dieser späten Stunde schien die ursprüngliche Planung durcheinandergebracht zu haben.
Angespannt beobachtete der Mann, in welcher Wohnung die beiden verschwanden. Piets Wohnung war längst ausgemacht, sie befand sich in der ersten Etage rechts. Wie zur Bestätigung ging auch schon in dieser Wohnung das Licht an.
Nur das Pärchen ließ sich viel Zeit damit, nach oben zu gelangen. Dann, endlich, kamen sie ins Blickfeld.
Durch die hellerleuchteten Treppenhausfenster ließ sich der Weg der Personen verfolgen. Immer wenn sie den Scheitelpunkt der Zwischentreppe erreichten, waren sie für einen kurzen Augenblick zu sehen. Als sie Piets Wohnung passiert hatten, blieben sie auf halber Treppe stehen. Eng umschlungen küssten sie sich, lange und leidenschaftlich. Das also war der Grund dafür, warum es solange dauerte.
Das Licht erlosch und es blieb dunkel im Hausflur. Lange genug, um den nächtlichen Beobachter unruhig werden zu lassen, der angestrengt sämtliche Fenster des Treppenhauses überflog. Als es endlich wieder ansprang, waren die Personen nicht mehr zu sehen. Dafür ging gleich darauf in der Wohnung in der zweiten Etage links die Beleuchtung an.
Das Treppenhaus wurde wieder dunkel. Nicht viel später verdunkelte sich auch die Wohnung des Pärchens. Aus einem der Straße abgewandten Raum drang noch etwas Licht zu den vorderen Fenstern, von unten kaum auszumachen.
Sie hatten ohnehin nicht den Eindruck gemacht, dass sie sich gleich zur Ruhe begeben wollten. Auf das, was sich bald im Haus abspielen sollte, würden sie nicht achten.
Der Rest des Hauses war längst in den Schlaf gefallen, nur in Piets Wohnung brannte weiter unverändert das Licht, ohne dass sich eine Bewegung hinter den Scheiben wahrnehmen ließ.
Die Straße war vollkommen ruhig, das ganze Viertel schien wie von einer dicken Watteschicht eingehüllt, die alle Geräusche dämpfte. Nur gelegentlich ließ sich aus der Entfernung dumpfes Motorengeräusch eines Fahrzeuges vernehmen, das aber rasch wieder verebbte.
Der schwarz gekleidete, drahtig wirkende Mann wartete geduldig weiter in seinem klammen Versteck.
Er besaß ein kantiges Gesicht, um die stahlgrauen Augen und dem schmalen Mund zogen sich erste, feine Spuren des beginnenden Alterungsprozesses. Mit wachen Augen beobachtete er die Umgebung, sicherte sich immer wieder nach allen Seiten ab.
Das Licht in Piets Wohnung erlosch einfach nicht. Eine weitere Stunde ließ er verstreichen, dann erst kam Leben in die unbeweglich im Gebüsch kauernde Person. Der Mann schnappte sich seinen Rucksack, in dem es leise metallisch klirrte, schnallte ihn sich auf den Rücken und beugte sich etwas nach vorn. Wieder schaute er sich nach allen Seiten um. Dann bewegte er sich schnell und lautlos über die Straße, um auf der gegenüberliegenden Seite gleich wieder im Schatten des anderen Hauses zu verschwinden. Er wartete ab, ob sein Positionswechsel eine Reaktion ausgelöst hatte. Irgendein Bewohner vielleicht, der nicht schlafen konnte und im Dunkel der Nacht eine Zigarette am geöffneten Fenster rauchte. Aber es war nichts zu sehen und nichts zu hören, alles blieb ruhig. Mit beiden Händen prüfte er die Stabilität der Regenrinne und zog sich daran spielerisch zum Balkon der Parterrewohnung hinauf. Es dauerte nur wenige Augenblicke und er stand, ohne verräterische Geräusche verursacht zu haben, auf Piets Balkon.
Er atmete etwas flacher und schneller als vorher, mehr war ihm von der Anstrengung nicht anzumerken.
Um nicht von einem zufälligen Nachtschwärmer gesehen zu werden, vermied er es, vor das erhellte Fenster zu treten. Vor der Wand war es durch den Kontrast der Wohnungsbeleuchtung besonders dunkel. Wie ein Raubtier, das eine Witterung aufnehmen will, hob er die Nase. Sein Gesicht hatte einen grausamen, entschlossenen Zug bekommen. Er schaute sich um und achtete auf jedes Geräusch. Die Straße war so leer und ruhig wie zuvor, die Fenster der gegenüberliegenden Häuser waren dunkel geblieben.
Aus der Wohnung drang deutlich ein lautes, gleichmäßiges Schnarchen.
Die abgekippte Balkontür ließ den Besucher zufrieden grinsen. Er kniete sich auf den Boden, der Rucksack glitt vorsichtig vom Rücken. Aus einer der beiden kleinen, vorn aufgesetzten Taschen zog er ein Stück Plastikrohr, nur wenige Zentimeter lang. An beiden Enden war eine Schnur befestigt. Er langte durch den Türspalt und steckte das Röhrchen von außen auf den nach oben zeigenden Verriegelungsgriff der Balkontür. Mit einer Schnur zog er das Röhrchen fest nach unten, damit es nicht vom Griff rutschen konnte. Die andere Schnur drapierte er so über die nach innen lehnende Tür, dass er sie am anderen Ende wieder greifen konnte. Er zog sie straff. Es war noch ein alter Beschlag ohne Sicherungsvorrichtung. Der Griff wurde durch die Spannung der Schnur bewegt und drehte sich zur Seite.
Die Tür war entriegelt.
Vorsichtig ließ er die Tür nach innen schwingen. Auf den Knien kroch er hinterher und war verschwunden. Innerhalb weniger Minuten war er in die Wohnung gelangt und hatte dabei weder Geräusche verursacht noch verräterische Spuren hinterlassen.
Gleich darauf wurden die Vorhänge von einer dunklen Gestalt zugezogen.
Alles, was nun passierte, blieb vor neugierigen Blicken verborgen.
Piet Lijsen lag mit dem Rücken auf dem Bett, noch vollständig angezogen. Er hatte sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, die Schuhe auszuziehen. Der Mund war weit geöffnet, aus ihm drangen gleichmäßig laute Atemgeräusche, der Brustkorb hob und senkte sich. Im Raum waberte eine unangenehme, feuchtwarme Mischung aus Alkoholdunst, Körpergeruch und Verdauungsgasen.
Sein Besucher musterte ihn emotionslos und überprüfte schnell die anderen Räume. Piet war wie erwartet allein, bis auf seinen ungebetenen Gast.
Die Einrichtung war typisch für einen Junggesellen, im Wohnraum eine Ledercouch, ein billiger Tisch, ein Regal mit einem großen Fernseher darauf, ein alter Schrank. In der Ecke eine Stereoanlage mit riesigen Lautsprecherboxen.
Nirgends war die gestalterische Handschrift einer Frau erkennbar.
Aus der Jackentasche zog der Besucher ein kleines Bündel, einen Glasflakon, von einem Tuch geschützt. Ohne den Mann auf dem Bett aus den Augen zu lassen, öffnete er das zerbrechliche Gefäß und verteilte die klare Flüssigkeit großzügig auf dem Tuch.
Das Schnarchen blieb währenddessen im gleichen Rhythmus.
Piet hatte jetzt keine Chance mehr.
Als sich das Tuch auf sein Gesicht legte, veränderte sich das Atemgeräusch kurzfristig zu einer Art unregelmäßigem Schnattern und der Kopf kam im Reflex nach oben. Gleich darauf aber sackte der Körper in sich zusammen und fiel in eine tiefe Bewusstlosigkeit.
Eine Bewusstlosigkeit, aus der das Erwachen furchtbar werden sollte.
Mit der gleichen stoischen Ruhe, die der Mann beim Beobachten seines Opfers an den Tag gelegt hatte, begann er seine Vorbereitungen für den weiteren Verlauf der Nacht.
Aus dem Rucksack zog er eine Unzahl von Utensilien heraus, legte sie auf einen kleinen Tisch, den er aus dem Wohnzimmer geholt hatte.
Dann begann er, Piet zu entkleiden.
Stunden später, die ersten Frühaufsteher bevölkerten die Straßen, um zur Arbeit zu gelangen, verließ ein dunkel gekleideter Mann mit schwarzer Mütze und hochgeschlagenem Kragen das Haus. Er ging mit ruhigen Schritten die Straße entlang und wirkte dabei wie ein Arbeiter auf dem Weg zur Frühschicht. Sein Aussehen war völlig unauffällig. Niemandem fiel etwas Ungewöhnliches an dieser Person auf.
„Was ist das, ein autoerotischer Unfall?“
Valerie zog die Augenbrauen zusammen und legte den Stift langsam zur Seite. Seit Stunden brütete sie bereits über Kriminalstatistiken verschiedener europäischer Mitgliedsstaaten und versuchte, sie auf einen gemeinsamen, computerauswertbaren Nenner zu bringen. Eine Sisyphusarbeit. Ihre Tätigkeit bei Europol hatte sie sich anders vorgestellt. Irgendwelche interessanten Ermittlungen, vielleicht Bandenkriminalität, Rauschgiftschmuggel, internationale Verbindungen oder sonst etwas. Und nun? Trockene Zahlenspiele, von Ermittlungen keine Spur, schon gar nicht von interessanten. Vermutlich fiel deshalb ihre Reaktion heftiger als beabsichtigt aus.
„Anna, was hast du jetzt wieder angestellt? Bist du immer noch mit diesem verheirateten Kerl zusammen?“ knurrte sie in den Hörer.
„He, was ist dir denn über die Leber gelaufen? Bleib mal schön geschmeidig.“
Anna-Lena war nicht der Typ Mensch, der sich seine gute Laune so schnell verderben ließ. Fröhlich plapperte sie weiter.
„Ich trage hier gerade ein paar Abgänge aus, da ist mir die merkwürdige Todesursache eines Soldaten aufgefallen. Autoerotischer Unfall, davon habe ich noch nie gehört.“
Anna-Lena war ihre beste Freundin. Valerie nannte sie nur Anna, Anne, oder Lene. Manchmal auch Lenchen, wenn sie sie ärgern wollte. Darauf reagierte sie immer sofort.
„So heißt eine Oma“, pflegte sie zu entgegnen.
Anna-Lena, vier Silben. Wer tut so etwas seinem Kind an? Aber sie trug Schuld daran, dass sie jetzt in Den Haag über trockene Statistiken grübeln musste. Schließlich war Anna es gewesen, die sie nach der Enttäuschung mit Jan darin bestärkt hatte, die plötzlich frei werdende Hospitationsstelle bei Europol anzunehmen.
Nicht ganz uneigennützig.
Anne war als Fremdsprachenkorrespondentin im NATO-Hauptquartier in Brüssel gelandet und arbeitete jetzt in der Personalabteilung, nicht unbedingt die geplante und ersehnte Traumkarriere. Aber auch Valeries Lebenslauf hatte im Laufe der Jahre manchen Knick bekommen. Als Tochter eines Hamburger Rechtsanwaltes stand fest, dass sie nach dem Abitur Jura studieren musste. Dass sie das Studium schließlich hinwarf und bei der Hamburger Kripo anheuerte, konnte ihr Vater bis zu seinem Tod vor zwei Jahren nicht verwinden. Wenigstens hatte ihr abgebrochenes Jurastudium und ganz besonders das Spezialgebiet, Europäisches Recht, dazu beigetragen, die Europol-Stelle zu bekommen, ohne das übliche Auswahlverfahren bei Landeskriminalamt und Bundeskriminalamt zu durchlaufen. Als geforderte zweite Fremdsprache konnte sie nahezu fließende Italienischkenntnisse vorweisen. Ihre schnelle Versetzung nach Den Haag war einer Flucht aus Hamburg gleichgekommen.
Und Anna hatte sich vor Freude die Hände gerieben. Ihre Affäre mit einem verheirateten Mann war dafür verantwortlich, dass sie jedes Wochenende allein in ihrer kleinen Brüsseler Wohnung hockte. Endlich war ihre Freundin wieder in der Nähe, endlich konnte wieder etwas gemeinsam unternommen werden.
„Was um alles in der Welt sind Abgänge?“, fragte Valerie, obwohl sie die Antwort bereits ahnte.
„Gestorbene Soldaten natürlich.“
„Das ist ziemlich pietätlos, findest du nicht?“
„Mag sein, aber das ist hier nun mal der übliche Sprachgebrauch und ändern tut es auch nichts mehr.“
„Was habt ihr überhaupt mit gestorbenen Soldaten zu tun?“
„Alle Soldaten, die bei NATO-Einsätzen eingesetzt sind oder waren, sind bei uns erfasst. Und wenn einer verstirbt, der einmal bei einem NATO-Kommando dabei war, dann bekommen wir eine Mitteilung und nehmen ihn raus aus den aktiven Akten. Ein Abgang also.“
Valerie schnaufte.
„Wer hat sich bloß diese Bürokratie ausgedacht?“
„Das weiß ich nicht“, antwortete Anna, als wäre die Frage ernst gemeint gewesen.
„Und was ist nun, du hast mir immer noch nicht erklärt, was das ist, ein autoerotischer Unfall.“
„Du bist doch nur an dem Wort Erotik hängen geblieben.“
Aus dem Hörer drang ein glucksendes Lachen.
Anna lebte ihre Sexualität offensiv aus. Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund, während Valerie wesentlich zurückhaltender war. Erst recht nach der Enttäuschung mit Jan.
„Also“, fing Valerie umständlich an. „Meistens passiert das Männern. Das ist, oder, das passiert beim ...“ Sie stockte.
„Ja, was denn nun?“
Anne ließ nicht locker, keine Chance.
Valerie wurde es warm, sie spürte, wie sich ihre Gesichtsfarbe veränderte.
Wie erklärt man etwas, das man vielleicht noch zeigen könnte, aber der andere es nicht sehen kann, weil man am Telefon sitzt?
„Tod beim Wichsen, verdammt“, platzte es schließlich aus Valerie heraus. Augenblicklich sie schämte sich für diese Wortwahl und biss sich auf die Zunge.
Anna stieß einen lauten Pfiff aus.
„Und wie geht das? Das musst du mir genau erklären“, bohrte sie nach.
Valerie stöhnte genervt. Das Thema war ihr durch und durch unangenehm, aber sie wusste genau, dass sie bei Anna keine Chance hatte, ungeschoren davonzukommen. Zumindest nicht bei diesem Thema.
„Tod beim Wichsen. Du kannst mir doch nicht einfach so ein Schlagwort um die Ohren hauen und wenn es interessant wird, kneifst du die Backen zusammen. Also los, erzähl schon, was macht so ein Kerl, um dabei ums Leben zu kommen?“
Valerie fühlte, wie ihre Ohren glühten. Zum Glück war sie allein in dem kleinen Raum. Gleichzeitig stellte sie sich vor, wie sich Anna bequem in ihrem Bürostuhl räkelte und das Gespräch wie einen spannenden Film genoss.
„Da gibt es die unterschiedlichsten Vorgehensweisen. Manche bauen sich Vorrichtungen, in denen sie sich die Luft abwürgen, während sie onanieren, andere machen irgendetwas mit Strom. Was weiß ich denn. Manche stecken sich etwas sonst wo hinein und bekommen es nicht mehr raus. Es sind auch Fälle vorgekommen, wo sich der Mann an einem Staubsauger verletzt hat.“
Wieder lachte Anna.
„An einem Staubsauger? Hat er ihn da reingesteckt oder was?“
„Ja, was denn sonst?“
„Wow. Schade, in der Akte steht nichts darüber, was er gemacht hat. Also ob er einen Staubsauger vergewaltigt oder sich vielleicht erdrosselt hat.“
„Du bist unmöglich. Am liebsten hättest du noch ein Bild davon, was?“
„Ja, das wäre nicht schlecht.“
„Das war ein Scherz. Lass uns das Thema wechseln. Ich möchte einfach nicht mehr darüber reden.“
„Schade. Treffen wir uns am Wochenende? Die Nordsee ist jetzt warm genug. Wir könnten uns in Maasvlakte oder Renesse zum Surfen treffen und abends zu dir fahren.“
„Daraus wird nichts. Ich habe Mam versprochen, das Wochenende bei ihr zu verbringen.“
Die Freundinnen sprachen noch eine Weile miteinander über dies und das und verabredeten, sich am nächsten Tag wieder anzurufen.
Metz, Frankreich.
Der Abend verlief in einer entspannten, ausgelassenen Atmosphäre. Fünf Ehepaare, seit vielen Jahren miteinander bekannt, manche von ihnen enger befreundet, trafen sich zu einem gemeinsamen Abendessen.
Odette freute sich bereits die ganze Woche auf diese Verabredung, war ihretwegen zum Friseur gegangen und hatte sich ein neues Kleid gekauft. Endlich war es dem Ehepaar Jacquemin wieder möglich, Verabredungen dieser Art gemeinsam genießen. Felix Dienst beim französischen Militär schloss sie lange Zeit vom gesellschaftlichen Leben aus. Besonders seine Auslandseinsätze bei der SFOR hatten ihr schwer zu schaffen gemacht. Als einzelne Frau in einer Gruppe von Ehepaaren fühlte sie sich schnell wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen. Um keine Eifersüchteleien zu provozieren, zog sie sich während seiner Abwesenheit immer weiter zurück, bis sie sich isoliert vorkam. Seit Anfang des Jahres war ihr Ehemann wieder Zivilist, der Armeedienst war endlich beendet. Er arbeitete nun in dem kleinen Handwerksbetrieb ihres Vaters, einem Installateur. Ihr gemeinsames Leben sollte jetzt wieder in geordneteren Bahnen verlaufen.
Marguerite, die Gastgeberin, eine attraktive Rothaarige mit üppigen Rundungen, verwöhnte ihre Gäste mit einem exzellenten Menü.
Nach dem Essen wurden Zigaretten angezündet, Musik lief im Hintergrund. Bei Rotwein und Cognac wurde die Stimmung immer ausgelassener. Marguerite war es dann auch, die an der Stereoanlage hantierte. Plötzlich dröhnte laute Partymusik durch den Raum und übertönte die Gespräche.
Die ersten Paare tanzten auf der schmalen Fläche zwischen dem Wohnraum und dem Esszimmer. Auch Felix und Odette drehten ein paar Runden, setzten sich aber bald wieder an den Tisch. Es dauerte nicht lange und die angeheiterte Gastgeberin zog Felix mit einem verlockenden Grinsen einfach vom Tisch weg. Odette registrierte es mit zusammengekniffenen Brauen. Nach einem Tanz versuchte sie, Blickkontakt mit ihrem Mann aufzunehmen, aber der reagierte nicht und tanzte ausgelassen weiter. Marguerites Ehemann saß ihr gegenüber und schien ihren Unmut bemerkt zu haben. Er verwickelte sie in ein Gespräch und lenkte sie damit eine Weile ab. Als sie wieder herüberschaute und registrierte, was sich auf der Tanzfläche abspielte, zogen sich ihre dunklen Augen zu wütenden Schlitzen zusammen.
Die Tanzpartnerin ihres Mannes hatte die Vierzig schon vor Jahren überschritten und war damit deutlich älter als die anderen Damen, die gerade an die Dreißig heranreichten. Vielleicht setzte sie deshalb zur Steigerung ihres Selbstwertgefühls ihre unübersehbaren Reize gezielt ein. Mit ihrem eng anliegenden schwarzen Kleid schmiegte sie sich dicht an Felix, der ihre Hüfte mit beiden Händen umfasste und dabei schon viel zu tief nach unten gerutscht war. Der Kopf der Frau war leicht nach hinten gestreckt, ihr Mund lächelte verführerisch. Es hatte den Anschein, als präsentiere sie ihm ihr Dekolleté auf dem Silbertablett. Felix stierte wie hypnotisiert auf die Brüste. Odette holte tief Luft und sah Marguerites Ehemann vorwurfsvoll an, der verlegen lächelte.
Die Musik wurde schneller und die Rothaarige drehte auf. Im Rhythmus der Musik schüttelte sie ihren Körper von oben nach unten durch und rieb dabei ihre Brüste aufreizend an Felix Oberkörper.
Das war zu viel für die gebürtige Südfranzösin, sie explodierte förmlich. Odette knallte ihr Glas auf den Tisch, dass die Flüssigkeit heraus schwappte und einen hässlichen Fleck auf der Tischdecke hinterließ. Während die Anwesenden sie verdutzt anstarrten, sprang sie auf, griff ihre Handtasche und schoss los. Elodie und Danielle liefen noch hinterher und versuchten, sie im Flur zurückzuhalten, aber es war längst zu spät. Es gab nichts mehr zu retten. Odette hatte beschlossen, wütend zu sein.
Im strömenden Regen liefen die beiden zum Wagen, der weiter vorn am Straßenrand parkte. Sie tippelte mit kleinen, schnellen Schritten vorweg, die Handtasche hielt sie dabei wie einen schützenden Baldachin über dem Kopf, er lief wie ein begossener Pudel hinter ihr her. Bemüht, sie einzuholen und ihr die Wagentür zu öffnen, damit die Frisur nicht noch weiter ruiniert wurde und er überhaupt keinen Zugang mehr zu ihr fand. Felix hatte zunächst gar nicht wahrhaben wollen, dass für sie der Abend gelaufen war, noch bevor er richtig angefangen hatte. Schließlich war er sich keiner Schuld bewusst, er hatte doch nur getanzt.
„Fahr endlich“, brüllte sie ihn an, als er sie bittend anschaute und keine Anstalten machte, den Motor zu starten.
Die ersten Meter saßen sie nebeneinander und sprachen kein Wort. Bis er an einer Kreuzung anhalten musste und wieder herüberschaute.
„Sie ist eine Nutte“, zischte Odette. „Sie hat eine Familie und macht sich an dich ran.“
„Bitte, das kannst du nicht ernst meinen. Wir haben doch nur getanzt.“
„Aber wie. Du hast sie mit deinen Augen ausgezogen. Es fehlte nicht viel und du hättest sie auf der Tanzfläche gef... .“
Der Rest des Satzes ging in Schluchzen unter, dicke Tränen zerstörten das Make-up und liefen über ihr Gesicht, sie vergrub es in den Händen. Felix legte seine Hand vorsichtig auf ihren linken Arm, aber sie stieß ihn mit Schwung weg.
„Ich werde dieses Haus nie wieder betreten. Ich will diese ..., diese Person niemals wiedersehen.“
Den Rest der kurzen Fahrt schwiegen sie. Nur der Regen prasselte monoton auf die Scheiben, untermalt von den gleichmäßigen Geräuschen der Scheibenwischer.
Das Ehepaar bewohnte einen pavillonähnlichen Bungalow, einige Schritt weit von der Straße entfernt, war er nur über einen Fußweg zu erreichen.
Gewöhnlich hielt Felix deshalb in Höhe des Weges und ließ seine Frau aussteigen. Er fuhr anschließend den Wagen in die Garage, die sich direkt neben dem Gehweg befand.
Der Renault rollte am Bordstein aus. Er stand noch nicht ganz, da flog bereits die Beifahrertür auf.
Trotz des Regens, der auf das Blechdach prasselte, ließ sich der Streit zweier Menschen vernehmen.
Eine Frau in Abendgarderobe sprang aus dem Wagen. Eine kleine, untersetzte Frau mit einem kräftig ausladenden Hinterteil und zu kurzen, viel zu kurzen, stämmigen Beinen, alles andere als eine Traumfigur.
Sie lief, die Handtasche zum Schutz der Frisur über den Kopf haltend, den Weg entlang bis zum Haus. Kurz vor dem Haus erwischte sie mit ihrem Pumps eine tiefe Wasserlache und hüpfte ein paar Schritte auf einem Bein. Der Wagen blieb unverändert stehen. Erst als sie im Haus verschwunden war, setzte er sich wieder in Bewegung. Der Renault wurde vor die Garageneinfahrt rangiert. Eine Fernbedienung ließ das Tor nach oben schwingen. Dann fuhr der Wagen schwungvoll hinein, der Motor erstarb.
Die Ankunft des Ehepaares war von einer dunklen Gestalt beobachtet worden. Den Kopf von einer Kapuze geschützt, schlich sich diese Person im Schutz des Regens heran und lauerte jetzt neben der Außenmauer auf das Herauskommen des Fahrers. Das Klappen der Fahrertür ließ auf sich warten. Plötzlich heulte der Motor wieder auf, genauso schwungvoll wie zuvor wurde das Fahrzeug nun rückwärts aus der Garage herausgefahren. Der Unbekannte fluchte und sprang hektisch in ein Gebüsch, um nicht von den umherirrenden Scheinwerfern erfasst zu werden. Die Rückleuchten verschwanden in der Dunkelheit, während sich das Tor schloss.
Unverrichteter Dinge zog sich der Mann wieder in den weißen Kastenwagen zurück, der wenige Meter entfernt am Straßenrand stand.
Durch die beschlagenen Scheiben war zu erkennen, dass die Kapuze nach hinten geschlagen wurde und die Gestalt in dem Sitz nach unten rutschte, bis sie gerade noch über das Armaturenbrett herausschauen konnte. Die Person schien sich auf eine längere Wartezeit einzurichten.
Keine fünfzehn Minuten später tauchte der Renault wieder auf, stand wartend vor dem aufschwingenden Garagentor und fuhr gleich darauf wieder hinein. Wieder wurde der Motor abgestellt, eine Tür klappte.
Felix stieg aus.
Einen billigen Blumenstrauß in Klarsichtfolie, für Odette hastig an der nächsten Tankstelle besorgt, hielt er in der linken Hand.
Er drückte auf den innenliegenden Schalter.
Als er wegen des herunterlaufenden Tores gebückt aus der Garage heraustrat, traf ihn ein Schlag völlig unvermittelt auf den Hinterkopf. Die Wucht war so stark, dass er benommen einige Schritte nach vorn taumelte und langsam in die Knie sackte. Bevor er sich mit der Hand abstützen konnte, traf ihn der mit Blei gefüllte Lederbeutel ein weiteres Mal hart am Kopf. Er verlor augenblicklich das Bewusstsein und fiel auf den nassen Asphalt.
Der Versöhnungsstrauß, zu einem letzten Gruß verkommen, lag achtlos auf dem Asphalt. Nachdem der schwere Körper in den Lieferwagen gewuchtet war, beförderte ein Tritt die Blumen weiter in die Gosse, wo das Regenwasser sie mitspülte, bis sie am Gitter des nächsten Gullys hängen blieben.
****
„Merde“.
Antoine Baudan schüttelte verärgert den Kopf und zerquetschte mit seiner rechten Pranke die leere Gitanes Schachtel. Er schleuderte sie wütend quer durch das Führerhaus des Lasters. Sie flog auf das Armaturenbrett, hüpfte über die Ablage und blieb in dem Spalt unter der Windschutzscheibe, am äußersten Ende liegen.
Sein Pech nahm einfach kein Ende. Eine Woche war vergangen, seit Antoine mit seinem Vierzigtonner in Richtung Südspanien gestartet war, schwer beladen mit Maschinenteilen. Jetzt befand er sich mit einer Ladung Gipskartonplatten auf dem Rückweg.
Sein Fuß trat das Gaspedal durch bis auf das Bodenblech, er wollte am späten Nachmittag zu Hause sein, um seinen kleinen Sohn vor dem Schlafengehen wenigstens einmal kurz in den Armen halten zu können. Ein schwaches, kaum spürbares Vibrieren im Lenkrad kündigte an, dass sich dieser bescheidene Wunsch in Luft auflösen sollte. Die Unruhe steigerte sich ziemlich schnell zu einem Schlingern, verursacht von einem Reifenschaden am Auflieger. Die Bewegungen des Lastzuges in den Rückspiegeln kontrollierend, rettete sich Antoine mit langsamer Geschwindigkeit auf einen kleinen Parkplatz. So blieb es ihm immerhin erspart, den Reifen mitten im Verkehr auf der Straße wechseln. Aber der Austausch kostete ihn viel Zeit, zu viel, um noch pünktlich heimzukommen. Damit war nun auch der sechste Wochentag verdorben.
Mit seiner Frau telefonierte er per Handy, sie reagierte wie erwartet verschnupft auf die Ankündigung, dass es wieder einmal spät werden würde.
Auch sein Versprechen, den Lastzug nur schnell auf dem Hof der Spedition zu parken, vermochte ihre Stimmung nicht aufbessern.
Jetzt waren ihm auch noch die Zigaretten ausgegangen. Als reichte sein Pech nicht, fuhr er in eine Gewitterfront hinein. Zunächst nur ein paar vereinzelte, dicke Tropfen, die auf die Frontscheibe klatschten, steigerte sich der Regen schnell zu einem nicht enden wollenden, kräftigen Schauer.
Antoine verließ bei der nächsten Raststätte die Autobahn, auf die paar Minuten würde es nun nicht mehr ankommen.
Er suchte sich einen der wenigen freien Plätze, schloss die Fahrertür ab und lief durch den Regen zum Gebäude. Der Zigarettenautomat stand im Eingangsbereich, hastig zog er sich eine Schachtel. An dem Hinweisschild mit dem Pfeil zur Toilette blieb er kurz stehen, neigte grübelnd den Kopf. Der Fernfahrer entschied sich gegen den Toilettenbesuch und beeilte sich, zurück in sein Führerhaus zu gelangen. Das T-Shirt und seine dunklen Haare waren auf dem kurzen Weg patschnass geworden. Er strich sich durch die Frisur und trocknete die Hände an seiner Jeansjacke, die neben dem Sitz hing.
Als die Zigarette brannte, startete er den Motor, schob den Gang hinein und fuhr los. Schwerfällig setzte sich der Sattelschlepper in Bewegung und reihte sich wieder in den schwachen, nächtlichen Verkehr der A 31 ein. Er befand sich jetzt unmittelbar vor Metz. Gleich darauf glitten schemenhaft die Lichter der Stadt an den von den Regentropfen glitzernden Seitenscheiben vorbei.
Ein paar Kilometer hinter Metz wechselte der Lastzug die Autobahn. Die Fahrt ging weiter auf der L’Autoroute de L’Est, die er an der zweiten Abfahrt, gleich hinter Argancy verlassen würde.
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Der Mann hielt den Kleintransporter mitten auf der Autobahnbrücke an. Durch den heftigen Regen waren die Lichter der wenigen Fahrzeuge, die unter ihm die Autoroute befuhren, nur als verzerrte Punkte zu erkennen. Bessere Bedingungen für sein Vorhaben konnte er sich kaum wünschen. Jeder, der jetzt noch unterwegs war, interessierte sich nur dafür, einigermaßen trocken nach Hause zu kommen. Niemand würde sich für einen mit einer Reifenpanne liegen gebliebenen Kastenwagen scheren, geschweige denn anhalten und bei dem Regen seine Hilfe anbieten.
Es war ein makaberer Zufall, dass Felix die letzte Fahrt seines Lebens ausgerechnet in dem mit Werkzeugen und Ersatzteilen vollgepackten Transporter eines Klempners unternahm. Schließlich arbeitete er selbst auch in diesem Beruf.
Aber er bekam es ohnehin nicht mit, bewusstlos lag er auf dem Boden des Fahrzeugs, in dem schmalen Gang zwischen den Regalen.
Dem Mann, der ihn in diesen Zustand versetzt hatte, war es nur unter äußersten Anstrengungen gelungen, ihn in diese Position zu bugsieren.
Der Fahrer schaute sie noch einmal lauernd nach allen Seiten um, zog sich die Kapuze über den Kopf und stieg aus.
Er ging nach hinten, öffnete die rechte Heckklappe und löste von oben die Flügelschraube des Reserverades, das unter dem Wagenboden hing. Endlich ließ es sich aushaken und klappte nach unten. Er musste es hin und her bewegen, bis es sich aus der Halterung herausziehen ließ. Gut sichtbar lehnte er es an das Heck. Jeder vorbeifahrende Fahrer würde es im Scheinwerferlicht wahrnehmen können, damit erübrigten sich neugierige Fragen. Vom nicht nachlassenden Regen mittlerweile völlig durchnässt, trat er an die rechte Seite des Transporters. Wieder schaute er sich um.
Aber es war weit und breit niemand zu sehen, der den Plan durchkreuzen und Felix Schicksal abwenden konnte. Auf der kleinen Straße war kein Auto mehr unterwegs. Unten auf der Autobahn war der Verkehr ebenfalls spärlich geworden, gelegentlich zog ein Lastzug in einer Gischtwolke monoton seine Bahn.
Mit einem metallischen Geräusch öffnete sich die Schiebetür. Das Opfer lag zusammengekrümmt auf dem schmuddeligen, von derben Handwerkerschuhen geschundenen Fußboden. Es stöhnte schwach, das linke Bein zuckte. Als wolle Felix aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen, zurückkehren ins Leben. Aber sein Mörder ging auf Nummer sicher. Wieder krachte der Totschläger auf den Kopf, diesmal auf die Schläfe. Es gab ein sattes Aufschlaggeräusch, das sogar den trommelnden Regen übertönte. Dabei hinterließ das teuflische Werkzeug kaum Spuren. Kein Blut, nicht einmal kleine Tropfen, nur eine Rötung.
Auch die würde bald verschwunden sein.
Das Zucken des Beines unterblieb augenblicklich, Felix dämmerte seinem Tod entgegen.
Am Fuß wollte er ihn aus dem Wagen ziehen, aber das andere Bein knickte ein, der Körper verkeilte sich und bewegte sich schließlich keinen Millimeter weiter. Keine Chance, er musste hineinklettern und über den Mann treten. Nur so konnte er den Oberkörper anheben und ihn aufrichten. Die Schultern festhaltend bugsierte er ihn weiter, bis die Füße zur geöffneten Schiebetür zeigten. Schließlich sah es so aus, als hätte sich Felix für eine kurze Pause in den Wagen gesetzt und an das Regal gelehnt. Der Transporter war so dicht an den Straßenrand gefahren worden, dass die aufgeklappte Hecktür gegen das Brückengeländer stieß. Damit war nach hinten ein akzeptabler Sichtschutz vorhanden. Jetzt musste nur noch die Beifahrertür geöffnet werden und er befand sich wie in einem kleinen Separee, von beiden Seiten der kleinen Landstraße vor neugierigen Blicken geschützt. Die Fahrer auf der Autobahn unter ihm konnten wegen des Regens und der Dunkelheit nicht erkennen, was sich gerade auf der Brücke über ihnen abspielte. Durch die Seitenscheibe des Fahrerhauses hindurch beobachtete der Mann den Verkehr, der die Autoroute in Richtung Osten befuhr. Er wartete mit aller Seelenruhe auf einen Lastzug, der über eine weite Strecke allein angefahren kam. So ließ er mehrere Fahrzeuge, die ihm ungeeignet schienen, passieren. Dann endlich näherte sich in einiger Entfernung ein Lastwagen, dahinter blieb die Autobahn auf einer langen Strecke dunkel, kein anderer Wagen war in gleicher Richtung unterwegs. Auf dem Dach des Führerhauses brannte ein ganzes Lichterband von zusätzlichen Halogenscheinwerfern, das Fahrzeug wirkte wie eine rollende Leuchtreklame.
Der Mann bewegte sich jetzt schneller.
Der Mörder beugte sich in den Transporter, ergriff Felix’ Arm und zog sich den Mann wie einen Sack auf die Schulter. Dann drückte er sich aus der Hocke in den Stand und machte zwei Schritte zum Geländer. Er drehte sich wieder nach hinten, um durch die Scheibe den Laster zu beobachten. Aber der war bereits im toten Winkel verschwunden und nicht mehr zu sehen.
Angestrengt lauschte er auf das Fahrgeräusch des Lastzuges.
Dann ließ er Felix los und gab dem rutschenden Körper mit einer schnellen Schulterbewegung zusätzlichen Schwung. Das Gewicht des Körpers verschwand, der Bewusstlose fiel hinunter ins Dunkel.
Keine Sekunde zu früh. Schon war das Rauschen der Reifen auf dem nassen Asphalt zu hören. Das Motorengeräusch des Lasters wurde durch die kurze Brückendurchfahrt verstärkt.
Der Aufprall des Körpers ging für den Mann auf der Brücke in dieser Geräuschkulisse unter. Er schaute sich für einen kurzen Augenblick das nun folgende Schauspiel an. Über sein markantes Gesicht glitt der Hauch eines zufriedenen Grinsens.
Dann schloss er die Seitentüren, hob das Reserverad in den Innenraum und schlug die Heckklappe zu. Ohne erkennbare Hast startete er den Transporter und fuhr davon. Noch vor der nächsten Ortschaft wurde der Wagen von ihm an einem Feldweg gedreht. Wieder fuhr er über die kleine Autobahnbrücke, verlangsamte dabei aber die Geschwindigkeit nicht. Aus den Augenwinkeln konnte er die Lichter des verunglückten Lastwagen sehen. Befriedigt stellte er das Radio des gestohlenen Transporters an. Der Wagen verschwand im Dunkel der Nacht auf der Landstraße in Richtung Metz.
****
Der Regen war schlimmer geworden. So stark, dass Antoine kaum noch etwas sehen konnte, weit nach vorn gebeugt reckte er sich über das Lenkrad. Die Scheibenwischer liefen in der höchsten Stufe. Vor ihm fuhr ein anderer Lastzug. Weil der etwas langsamer unterwegs war, war Antoine viel zu dicht aufgefahren. Die Quittung dafür war die volle Gischt, die auf die Scheibe hochgeschleudert wurde. Er trat das Gaspedal voll durch, aber es änderte sich weder das Motorengeräusch noch die Geschwindigkeit.
Mit der schweren Ladung würde er höchstens einen oder zwei Kilometer mehr draufbekommen als der Kollege vor ihm. Der Überholvorgang würde ewig dauern.
Hektisch zog er an seiner Zigarette und blieb hinter dem anderen Lastwagen.
Bei Argancy wurde ihm die Entscheidung abgenommen, der Fahrer vor ihm setzte den Blinker und verließ die Autobahn.
Antoine hatte wieder freie Fahrt.
Mit unverminderter Geschwindigkeit näherte er sich einer kleinen Brücke, die die Fernstraße überspannte. Im Schutz des Bauwerkes änderte sich für einen winzigen Augenblick schlagartig die Geräuschkulisse. Das nervtötende Trommeln des Regens auf der Frontscheibe verschwand. Die Musik aus dem Radio war plötzlich wieder verständlich, außerdem konnte er endlich wieder klar sehen, wenn auch nur für einen verschwindend kurzen Augenblick.
Am Ende der Brücke erwischte ihn der Regen umso heftiger, wie aus riesigen Kübeln klatschte es auf die Front. Gleichzeitig nahm er vorn rechts einen dumpfen Schlag wahr. Ein Schlag, untermalt von einem splitternden Geräusch. Ungläubig starrte er schräg nach vorn, sah, dass die riesige Windschutzscheibe vor dem Beifahrersitz eine fußballgroße Beschädigung aufwies. Er konnte es nicht fassen. Wie ein überdimensioniertes Spinnennetz wölbte sich die Scheibe nach innen. Während er noch entgeistert auf den Schaden guckte, spürte er eine Unruhe im Fahrzeug. Es rumpelte an der Vorderachse. Die Zugmaschine fuhr über etwas hinweg. Etwas, das groß genug war, um das schwere Fahrzeug in eine hüpfende Schlingerbewegung zu versetzen. Diese Aufwärtsbewegung setzte sich wellenartig fort, bis auch die letzte Achse des Lastzuges über den unbekannten Gegenstand gerollt war.
„Merde.“
Im Grunde war es längst zu spät für eine Reaktion, die alles nur noch schlimmer machte. Aber der Schreck ließ Antoine mit voller Wucht auf das Bremspedal treten. Auf der nassen Fahrbahn blockierten die Räder sofort. Durch die Schlingerbewegung war der Geradeauslauf nicht stabil, die rechte Seite überbremste. Der Lastzug knickte ein, das Heck der Zugmaschine drückte sich ein wenig nach links, wodurch die Front in Richtung des Straßenrandes wies. Der schwer beladene Auflieger schob sie unaufhaltsam weiter in Richtung Graben.
Antoine ließ die Bremse los und kurbelte wie wild am Lenkrad, aber der einmal in Gang gesetzte Mechanismus ließ sich nicht mehr stoppen. Die Reifen der rechten Fahrzeugseite kamen von der befestigten Fahrbahn ab und gerieten auf den weichen Seitenstreifen, der durch den Regen jegliche Stabilität verloren hatte. Die Räder sackten tief ins Erdreich ein und bremsten den Lastzug bis zum Stillstand sanft ab. Der Lkw aber neigte sich weiter und weiter nach rechts zur Seite. Unentschlossen, als könne er sich nicht entscheiden, was er als Nächstes machen wolle, stand der Zug schief am Fahrbahnrand. Die Gipskartonplatten im Laderaum drückten gegen die Sicherungsgurte und brachten sie zum Reißen. Die Ladung verrutschte nach rechts und schob gegen die Plane. Am Ende dieser Kettenreaktion kippte das Fahrzeug schließlich samt Auflieger wie in Zeitlupe zur Seite in den Graben.
Danach herrschte eine gespenstische Ruhe. Der Motor war aus, durch den jähen Stopp abgewürgt. Auch der Scheibenwischer versagte seinen Dienst. Nur das Prasseln der Regentropfen auf der nach oben weisenden Seitenscheibe der Fahrertür war zu hören.
Antoine war durch das Führerhaus gewirbelt worden. Kopf und Knochen schmerzhaft angestoßen, lag er innen auf der Beifahrertür und brauchte eine Weile, um die Situation zu erfassen und den Schock zu verdauen.
Er schien sich an das splitternde Geräusch zu erinnern, sah auf die Windschutzscheibe. Aber im Dunkel des Grabens ließ sich der Schaden nicht einschätzen, nur undeutlich waren weißliche, bizarr geformte Linien im Glas erkennbar. Vorsichtig fasste er an die zu ihm weisende Eindellung der Scheibe. Er konnte sie mit dem Finger eindrücken, das zersplitterte Glas knirschte dabei.
Die Delle besaß die Größe eines Kopfes.
Diese Erkenntnis schien ihm durch den Kopf zu jagen. Hektisch zappelte er, bis er sich drehen und aufrichten konnte. Er stand auf der Innenseite der Beifahrertür und langte so gerade an die Fahrertür heran, seiner einzigen Möglichkeit, das Führerhaus zu verlassen. Mühsam kletterte er weiter nach oben und drückte mit ausgestreckten Armen die schwere Tür nach oben, während gleichzeitig seine Füße auf den Seitenflächen der Sitze Halt suchten. Endlich schaffte er es, wand sich aus dem Türspalt und saß schwer atmend auf der Dachkante des Führerhauses. Augenblicklich war er vom Regen durchnässt. Antoine sprang hinunter auf die Fahrbahn, rutschte aus und schlug schwer auf das Knie. Mit den Händen fing er sich ab, sonst wäre auch das Gesicht unweigerlich auf die Straße geknallt. Beide Hände umfassten das schmerzende Knie, sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen. Fassungslos starrte er auf den im Graben liegenden Lastwagen und schüttelte immer wieder den Kopf. Er humpelte los, nach hinten bis zum Heck.
Im fahlen Licht konnte er erkennen, dass die Gipskartonplatten beim Verrutschen die Plane durchschlagen hatten. Jetzt lagen sie, ausgebreitet wie riesige Fächer, auf dem Grünstreifen hinter dem Graben.
Weiter zurück in Richtung der Brücke, lag etwas auf der Fahrbahn.
Es war kaum zu erkennen und fiel ihm nur auf, weil seine Oberfläche nicht wie die Straße vom Regen glänzte.
Ein längliches Etwas, dunkel, unnatürlich verdreht.
Langsam, wie in einem Albtraum, ging er darauf zu.
Je näher er kam, umso unsicherer wurden seine Schritte mit dem schmerzenden, schräg abgewinkelten Bein. Plötzlich auftauchende und rasch größer werdende Scheinwerfer ließen die Schmerzen verschwinden. Aufgeregt rannte er dem Licht entgegen. Beide Arme über dem Kopf hin und her fuchtelnd lief er auf dem Randstreifen, als ginge es um sein Leben. Im Vorbeilaufen nahm er einen zerschmetterten, entstellten Körper wahr, drehte seinen Kopf zur Seite. Dabei geriet er mit dem Fuß auf einen hellen Gegenstand und knickte um. Der Versuch, sich abzufangen, scheiterte, er rutschte auf einer glitschigen Masse aus und stürzte hart auf den Asphalt. Im gleichen Augenblick rauschten die Räder eines Lastzuges haarscharf an ihm vorbei, die im Sog des Fahrzeuges befindliche Gischt hüllte ihn vollständig ein. Es folgte ein sonderbar schlürfendes, schleifendes Geräusch. Auch dieser Lastzug erwischte den Körper mit ungebremster Wucht und zerstörte das, was noch vorhanden war, vollends.
Aber der Fahrer hatte mehr Glück als Antoine zuvor. Es gelang ihm, sein Fahrzeug unbeschadet zum Halten zubringen. Weit hinter dem verunglückten Sattelschlepper kam er zum Stehen.
Mühsam brachte sich Antoine auf die Knie. Er fuhr sich über das Gesicht, überall fühlte er körnchengroße Schmutzpartikel, die der Sog des Lastwagen in der Gischt mitgeführt hatte.
Ungläubig starrte er auf das, was um ihn verteilt den Boden bedeckte. Eine graue Masse von einer merkwürdigen Konsistenz hatte ihn ausrutschen lassen. Er fühlte über den Asphalt, hielt einen kleinen grauen, wurmähnlichen Gegenstand zwischen seinen Fingern. Dann fiel sein Blick auf dieses seltsame, helle Gebilde, das ihn ausrutschen ließ.
Als er endlich begriffen hatte, um was es sich handelte, schüttelte er angewidert seine Hand, um das kleine, graue Ding loszuwerden, sprang auf und lief. Ohne Ziel, einfach weg. Er kam nur wenige Meter weit, das Grauen ließ ihn am Straßenrand zusammensacken. Auf den Knien kauernd, die Hände nach vorn gestützt, übergab er sich.
Großglocknerhochalpenstraße, Österreich.
Der Motor des schweren Motorrades heulte infernalisch auf.
Dem Fahrer schien es ein riesiges Vergnügen zu bereiten, die Gänge bis zum Einsetzen des Drehzahlbegrenzers auszufahren. Immer wieder drehte er beim Hochbeschleunigen den Kopf zur Seite, um das giftige Motorengeräusch besser aufnehmen zu können. Bei der Einfahrt in die nächste Kurve wechselte das Röhren in zischelnde Fehlzündungen, um gleich danach wieder brutal auf der Tonleiter nach oben getrieben zu werden.
Florian Rosbacher jagte sein Motorrad die Großglockner-Hochalpenstraße hinauf. Am frühen Morgen war er in Ellmau gestartet, wollte einen seiner letzten freien Tage nutzen. Vor sechs Wochen war er aus seinem Dienst beim österreichischen Bundesheer ausgeschieden, in der nächsten Woche würde er seine neue Arbeitsstelle antreten.
Jetzt wollte er es noch einmal richtig krachen lassen. Wie von einem unsichtbaren Gummiband gezogen, bewegte er sich auf der kurvenreichen Strecke den Berg hinauf.
Die Nadeln der Instrumente vollführten bizarre Tänze. In den Kurven berührten die Knieschleifer mit kratzenden Geräuschen den Asphalt. Am Morgen in der Frühe hatte das Wetter noch vielversprechend ausgesehen, aber je näher er der Mautstrecke gekommen war, umso trüber schien es zu werden.
Aber das störte ihn nicht, solange es nur trocken blieb. Die Kurven waren es, die ihn hergelockt hatten. Die Panoramaaussicht dieser Strecke, der eigentliche Anziehungspunkt für die Mehrzahl der Besucher, interessierte ihn nicht.
Auf der Strecke war zu dieser Tageszeit noch nicht viel los. Wahrscheinlich hatten andere die Wettervorhersage genauer studiert. Nur gelegentlich schloss der Motorradfahrer auf einen Pkw auf, legte ihn sich zurecht und überholte ihn mit einem kräftigen Gasstoß.
Plötzlich, ungefähr auf der Hälfte der Anfahrt hinauf zum Restaurant, bemerkte Rosbacher schemenhaft ein Scheinwerferpaar in den stark vibrierenden Rückspiegeln, Scheinwerfer, die sich nicht abschütteln ließen. Überrascht drehte er den Kopf über die Schulter. Hinter ihm hetzte ein dunkler Porsche 911 im gleichen halsbrecherischen Tempo wie der Motorradfahrer den Berg nach oben.
Rosbacher grinste zufrieden, als freute er sich, einen lang vermissten Spielkameraden wiedergefunden zu haben.
Mit einem energischen Tritt schaltete er einen Gang herunter und gab gleichzeitig Vollgas. Der Motor verschluckte sich im ersten Augenblick und biss danach umso heftiger zu. Der Fahrer musste sich in seiner Sitzposition festkrallen, das Vorderrad wollte fliegen. Die Maschine stemmte sich jetzt mit brachialer Gewalt gegen den Berg.
Aus den Augenwinkeln konnte er in den Spiegeln einen Lichtreflex wahrnehmen. Die Scheinwerfer des Porsche wurden kurz angelupft. Der Fahrer des Sportwagen nahm die Herausforderung an und hatte ebenfalls voll aufs Gaspedal getreten.
Auf den geraden Streckenabschnitten war das Sportmotorrad nicht zu schlagen, der Abstand vergrößerte sich jedes Mal. In den Spitzkehren aber spielte der 911er seine Straßenlage aus und schaffte es so immer wieder, aufschließen. Der Abstand blieb deshalb bis zum Parkplatz am Restaurant nahezu konstant.
Den wenigen Touristen, die sie auf der Strecke überholten, mussten die beiden Fahrer vorkommen wie Kinder bei einem halsbrecherischen Spiel.
Am Restaurant verließ Florian die Straße und bog nach links auf dem großen Parkplatz ein. Das Wettrennen war beendet, er achtete nicht mehr auf den Porsche und fuhr weiter nach oben, bis auf die höchste Stelle, der Edelweißspitze.
Sportwagen vom Schlage eines Porsche hatten hier oben auf der unebenen Fahrbahn mit ihrer eingeschränkten Bodenfreiheit keine Chance.
Der Konkurrent blieb auf dem unteren Parkplatz. Auch für ihn war das Rennen beendet, es war unentschieden ausgegangen.
Oben auf der Edelweißspitze hielt sich Florian nicht lange auf. Die Fernsicht war schlecht an diesem Tag, nur ab und zu rissen die Wolken etwas auf. Andere Biker, mit denen er ein paar Worte hätte wechseln können, hatten sich noch nicht hier hinauf verirrt. Er vertrat sich die Beine, schüttelte die Oberschenkel durch, beugte und streckte den Oberkörper, um die verkrampfte Muskulatur aufzulockern.
Dann setzte er sich wieder auf sein Motorrad, startete den Motor und fuhr langsam hinunter auf die Hauptstrecke. Im Vorbeifahren sah er den dunklen Porsche mit gelben Nummernschildern auf dem Parkplatz stehen. Der Wagen stand mit der Front zur Straße geparkt. Aus seinem Blickwinkel, schräg von hinten, konnte Rosbacher nicht erkennen, ob der Fahrer hinter dem Steuer saß.
Die Straße hinunter in Richtung Süden fuhr er jetzt wesentlich verhaltener und entspannter als zuvor, er hatte sich ausgetobt, die Luft war raus.
An den Schneefeldern, die sich trotz des aufziehenden Sommers noch hier oben befanden und deren Tauwasser die Straße benetzten, fuhr er besonders langsam. Der schwere Motor hechelte gleichmäßig, wie ein Kampfhund, der nur darauf wartete, von der Leine gelassen zu werden.
Florian näherte sich dem Abzweig, an dem es zur Kaiser-Franz-Josef-Höhe ging. Er wurde noch langsamer, schien unentschlossen zu überlegen, welche Strecke er wählen sollte. Die Maschine rollte nur noch im Schritttempo, die Kupplung war gezogen. Mit der rechten Hand gab er ein paar Gasstöße, um den Motor bei Laune zu halten. Dann hatte er sich entschieden, er schaltete den Gang hinein und verließ die Hauptstrecke.
Er befuhr die Sackgasse, an deren Ende sich ein Blick auf den Pasterzengletscher werfen ließ. Es folgte eine Strecke mit wenigen, leichten Kurven und er beschleunigte das Krad mäßig auf eine Geschwindigkeit, wie sie auch ein Pkw fahren würde. Auf dieser Strecke war noch weniger los als auf der eigentlichen Passstraße.
Plötzlich nahm er in den Außenspiegeln einen Schatten wahr und drehte den Kopf nach hinten. Der Porsche war wieder aufgetaucht. Er fuhr dicht hinter ihm her. Der Fahrer hatte vergessen, das Licht einzuschalten, deshalb war ihm der Sportwagen erst im letzten Moment aufgefallen.
Der Wagen kam bedrohlich nahe. Florian konnte sehen, dass der Fahrer mit der starken Motorleistung spielte, die Front des Wagens hob und senkte sich. Dazu kurbelte er am Lenkrad und fuhr wilde Schlangenlinien.
Der Motorradfahrer machte eine verärgerte Bewegung mit der linken Hand. Der Wagen sollte endlich vorbeifahren.
Aber der Porsche überholte nicht, er fuhr dichter an das Zweirad heran. Das breite Hinterrad war kaum einen halben Meter von der Front des 911er entfernt.