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Durch den Auftrag einer schwangeren Frau, ihren verschwundenen Mann zu finden, gerät die Detektivin Valerie Leving unversehens in eine Abrechnung hochkarätiger Krimineller. "Sie werden ihn schon erkennen, wenn es soweit ist. Ein altes russisches Sprichwort lautet: U strahá glazá velikí." ( Anm.: Angst hat große Augen. ) Valentin Klein ist sehr zuversichtlich, das Problem schnell lösen zu können. Klein ist Boss einer Bande russischer Krimineller, spezialisiert auf die Sprengung von Geldautomaten, Blitzeinbrüchen in Juweliergeschäften und der Schleusung von Asylbewerbern, die zum Teil zur Mitarbeit gezwungen werden. Bei einer internen Bestrafungsaktion kann einer der Männer fliehen. Die Polizei ist hinter der Bande her, die über erstaunliche Insiderkenntnisse verfügt. Valerie gerät zwischen die Fronten und in tödliche Gefahr. "Angst macht große Augen" ist der 3. Band der Leving&Holland Reihe um die Freundinnen Valerie Leving und Anna-Lena Holland. Erschienen sind in folgender Reihenfolge: 1. "Taubenzeit"- Independent-Veröffentlichung 2. "Tödliche Zeiten"- Knaur Ebook 3. "Angst macht große Augen" 4. "Jahr der Ratten" ( Wie alles begann ) - Independent-Veröffentlichung. Der Autor ist Mitglied im Autorennetzwerk Qindie. Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie also künftig auf das Qindie-Siegel! Für weitere Informationen, News und Veranstaltungen besuchen Sie unsere Website: qindie.de/
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L.U. Ulder
Angst macht große Augen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Angst macht große Augen
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Impressum neobooks
( Ein Leving & Holland Fall )
L.U. Ulder
Der Autor ist Mitglied im Syndikat.
Hamburg, im Frühjahr 2013
Gedankenverloren betrachtete er die Fotografie, drückte mit den Fingerspitzen die hochgebogenen Ecken in ihre Form zurück und tauchte ein in einen Film, der wie automatisch vor seinem inneren Auge zu laufen begann. Ihm war, als könne er den Geruch ihrer Haut wahrnehmen, ihr dezentes, leicht fruchtiges Parfüm, das bei jeder Bewegung ihrer langen Haare aufwallte und ihn wie ein luftiger Schleier umhüllte. Er spürte ihre weiche, warme Hand, wie sie zum Abschied zärtlich über seine Wange strich.
Abschied.
Die Dinge hatten sich nicht so entwickelt, wie sie beide es sich vor einiger Zeit so sehr gewünscht hatten. Er hielt sie in den regelmäßigen Telefonaten hin, so gut er konnte, hoffte, so etwas Zeit zu schinden, Zeit, die vielleicht doch noch alles zum Guten wenden würde. Aber sie hatte ein feines Gespür, an ihren Reaktionen merkte er ihre Verunsicherung. Zu viel Unausgesprochenes lag mittlerweile zwischen ihnen, zu viel Schuld war ihm aufgezwungen worden und es fiel ihm immer schwerer, Zuversicht auszustrahlen. Schon gar nicht nach den Ereignissen vor zwei Tagen. Nicht mehr lange und er würde ihr die Wahrheit sagen müssen.
Ein laut ausgesprochener Name riss ihn heraus aus seinem Sekundentraum.
Sein Name.
„Azamat!“
Er blickte auf und sah in das bartstoppelige Gesicht des Mannes rechts von ihm. Bulat schob ihm mit seinem typischen Grinsen, das die riesige Zahnlücke im Oberkiefer entblößte, ein bis zum Rand aufgefülltes Glas zu. Wodka schwappte über und hinterließ eine schimmernde Spur auf der Tischplatte. Seufzend legte er das an den Rändern wellige Bild wieder in einen Umschlag, den er sorgfältig in eine rote Plastikhülle steckte. Bevor er den Wodka zu sich heran zog, drehte er sich nach hinten und ließ die Hülle in einem alten Seesack verschwinden.
Dimi, der jüngste von ihnen, den sie nur den Dicken nannten, begann wieder, Karten auszugeben. Jetzt drängelte er, dabei war er derjenige gewesen, der die wehmütige Stimmung in den Container holte, als er stolz die Bilder seiner jungen Frau und seines Babys herum zeigte. Bulat, wie Azamat Ende Zwanzig, hatte keine Frau, er kramte aus seinen Habseligkeiten die Bilder der Familie, Eltern, Großeltern, Geschwister, Geschwister und nochmal Geschwister.
Die drei Männer am Tisch der schäbigen Behausung lachten und scherzten wieder, zunächst verhalten, dann immer unbeschwerter. Reichliche Mengen Alkohol spendeten Trost und halfen beim Verdrängen des alten Lebens und des missglückten Neuanfangs.
Sie spielten Durak, jenes alte russische Kartenspiel, bei dem derjenige verlor, der als Letzter noch Karten in der Hand hatte und damit der Durak, der Dummkopf, war.
Anfangs hatte sich Azamat noch geziert, ausgerechnet an einem russischen Spiel teilzunehmen. Als sich seine beiden Mitbewohner nicht beirren ließen und zu spielen begannen, fügte er sich in sein Schicksal und beteiligte sich. Ruhe würde er in dem winzigen Raum ohnehin nicht finden.
Er knurrte leise die Worte „wir sind alle Duraky“ und setzte sich mit an den Tisch.
Jetzt standen Bierdosen und eine halbvolle Wodkaflasche auf dem Tisch. Eine weitere, leere Flasche auf dem Boden wurde gerade von einem unvorsichtig ausgestreckten Fuß umgestoßen. Scheppernd fiel sie auf den schmutzigen Boden und rollte auf eine der Schlafpritschen zu. Sie tranken, um sich zu betäuben, um den Schmerz der Trennung und die Angst vor der ungewissen Zukunft zu verdrängen. Je mehr sie tranken, umso besser gelang es ihnen. Heftig wurden die Karten auf die Tischplatte geknallt. Der Baucontainer, in dem sie saßen, bot lediglich Platz für den Tisch in der Mitte und für vier Pritschen, die längs an die Wände gestellt waren. Am Kopfende des kleinen Raums stand ein Elektroherd, auf dem noch die Reste der letzten Mahlzeit darauf warteten, entsorgt zu werden. Der primitive Raum wirkte ebenso verwahrlost, zahlreiche achtlos zerknüllte Bekleidungsstücke und Fastfoodverpackungen bildeten ein wüstes Durcheinander.
Die Männer lebten seit mehreren Wochen in der Behausung am Rande des Containerdorfes. Von den Bewohnern der benachbarten Hütten, allesamt Beschäftigte unterschiedlicher Firmen auf der angrenzenden Großbaustelle, waren sie bislang unbehelligt geblieben. Bewegten sie sich zu Anfang mit einer gewissen Vorsicht und Unsicherheit auf dem Gelände, war ihr Aufenthalt mittlerweile längst zur Routine geworden. Niemand schien sich für sie zu interessieren, dafür war das provisorische aufgebaute Hüttendorf zu groß und zu unübersichtlich. Sie konnten kommen und gehen wie sie wollten.
Azamat schnipste seine letzte Karte auf den Tisch und stand auf. Dimi sah ihn fragend an, nickte aber sofort verstehend, als er mit dem Daumen nach draußen deutete. Er ging durch die Tür, die den Raum mit einem winzigen Flur verband und von dort in die kaum größere Nasszelle. Mechanisch drückte er auf den Lichtschalter. Für einen Sekundenbruchteil flammte das Licht mit einem Zischen auf, danach war es dunkel. Nur noch schwacher Schein drang von draußen durch das Oberlicht und aus dem Flur durch die einen spaltbreit offenstehende Tür hinein.
Seinen Fluch quittierten die beiden Mitbewohner mit schadenfrohem, kehligem Lachen, dann schloss sich die Tür zum Innenraum, die Toilette drückte er nicht ganz zu, um besser sehen zu können. Während er seine Hose hinab ließ, gewöhnten sich die Augen an das Zwielicht. Bereits sitzend nahm er verwundert ein leises, quietschendes Geräusch wahr. Er drehte den Kopf, um sein Ohr in Richtung der Eingangstür zu wenden. Dieses Geräusch kannte er nur zu genau. Hatte er es vor einigen Tagen noch selbst unnatürlich laut gehört, als er spät zurückkam und die drei schlafenden Mitbewohner nicht stören wollte. Je langsamer die Eingangstür geöffnet wurde, umso mehr quietschte sie. Im ersten Moment nahm er an, Andrej, der vierte Mann im Baucontainer, sei zurückgekehrt. Der war am Nachmittag plötzlich verschwunden, ohne den anderen etwas zu sagen. Aber dieses Schleichen passte nicht zu ihm. Andrej gebärdete sich wie ihr Anführer und in gewisser Weise war er das auch. Wenn er den Container betrat oder verließ, knallten die Türen ohne Rücksicht auf die Tageszeit.
Sie bekamen ungebetenen Besuch, daran gab es keinen Zweifel und er begann auch zu ahnen, warum.
Deutlich hörte Azamat, wie sich Schuhe auf dem Linoleum des schmalen Flures bewegten. Ihr Träger war darauf bedacht, so leise wie möglich zu sein, aber auf dem Boden lag viel zu viel Schmutz, um sich mit Straßenschuhen völlig geräuschlos vorwärts bewegen zu können. Langsam, wie in Zeitlupe arbeitete sich der unbekannte Eindringling über den nur wenige Schritte kurzen Flur vorwärts. Im Licht, das durch den Türspalt herein drang, tauchte ein Schatten auf. Azamat saß reglos auf der Toilette und hielt die Luft an. Mit rasendem Pulsschlag sah er die Tür geräuschlos auf sich zukommen und er zog den Kopf tief ein, um nicht im Spiegel der gegenüberliegenden Wand gesehen zu werden. Gleichzeitig ballte er die Fäuste, um seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Zu seiner Erleichterung wurde die Tür nicht ganz aufgeschoben, mitten in der Bewegung blieb sie stehen. Der Eindringling schlich zurück, weiter in den Container hinein. Azamat warf einen dankbaren Blick auf die durchgebrannte Lampe unter der Decke. Er atmete, so flach es ging und überlegte verzweifelt, ob er seine Zimmergenossen durch laute Rufe warnen und damit gleichzeitig seinen Standort preisgeben sollte.
*****
Dimi und Bulat hatten ihr Spiel beendet, sie unterhielten sich entspannt, während sie auf ihren Kumpel Azamat warteten, um eine neue Runde zu beginnen. Dass sie plötzlich ungebetenen Besuch bekamen, bemerkte Bulat erst, als der dunkel gekleidete Mann bereits im Raum stand. Er trug eine Schlägermütze und hatte sich ein Tuch bis über die Nase gezogen, mehr als die Augenpartie war vom Gesicht nicht zu erkennen.
Dimi sah, wie sein Kumpan plötzlich in der Bewegung erstarrte. Er drehte sich um und wollte erschrocken aufspringen, aber der Lauf der auf ihn gerichteten Pistole verhinderte dies nachdrücklich.
Der Eindringling legte seinen linken Zeigefinger über den Mund und bedeutete ihnen, sich still zu verhalten. Die mit einem Schalldämpfer versehene Waffe bewegte sich von einem zum anderen, während die freie Hand des Mannes drei Finger zeigte und energisch gestikulierte.
Dimi schaute für einen winzigen Moment zur Wand, hinter der sich die Nasszelle befand, nur kurz, aber lange genug, um unbewusst den Aufenthalt des dritten Mannes zu verraten. Vorsichtig glitt seine rechte Hand vom Tisch herunter, um langsam in Richtung des Einhandmessers zu wandern, das er an seinem Gürtel trug.
*****
Azamat war wieder aufgestanden, kaum dass der Eindringling den Flur verlassen hatte. Hastig zog er sich die Hose nach oben. Dabei beugte er sich zur Toilettentür und lehnte sein Ohr auf die Kunststoffoberfläche, um hören zu können, ob noch jemand in den Container geschlichen war. Erleichtert stellte er fest, dass es völlig still im Flur blieb, es war offenbar nur eine einzelne Person hereingekommen, wenn noch jemand da war, musste er sich draußen befinden. Irritierend war für ihn, dass auch aus dem großen Raum kein einziger Laut an sein Ohr drang. Irgendetwas musste doch gesprochen werden, eine Reaktion seiner Mitbewohner zu dem spätabendlichen Besucher, aber nichts dergleichen passierte. Keine Begrüßung, kein Protest, nur völlige, beunruhigende Stille.
Was er dann zu hören bekam, ließ ihn wie unter einem Peitschenhieb in Deckung tauchen. Ein Geräusch wie das Ploppen beim Öffnen einer Sektflasche, dezent und unaufdringlich. Ihm folgte ein dumpfes Geräusch, als ob etwas Schweres auf den Boden fiel.
„Aza.....!“
Bulats gellender Schrei riss mitten im Wort ab, wieder klatschte etwas Schweres zu Boden, ein Gewicht, das wie zuvor die Planken des Containers bis in die Nasszelle hinein erzittern ließ. Azamat hockte tief, fast auf dem Boden und überlegte fieberhaft, wie er reagieren sollte. Das Oberlichtfenster war viel zu klein und wirkte in seiner Position unerreichbar. Im gleichen Moment klackerte es mehrere Male hintereinander, etwas Hartes schlug gegen einen harten Widerstand. Panisch versuchte Azamat, den Sinn des Geräusches zu erfassen. Als er im fahlen Licht plötzlich Löcher in der Wand zum Aufenthaltsraum wahrnahm, stieß er einen erschreckten Laut aus und sprang er ohne darüber nachzudenken auf.
Nur raus. RAUS!
Er riss die angelehnte Tür auf und war bereits im kleinen Flur. Mit zwei, drei großen Schritten nach links war er am Ausgang des Baucontainers. Hinter sich konnte er hören, wie die fast lautlos abgefeuerten Projektile mit lautem Klacken einschlugen. Er schaffte es nach draußen, überrascht, keine weiteren Personen anzutreffen, die ihn an seiner Flucht hindern könnten und widerstand der Versuchung, über den angrenzenden freien Bereich in Richtung der Lichter der Großstadt zu rennen. Stattdessen wandte er sich nach rechts, zwischen den Behausungen der Bauarbeiter hindurch mitten hinein ins Containerdorf. Mehrmals wechselte er die Richtung. Als er das Gefühl hatte, der herausgelaufene Vorsprung sei groß genug, schaute er sich nach allen Seiten um, glitt nach unten auf den Boden und kroch unter einen der Wohnbehälter. Azamat suchte sich Deckung hinter verkeilten Kanthölzern, die das Gebäude über ihm trugen und machte sich so klein wie möglich. Ein faustgroßes Tier wurde durch seine Anwesenheit aufgeschreckt und verschwand fast lautlos in der Nacht.
Wieder versuchte Azamat, so flach wie möglich zu atmen. Zeitweise hielt er den Atem an, um besser lauschen zu können.
Niemand schien ihm zu folgen. Hatten sie es aufgegeben oder waren sie in eine andere Richtung gelaufen? Es blieb gespenstisch still, keine hektischen Rufe, keine schleichenden Schritte, die sich vorbei drückten. Aber sie waren dort draußen irgendwo, lauerten auf ihn, daran zweifelte er nicht einen Moment lang. Aus den anderen Behausungen drangen keine Geräusche. Niemand schien das Drama, das sich eben abgespielt hatte, wahrgenommen zu haben.
Nach Minuten, die ihm endlos vorgekommen waren, hörte er weit entfernt den Motor eines schweren Fahrzeuges. Das Geräusch kam langsam näher, bis es sich seinem Gefühl nach in der Nähe des Containers befand, seines Containers und dem seiner Kameraden. Der Wagen stand, dann erstarb auch das Motorengeräusch. Mehrere Türen klappten, zu schnell hintereinander für eine einzelne Person. Stimmen drangen nicht an sein Ohr, so sehr er sich auch bemühte, er konnte keine Unterhaltung hören. Es dauerte nicht lange, nur wenige Minuten, gefühlt deutlich weniger als die Wartezeit zuvor, dann klappten erneut Türen, der Wagen wurde gestartet und entfernte sich zügig. In der Richtung, in der er wegfuhr, gab es keine Straße, nur eine Brachfläche. Sand und Kies, unebener Boden, nicht befestigt genug für einen Pkw. Nur ein Geländewagen war in der Lage, es hier entlang zu schaffen.
Während draußen die Stille zurückkehrte, schaffte er es, seine Nerven zu beruhigen, die Atmung normalisierte sich. Nur kühl kalkulierend würde es ihm gelingen, diese Situation zu bestehen. Auch seine andere Sinne meldeten sich zurück und er nahm den Verwesungsgeruch wahr, der in seinem Versteck herrschte. Je länger er ihn roch, umso penetranter wurde er. Deshalb also war die Ratte unter die Behausung gekrabbelt, irgendwo hier unten verrottete ein totes Tier, er hatte sie um ihre Mahlzeit gebracht. Weil er nichts sehen konnte, bemühte er sich, so bewegungslos wie möglich zu bleiben und nicht mit dem Kopf an den Untergrund zu stoßen. Während er nach einiger Zeit überlegte, ob er es wagen könnte, bereits das Versteck zu verlassen, drangen wie aus dem Nichts aufgeregte Schreie an seine Ohren. Jemand brüllte aus Leibeskräften und schlug dabei mit einem harten Gegenstand wieder und wieder gegen Containerwände. Laut hallten die metallischen Geräusche durch die schlafende Behelfssiedlung. Die Schreie weiterer Personen kamen schnell hinzu. Eine Sirene ertönte. Wie bei einem Weckruf schienen die Bewohner in den Hütten ringsherum aus dem Schlaf gerissen zu werden. Türen klappten, es wurde lauter, irgendetwas schien die Männer in Hektik zu versetzen. Auch über sich hörte er Schritte, die Bewohner über seinem Versteck kamen herausgerannt. Er sah schwere Stiefel die Treppenstufen herunterkommen und in die Richtung seines Containers laufen. Dem ersten Impuls, sich unter die herumlaufenden Männer zu mischen, widerstand er noch. Als sich Sirenengeheul näherte und Blaulicht zu sehen war, hielt er es nicht mehr aus. Vorsichtig, um nicht mit dem verwesenden Tier in Berührung zu kommen, schob sich Azamat bis an den Rand seines Verstecks. Als er sicher war, dass niemand in direkter Nähe war, der ihn sehen konnte, wand er sich schnell heraus und war auf den Beinen. Unsicher ging er zwischen den Hütten hindurch. An der nach außen offen stehenden Tür einer der Baubuden hing eine gelbe Regenjacke. Sich nach allen Seiten umschauend griff er sie sich im Vorbeigehen und zog sie über sein Shirt. Den Kragen hochgestellt, mit eingezogenem Kopf, mischte er sich unter eine größere Gruppe von Arbeitern, die in sicherer Entfernung zusahen, wie der Container, in dem er mehrere Wochen lang gelebt hatte, abbrannte. Mit ihm verbrannten seine wenigen Habseligkeiten und die Erinnerungen an sein bisheriges Leben. Und nach allem, was er unmittelbar vor seiner hektischen Flucht aus der Hütte gehört hatte, auch seine beiden Mitbewohner.
Die Feuerwehrleute trafen fast gleichzeitig mit ihm ein. Sie drängten die Schaulustigen zurück. Obwohl sie massiv gegen das Feuer vorgingen, konnten sie nur noch verhindern, dass der Brand nicht auf die benachbarten Behausungen übergriff.
Azamat beherrschte die deutsche Sprache mittlerweile ausreichend, um sich zu verständigen zu können. Während er ungläubig und mit weit aufgerissenen Augen auf die Flammen starrte, schnappte er Wortfetzen der umstehenden Männer auf. Die waren sich einig, je länger sie in dieser großen Runde darüber austauschten, dass man wohl ab und an jemanden hineingehen oder herauskommen sehen hatte, aber niemand die Bewohner gekannt hatte, geschweige denn die Firma, für die sie tätig gewesen waren.
Azamat zog den Kopf noch weiter ein, vermied jeden Blickkontakt und drückte sich in den Schatten. Geduldig wartete er ab, bis der Brand endlich gelöscht war. Von den Wänden waren nur noch Gerippe übrig geblieben, das Dach fehlte komplett. Einer der Feuerwehrmänner betrat schließlich, mit einer langstieligen Harke bewaffnet, die Ruine. In seinen schweren Stiefeln watete er durch das knöcheltiefe Löschwasser, während ihm ein Kamerad mit einem starken Scheinwerfer von draußen Licht spendete. Bedächtig zog er mit den Spitzen seines Werkzeugs undefinierbare Klumpen auseinander. Als Azamat ihn rufen hörte, dass nur verbrannter Müll herumlag und keine Menschen zu Schaden gekommen seien, wandte er sich ab und verschwand in der Nacht.
Zwei Tage zuvor.
„Was denn nicht noch alles? Nimm doch gleich den ganzen Hausstand mit. Oder ist das etwa schon der Umzug?“
Valerie war lautlos und unbemerkt durch den Flur gekommen. Jetzt lehnte sie mit vor der Brust verschränkten Armen in der Tür zu Anna-Lenas Zimmer und sah der Freundin beim Packen zu. Die saß in ihrem Rollstuhl neben dem Bett, auf dem ein aufgeklappter Koffer lag, der locker für zwei Personen gereicht hätte und packte ein Kleidungsstück nach dem anderen hinein.
Als die Freundin sich umdrehte, lag in ihren Augen ein Hauch von Traurigkeit. Der gleiche wehmütige Blick, mit dem sie die Segler auf der Alster immer beobachtete.
„Also doch. Du willst gar nicht, dass wir fahren. Ich habe mir schon die ganze Zeit gedacht, dass dir hier allein alles zu viel wird.“
Valerie biss sich auf die Lippe, sie merkte sofort, wenn sie es übertrieben hatte. Eigentlich wollte sie die Freundin nur ein wenig aufziehen, aber die hatte heute anscheinend beschlossen, ihren empfindlichen Tag zu haben.
„Quatsch, ich wollte dich nur ein bisschen ärgern.“
Sie trat an Anna-Lena heran und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Ich weiß doch, wie schräg du drauf bist und wie du reagierst. Aber mal im Ernst, früher haben uns für eine Woche Dänemark ein paar T-Shirts und eine Regenjacke gereicht. Mit chic Ausgehen ist da nichts.“
„Sei mal ganz ehrlich. Du würdest doch am liebsten mit uns mitkommen, mitsamt der Kleinen.“
„Das ist Blödsinn. Erstens muss Zoé zur Schule und zweitens tut uns eine kurze Trennung mal ganz gut. Wir leben ja schon wie ein altes Ehepaar zusammen, auch wenn du deinen Stefan hast.“
„Na und? Nimm die Kleine für eine Woche aus der Schule raus. Masern, Röteln, was weiß ich. Die eine Woche wird ihr nicht wehtun und im neuen Haus ist bis dahin auch noch nichts zu tun. Und regnen soll es hier auch noch für die nächsten Tage, fängt heute Abend an.“
Das neue Haus.
Die Detektivin überschlug, wie lange Anna-Lena und sie bereits gemeinsam in der komfortablen Wohnung lebten. Waren es vier oder bereits fünf Jahre? Die Zeit jedenfalls schien wie im Zeitraffer vergangen zu sein, seit sie mit Zoé im Anschluss an die schrecklichen Ereignisse in Italien in die Hansestadt zurückgekehrt war und sie Anna-Lena nach deren Entlassung aus der Rehaklinik zu sich holte. Für die Adoption der Kleinen hatten die Freundinnen, anwaltlich unglücklich beraten, dem Jugendamt eine lesbische Lebensgemeinschaft vorgespielt. Und ausgerechnet in dieser Zeit verliebte sich Anna-Lena in Stefan, dem Streifenpolizisten aus Niedersachsen. Als wären die damaligen Lebensumstände nicht turbulent genug, schleppte der seinen Kumpel Net mit an, mit dem er zusammen Pädophile im Internet aufspürte. Net, der Computer- und Technikfreak war, vorsichtig ausgedrückt, ziemlich schräg.
Mit einer Gesichtsblindheit geschlagen, die ihn an seiner eigenen Mutter vorbeilaufen lassen würde, verabscheute er jegliche Nähe von anderen Menschen. Dafür war er in technischen Dingen höchst versiert und seine Arbeit bei einem Provider machte ihn unersetzlich, was das Beschaffen von Daten und das Aufspüren von Handys und deren Besitzer anging. Das hatte er in der Vergangenheit mehrfach unter Beweis stellen können.
Und jetzt bahnte sich ein Einschnitt an.
Für Zoé waren Valerie und Anna-Lena gleichwertige Angehörige, wie große Schwestern, eine Trennung dieses Dreiergespanns völlig undenkbar. Deshalb zerbrach sie sich schon, kurz nachdem Anna-Lena und Stefan zusammengekommen waren, den Kopf, wie es weitergehen würde. Und nun war es fast soweit, es sollte ein neuer Lebensabschnitt beginnen.
Vor gut einem Jahr von Stefan als Gedankenspiel in den Raum geworfen, standen sie jetzt kurz davor, von Rotherbaum nach Othmarschen umzuziehen. Jede der Freundinnen bekam seine eigene Haushälfte. Stefan konnte endlich mit Anna-Lena zusammenziehen und Zoé würde die Trennung überhaupt nicht als solche wahrnehmen.
„Nein. Auf keinen Fall nehme ich sie aus der Schule raus, um dann mit ihr Urlaub zu machen. Was für ein Zeichen würde ich da für ihre Erziehung setzen.“
„Puuuh, preußisch, praktisch, gut. Du wirst wohl nie über deinen Schatten springen. Mit der Einstellung konntest du auch nur Beamtin werden.“
„Das bin ich nicht mehr. Aber was Zoés Erziehung angeht, verstehe ich keinen Spaß.“
„Ach, denk lieber daran, was du versprochen hast?“
„Was habe ich denn versprochen?“
„Keine schwammigen Aufträge anzunehmen und keine Alleingänge, solange ich nicht da bin.“
„So, hab ich das?“
„Ja, auf die letzte Flasche Sangiovese, die wir geleert haben. Macht euch eine schöne Zeit. Lade doch mal Net zum Essen ein.“
Valerie lachte.
„Was soll ich denn mit dem schrägen Vogel?“
„Er ist immerhin dein freier Mitarbeiter.“
„Täusche ich mich oder geht da schon wieder irgendetwas quer in deinem Kopf? Du hast das 'freie' so betont.“
Anna-Lena winkte Valerie dichter zu sich heran und sprach leiser als zuvor weiter, obwohl sich sonst niemand in der Wohnung befand.
„Ich merke doch, dass er auf dich steht. Und außerdem, er ist doch mit seiner Gesichtsblindheit der ideale Lover-to-go. Er erkennt dich hinterher nicht mehr. Wenn du mal keinen Bock mehr auf ihn hast, tust du einfach so, als wärst du jemand Fremdes.“
„Geht es dir nicht gut? Mir fehlen jetzt wirklich die Worte. Ich glaube, wenn dein Stefan wüsste, was hier drin vor sich geht“, sie tippte der Freundin auf die Stirn, „der würde schreiend weglaufen.“
„Bei mir geht wenigstens überhaupt noch etwas vor“, winkte Anna-Lena ungerührt ab und wandte sich wieder ihrem Koffer zu, als hätte es die Unterhaltung nie gegeben.
„Was meinst du, soll ich diese Jacke mitnehmen?“
Sie hielt ein Kostümjäckchen in die Luft, das zu jeder Premierenveranstaltung gepasst hätte.
„So ein Quatsch. Wo willst du denn das anziehen? Nimm eine dünne Jacke, falls es warm wird und eine Regenjacke mit. Und tue mir bitte einen Gefallen.“
Valerie stand genau vor der Freundin. Sie beugte sich vor und fasste auf beide Schultern.
„Mach dir nicht unnötig das Herz schwer. Fahr nicht nach Klitmöller oder zu irgendeinem anderen Surfspot.“
„Ach was.“
Anna-Lena drehte sich zur Seite.
Wie oft waren die Freundinnen gemeinsam zum Surfen in Dänemark gewesen. Nicht unter Extrembedingungen, dazu fehlte ihnen die Erfahrung. Sie waren Soulsurferinnen, den Begriff hatte die Freundin irgendwo aufgeschnappt. Aber wann immer sich die Gelegenheit bot, waren sie zu den Hardcorespots wie Klitmöller gefahren und hatten den richtigen Surfcracks in den Wellen zugesehen. Wenn Anna-Lena schon den Seglern in ihren Nussschalen auf der Alster sehnsüchtig hinterher starrte, wie sehr würde ihr der Anblick der Surfer wehtun.
An der Eingangstür klapperte es, Zoé kam von der Schule zurück. Gerade rechtzeitig, um die trübe Stimmung zu vertreiben. Mit weit ausgebreiteten Armen kam sie in Anna-Lenas Zimmer gelaufen und stutzte, als sie den Koffer auf dem Bett liegen sah.
„Fährst du weg?“
„Na klar. Darüber haben wir doch gesprochen, dass Stefan und ich eine Woche Urlaub machen. Hast du gedacht, wir machen nur Spaß?“
Dem enttäuschten Gesicht war anzusehen, dass sie genau das gedacht haben musste.
„Au Mann, ihr macht es mir wirklich nicht leicht. Mit zwei Spaßbremsen in einer Wohnung, es wird Zeit, dass wir umziehen. Hör mal, Zoé.“
Verschwörerisch zog sie das achtjährige Mädchen ganz dicht zu sich heran und senkte den Ton.
„Du bist jetzt die Chefin hier, wenn ich nicht da bin. Du musst mir versprechen, auf Valerie aufzupassen, solange ich weg bin. Keine Aufträge, während ihr allein seid, ist das klar? Ruf mich sofort an, wenn Valerie etwas Schwammiges macht.“
Die Kleine nickte so energisch, dass ihre blonden Zöpfe hin und her sprangen.
Der Mann kam gebückt von der kleinen Kreuzung her angelaufen. Weiche Sportschuhsohlen verursachten bei jedem Auftreten auf der nassen Fahrbahn ein schmatzendes Geräusch. Er drückte sich an der Hauswand entlang, bis er im Schatten des etwa zwei Meter aus dem Gebäude hervortretenden Eingangs stand. Für jemanden, der zufällig vorbei fuhr und nur flüchtig herüber schaute, war er nicht mehr zu sehen. Der Mann trug eine schwarze Regenjacke. Die Kapuze war tief in das Gesicht gezogen, obwohl der Regen endlich aufgehört hatte.
Der Kapuzenkopf wanderte bedächtig von links nach rechts. In dem einzigen bewohnten Haus, das direkt gegenüberstand, brannte kein Licht mehr, die Bewohner waren schon vor Stunden schlafen gegangen. Die Häuser rechts und links davon waren in den oberen Stockwerken mit Büros belegt, deren gardinenlose Fenster wie dunkle Höhlen wirkten. Die Schaufenster der ebenerdigen Geschäfte leuchteten nur schwach. Die Straße wirkte wie ausgestorben.
Auf dem Parkplatz schräg gegenüber des Eingangs stand seit einigen Minuten ein schwarzer BMW Kombi. Im Inneren flammte dreimal ein Feuerzeug auf, durch die Regentropfen auf den Scheiben bizarr verzerrt.
Der Mann am Eingang nickte, obwohl das niemand sehen konnte. Er trat einen Schritt vor, kam aus dem Dunkel heraus und schob mit der linken Hand eine EC-Karte in den elektronischen Türöffner. Mit leisem Surren glitten die beiden Glasflügel auseinander. Während er in den SB-Bereich der Bank hinein ging, schüttelte seine rechte Hand eine Farbspraydose.
Keine dreißig Sekunden später tauchte er wieder bei den Glastüren auf. Diesmal blieb er stehen und verhinderte so, dass sie sich wieder schließen konnten. Am BMW öffneten sich die Türen.
In diesem Moment bog ein Kleinwagen in die Straße ein, wurde langsamer und fuhr auf den Parkplatz der Bank. Seine Scheinwerfer tasteten beim Einfahren in eine der Parkboxen den weiter links stehenden BMW ab. Als er stand, leuchteten sie genau in die Ecke, in die sich der Kapuzenmann geflüchtet hatte. So flach es ging, drückte der sich an die Wand. Mit lautem Scheppern rutschte ihm dabei die Farbspraydose aus der Tasche. Sie rollte quer über die Pflasterung des Gehweges und blieb erst an einem Fahrradständer hängen. Gleichzeitig flog die Fahrertür des kleinen Autos schwungvoll auf. Ein junger Mann in Jeans und weißen Sportschuhen stieg aus. Er trug eine Baseballkappe und strebte mit tänzerischen Bewegungen auf den Eingang zu. Er schaute nicht nach links und nicht nach rechts und schien seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Nur bei genauerem Hinsehen ließen sich die weißen Minikopfhörer in seinen Ohren entdecken.
*****
Hermann Radtke, seit mehr als zehn Jahren im Ruhestand, schlief schon seit einigen Tagen unruhig, weil ihm das Kniegelenk Probleme bereitete. Ein tauber, undefinierbarer Schmerz trieb ihn immer wieder in der Nacht aus dem Bett. Er hatte das Gefühl, dass es ihm Linderung brachte, wenn er sich bewegte und einige Runden in seiner Wohnung drehte. Seine Ehefrau, die von diesen Touren regelmäßig geweckt wurde, zog dann genervt die Bettdecke bis über die Ohren.
Während Hermann in seiner gestreiften Schlafanzughose und dem Baumwollunterhemd vom Wohnzimmer durch den Flur bis in die Küche ging, blieb er immer wieder stehen, hob den Fuß und vollführte die Bewegungen, die ihm der Therapeut gezeigt hatte. Beleuchtung benötigte er dabei nicht. Von den Straßenlaternen drang genügend Licht durch die Gardinen der vorhanglosen Fenster.
Wenn er bei seinen Runden in der Küche ankam, schaute er jedes Mal hinter der feinen Gardine aus dem Fenster. Der dunkle BMW, der vor der Bank auf der anderen Straßenseite parkte, war ihm sofort aufgefallen.
Bei seiner zweiten Runde stand auf einmal ein weiteres Auto, ein silberner Kleinwagen auf dem Parkplatz.
Die Aktivitäten dort unten nahm er jedoch zunächst nicht wahr. Immer, wenn er hinunterschaute, herrschte gerade Ruhe.
Als nach seiner nächsten Runde beide Pkw immer noch dort standen, ging er beunruhigt ins Schlafzimmer.
„Dort unten parken schon wieder Autos, zwei Stück, schon ganz schön lange. Ich glaube, ich sollte die Polizei anrufen.“
Wie selbstverständlich ging er davon aus, dass seine Frau von seinen nächtlichen Aktivitäten wach geworden war.
„Das lässt du schön bleiben“, knurrte sie folgerichtig unter der Bettdecke hervor. „Du weißt doch noch, was dir der Beamte beim letzten Mal gesagt hat.“
*****
Der musikhörende junge Mann kehrte zurück. Ohne ein Anzeichen, dass ihm etwas aufgefallen war, ging er wippend auf sein Auto zu und stopfte dabei Geldscheine in ein Portemonnaie. An seinem Wagen blieb er stehen und fummelte, ohne seine Tanzbewegungen zu unterbrechen, das Portemonnaie in die rechte Gesäßtasche. Er stieg in sein Gefährt ein und wippte weiter mit dem Kopf. Schließlich fuhr er davon, innerhalb von Sekunden kehrte Ruhe ein.
Der Mann im Schatten trat wieder hervor, gab hektische Handzeichen und öffnete erneut die Glastüren. Einen Fuß stellte er so, dass ihn der Türkontakt erfasste.
Die beiden rechten Türen des BMW flogen auf. Zwei ebenso mit Kapuzen vermummte Männer stiegen aus und bewegten sich schnell in die Bank hinein. Der Erste, ein durchtrainiert wirkender Mann, hielt eine dunkle Tasche in der Hand, wie sie von Sportlern verwendet werden. Der zweite Mann ging schwerfällig, was nicht nur an seiner korpulenten Figur lag. An der großen Gasflasche hatte er schwer zu tragen. Am Kopf der Flasche war ein Schlauch befestigt, der in einem langen Metallrohr endete. Als beide Männer im Gebäude verschwunden waren, trat der Komplize aus dem Kontaktbereich des Türöffners heraus. Die Glasflügel schoben sich zusammen, der Mann drückte sich zurück in den Schatten und beobachtete die Umgebung. Die beiden Männer in der Bank benötigten länger als ihr Komplize zuvor. Es dauerte quälend lange Minuten, bis sie wieder auftauchten. Der Sportliche trat schnell heraus und drückte sich mit in den Schatten neben dem Eingang. Der Korpulente kam rückwärts und gebeugt heraus. Er führte einen dünnen Draht aus dem Inneren des Gebäudes heraus und achtete darauf, dass ihn die automatischen Türflügel nicht erfassten. Der zweiadrige Draht war an den Enden aufgezwirbelt, in der anderen Hand hielt er einen kleinen rechteckigen Gegenstand. Der Mann schaute sich nach allen Seiten um und horchte in die Nacht hinein.
Für einen kurzen Augenblick herrschte in der Straße wieder die gleiche, schläfrige Stille wie vor dem Eintreffen des Kombis.
Als er den Draht und den kleinen Gegenstand zusammenführte, erschütterte ein ohrenbetäubender Knall die kleine Bankfiliale. Die Druckwelle riss die Glastüren aus ihrer Halterung und ließ deren Elektronik verrückt spielen. Der linke Flügel öffnete sich ruckelnd und blieb auf halbem Wege stehen, der rechte hing schief und drohte, ganz herauszufallen.
Sofort liefen der Sportliche und der Dicke zurück in die Bank.
*****
Ja, Hermann Radtke wusste noch zu genau, was ihm der Beamte in jener Nacht im verärgerten Ton zugezischt hatte. Es ging um seinen Anruf wegen einer verdächtigen Beobachtung, mal wieder. Die beiden Streifenwagen, die kurz darauf eintrafen, erwischten ein Liebespaar inflagranti. Einer der Streifenbeamten machte ihn ungehalten an, dass er nicht jedes Mal aus einer Mücke einen Elefanten machen sollte. Wegen ihm hätten sie einen anderen wichtigen Einsatz abgebrochen. Und wenn er nicht damit aufhörte, wegen seiner eigenen Schlaflosigkeit andere Leute zu belästigen, könnte man ihm auch zukünftige Einsätze in Rechnung stellen.
In Rechnung stellen, diese unverhohlene Drohung wirkte bei ihm lange nach. Um Rechnungen für Polizeieinsätze zu bezahlen, war seine Rente entschieden zu niedrig. Also versuchte er, ganz entgegen seinem Naturell, die Beobachtung zu ignorieren und drehte erneut eine Runde. Hinten im Wohnzimmer, an der vom Küchenfenster am weitesten entfernten Stelle, vernahm er auf einmal einen dumpfen Knall. Es kam ihm vor, als hätte es vorn auf der Straße einen Unfall gegeben. Er unterbrach seine Übung, drehte sich um und bewegte sich schwer atmend zurück. Vorsichtig spähte er durch den Stoff nach unten. Vor der Bank war alles ruhig, genauso wie zuvor. Aber der Kleinwagen war verschwunden.
Die krumm und schief hängenden Glasflügel vermochte er wegen seiner altersbedingten Sehschwäche nicht erkennen. Er sah aber, dass die vertikalen Lamellen der Jalousien im Bankvorraum nicht mehr ordentlich und plan hingen. Durch die entstandenen Lücken konnte er auf dem Hintergrund des hellen Fußbodens im Gebäude Bewegungen wahrnehmen.
Sein Blick wanderte unschlüssig vom Fenster zur kleinen Anrichte mit dem Telefon. Hermann Radtke entschied sich, der Sache zunächst selbst auf den Grund zu gehen, bevor er die Polizei verständigte. Entschlossen zog er seine beige Windjacke über das Unterhemd, schlüpfte in seine alten Pantoffeln, strich sich noch einmal über das dünn gewordene, graue Haar und verließ die Wohnung. Auf die Flurbeleuchtung verzichtete er. Vorsichtig tastete er sich am Handlauf nach unten.
*****
Der Mann direkt neben dem Eingang zur Bank sondierte die Umgebung. Nirgends schien es eine Reaktion auf die Sprengung gegeben zu haben, die Fenster der gegenüberliegenden Häuser blieben dunkel. Einen Moment lang glaubte er, hinter einer Gardine im Obergeschoss eine Bewegung gesehen zu haben und behielt die Stelle im Auge. Als aber alles dunkel blieb, konzentrierte er sich wieder auf die Straße.
Der Mann auf dem Fahrersitz des BMW hustete ständig. Trotz seiner leichten Sommergrippe rauchte er eine Zigarette, was den Hustenreiz noch erhöhte. Die linke Seitenscheibe war einen spaltbreit geöffnet, regelmäßig drang eine feine Rauchwolke nach außen, begleitet von den Geräuschen eines festsitzenden Hustens. Er war nicht, wie seine Komplizen, vermummt. Durch die Scheiben ließen sich seine hellen, kurzen Haare erkennen. Im Inneren des Bankvorraumes waren die beiden Komplizen damit beschäftigt, Geldscheine in die Sporttasche zu stopfen. Die von der Gasexplosion ausgelösten Schäden an den beiden Geldausgabeautomaten hatten sie zuvor mit Brechstangen bearbeitet, bis sie an die Kassettenschächte herangekommen waren.
Der Posten am Eingang reckte seinen Hals noch weiter um den Mauervorsprung, um das Geschehen im Inneren besser beobachten zu können.
Erst eine wütende Stimme erinnerte ihn an die ihm zugewiesene Aufgabe. Ruckartig drehte er den Kopf und sah einen alten Mann schräg über die Straße auf den BMW zugehen. Er hielt die rechte Hand zur Faust geballt in die Höhe.
Den Wortschwall, der ihm entgegen kam, verstand der Posten nur teilweise, das Wort Polizei tauchte unzweifelhaft darin auf. Kurz bevor der Mann den BMW erreichte, flog dessen Fahrertür auf. Der Fahrer hatte sich mit dem Oberkörper nach links heraus gedreht und hielt etwas in der Hand.
Ein Schuss peitschte durch die Straße.
Der alte Mann blieb schlagartig stehen, sein Gesicht verzerrte sich erschrocken, die rechte Hand tastete wie in Zeitlupe an das Heck des BMW, um Halt zu suchen, die linke wanderte zur Brust. Ein weiterer Schuss fiel, lautlos sackte er zu Boden.
Lutz Papenkamp kam mit Fahrrad und einem kleinen Anhänger aus einer der Seitenstraße angefahren. Im Anhänger und in den prall gefüllten Satteltaschen befanden sich Tageszeitungen. Es war kurz vor 03.00 Uhr morgens, seine Runde hatte gerade erst begonnen. Er konnte hören, wie in einiger Entfernung ein Motor aufheulte und Reifen quietschten. Achselzuckend schüttelte er den Kopf. Wohin der unbekannte Wagen fuhr, konnte er nicht sehen, das Geräusch entfernte sich und wurde rasch leiser. Gleich darauf war es nicht mehr zu hören. Als er vom wieder einsetzenden Regen die ersten Tropfen ins Gesicht bekam, ließ er mit der rechten Hand den Lenker los und zog sich die Kapuze seiner Regenjacke über den Kopf. Mit stoischem Tempo radelte er weiter. Erst im letzten Moment fiel ihm der alte Audi A6 auf, der quer auf der Durchfahrtsstraße des Ortes stand. Obwohl er mit seinem Fahrrad bequem daran vorbei gekommen wäre, ließ er das Rad ausrollen und fuhr neugierig dichter an das Fahrzeug heran. Vorn saß niemand, Fenster und Türen waren geschlossen. Er blickte sich um, konnte aber weit und breit niemanden sehen, der zu dem Auto gehörte, das die Hauptstraße blockierte.
Er schimpfte etwas, das sich anhörte wie „diese verdammten Besoffenen“ und wollte schon weiterfahren, als er im Inneren des Pkw etwas Merkwürdiges wahrnahm. Es kam ihm vor wie ein schwacher Lichtschein. Die hinteren Scheiben waren mit Folie abgedunkelt, also musste er von schräg vorn in den Innenraum hineinsehen. Sein Anhänger verhinderte, dass er dicht genug herankam. Er beugte sich weit vorn und kam aus dem Gleichgewicht. Zusammen mit dem Rad kippte er seitlich gegen den Wagen. Jetzt sah er ein schwaches Glimmen auf der Rücksitzbank, das an seinem eigenen Rauch zu ersticken drohte.
Nochmals schaute er sich hilfesuchend um, fasste an die verriegelte Tür, dann trat er in die Pedale, weil er kein Handy besaß. Er musste zur Bankfiliale an der nächsten Straßenecke fahren, dort war das einzige noch verbliebene öffentliche Telefon im Ort, ein Wandapparat mit einer Plastikhaube.
„Hallo. Mein Name ist Papenkamp. Ich bin der Zeitungsausträger hier im Ort. Ich trage die Zeitungen immer mit meinem Fahrrad und dem Anhänger aus. Was? Ja, ja, ich komme ja zur Sache. Hier steht mitten auf der Straße ein brennendes Auto. Welche Straße? Na, die Hauptstraße eben, die Ortsdurchfahrt. Warten Sie, ich schaue nach.“
Vor Aufregung fiel ihm nicht der Straßenname ein, obwohl er in ihr mehrere Abnehmer seiner Zeitungen hatte. Durch die Regentropfen auf den Scheiben der Überdachung konnte er nichts erkennen. Er legte den Hörer zur Seite und trat einen Schritt heraus. Seine Augen suchten nach den Straßenschildern, dabei sah er im Augenwinkel auf dem Parkplatz vor dem Bankeingang einen Körper liegen.
„Hier liegt auch einer, sehe ich gerade. Direkt vor der Bank. Der gehört bestimmt zu dem Auto.“
Papenkamp hängte den Hörer ein. Dass er den Straßennamen nicht weitergemeldet hatte, war ihm völlig entgangen. Vorsichtig ging er die letzten Schritte auf die Person zu. Er erkannte, dass es ein Mann war, der zu einer Straßenjacke Pantoffeln und eine Schlafanzughose trug. Weil der Mann mit unnatürlich verdrehten Beinen auf der Seite lag und ihm den Rücken zeigte, konnte er die Verletzungen nicht sehen. Widerstrebend, beinahe ängstlich ging er in die Hocke.
„He, Sie. Sie können hier nicht liegen. Sind Sie betrunken?“
Keine Antwort, unbeholfen tastete er mit den Fingern an der Halsschlagader.
Zur Sicherheit fasste er noch an das Handgelenk am ausgestreckten Arm, aber auch da war kein Puls mehr zu fühlen.
„Tot“, sagte er zu sich. „Mausetot.“
Damit stand er auf und brachte sich vor dem immer heftiger werdenden Regen im Vorraum der Bank in Sicherheit. Mit zittrigen Fingern steckte er sich eine Zigarette an. Dass die Schiebetür außer Betrieb und beschädigt war, fiel ihm ebenso wenig auf wie das von der Explosion angerichtete Chaos.
Der Anruf erreichte Hajo Steinert um kurz nach 05.00 Uhr. Der achtunddreißigjährige Leiter der Ermittlungsgruppe 'Automat' des Hamburger LKA hatte sich mit seinen Kollegen an fünf geeigneten Banken innerhalb des Stadtgebietes von Hamburg die Nacht um die Ohren geschlagen. Verdeckt lagen sie auf der Lauer, um die der Auswertung nach am wahrscheinlichsten infrage kommenden Objekte zu observieren. Bereits der siebte nächtliche Einsatz dieser Art, verbunden mit einem enormen personellen Aufwand. Sondereinsatzkräfte hielten sich für den Zugriff bereit. Es blieb ruhig, von den Tätern keine Spur, also brach er den Einsatz um 04.30 Uhr ab. Nach der Analyse der bisherigen Straftaten, und das waren nicht wenige, würde ab dieser Zeit nichts mehr geschehen. Die Stadt erwachte nach und nach und immer mehr Menschen würden auch die Selbstbedienungsschalter der Banken benutzen. Steinert, der verheiratet war und zwei Kinder hatte, freute sich auf sein Bett. Er wollte sich ein paar Stunden aufs Ohr hauen, um gegen Mittag wieder in der Dienststelle zu sein.
Ein Kollege der Einsatzleitstelle machte diesen Plan zunichte. Ungläubig wiederholte Steinert die Worte.
„In Niedersachsen?“
„Ein Toter?“
„Wann?“
„Warum bekommen wir erst jetzt Bescheid? Hast du die genaue Anschrift?“
„Ich fahre sofort hin.“
Er stellte in der Navi die Adresse ein, die ihm der Kollege genannt hatte, suchte während der Fahrt mit der freien Hand unter seinem Sitz, bis er das Magnetblaulicht zu fassen bekam und setzte es aufs Dach. Unter nervtötendem Sirenengeheul bahnte er sich seinen Weg durch den dichter werdenden Verkehr, erst über A 255 und A 1, am Horster Dreieck wechselte er auf die A 7 in südliche Richtung.
*****
Der Hauptkommissar ließ den Wagen auf dem Gehweg ausrollen. Die Sirene hatte er bereits bei der Einfahrt in den kleinen Ort ausgestellt und sich mit dem Blaulicht begnügt. Auch das verschwand jetzt wieder in der Halterung.
Er hielt seine Dienstmarke deutlich sichtbar hoch und ging auf einen uniformierten Kollegen zu, der in seinem Streifenwagen saß und eher gelangweilt herüber schaute.
„Steinert, LKA Hamburg. Sie haben doch nichts dagegen“, setzte er voraus und hob die rot-weiß schraffierte Absperrung an. Er ging weiter über die Parkfläche auf den Eingang der Bank zu. Halb links sah er den Toten liegen. Eine graue Plane bedeckte den Leichnam. Auf der anderen Seite der Absperrung standen zwischen einer Handvoll Schaulustiger zwei Herren in schwarzer Kleidung. Die Bestatter waren bereits vor Ort, die Spurensuche dürfte demzufolge so gut wie abgeschlossen sein.
Ein stämmiger Mann in brauner Lederjacke, den Steinert wegen eines in der Hand gehaltenen Klemmbrettes problemlos als Kollegen identifizieren konnte, redete mit einer Frau an der Absperrung. Den Neuankömmling schien er bemerkt zu haben, er hatte sich seitlich gedreht und schaute, während er seiner Gesprächspartnerin zuhörte, immer mal wieder aus den Augenwinkeln herüber.
Hajo Steinert blieb in gebührendem Abstand stehen, um nicht Gefahr zu laufen, eventuell doch noch nicht gesicherte Spuren zu zerstören. Als der Kollege in der Lederjacke auf ihn zu kam, hielt er ihm seine Marke entgegen.
„Steinert. LKA Hamburg.“
„LKA Hamburg“, wiederholte der Kollege grinsend. „Ist eure Navi kaputt gegangen oder macht ihr neuerdings Tatorttourismus?“
„Weder noch.“
Steinert blieb völlig neutral. Sticheleien dieser Art war er als Angehöriger einer Sonderdienststelle gewohnt. Er erklärte dem Kollegen schnell und professionell den Grund seines Erscheinens. Der nickte nur gelegentlich, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen.
„Und jetzt meinst du, dass der Job von den Jungs gemacht wurde, auf die ihr scharf seid?“
„Wer weiß. Wir haben in dieser Nacht damit gerechnet, dass sie wieder zuschlagen und haben auf Lauer gelegen. An fünf Positionen hätten wir sie ordentlich in Empfang nehmen können. Wenn sie es waren, sind sie noch nie soweit außerhalb Hamburgs in Erscheinung getreten, zumindest nicht, dass wir davon wüssten. Erzähl doch mal, was ihr habt.“
Der Kollege schob ihn zu seinem Zivilwagen, gemeinsam nahmen sie auf den Vordersitzen Platz. Hans-Jürgen Schrader atmete schwer, erst jetzt im Sitzen fiel Steinert dessen mächtiger Bauch auf, der sich über den Gürtel schob.
„Okay“, fing Schrader an. „Beginnen wir chronologisch. Die Täter haben einen vor zwei Tagen in Hamburg gestohlenen Audi mit ebenfalls in Hamburg gestohlenen Kennzeichen versehen und ihn auf der Zufahrtsstraße, von der am ehesten mit Polizei zu rechnen wäre, quer abgestellt. Auf den Rücksitz haben sie einen Grillanzünder geworfen und angesteckt. Hat aber aus irgendeinem Grund nicht richtig funktioniert, es schwelte nur. Zumindest ihr Hauptziel haben sie erreicht, alle möglicherweise vorhandenen Spuren sind vom Rauch zerstört worden. Danach folgte das altbekannte Muster. Einleiten von Gas in die beiden Geldautomaten und Zündung mit einem elektrischen Impuls. Der Nachbar aus dem Haus gegenüber hat zwei verdächtige Fahrzeuge gesehen, das konnte uns zumindest seine Frau noch erzählen, bevor sie zusammengebrochen ist. Ihr Mann war wohl der Oberverdachtschöpfer hier in der Straße und hat regelmäßig bei der Polizei angerufen. Warum der alte Mann ausgerechnet hier selber losmarschiert ist, ist mir ein Rätsel.“
„Einen Toten hatten wir noch nie. Es gab erst einen Fall mit Schusswaffengebrauch, den wir zweifelsfrei unserer Bande zuordnen können. Da haben sie in die Luft geschossen, als sich ein Zeuge am Fenster bemerkbar gemacht hat.“
„Hier haben sie sich nicht damit aufgehalten. Zwei Schuss in Bauch und Brust, er muss ziemlich schnell tot gewesen sein. Und so wie der Leichnam aussieht, scheinen sie mit dem Auto zweimal über seine Beine gefahren zu sein.“
Steinert massierte sich nachdenklich das Kinn.
„Er liegt bereits auf dem Parkplatz, ist also ziemlich dicht herangekommen. Vielleicht hat er sie überrascht. Oder es gibt ein neues Bandenmitglied, falls sie es tatsächlich waren. Das mit dem Auto als Sperre läuft bei unseren Zielpersonen auch immer so. Mir ist aufgefallen, dass sich die Schäden am Objekt in Grenzen halten. Auch das ist eine Übereinstimmung, Anfänger leiten Unmengen von Gas ein und beschädigen ganze Gebäude. Habt ihr einen Zünder gefunden?“
Schrader verdrehte die Augen.
„Beinahe nicht. Der Trottel von Zeuge, der den Wagen und den Toten entdeckt hat, wollte nicht nass werden. Also hat er sich in den Vorraum gestellt und auf die Kollegen gewartet, die durch die Alarmauslösung bereits auf dem Weg waren. Er hat geraucht, die Asche auf den Boden geschnippt, die Zigarette hinterher, ist ab und zu mal rausgegangen und hat geschaut, wo die Polizei bleibt. Dabei hat er Fußspuren über Fußspuren gelegt. Das Lautsprecherkabel, das die Täter für die Zündung benutzt haben, ist ihm aufgefallen. Er hat es aus den Automatenresten gezogen, zusammengerollt und in die Tasche gesteckt. Nur weil es herausbaumelte und einem Kollegen auffiel, konnten wir es ihm wieder abnehmen. Am liebsten hätte ich ihn wegen Beihilfe oder Strafvereitelung eingesackt.“
„War an dem Kabel noch ein Zünder befestigt?“
„Ja. Ein Brückenzünder, vermutlich mit einer Batterie ausgelöst.“
„Habt ihr Sprühlack auf den Kameras festgestellt?“
„Dazu wäre ich jetzt gekommen. Drei Überwachungskameras wurden sauber überlackiert. Mal sehen, was die Aufnahmen davor noch zeigen. Aber wir haben immerhin die Spraydose gefunden, sie wurde weggeworfen oder ist versehentlich auf den Boden gefallen. Gleich neben dem Eingang.“
„Verloren. Absichtlich lassen die nichts zurück. Ich bin gespannt, was die Auswertung des Türöffners ergibt. Mal sehen, wo die Karte gestohlen wurde. Hier ist meine Visitenkarte. Wenn der Mord nicht wäre, könnte ich dir zusagen, dass wir übernehmen. Aber so wird das sicher nichts.“
*****
Unbemerkt von den beiden Kripobeamten trat eine schmale Frau an den Streifenwagen heran, der immer noch in der Zufahrt zum Parkplatz stand. Der Polizeibeamte schaute genervt, während er die Seitenscheibe nach unten gleiten ließ.
„Nun schauen Sie doch nicht so böse. Wir machen doch auch nur unsere Arbeit. Und Sie freuen sich doch auch, wenn Sie morgens eine frische Zeitung auf dem Frühstückstisch liegen haben“, nahm sie ihm lächelnd den Wind aus den Segeln.
Er winkte ab.
„Und Sie wissen genau, dass Sie von mir keine Infos bekommen können. Wenden Sie sich an die Pressestelle.“
„Ach, das ist doch immer nur das gleiche Blabla. Die Leser wollen was Authentisches haben, sonst kann ich ja jedes Mal den Polizeibericht von letzter Woche kopieren. Und wenn wir hier schon mal einen Toten haben. Jetzt schauen Sie doch nicht so, Sie wissen doch, wie ich es meine.“
In diesem Moment öffneten sich die Türen am silbernen VW Kombi und die beiden Beamten stiegen aus. Der schlankere von ihnen setzte sich in die Richtung des Streifenwagens in Bewegung.
„Na gut“, meinte die Reporterin. „Dann frage ich Ihren Kollegen, vielleicht lässt der sich etwas aus der Nase ziehen.“
„Das ist ein Kollege vom LKA Hamburg. Wenden Sie sich an den anderen Beamten.“
„LKA Hamburg?“, sinnierte die Frau leise und löste unauffällig ihre in hüfthöhe hängende Kamera aus, bevor der Mann in seinen Dienstwagen stieg. Als würde sie den Worten des uniformierten Beamten keinen Glauben schenken, fotografierte sie schnell noch das Kennzeichen.
*****
Hajo Steinert war nach dem Gespräch auf dem schnellsten Weg nach Hause gefahren. Er benötigte jetzt unbedingt eine Mütze voll Schlaf, der Ausflug nach Nordniedersachsen hatte ihm viel Zeit gekostet. Seine Familie war bereits ausgeflogen, als er sein Reihenhaus in Hamburg-Lokstedt erreichte. So schnell wie möglich legte er sich zu Bett und schlief bis in den frühen Nachmittag. Danach genehmigte er sich ein verspätetes Frühstück, duschte und fuhr zurück in die Dienststelle.
Von seinem niedersächsischen Kollegen Schrader war bereits eine Email eingegangen. Den Kollegen von der Kriminaltechnik war es gelungen, auf der Spraydose DNA zu sichern. Die Spur befand sich bereits auf dem Weg zum LKA nach Hannover, wo sie bevorzugt untersucht werden würde. Mit etwas Glück sollte am nächsten Tag das Ergebnis vorliegen.
Die verwendete Waffe war mit großer Wahrscheinlichkeit eine Ceska, Modell CZ 75, Kaliber 9x19 mm Parabellum. Die tschechischen Pistolen waren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs massenhaft in den Westen gelangt. Eine Überprüfung der Projektile durch einen Sachverständigen stand noch aus. Steinert machte sich allerdings keine großen Hoffnungen, dass die Waffe schon einmal benutzt wurde. Die Leute, denen er seit mehreren Monaten auf den Fersen saß, waren bislang zu clever und zu umsichtig gewesen, um sich eine solche Blöße zu geben.
Bei der benutzten EC-Karte handelte es sich um eine Dublette. Der Eigentümer der echten Karte wusste noch nichts von seinem Glück. Irgendwann und irgendwo hatte er die Karte vermutlich in einen manipulierten Geldautomaten gesteckt und dabei waren die Daten auf dem Magnetstreifen ausgelesen worden. Also lief auch diese Spur ins Leere. Interessant war dabei die Bandbreite der Verbrecher. Bislang hatten sie immer frisch gestohlene Karten benutzt, die allesamt keinen Täterhinweis erbrachten. Gestohlene Karten bargen das Risiko, zwischenzeitig gesperrt worden zu sein. Ein Betreten der in der Nacht von automatischen Türen geschlossenen Automatenstationen war dann unter Umständen nicht möglich. Es war das erste Mal, dass Daten verwendet wurden, die beim Skimming erlangt wurden. Und es war das erste Mal, dass es einen bedauernswerten Toten gegeben hatte. Der Druck auf die Polizei würde weiter ansteigen und Steinert bekam das ungute Gefühl, dass er mit seiner kleinen Sonderkommission an eine Grenze gestoßen war. Unschlüssig nahm er den Telefonhörer in die Hand, während er über das weitere Vorgehen nachdachte. Dann führte er mehrere kurze Gespräche hintereinander. Der Hauptkommissar trommelte seine Kollegen zusammen, es musste dringend über neue Strategien nachgedacht werden.
Hinnerk Nissen machte es sich so gut es ging in seinem kleinen, dunkelgrünen Suzuki Geländewagen bequem. Er hatte die Seitenscheiben herunter gekurbelt, obwohl es sehr frisch war in dieser Nacht und man seinen eigenen Atem sehen konnte. Aber der Qualm seiner Zigarre wurde selbst ihm als Kettenraucher in dem kleinen Innenraum zu viel. Außerdem konnte er es dem Münsterländer, der hinten auf der winzigen Ladefläche kauerte, nicht zumuten. Über die Beine hatte er die schmuddelige Decke gelegt, die ständig hinten im Auto lag und in kalten Nächten beim Ansitzen auf Wild zum Einsatz kam. Genüsslich sog er den Rauch ein und versuchte, ihn in Form von kleinen Ringen wieder auszuatmen, was ihm aber nicht gelang. Wo er schon beim Genuss angelangt war, fiel ihm wieder die verbeulte, flache Metallflasche in seiner Jackentasche ein und er zog sie geübt hervor. Kurz bevor er von seinem Bauernhof aus losgefahren war, hatte er sie schnell noch heimlich mit Hochprozentigem aufgefüllt. Heimlich deshalb, weil es sonst womöglich am heftigen Veto seiner Ehefrau gescheitert wäre. Wenn er schon die Nacht zum Tage machte, wollte er wenigstens auf gewisse Annehmlichkeiten nicht verzichten. Vorsichtig führte er die Flasche zum Mund und widerstand dem Reflex, einen ordentlichen Schluck zu nehmen. Er beließ es bei einem Nippen, wusste er doch noch nicht, welche Überraschungen die Nacht für ihn bereithielt.
„Willst du schon wieder los mitten in der Nacht?“ war Idas Reaktion gewesen, als sie bemerkte, dass er im Wohnzimmer nicht aufgestanden war, um zu Bett zu gehen, sondern im Flur verschwand, um sich die Stiefel und die Jacke anzuziehen. Der Jagdhund hatte ihn verraten, der drückte sich schwanzwedelnd in der Tür zum Flur herum und ließ sein Herrchen nicht mehr aus den Augen.
„Na klar will ich los. Irgendwann erwische ich den Schweinehund schon, wirst sehen.“
„Und was dann?“
„Dann zeige ich ihn an, was sonst.“
„Ach, du willst doch bestimmt nur einen zwitschern mit einem deiner Kumpanen.“
Hinnerk winkte ab, leinte den Hund an und ging nach draußen.
Seit ein paar Wochen entsorgte ein Unbekannter auf einem kleinen Wirtschaftsweg zwischen den Feldern des schleswig-holsteinischen Landwirtes seinen Bauschutt. Es musste sich um einen Bauherren handeln, der in einem der Neubauviertel im nahen Neumünster ein Haus baute. Anhand der Müllreste ließ sich der Baufortschritt problemlos nachvollziehen. Waren es zuerst Mörtelreste und Steine gewesen, folgten Styropor und andere Dämmmaterialien. Nissen rechnete damit, in den nächsten Tagen Tapetenreste oder Verschnitte von Fußbodenbelägen zu finden. Mit jedem Fund schwoll der Hals des Feldeigentümers, der wieder mühsam für Ordnung sorgen musste. Bevor die Hausbauarbeiten abgeschlossen waren, wollte er dem Verursacher auf die Füße steigen und schlug sich deshalb wieder einmal eine Nacht um die Ohren. Der Hund hatte seine Schnauze auf der Rückenlehne abgelegt und beobachte mit stoischer Ruhe seinen Herrn.
Nach über einer Stunde, Mitternacht war gerade vergangen, drohte Hinnerks Aufmerksamkeit in einem leichten Schlaf zu versinken. Immer wieder fielen ihm die Augen zu, auch weil er noch etliche Male an der Taschenflasche genippt hatte. Nur im Unterbewusstsein nahm er eine Veränderung der Umgebung wahr. Ein schwacher Lichtschein wurde am Horizont sichtbar. Sofort war der Bauer wieder hellwach und rieb sich die Hände, um auch den Rest des Körpers wieder in Gang zu bekommen. Der Schein kam aus westlicher Richtung, von der tiefer liegenden Landstraße. Noch war er von der schwach ausgeprägten Erdkuppe verdeckt, aber er wurde beständig heller. Unwillkürlich zog der knapp sechzigjährige Landwirt den Kopf ein, obwohl er unmöglich gesehen werden konnte. Er hatte den kleinen Geländewagen über einen von tiefen Treckerspuren durchzogenen Seitenweg getrieben, der von einem normalen Pkw nicht befahren werden konnte und stand mit ihm im Schutz einer Feldhecke.
„Na, da schau an“, meinte er zum Hund. „Jetzt kommen sie sogar schon mit zwei Autos.
Zwei Fahrzeuge näherten sich auf dem Querweg der zur illegalen Mülldeponie verkommenen Stelle. Hinnerks Gemütszustand schwankte zwischen Aufregung und Enttäuschung. Zwei Autos konnte auch bedeuten, dass sich ein Liebespaar an dem von ihm beobachteten Platz traf. Und das würde heißen, dass sein Aufwand nicht belohnt werden würde, die beiden Wagen würden den Abfallentsorger vertreiben und ihm bliebe am Ende nur, Präservative, Taschentücher und leere Flaschen von seinem Grund und Boden zu entsorgen, was auch nicht zum ersten Mal geschehen war.
Noch bevor die Fahrzeuge die von ihm erwartete Position erreichten, hielten sie an. Durch die Hecke hindurch konnte der Bauer mit Hilfe des sich heller abzeichnenden Himmels sehen, dass es sich um einen Kombi und einen größeren SUV handelte. Fieberhaft überlegte Hinnerk, was er unternehmen sollte. Einem Pärchen die ganze Zeit zuzuschauen war nicht seine Art, also beschloss er, nur noch kurz zu warten, wie sich das Geschehen entwickeln würde, um dann einzugreifen.
„Na wartet, ihr Vögel. Gleich seid ihr dran.“
Sein entschlossener Ton veranlasste den Münsterländer hinter ihm, den Kopf anzuheben und verhalten zu knurren.
Als die Lampen der fremden Autos erloschen, konnte er durch den Hintergrund des helleren Nachthimmels erkennen, dass sich die Fahrertüren beider Autos öffneten und jeweils eine Person ausstieg. Bei keinem der Wagen ging die Innenbeleuchtung an, was den Beobachter in seiner Meinung bestärkte, auf der richtigen Spur zu sein. Wer nichts zu verbergen hatte, musste die Beleuchtung nicht ausstellen. Der Fahrer des Kombi trat an das Heck des Fahrzeugs und öffnete die Klappe, Nissen richtete sich weiter im Sitz auf und beugte sich nach vorn, wie um den Abstand zu verkürzen. Der Landwirt sah, dass die Person einen kartonähnlichen Gegenstand herausholte, seitlich an das Auto und damit schüttelnde Bewegungen machte. So ein Schweinehund, dachte er, verteilt seinen Müll gleichmäßig auf dem Weg.