Tödliche Zeiten - L. U. Ulder - E-Book
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Tödliche Zeiten E-Book

L.U. Ulder

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Beschreibung

Wem kannst du noch trauen? Eine junge Frau wird ermordet. Schnell wird ein Mann als Täter identifiziert, der sich selbst scheinbar umgebracht hat. Doch dann findet die Privatdetektivin Valerie heraus, dass die Polizei ihre Ermittlungen in dem Fall auf politischen Druck hin eingestellt hat.Gemeinsam mit dem ehemaligen Mitglied der Mordkommission Bergstätter macht sie sich an die Nachforschungen und gerät in eine Spirale aus Intrigen, Korruption und Gewalt. Ein Thriller, der die Diskussion über Fracking und seine Gefahren für die Umwelt neu entfacht. Begeisterte Leserstimmen: »Brandaktuelles Thema, sehr gute Beschreibung der Charaktere.« »Ein rasanter Thriller, der ein hochaktuelles Umweltthema in eine abwechslungsreiche und originelle Geschichte verpackt.« »Die einzelnen Charaktere sind sehr prägnant und mit großen Wiedererkennungswert getroffen.«

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Seitenzahl: 374

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L. U. Ulder

Tödliche Zeiten

Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein Thriller, der die Diskussion über Fracking und seine Gefahren für die Umwelt neu entfacht.

Eine junge Frau wird ermordet. Schnell wird ein Mann als Täter identifiziert, der sich selbst scheinbar umgebracht hat. Doch dann findet die Privatdetektivin Valerie heraus, dass die Polizei ihre Ermittlungen in dem Fall auf politischen Druck hin eingestellt hat. Gemeinsam mit dem ehemaligen Mitglied der Mordkommission Bergstätter macht sie sich an die Nachforschungen und gerät in eine Spirale aus Intrigen, Korruption und Gewalt.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel
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1.

Hamburg, im Frühsommer 2012

Der neue Tag war dreiunddreißig Minuten alt, als sich im Wohnzimmer der kleinen Wohnung ein leises Geräusch vernehmen ließ. Ein undefinierbares Kratzen und Knirschen, aus Richtung der Terrassentür, viel zu leise, um es im benachbarten Schlafzimmer zu hören. Nur wenige Augenblicke später beulte sich der weiße Lack der Holztür direkt neben dem Griff wie eine Eiterblase auf. Das Material dehnte und spannte sich, bis es schließlich zerriss. Die Spitze eines Bohrers kam zum Vorschein, sie schob einige Holzfasern heraus, die auf den Boden fielen. Ein am vorderen Grat hängengebliebener, länglicher Splitter drehte sich mit. Für einen winzigen Moment wirkte er wie die bedrohliche Zunge eines Reptils. Er fiel ebenfalls nach unten, als das Werkzeug wieder zurückgezogen wurde und verschwand. Gleich darauf tauchte durch das Bohrloch ein mehrfach gebogener Draht auf, kaum dicker als eine Bleistiftmine. Der geformte Haken fuchtelte in der Luft und berührte dabei mehrmals den Vorhang. Er schüttelte ihn geräuschlos durch, bis er endlich am Türgriff Halt fand. Leise quietschend drehte sich der Griff, und die Terrassentür glitt auf. Durch den plötzlichen Luftzug flog der Vorhang auf, und ein schwarzer Stiefel wurde sichtbar, der sich in den Spalt schob.

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2.

Sechseinhalb Stunden zuvor

Die Hände schmerzten, mit jedem Schritt wurde es schlimmer. Mit zwei Einkaufstüten bepackt, die Collegemappe unter den linken Arm geklemmt, hastete Lisa Rütters über den schmalen Weg aus Waschbetonplatten. Sie hatte es eilig, weil ihr die dünnen Griffe der Tüten in die Finger schnitten und aus dem anfänglichen Druck ein immer unangenehmerer Schmerz wurde. Sie ärgerte sich über sich selbst. Aus der kleinen Postfiliale war sie sofort in den daneben befindlichen Supermarkt gestürmt. Warum hatte sie auch den gesamten Wocheneinkauf auf einmal erledigen müssen? Vor der Haustür angekommen, stellte sie die rechte Tüte viel zu schwungvoll ab, beim Aufsetzen klirrte es heftig. Erschrocken verzog sie den Mund, an die Flasche Prosecco hatte sie nicht mehr gedacht. Ihre Finger tasteten in der Jackentasche, bis sie endlich den Hausschlüssel in der Hand hielt. Erleichtert trat sie in die alte Villa ein, ging durch den Flur in ihre Erdgeschosswohnung und entledigte sich in der Küche der Taschen. Nachdem alle Einkäufe verstaut waren, nahm sie am Schreibtisch Platz, der in einer Nische des kleinen Wohnzimmers stand. Gewohnheitsmäßig schaltete sie das Notebook ein. Nur wenige Klicks, und sie befand sich in der Online-Community, der sie vor einiger Zeit beigetreten war. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Eine Nachricht war eingegangen, vor wenigen Minuten erst.

 

»Hi, was ist los mit dir? Du bist so schnell verschwunden. Ich dachte, wir trinken noch etwas und …?«

 

Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, die Mundwinkel zuckten. Das war nicht die erhoffte Nachricht. Angestrengt fixierte sie den Bildschirm. Unsicher glitten ihre Fingerspitzen über die Tastatur, sie suchte fieberhaft nach einer Antwort.

 

»Mir war auf einmal nicht gut. Ein Frauenproblem, verstehst du?«

 

Die Reaktion kam unerwartet schnell.

 

»Ich kann ja vorbeikommen und dich gesund pflegen. Vielleicht geht es dir schneller besser, als du denkst. Ich bin da sehr geschickt.«

 

»Nein. Wirklich nicht.«

 

»Wirklich? Ich bin auch ganz artig, ich versuch’s jedenfalls.«

 

»Nein.«

 

»Ok, dann nicht. Bist du zu Hause?«

 

»Ja.«

 

»Dann bleib dort. Bis morgen.«

 

Erleichtert atmete sie durch und schrieb eine neue Nachricht.

 

»Tommy, bist du on? Melde dich! Schnell!!!!«

Wieder starrte sie voller Konzentration auf den Computer, aber es kam keine Antwort. Sie zuckte mit den Schultern. Wäre er online, hätte er sofort geantwortet. Seufzend stand sie vom Schreibtisch auf und ging durch das Wohnzimmer ins Bad. Die Studentin für Verfahrens- und Umwelttechnik fühlte sich immer noch ein wenig verloren in ihrem neuen Zuhause. Dabei war die kleine, kuschelige Einliegerwohnung im Parterre der alten Villa eindeutig ein Glücksfall. Die alte Dame, die den Rest des großen Hauses bewohnte, ließ sich so gut wie nie blicken. Auch laute Musik schien sie nicht zu stören. Die Befürchtungen ihrer Freunde, Lisa müsse als Gesellschaftsdame herhalten und würde keine ruhige Minute haben, hatten sich zum Glück nicht erfüllt. Mit der Hilfe ihrer Eltern und vieler Freunde renovierte sie die lange ungenutzte Wohnung und passte sie, soweit es möglich war, ihrem persönlichen Geschmack an. Immer noch roch es nach Farbe und dem charakteristischen Geruch neuer Möbel.

Nachdem sie sich frisch gemacht hatte, holte Lisa ihre Collegemappe aus der Küche und setzte sich auf die Couch. Mit klopfendem Herzen zog sie einen Schreibblock heraus. Ganz unten im Block, versteckt zwischen einem Wust von losen Blättern, befand sich ein kopiertes, sechsseitiges Dokument, von einer Heftklammer zusammengehalten. Aufgeregt hielt sie die Blätter in der Hand, ihre Augen flogen über den Inhalt. Während sie las, fingen ihre Wangen an zu glühen. Sie sprang auf und kontrollierte ihren Posteingang am Rechner.

Keine Antwort.

Mit einem Handscanner kopierte sie das Dokument, die Speicherkarte des Gerätes steckte sie anschließend in das Notebook. Routiniert lud sie die gescannte Datei in ein E-Mail-Programm hoch. Mehr konnte sie im Moment nicht tun. Tommy war anscheinend immer noch unterwegs, so wie er es angekündigt hatte. Auf seinen besonderen Touren, wie er sie nannte, hatte er sein Handy nie eingeschaltet, sinnlos, es zu versuchen. Sie würde erst morgen mit ihm über ihren Erfolg reden können, obwohl sie beinahe platzte. Enttäuscht klappte sie den Laptop zu.

Wenn Tommy schon nicht da war, musste sie eben allein feiern. Mit einer geöffneten Flasche Prosecco machte sie es sich auf der Couch bequem und studierte wieder das Dokument. Ab und zu blätterte sie dabei in einem Fachbuch und verglich Zahlenangaben. Mit dem Bleistift machte sie sich Notizen. Die Dämmerung setzte ein, und sie zog die Vorhänge vor die Fenster zum Garten. Die Dunkelheit des Gartens mit seiner mannshohen Hecke empfand sie als bedrohlich und fühlte sich beobachtet. Obwohl sie sich einzureden versuchte, dass das völliger Quatsch war. Wegen der über einen Bewegungsmelder geschalteten Strahler konnte niemand ungesehen durch den Garten gehen, solange sie sich im Wohnzimmer aufhielt.

Gegen dreiundzwanzig Uhr spürte Lisa, wie ihre Lider beim Lesen schwerer und schwerer wurden und sie immer öfter die Sätze nochmals lesen musste, weil die Konzentration nachließ. Der Prosecco war gut zur Hälfte ausgetrunken und hatte seinen Teil zu ihrer Bettschwere beigetragen. Keine Viertelstunde später lag sie nebenan in ihrem Bett. Der Fernseher lief, um das Knarzen der alten Hölzer im Haus zu überdecken. Schnell sank sie in einen tiefen Schlaf.

* * *

Lisa Rütters hörte etwas und hob schlaftrunken den Kopf an. Im Fernseher pries eine unnatürlich wirkende Blondine mit kreischender Stimme Kosmetik an. Mit einem Seufzen ertastete sie die Fernbedienung, die auf der freien Fläche neben ihr lag, und schaltete das Gerät aus. Kraftlos ließ sie sich zurückfallen und räkelte sich wieder auf die Seite. Noch ehe sie ihre alte Schlafposition wiederfand, war erneut etwas Ungewöhnliches zu hören. Etwas, von dem sie sicher war, dass es nicht hierhin gehörte. Sie verdrehte den Kopf und blinzelte in Richtung der Tür zum Flur. Ihr war, als konnte sie eine schemenhafte Bewegung erkennen. Bevor sie mit ihrem schlaftrunkenen Bewusstsein in der Lage war zu reagieren, legte sich etwas Kühles, Feuchtes auf ihr Gesicht und nahm ihr die Sicht. Sie spürte den Druck, der dieses Etwas auf ihrer Haut fixierte, und wollte eine Abwehrbewegung machen, aber ihr Körper war durch die Seitenlage zu verdreht, um ernsthaft Widerstand leisten zu können. Vor Schreck atmete sie tief ein. Die Luft hatte plötzlich einen scharfen, beißenden Geschmack, der bis tief hinab in ihren Lungen zu spüren war und ein Stechen verursachte. Ein kurzes Aufbäumen und Schütteln des Kopfes blieb ohne Wirkung, der Druck gab nicht nach. Ein weiterer Atemzug ließ sie langsam in einen Dämmerzustand versinken, und die Welt um sie herum verschwand zu einem riesigen, dunklen Nichts.

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3.

Einige Monate zuvor

Es klopfte zaghaft an der Tür. Ohne die Antwort abzuwarten, wurde sie aufgedrückt, und die Sekretärin steckte den Kopf durch den Spalt.

»Ich weiß, Sie sind beschäftigt, Herr Doktor. Aber dieser Umschlag wurde gerade für Sie abgegeben. Dringend und persönlich steht darauf, deshalb habe ich ihn nicht geöffnet.«

Der Angesprochene übertrug endlose Zahlenkolonnen handschriftlicher Aufzeichnungen, die als lose Blätter vor ihm lagen, in ein komplexes Computerprogramm. Mit genervtem Blick unterbrach er seine Arbeit und winkte die Mitarbeiterin mit einer knappen Handbewegung herein. Er wartete, bis sie den großen Briefumschlag auf seinem Schreibtisch abgelegt und die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte.

Neugierig beugte er sich vor und betrachtete den Absenderaufdruck, eine Firmenanschrift, die ihm absolut nichts sagte.

Er hob den gut zehn Millimeter dicken Umschlag an, wunderte sich über das unerwartet hohe Gewicht und schlitzte ihn vorsichtig mit dem Brieföffner auf. Sein Blick fiel auf mehrere großformatige Bilder, mit spitzen Fingern zog er das oberste heraus. Es zeigte ihn selbst, nackt auf einem Bett in Rückenlage, mit erigiertem Geschlechtsteil.

Seine Gedanken begannen zu rasen, augenblicklich wurde ihm warm.

Das nächste Bild zeigte ihn beim Geschlechtsverkehr mit einer Frau. Sein Gesicht war deutlich zu erkennen, von der Frau war nur ein Teilausschnitt zu sehen.

Aber war es überhaupt eine Frau, eine erwachsene Frau?

Beim dritten Bild, das er mit bereits zitternden Fingern aus dem Umschlag fischte, traten ihm die ersten Schweißperlen auf die Stirn. Es bestätigte seinen Verdacht, die Person, mit der er den Bildern nach unzweifelhaft Geschlechtsverkehr hatte, sah aus wie ein Kind, höchstens zwölf oder dreizehn Jahre alt.

Das konnte, das durfte nicht sein.

Angestrengt versuchte er, dem Gesehenen einen Sinn zu geben.

Das Hotelzimmer erkannte er bei genauer Betrachtung der Fotos wieder. Es war während des Seminars in der letzten Woche, eindeutig. Da war die kleine Dunkelhaarige, die ihn in der Bar angequatscht hatte, Typ gelangweilte Handelsreisende, Mitte dreißig plus/minus ein paar Jahre. Gediegen gekleidet, kein Topmodel, aber durchaus attraktiv. Ein bisschen Smalltalk, geheucheltes Interesse am Beruf des Gegenübers, schnell war man beim Du, der Alkohol tat sein Übriges. Sie war es, die eine Flasche Champagner besorgte und sich bei ihm unterhakte. Und sie übernahm auch weiter die Initiative, als sie ihn im Fahrstuhl küsste und ihren Oberschenkel an seinem rieb. In einem letzten Anflug von Misstrauen erwartete er im Zimmer eine finanzielle Forderung, aber nichts dergleichen geschah.

Sie tranken gemeinsam den Champagner, und das Letzte, woran er sich erinnern konnte, waren ihre entblößten Brüste, als sie auf ihm saß. Danach klaffte eine Lücke, ein schwarzes Loch in seinem Leben, das er am nächsten Morgen nicht schließen konnte.

Einen pelzigen Geschmack auf der Zunge, ein Gefühl, als wollte der Schädel platzen, und die Erkenntnis, mindestens zwei Stunden zu lange geschlafen zu haben, keine Chance, den Flieger zu erreichen. Die Brüste fielen ihm ein, und mit ihnen dämmerte ihm, auf den ältesten Trick der Welt reingefallen zu sein. So schnell es sein Zustand zuließ, war er aus dem Bett geklettert. Brieftasche, Portemonnaie, seine teure Armbanduhr, alles war noch da, es fehlte absolut nichts. Auf der kleinen Anrichte lag ein Zettel:

Es war toll. Vielleicht bis zum nächsten Mal?

Darunter Lippenstift, die Kontur eines verführerischen Mundes.

Es schien eine außergewöhnliche Nacht gewesen zu sein, von der er leider nichts mitbekommen hatte. Er verfluchte den getrunkenen Alkohol.

Und jetzt diese Bilder.

Aber waren sie überhaupt authentisch? Fotomontagen vielleicht? Aber dazu sahen sie zu echt aus.

Er fasste erneut in den Umschlag. Unter den Bildern befand sich eine durchsichtige Plastikhülle, als er sie herauszog, sah er, dass sie Geldscheine enthielt.

Das also hatte das ungewöhnliche Gewicht verursacht, fein säuberlich nebeneinander aufgereihte und eingeschweißte Geldstapel, gut und gerne fünfzigtausend Euro.

Wie passte das zusammen?

Ein erneutes Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ein Telefonat für Sie, Herr Doktor.«

»Jetzt nicht«, herrschte er sie an.

»Der Mann lässt sich nicht abweisen. Er will seinen Namen nicht nennen und fragt, ob Sie den Briefumschlag erhalten haben.«

Erschrocken schnellte sein Kopf hoch.

»Gut, stellen Sie durch«, presste er heiser heraus.

Er atmete zweimal tief ein und aus und versuchte, seine Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen.

»Ich hörte, die Lieferung ist eingetroffen. Sie haben hoffentlich keinen allzu großen Schreck bekommen. Der Absender ist übrigens nicht existent.«

Die Stimme des Anrufers war kalt und emotionslos.

»Wer sind Sie, und was wollen Sie von mir? Was sollen diese gefälschten Bilder?«

Auf der anderen Seite wurde gelacht.

»Die Bilder sind nicht gefälscht, ein Spezialist wird sehr schnell feststellen, dass sie echt sind. Das würde zum Beispiel bei einem Verfahren wegen Kindesmissbrauch geschehen.«

»Sie bluffen doch. Ich war mit einer Frau in dem Hotel, die mindestens dreißig Jahre alt war.«

»Das stimmt. Erinnern Sie sich an den Champagner und wie kurz danach die Lampe ausging?«

»Sie haben mir eine Falle gestellt«, bemerkte er genauso richtig wie unnötig.

»Gamma-Hydroxybuttersäure oder auch Liquid Ecstasy. Es hat eine erstaunliche Wirkung und ist längst nicht mehr feststellbar in Ihrem Blut. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn diese Bilder veröffentlicht werden, vielleicht im Internet. Wenn dann die Hetzjagd richtig losgeht und jeder Stein umgedreht wird, um zu schauen, wie viele Leichen Sie noch im Keller haben. Ihr Leben, das Sie sich aufgebaut haben, mit Frau und Kind, ein großes Haus, Doktortitel, es ist nichts mehr wert.«

Fieberhaft überschlug er seine Situation. Er kannte die Berichte über Liquid Ecstasy, das auch Vergewaltigungsdroge genannt wurde. Eine sexuell stimulierende Wirkung, die aber bald in Bewusstseinseintrübungen und motorischen Störungen umschlug. Das Opfer war noch handlungsfähig, bekam aber nichts mehr mit. Es erklärte seinen Blackout und die Katerstimmung nach dem Aufwachen. Die Bilder mit der nackten Frau würden seine Ehe zerstören, die mit dem Kind sein ganzes Leben.

»Was wollen Sie von mir?«, hörte er sich leise sagen.

»Gut, wir kommen also ins Geschäft. Als Beweis dafür, dass wir an einer gleichberechtigten Partnerschaft interessiert sind, haben wir eine kleine Anzahlung mit in den Umschlag gelegt. Und jetzt erkläre ich Ihnen, wie unsere Zusammenarbeit aussehen wird. Ich weiß, dass Sie gerade an einem heiklen Gutachten arbeiten. Das Ergebnis, zu dem Sie kommen werden, ist ein wenig unvorteilhaft. Ich schlage deshalb einige Modifikationen vor, die für Sie kein Problem darstellen dürften. Hören Sie mir einfach nur zu.«

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4.

Wie lange sollen wir hier noch stehen? Das macht doch keinen Sinn.«

»Es ist noch fast eine Stunde bis Mitternacht. So lange bleiben wir auf jeden Fall.«

»Heute Abend kommt keiner mehr, der Drops ist gelutscht. Wir haben die Übergabe verpasst, oder sie findet ganz woanders statt.«

»Hör auf zu labern, Lena.«

Die dreiunddreißigjährige Privatdetektivin Valerie Leving verdrehte die Augen. Von ihrer Position aus konnte sie die Einfahrt der gediegenen Villa und einen Teil der Straße einsehen. Ihre beste Freundin und Kollegin, die an einen Rollstuhl gefesselte Anna-Lena Holland, stand mit ihrem Wagen in der Seitenstraße, von dort hatte sie einen guten Blick auf die beleuchtete Rückseite des Wohnhauses.

»Was passiert denn überhaupt, wenn wir hier Erfolg haben?«, fragte Anna-Lena ihre Kollegin Valerie.

 

»Dann sind wir draußen, und die Versicherung macht allein weiter.«

»Na toll! Super! Wir stehen uns hier die Beine in den Bauch, und die Lorbeeren kassiert ein anderer.«

»So war es von Anfang an abgesprochen. Der Auftrag bezog sich nur auf die Observation hier vor Ort. Eine Beschattung durch mehrere Länder könnten wir nun mal nicht leisten, schon allein wegen der Kleinen nicht.«

Valerie dachte an Zoé, die daheim im Bett schlief, wie so oft in letzter Zeit behütet von Nele, der Nachbarstochter.

Die Bewohner der eindrucksvollen Villa waren in das Visier einer großen Versicherung geraten. Sie standen im Verdacht, mit internationalen Kunstdieben gemeinsame Sache zu machen und ihre Räumlichkeiten als Zwischenlager zur Verfügung zu stellen.

»Dafür hätten auch unsere beiden Gelegenheitsmitarbeiter gereicht, da müssten sich nicht die beiden Chefinnen die Nacht um die Ohren schlagen«, bohrte Anna-Lena weiter.

»Dein Stefan hat heute selbst Nachtdienst, und Net ist schon seit Tagen nicht mehr zu erreichen.«

Unwillkürlich musste sie bei dem Gedanken an die beiden grinsen. Sie erinnerte sich wieder an das Kennenlernen vor knapp zwei Jahren. Net, der Computer-Nerd, den neben seiner Arbeit bei einem großen Provider nur die virtuelle Welt interessierte, und Stefan, der Streifenbeamte aus Niedersachsen mit Wohnsitz in Hamburg.

Beide nutzten damals ihre beruflichen Möglichkeiten, um im Internet Jagd auf pädophile Bildersammler zu machen, und zogen die Freundinnen in einen Fall hinein.

Anna-Lena und Stefan hatten sich im Chat kennengelernt, ohne dass Stefan etwas von dem Rollstuhl wusste. Mittlerweile waren sie ein Paar, obwohl die Freundinnen nach wie vor zusammen ein großes Appartement bewohnten. Hauptsächlich, um der siebenjährigen, von Valerie adoptierten Zoé Geborgenheit zu geben.

Dass Net von der Bildfläche verschwunden war, ließ die Alarmglocken bei der ehemaligen Kripobeamtin klingeln. Er hatte zwar hoch und heilig versprochen, keine illegalen Touren mehr zu drehen und die Füße stillzuhalten, aber seine plötzliche Gesetzestreue kaufte sie ihm nicht ab. Nur, was würde sie tun, sollte sie ihn tatsächlich dabei erwischen? Auf seine genialen Computerkenntnisse und die Möglichkeiten, die ihm sein Arbeitgeber bei der Beschaffung von Daten bot, konnte sie unmöglich verzichten.

»Alter Falter!«

Anna-Lenas erstaunter Ausruf riss sie aus ihren Gedanken.

»Was ist los? Tut sich was?«

»Und was sich hier tut!«

»Nun sag schon.«

»Hier ist gerade ein Auto vorbeigefahren mit einem ganz schnuckeligen Beifahrer. Der hat ganz interessiert zu mir rübergeguckt.«

»Wie konntest du denn das erkennen?«

»Hier steht eine Laterne.«

»Was war das für ein Auto? Hast du das Kennzeichen?«

»Nein, darauf habe ich nicht geachtet«, kam es etwas kleinlauter zurück.

Valerie sagte nichts, sondern schüttelte nur den Kopf. Sie streckte ihre Beine bequem unter das Armaturenbrett des Geländewagens und sah auf die Uhr. Halb zwölf. In einer halben Stunde würden sie abbrechen. Ein Telefonat mit dem Auftraggeber am nächsten Tag würde über die weitere Vorgehensweise entscheiden. Möglich, dass das Engagement beendet war, genauso war es aber auch denkbar, dass sie sich noch ein paar weitere Nächte um die Ohren schlagen müssten. Valerie hasste diese lang gedehnten, zu nachtschlafender Zeit stattfindenden Observationen. Lieber waren ihr kniffelige Ermittlungen jeder Art.

Die folgenden zehn Minuten hüllten sie mit absoluter Ruhe ein, sie spürte, wie sie immer schläfriger wurde. Die Detektivin wollte das Seitenfenster öffnen, um die kühle Luft hereinzulassen, und hatte bereits den Zeigefinger über dem Schalter positioniert. Doch dazu kam es nicht mehr, plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Zwei Fahrzeuge rasten mit hoher Geschwindigkeit von hinten heran. Verwundert drehte sie den Kopf zur Seite. Auf ihrer Höhe kamen sie mit heftigen Reifengeräuschen zum Stehen. Türen flogen auf, und bevor sie noch reagieren konnte, sprangen mehrere Männer wie ein Überfallkommando heraus und rannten auf sie zu. Im Licht von Taschenlampen glänzten die brünierten Oberflächen mehrerer Schusswaffen.

* * *

Eine knappe Stunde später schob Valerie ihre Freundin Anna-Lena in ihrem Rollstuhl aus dem Fahrstuhl. Niemand sagte ein Wort. Nach wenigen Metern erreichten sie die Eingangstür der gemeinsamen Wohnung.

»Valerie, echt, es tut mir leid. Ich habe es versaut.«

Sie drehte den Kopf zur Seite und schaute mit ihren großen, dunklen Augen zur Freundin hinauf.

»Du Kamel, schaust dir einen schnuckeligen Beifahrer an und bekommst nicht mit, dass es ein Zivilwagen der Polizei ist. Sonst witterst du doch in allem und jedem eine Verschwörung!«

Langsam schob sie die Freundin in die Wohnung und sprach leise weiter, weil sie Zoé nicht wecken wollte.

»Ich sollte deinem Stefan stecken, was in deinem Kopf vorgeht.«

»Machst du nicht«, raunte Anna. Es gelang ihr nicht, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.

»Bei einer Observation von den eigenen Ex-Kollegen erwischt zu werden, ist die absolute Höchststrafe. Schlimmer kann es gar nicht kommen. Ich weiß noch gar nicht, wie ich unserem Auftraggeber das Tohuwabohu auf der Straße erklären soll.«

Anna-Lena schaute treuherzig von unten nach oben.

»Lass es doch weg.«

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5.

Wie lange haben Sie nichts mehr gehört?«

Die ältere Dame legte den Kopf schräg zur Seite. Sie stützte ihr Kinn mit der Hand und starrte auf einen imaginären Punkt an der Wand, kurz unterhalb der Decke.

»Vier Tage sind es jetzt bestimmt schon.«

»Gut, gehen wir hinein.«

Der uniformierte Polizeibeamte hielt seine Hand auf, und die Frau legte mit zittrigen Fingern den Reserveschlüssel für die Wohnung hinein und trat schnell zurück. Aus sicherer Entfernung betrachtete sie das weitere Geschehen. Der Mann grinste verstohlen zu seinem Kollegen hinüber, bevor er sich dem Wohnungseingang zuwandte. Vorsichtig, auf jede Überraschung gefasst, entriegelte er die Tür und drückte sie einen kleinen Spaltbreit auf. Er schob den Kopf hinein und sog die Luft ein. Sofort zog er ihn zurück und wedelte sich frische Luft aus dem Hausflur zu. Der Blick, den er anschließend seinem Kollegen zuwarf, ließ nichts Gutes vermuten. Als er in die Wohnung eintrat, betrachtete er die Innenseite der Eingangstür, es steckte kein Schlüssel im Schloss, die Tür war nur zugezogen worden. Vom Flur aus gelangte er in den Wohnraum, der wegen der zugezogenen Vorhänge in einem diffusen Licht lag. Eine Person war nicht zu sehen. Der Raum wirkte, als sei er gerade erst verlassen worden. Direkt nebenan befand sich ein kleines Schlafzimmer. Das Bett war zerwühlt. Bekleidung lag, achtlos verstreut, auf dem Bett und auf dem Boden, aber auch hier war niemand zu entdecken. Am Ende des Flures war eine letzte, verschlossene Tür. Je näher die beiden Beamten dieser Tür kamen, umso aufdringlicher und penetranter wurde der Geruch, der sich bereits in der gesamten Wohnung ausgebreitet hatte. Widerwillig schob der Polizist langsam die Badezimmertür auf. Die Geruchswolke, die sich förmlich auf ihn stürzte, ließ ihn kurz schlucken. Deshalb warf er nur einen flüchtigen Blick in den Raum, bevor er sich seinem Kollegen zuwandte.

»Genauso, wie es riecht. Ruf den Kriminaldauerdienst (KDD), wir haben eine Leiche!«

* * *

Die beiden Kripobeamten des KDD erschienen nach knapp zwanzig Minuten. Die Beamten tauschten schnell die vorhandenen Informationen aus. Der kleinere Mann von der Kripo schrieb sich die Personalien, die die Schutzpolizei bereits erfasst hatte, in sein Notizheft, damit war der Tatort übergeben. Die Uniformierten nickten der alten Dame zu und verließen das Haus. Gleich darauf hörte man den Streifenwagen wegfahren.

Vor dem Betreten der Wohnung zog einer der Kripobeamten eine kleine Glasdose aus der Tasche. Er drückte sich etwas von dem Inhalt, eine streng nach Menthol riechende Erkältungssalbe, an die Nasenlöcher und reichte sie seinem Kollegen, der dasselbe machte. So gewappnet, betraten sie die Räumlichkeiten und verschafften sich einen Überblick.

»Schau mal dort, das sieht aber seltsam aus. Als sollte das auf etwas aufmerksam machen.«

Der Beamte zeigte auf ein Notebook, das aufgeklappt auf einem Schreibtisch stand. Eine kleine Digitalkamera war mittig auf dem Mousepad abgestellt.

Kopfschüttelnd machte er Fotos aus unterschiedlichen Blickwinkeln von der ungewöhnlichen Anordnung und sah sich weiter in der Wohnung um, während sein Kollege im Bad verschwand.

»Und?«, fragte er, als er nach wenigen Augenblicken ebenfalls ins Bad trat.

»Sieht nach Suizid aus. Tablettenintoxikation. Zumindest auf den ersten Blick sehe ich keine Anzeichen für eine Fremdeinwirkung. Denn dort …«

Er beendete den Satz nicht, sondern wies mit dem Thermometer in der Hand auf die leere Hunderterpackung eines starken Schlafmittels. Die Dose war unter den Heizkörper gerollt. Vereinzelte Tabletten lagen auf dem Boden verteilt. In der halb gefüllten Badewanne trieb neben der Leiche eine Wodkaflasche, schräg schwimmend im Wasser. Eine zweite, leere Flasche lag auf dem Fliesenboden. Während der Beamte den Leichnam weiter untersuchte, ging sein Kollege zurück in den Wohnraum. Vorsichtig darauf bedacht, keine Spuren zu zerstören, fasste er die Kamera an den Ecken an, dort waren keine brauchbaren Fingerabdrücke zu sichern. Er hob sie vom Mousepad und setzte sie sanft auf der Tischplatte ab. Der Computer war durch ein Kabel mit dem Stromnetz verbunden. Das Gerät befand sich im Stand-by-Modus. Ein einziger Druck auf eine der Tasten reichte aus, um es wieder zum Leben zu erwecken. Vom letzten Benutzer war ein Textdokument geöffnet worden.

 

Verzeiht mir. Ich kann damit nicht leben.

 

Er runzelte die Stirn und ließ sich die systeminternen Daten für den geschriebenen Text anzeigen. Demnach war die Datei vor fünf Tagen, nachts um 04.05 Uhr, angelegt worden. Weitere Anwendungen waren nicht geöffnet. Die Aufmerksamkeit des Beamten konzentrierte sich jetzt auf die Kamera. Mit Rußpulver bestäubte er das Gehäuse, und es gelang ihm, zwei brauchbare Fingerabdrücke abzunehmen. Erst danach schaltete er das Gerät ein. Einen Augenblick benötigte er, um sich mit der Bedienung vertraut zu machen. Endlich konnte er das erste Bild anschauen. Seine Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, konzentriert blätterte er durch das digitale Album, dann hatte er genug gesehen. Er machte einige Schritte, um sicherzugehen, dass er auch Gehör fand.

»Frank, komm mal rüber. Das musst du dir unbedingt anschauen.«

Aus dem Badezimmer hörte man das Klappern verschiedenster Gerätschaften, dann trottete der Gerufene ohne Hast aus dem Flur in den Wohnraum, von seinen Gummihandschuhen tropfte noch Feuchtigkeit auf den Boden.

»Was gibt es denn so Wichtiges? Ich habe gerade nach möglichen Verletzungen gesucht?«

»Hier, schau selbst«, sagte sein Kollege und wollte ihm die Kamera in die Hand drücken.

Frank zeigte nur seine feuchten Handschuhe hoch. Mit fragendem Blick starrte er gebannt auf den kleinen Bildschirm, den ihm sein Kollege direkt vor das Gesicht hielt. Nach den ersten Bildern stieß er einen erstaunten Laut aus. Etwa nach der Hälfte der gespeicherten Aufnahmen unterbrach er.

»Ich fasse es nicht. Ruf sofort die Mordkommission an.«

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6.

Valerie saß mit einer Tasse Cappuccino am Esstisch und blätterte in ihrem Planer. Sie hatte Zoé zur Schule gefahren und nach einem kurzen Telefonat mit der Versicherung erfahren, dass der ein wenig verunglückte Einsatz der vorletzten Nacht keine Folgen haben würde. Die Zielpersonen waren an der deutsch-schweizerischen Grenze festgenommen worden, der Auftrag hatte sich damit erledigt. Wenigstens war das kleine Missgeschick der beiden Freundinnen unbemerkt geblieben. In gut einer Stunde wollte sie sich mit einer Klientin treffen, deren Anruf gestern spätabends eingegangen war. Die Frau, deren Alter sich anhand der Stimme nicht einschätzen ließ, hatte verzweifelt gewirkt. Geradezu beschwörend bat sie Valerie, vorbeizukommen. Es schien ihr unglaublich viel daran zu liegen. Als sie den Anruf Revue passieren ließ, kam es ihr so vor, als hätte die Frau sie am liebsten noch am späten Abend sprechen wollen und traute sich nur nicht, es konkret zu formulieren. Valerie musste sich eingestehen, dass sie nicht in der Lage gewesen war, einfühlsamer auf die Anruferin einzugehen. Ihre Gedanken kreisten auch während des Anrufes der fremden Frau um Zoé, die am Nachmittag böse auf die Knie gestürzt war und es deshalb nicht klar war, ob sie am nächsten Tag in die Schule gehen konnte.

Anna-Lena kam an den Tisch gerollt. Auf ihrem Schoß lag eine Zeitung.

»Deine Kollegen haben den Mord von letzter Woche aufgeklärt.«

Valerie reagierte nicht darauf. Annas Sticheleien über ihren ehemaligen Job, insbesondere ihre süffisanten Betonungen, ignorierte sie geflissentlich.

»Interessiert dich das gar nicht?«

»Wenn du rumstänkerst, nicht.«

Sie schaute auf und grinste die Freundin provozierend an, aber die fuhr ungerührt fort.

»Vorgestern wurde ihr Mörder gefunden.«

»Mörder findet man nicht, die nimmt man fest.«

»Den hier schon, der hat nämlich auch den Löffel abgegeben. In der Zeitung steht, dass er sich mit Schlaftabletten umgebracht hat und einen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Bei ihm hat man Bilder vom Mordopfer gefunden, also nachdem er sie umgebracht hat. Es soll ein Freund von ihr gewesen sein.«

Anna-Lena wedelte triumphierend mit der Zeitung, bevor sie weitersprach.

»Was ich gleich gesagt habe, eine Beziehungstat. So, wie der sie zugerichtet hat. Wir müssen heute Abend unbedingt Gesi anrufen, die weiß bestimmt noch mehr als die paar Zeilen, die in der Zeitung stehen.«

Valerie schaute auf das Titelblatt der Zeitung, die ihr vor die Nase gehalten wurde. Ihre Freundin Gesine Walther, Leiterin einer Ermittlungsgruppe für Wirtschaftskriminalität, war kurz nach dem Mord von Anna-Lena nach allen Regeln der Kunst ausgequetscht worden. Alle Einzelheiten, die die Hauptkommissarin auf der K-Leiter-Besprechung erfahren hatte, zog sie ihr aus der Nase.

Der Mörder war nachts gekommen, durch einen klassischen Einbruch gelangte er in die Wohnung. Die junge Frau wurde auf brutalste Weise zugerichtet. Gegen eine Zufallstat sprachen nach allen kriminalistischen Erfahrungen die schweren Verletzungen, an denen sie gestorben war. Ihr Gesicht und ihr Körper waren durch Schläge völlig entstellt worden. Todesursächlich war ein Schlag gegen den Kehlkopf, sonst hätten vermutlich die fürchterlichen Verletzungen zum Verbluten geführt. Der Täter muss einen unglaublichen Hass besessen haben. Hass, Eifersucht, blinde Wut, alles deutete auf eine Beziehungstat hin.

»Ich bin froh, dass es so schnell aufgeklärt wurde.«

»Mehr fällt dir nicht dazu ein?«

»Was soll ich sonst dazu sagen? Ein furchtbares Verbrechen ist geschehen, und der Täter ist zum Glück schnell ermittelt worden.«

Sie sah auf.

»Okay, nicht ermittelt, sondern gefunden worden, nach deiner Lesart. Du kannst sicher sein, in ein paar Tagen wird der nächste schlimme Mord passieren.«

»Wow, jetzt hast du wie ein Politiker gesprochen. Viel Bla und Blub, und nichts ausgesagt.«

Anna-Lena sah Valerie erstaunt an. Die aber vertiefte sich wieder in ihren Terminplaner. Valerie vermied, wann immer sie konnte, diese Art der Diskussionen mit der Freundin. Sie fand meistens kein Ende und verstieg sich in die abstrusesten Spekulationen.

»Ich sehe schon, du willst nicht darüber reden. Was liegt heute an?«

»Ich treffe mich gleich mit einer Klientin. Sie hat gestern spätabends noch angerufen und ganz dringend um einen Termin gebeten.«

»Soll ich mitkommen?«

»Ach was. Ich muss erst mal schauen, was sie überhaupt will. Sie klang so aufgewühlt, wahrscheinlich müssen wir bald wieder hinter einem untreuen Ehemann herstiefeln.«

* * *

Pünktlich zur verabredeten Zeit klingelte Valerie an der Eingangstür eines gepflegten Wohnhauses. Das Gebäude stach mit seiner Nüchternheit aus dem Kontext des Viertels mit seinen ziegelgedeckten Einfamilienhäusern wie ein Fremdkörper heraus. Dunkelgraues Pultdach, weißer Putz, schmale, hohe Fenster.

Eine extrem dünne Frau öffnete die Tür. Sie hatte gewelltes, braunes Haar, das von grauen Strähnen durchsetzt war. Ein naturfarbenes Leinenkleid schlackerte an ihrem ausgemergelten Körper. Ihr Gesicht war von tiefen Falten zerfurcht, die Augen rot gerändert. Sie führte Valerie durch den Flur in einen großen Wohnraum. Die Besucherin schaute sich um. Das Zimmer war viel zu spärlich eingerichtet, um auch nur einen Hauch von Gemütlichkeit auszustrahlen. Eine Sitzecke mit Couchtisch, an der Wand neben dem Terrassenfenster stand ein Klavier. Der Toyota Prius in der Einfahrt war Valerie schon beim Parken aufgefallen. Mit einem schlechten Gewissen stellte sie ihren riesig wirkenden Geländewagen an der Straße ab. Der Begriff Bildungsbürgertum schoss ihr durch den Kopf, und sie fragte sich, was für ein bescheuertes Wort das doch war.

Die Frau nahm schräg gegenüber Platz. Ihre Hände lagen auf dem Schoß, sie waren unablässig in Bewegung, kneteten und drückten sich, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Was kann ich für Sie tun, Frau Rütters?«

Die Angesprochene hob einen Bilderrahmen vom Tisch, den Valerie nur schräg von hinten sehen konnte, und reichte ihn herüber. Das Bild zeigte eine junge Frau von ungefähr zwanzig, schlank, nicht ganz so schlank wie die Hausherrin. Die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz streng nach hinten gebunden. Der breite Mund lächelte. Das ungeschminkte Gesicht war eher herb, auf keinen Fall unattraktiv, aber auch nicht der Typ, der die Jungs früher in der Schule unruhig gemacht hatte. Sie war der Typ guter Kumpel.

»Ist das Ihre Tochter?«

Die Frau nickte, ihre Augen bekamen einen feuchten Schimmer.

»Das war sie. So hat sie mal ausgesehen, unsere Lisa.« Die Frau wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Ohne darüber nachzudenken, sprang Valerie auf, setzte sich neben die fremde Frau und nahm sie in den Arm.

»Sie ist umgebracht worden.«

Nur mühsam konnte Valerie die Worte verstehen und begann zu ahnen, worum es ging. Der Name des Mordopfers war in den Medien oft genug gefallen.

Scheiße, dachte sie. Der Groschen hätte schon viel früher fallen müssen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie ließ der Mutter viel Zeit, bis sie sich weit genug gefangen hatte, um weitersprechen zu können.

»Ich weiß, dass Sie eine der Besten in Ihrem Fach sind. Sie sind uns empfohlen worden. Ich möchte, dass Sie den Mörder meiner Tochter finden, damit er bestraft werden kann und wir endlich damit abschließen können.«

Ihre Nägel krallten bei den Worten in Valeries linke Hand, dass es schmerzte.

»Falls wir das jemals können.«

»Der Mörder ist doch ermittelt worden, denke ich«, begann Valerie vorsichtig.

Die Frau schüttelte heftig den Kopf, die mittellangen Haare berührten dabei Valeries Gesicht.

»Nein. Tommy war es nicht. Auf keinen Fall. Tommy war ein guter Junge. Ich habe ihn gekannt, er wäre dazu nicht fähig gewesen. Außerdem waren sie Freunde, die besten Freunde.«

Eben, wollte Valerie am liebsten sagen und gleich noch eine ausschweifende Erklärung über typische Beziehungstaten hinterherschicken, sie atmete aber nur seufzend aus.

»Die Polizei hat die Ermittlungen eingestellt, für die Beamten ist Tommy der Täter.«

Die verweinten Augen starrten Valerie eindringlich ein, bevor sie fortfuhr.

»Er ist auch nur ein Opfer, glauben Sie mir. Sie sind die Einzige, die uns noch helfen kann. Sie müssen diesen Fall übernehmen, ich bitte Sie.«

»Sie sprechen von wir, wer ist …«

»Lisas Vater hat einen Herzinfarkt bekommen, als wir die Nachricht erhielten. Es geht ihm schon wieder etwas besser. Er kommt bald aus dem Krankenhaus heraus«, fiel ihr Frau Rütters ins Wort.

In Valeries Kopf herrschte völliges Chaos. Wo war sie hier wieder hineingeraten? Die Mutter des Mordopfers nimmt den von der Polizei ermittelten Mörder in Schutz. Hier wäre eher ein Psychologe als ein Ermittler angebracht, war ihr erster Gedanke dazu, aber sie spürte instinktiv, dass sie sich nicht so einfach aus der Geschichte verabschieden könnte. Sie konnte die Frau in ihrem verzweifelten Zustand unmöglich abblitzen lassen.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag.«

Sie legte ihre Hand auf die Hände der Frau und schaute ihr in die Augen.

»Ich übernehme Ihren Auftrag. Ich mache alles, was mir möglich ist in diesem Fall. Sobald ich aber objektiv zu dem gleichen Ergebnis wie die Polizei komme, höre ich auf.«

* * *

Als Valerie zurückkehrte, saß die Anna-Lena vor dem Computer.

»Und?«, fragte sie über die Schulter. »Wieder mal ein Ehemann beim Auswärtsspiel?«

Valerie ließ sich auf dem Stuhl gegenüber dem Schreibtisch nieder.

»Schlimmer. Viel schlimmer. Das glaubst du mir ja doch nicht.«

»Na los, spuck’s aus. Mach’s nicht so spannend.«

»Die Mutter einer ermordeten Tochter, die die Ermittlungen der Mordkommission anzweifelt.«

Anna schaute vom Rechner hoch.

»Der Fall Rütters?«

Sie hauchte die Worte geradezu, ihre dunklen Augen waren kugelrund aufgerissen, ihr Mund verzog sich zu einem zufriedenen Grinsen. Valerie nickte nur und überlegte bereits, wie und wo sie ansetzen konnte.

»Juchhu, endlich mal ein richtiger Kriminalfall und nicht diese halbgaren Ficki-Ficki-Geschichten. Geil, Valli. Gut gemacht.«

»Was ist daran gut? Wenn die Mordkommission die Akten zuklappt, wird für uns wahrscheinlich nicht mehr viel drin sein. Bei dem Auftrag können wir nur schlecht aussehen. Eine Mutter, die sich verrannt hat, wird keine gute Werbung für uns sein.«

»Besorg ein paar Infos. Ich bin Spezialistin für Verschwörungen und Affären aller Art. Ich wittere sofort, wenn etwas nicht stimmt.«

Valerie musste grinsen und schaute die Freundin lange an. Die deutete es falsch und lächelte unternehmungslustig zurück.

»Ja genau, so wie du den Zivilwagen vor ein paar Tagen gewittert hast. Trommel die Jungs zusammen. Wir essen heute Abend gemeinsam und überlegen uns, wie wir vorgehen.«

[home]

7.

Die junge Frau ging gebückt, Haare verdeckten ihr Gesicht. Hektisch schaute sie sich nach allen Seiten um, während sie die kleine Szenekneipe betrat. Schnell durchquerte sie den gesamten Schankraum und quetschte sich in der hintersten Ecke zwischen einen Tisch und die Eckbank. Von hier aus konnte sie jeden neu hereinkommenden Gast sehen. Nervös strichen ihre Finger durch das strähnige Haar, während sie mit der anderen Hand ihr Handy aus der Umhängetasche zog. Mit routinierten Bewegungen scrollte sie durch die eingegangenen Nachrichten. Bei der Bedienung, die gleich darauf am Tisch erschien, bestellte sie einen Tee. Immer wieder beobachtete sie die wenigen anderen Gäste, die entweder allein saßen und etwas tranken oder in Gespräche vertieft waren. Niemand schien sich für die neu Angekommene zu interessieren. Die Bedienung erschien und stellte den Tee auf den Tisch. Die Hand der jungen Frau zitterte, als sie das Teeglas zum Mund führen wollte, einige Tropfen kleckerten auf die Tischplatte. Erst als beide Hände mit den Fingerspitzen das Trinkgefäß hielten, konnte sie es zum Mund führen. Einige Minuten saß sie dort und starrte in den Raum hinein.

Sie richtete gespannt den Oberkörper auf, als sich die Eingangstür öffnete. Ihr Blick fiel auf einen schlanken Mann, der zögernd die Kneipe betrat und sich suchend umschaute. Er hatte dunkles, zerzaustes Haar. Sein Dreitagebart schimmerte dunkel und verstärkte sein ungepflegtes Äußeres. Mit geschätzten dreißig Jahren war er mindestens fünf Jahre älter als die Frau in der Ecke. Als er sie erblickte, hellte sich seine Miene auf, und er kam direkt auf sie zu.

»Oh Gott, Ina. Wie siehst du denn aus?«

Er rutschte mit auf die Eckbank und rückte vertraulich nah auf.

»Wie soll ich denn aussehen? So wie immer, hoffe ich.«

Wie zur Beruhigung legte er seine Hand auf ihr linkes Handgelenk.

»Du wirkst auf mich, als hättest du tagelang nicht geschlafen.«

»Was hast du denn gedacht?«

Sie zog die Hand weg. Es war offensichtlich, dass ihr seine Nähe unangenehm war.

»Das ist schlimm, was mit Lisa passiert ist. Ich hätte auch nicht gedacht, dass Tommy zu so etwas fähig ist. Zum Glück hat er sich umgebracht.«

Die Frau sagte nichts, sie hielt den Kopf leicht vorgebeugt. Ihr dunkelblondes Haar fiel dabei ins Gesicht.

»Sag doch etwas. Ihr seid ja plötzlich alle wie vom Erdboden verschluckt. Keiner geht mehr an sein Handy oder beantwortet meine Mails. Wenn du nicht geantwortet hättest, ich wüsste nicht, wie ich euch erreichen sollte.«

»Wir haben beschlossen, nicht mehr weiterzumachen.«

»Ach, ihr habt das also beschlossen?«

Er fasste nach ihrem Unterarm.

»Und was ist mit mir? Gehöre ich nicht zur Gruppe?«

Er beugte seinen Kopf und versuchte, durch den Vorhang aus Haaren in ihr Gesicht zu sehen.

»Noch nicht so lange wie wir anderen. Aber das ist auch egal. Es ist ein Mehrheitsbeschluss.«

»Ich war bei jeder Aktion in den letzten Wochen dabei. Ich habe genauso ein Recht wie …«

»Jetzt erfährst du es von mir«, unterbrach sie ihn. »Na und?«

Ihre Stimme wurde ärgerlicher.

Er schüttelte den Kopf.

»Na, wenigstens bist du hierhergekommen, um es mir persönlich zu sagen. Wie kann ich dich erreichen?«

»Gar nicht.«

»He, was soll der Quatsch. Wir können doch jetzt nicht aufhören. Es fing gerade an, richtig Spaß zu machen. Und außerdem, musst du nicht studieren?«

»Das Semester ist sowieso im Eimer.«

Wieder nippte sie am Tee und hielt dabei das Glas mit den Fingerspitzen beider Hände, um große Hitze vorzutäuschen.

»Es ist schlimm, was da passiert ist. Aber was hat das mit uns zu tun? Wir können doch ganz normal weitermachen. Das verstehe ich nicht.«

»Es hat alles was mit uns zu tun. Du glaubst doch nicht, dass Tommy das gemacht hat.«

»Wer denn sonst? Das ist doch offensichtlich. Die Polizei hat den Fall abgeschlossen. Wir könnten problemlos weitermachen. Lisa war doch an so einem Dokument dran. Weißt du, ob sie es bekommen hat?«

Erstaunt schaute die junge Frau auf und strich die Haare aus dem Gesicht.

»Woher weißt du davon?«

»Hat mir Tommy erzählt. Jetzt schau nicht so entgeistert. Immerhin gehöre ich auch zur Gruppe. Wie oft noch?«

Ihre Miene sah sorgenvoll aus, misstrauisch antwortete sie.

»Ich weiß es nicht.«

»Ach komm, du willst es mir bloß nicht sagen. Genauso weiß ich immer noch nicht, wie ihr Dokumente ausgetauscht habt. Auch über das Mailprogramm?«

Als sie nicht reagierte, schüttelte er den Kopf und stand auf.

»Ich muss mal auf die Toilette. Warte bitte auf mich.«

Sie beobachtete ihn und wartete, bis die Tür hinter ihm zugeklappt war. Hastig stand sie auf, drückte der Bedienung im Vorbeigehen einige Münzen in die Hand und verschwand.

* * *

Ina Monheim verließ völlig aufgewühlt die Kneipe. Ihre aufkommende Panik versuchte sie, so gut es ging, zu unterdrücken, was sie jetzt am dringendsten benötigte, war ein klarer Kopf. Sie verschwand in dem zum Feierabend anschwellenden Strom der Fußgänger. Seit der Sache mit Lisa und Tommy war sie untergetaucht. Ihr Instinkt hatte ihr gleich gesagt, dass viel mehr dahintersteckte, als die Behörden weismachen wollten. Sie kannte Tommy nun schon seit vier Jahren, Lisa war zwei Jahre später zu ihrer kleinen Gruppe gestoßen. Niemals hatte sie bei ihm eine aggressive Ader festgestellt. Sein Verhältnis zu Lisa war ebenso wie zu ihr von tiefer Freundschaft und Vertrauen geprägt. Sexuelle Avancen standen nie im Raum. Als Kevin im letzten Herbst zu ihnen stieß, änderte sich das grundlegend. Er machte anzügliche Sprüche und starrte die weiblichen Mitglieder unverhohlen an. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit tatschte er sie an, seine Hände schienen wie zufällig überall zu sein. Vor allem aber fragte er sie aus. Ständig wollte er mehr wissen, als es für die jeweilige Unternehmung nötig war, wollte ihre richtigen Identitäten erfahren, aber gab selbst nichts von sich preis. Tommy war der Erste gewesen, der bei einem Treffen im kleinen Kreis seine Bedenken äußerte. Und genau deshalb war Ina aus der Kneipe geflüchtet. Dass Tommy Kevin über das Dokument informiert hatte, so wie von Kevin eben behauptet, war völlig ausgeschlossen. Es war vereinbart worden, den Neuzugang nicht zu tief in die Strukturen blicken zu lassen. Weder sollte er die genaue Identität der einzelnen Mitglieder noch die Informationsflüsse kennen. Kevin war nie in ihrer Gemeinschaft angekommen und hatte sich durch sein Verhalten selbst zum Außenseiter gestempelt. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis die Gruppe sich seiner entledigen würde. Und dann passierte das mit Lisa und Tommy.

Ina war von der Bildfläche verschwunden, untergekrochen bei einer alten Freundin aus der Zeit, als sie während des Studiums kellnerte. Dass sie auf Kevins Mail geantwortet hatte und sich zu diesem Treffen überreden ließ, war ihrer sozialen Einstellung geschuldet, niemanden vorzuverurteilen. Jetzt aber war sie davon überzeugt, dass mit ihm etwas nicht stimmte, dass er womöglich hinter allem steckte. Und sie war überzeugt, dass es ein Fehler gewesen war, zu diesem Treffen zu kommen. Panisch versuchte sie, ihre Gedanken zu sortieren. Um das laufende Semester war es nicht schade, die kommende Prüfung wäre ohnehin ein Fiasko geworden, aber was kam danach? Wie lange würde es dauern, bis sie wieder ihr gewohntes Leben leben konnte? Würde sie jemals zurückkehren können? Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. In diesem aufgelösten Zustand war ihr entgangen, dass sich jemand seit ihrem Verlassen der Kneipe an ihre Fersen geheftet hatte und sie nicht mehr aus den Augen ließ. Sie bog aus der Langen Reihe in die ruhigere Danziger Straße ein, weil sie so schnell wie möglich zur U-Bahn wollte, und ging entgegengesetzt der Einbahnstraße den Gehweg entlang. Ein unauffällig gekleideter Mann mit sportlicher Figur beobachtete jeden ihrer Schritte und bewegte sich mit gleichbleibendem Abstand hinter ihr her. Immer wieder raunte er leise in ein Mikrofon, das in seinem Jackenkragen versteckt sein musste. Aus Richtung Steindamm kamen mehrere Pkw angefahren, am Ende der Reihe rollte ein silberner BMW. Ein Wagen nach dem anderen fuhr an Ina vorbei, sie achtete nicht darauf. Plötzlich zog unmittelbar vor ihr der BMW mit quietschenden Reifen abrupt nach rechts, so weit, dass sie erschrocken zur Seite springen musste. Der Mann, der ihr folgte, war bereits unbemerkt näher gekommen. Jetzt kam er mit zwei riesigen Schritten von hinten an sie herangesprungen, packte sie am Arm und riss gleichzeitig die hintere rechte Tür der Limousine auf. Aus den Augenwinkeln registrierte Ina, dass die Fahrertür aufflog.