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Zwei pädophile Verbrecher fahren regelmäßig als Sextouristen nach Tschechien, um sich an minderjährigen Mädchen zu vergehen. Ihre jeweilige Fahrt nennen sie zynisch die 'Taubenzeit'. Die Privatdetektivin Valerie Leving und ihre an den Rollstuhl gefesselte Freundin Anna-Lena Holland stoßen nur zufällig auf diese Täter, als Anna-Lena im Internet-Chat Stefan kennenlernt. Der macht gemeinsam mit einem Freund Jagd auf Pädophile im Netz. Die Männer schrecken dabei auch vor Selbstjustiz nicht zurück. Anna-Lena ist sofort Feuer und Flamme, den Tätern das Handwerk zu legen. Valerie jedoch hat zunächst Bedenken, die ehemalige Kripobeamtin ist zu sehr mit dem Adoptionsverfahren für die kleine Zoé beschäftigt. Erst als die Hamburger Kripo Ermittlungen wegen Selbstjustiz anstellt, lässt sich Valerie von Anna-Lena überzeugen. Die Zeit drängt, einer der beiden Täter ist ein Sadist und will sich auf der kommenden Fahrt nicht mehr mit Missbrauch und Misshandlungen zufriedengeben. "Taubenzeit" ist der 1. Band der Leving&Holland Reihe um die Freundinnen Valerie Leving und Anna-Lena Holland. Erschienen sind in folgender Reihenfolge: 1. "Taubenzeit"-Independent-Veröffentlichung, 2. "Tödliche Zeiten"- Knaur Ebook, 3. "Angst macht große Augen"-Independent-Veröffentlichung, 4. "Jahr der Ratten" ( Wie alles begann ) - Independent-Veröffentlichung.
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Seitenzahl: 387
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L.U. Ulder
Taubenzeit
Kriminalroman
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Hinweis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Leseprobe „Tödliche Zeiten"
Impressum neobooks
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Hamburg, im Mai 2010.
Die beiden schwarz gekleideten Gestalten drückten sich in den Schutz eines Wohnhauses und warteten geduldig. Die gesamte Umgebung blieb ruhig, nirgends ein Hinweis, dass sie entdeckt worden waren. Geräuschlos setzten sie sich in Bewegung und folgten dem Weg. Sie passierten zwei Torbögen, die lange Häuserzeilen durchschnitten und standen schnell in einer kleinen Straße vor einem schier endlosen, dreigeschossigen Wohngebäude. Die Autos der Bewohner parkten beidseitig halb auf dem Gehweg, längs zur Fahrtrichtung. Die Siedlung war längst schlafen gegangen. Die letzten Nachtschwärmer dürften bereits zuhause eingetroffen sein und bis sich die ersten zur Frühschicht aufmachen mussten, würde es noch eine Weile dauern.
„Da vorne steht seine Karre.“
„Bist du sicher, dass es die von dem Schwein ist?“
„Klar, wenn deine Daten richtig waren.“
„Hundertpro. Er hat wieder Schweinereien auf dem Rechner. Hab sogar noch unsere kleine Datei mit der Warnung bei ihm gefunden.“
Der zweite Mann setzte sich in Bewegung, wurde aber von seinem Begleiter zurückgehalten. Er drehte den Kopf und sah, dass der andere systematisch die Umgebung mit seinen Augen abcheckte. Die Straße lag völlig ruhig, weder Gesprächsfetzen noch Musik, noch nicht einmal in der Ferne war ein Auto zu hören. Auch auf den Balkonen der gegenüberliegenden Häuser war kein ruheloser, nächtlicher Raucher zu entdecken.
Der Mann schaute skeptisch, der Wagen stand ausgerechnet in der Nähe einer der wenigen brennenden Laternen. Andere Pkw waren wesentlich günstiger geparkt. Er zuckte mit den Schultern und nickte seinem Begleiter zu. Beide näherten sie sich dem dunkelblauen Kombi.
„Ne Familienkutsche“, meinte der Zweite verächtlich.
„Er hat selber drei Kinder, eins ist noch ganz klein. Okay fangen wir an.“
Er ging am Heck des Pkw in die Hocke. Ohne die Handschuhe auszuziehen, ließ er seinen Rucksack auf den Boden gleiten und öffnete ihn. Er holte eine große, längliche Dose aus einer Einkaufstüte hervor, schüttelte sie einmal kräftig und schrak sofort zusammen. Das klackernde Geräusch, verursacht von den Metallkugeln im Innern der Dose, schien die Stille regelrecht zu zerfetzen. Er streckte sich vor und spähte am Auto vorbei, aber sein Kumpan, der auf dem Gehweg neben dem vorderen Kotflügel stand, schien das Geräusch nicht wahrgenommen zu haben. Tief über die Motorhaube gebeugt kratzte er mit einem breiten Stecheisen Buchstaben in den Lack hinein. Weil er dabei sehr langsam vorging und viel Druck ausübte, war das Geräusch, das er verursachte, als leises Schaben nur wenige Schritt weit zu hören. Vorsichtig schob der Mann am Heck die Dose in die Tüte zurück und umwickelte sie mit dem überschüssigen Plastik. Das Klackern war noch genauso laut wie zuvor und könnte sie verraten. Er überlegte kurz und zog seine Jacke aus. Nachdem er Tüte und Dose umhüllt hatte, war das Geräusch der Kugeln endlich gedämpft. Mit kräftigen Bewegungen schüttelte er das gesamte Paket etwa zwei Minuten lang, wobei er sich ständig umdrehte. Als er meinte, dass der Inhalt genügend durchgemischt war, wickelte er den Inhalt aus der Jacke und zog sich wieder an. Er nahm die Schutzkappe der Dose ab und steckte einen durchsichtigen, gut unterarmlangen Plastikschlauch auf die Düse. Tief nach unten gebeugt fädelte er den Schlauch bis zum Anschlag in den Auspuff hinein und drückte das Ventil der Dose nach unten. Sofort ertönte ein leises Rauschen, begleitet von unregelmäßigen schlürfenden Geräuschen, während von vorn, aus Richtung der Motorhaube, weiter das gleichmäßige, unterdrückte Schaben drang. Plötzlich ertönte ein leiser Pfiff. Der Mann blickte vom Auspuff hoch, sein Komplize deutete mit dem Kopf zur Straße vor ihnen. Ein Pkw kam in ihre Richtung gefahren. Als er näher kam, konnten sie im Licht der wenigen Straßenlaternen erkennen, dass es ein Taxi war. Das Schild auf dem Dach war abgeschaltet, es musste sich also ein Fahrgast darin befinden. Hastig zogen sich beide vom Auto zurück und drückten sich in den Schatten einiger Büsche, die vor dem Wohnblock gepflanzt waren.
Während das Motorengeräusch des Taxis verhaltener wurde und es auf ihrer Höhe ausrollte, starrte er gebannt auf die Dose.
Sie hing mit dem Schlauch im Auspuffende und baumelte frei schwebend über dem Pflaster, gehalten nur durch den Umstand, dass die durchsichtige Plastikröhre sich durch ihre Länge im Metall verkeilte. Der ausgeströmte Montageschaum vergrößerte im Auspuff sein Volumen stetig weiter. Dabei drückte er langsam, aber stetig den Schlauch aus dem Rohr hinaus. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis das Gewicht der Dose den Reibungswiderstand überwand und sie ganz herausrutschen würde. Mit einem für diese späte Zeit viel zu lauten Scheppern würde sie auf die Straße klatschen.
Bitte nicht, dachte er, nicht jetzt. Warte noch, nur noch ein bisschen. Hin und her gerissen, ob er es riskieren und zum Auto vorspringen sollte.
Das Taxi stand.
Er wechselte einen schnellen Blick mit seinem schmächtigen Begleiter, der das Dilemma mit der Dose ebenfalls bemerkt hatte und die Luft anzuhalten schien.
Aus dem Fahrzeuginneren drangen trotz des Dieselmotors laute Stimmen nach draußen. Eine keifende, weibliche Stimme mischte sich im Streit mit der sonoren Stimmlage eines Mannes. Die hintere linke Tür des Taxis flog auf. Eine große, schlanke Frau in kurzem Rock und mit viel zu hohen Schuhen stieg laut schimpfend auf der Straßenseite aus. Sie musste aus ihrer Position genau auf die baumelnde Dose schauen, keine fünf Meter von ihrem Gesicht entfernt.
Er hielt den Atem an.
Schwungvoll knallte die Tür zurück ins Schloss, weil der Fahrer sofort Gas gegeben hatte, kaum dass sein Fahrgast auf der Straße stand. Mit ihrer Handtasche holte die Frau in einem weiten Bogen aus, um den Kofferraumdeckel des Wagens zu treffen, der Schlag aber ging ins Leere. Vom eigenen Schwung wurde sie nach vorn gerissen, sie stolperte und konnte sich im letzten Moment mit der linken Hand abfangen. Der Fahrer schien die ungelenken Bewegungen im Rückspiegel wahrgenommen zu haben. Er drückte zweimal auf die Hupe, es klang wie ein höhnischer Abschiedsgruß.
Mann, ist die Alte voll.
Der Beobachter schüttelte den Kopf. Gleichzeitig verspürte er Erleichterung, einem anderen, nüchternen Fahrgast wäre die Dose mit Sicherheit aufgefallen.
Der andere hielt die Hand vor den Mund und prustete verhalten. Die Frau zischte dem schnell entschwindenden Taxi einen unterdrückten Fluch hinterher, dann stakste sie auf die Eingangstür zu. Am harten Klacken ihrer Absätze ließ sich der Grad ihrer Verärgerung ablesen. Als sich die Tür hinter ihr schloss, kehrte endlich wieder Ruhe in der Wohnanlage ein. Zwei Augenpaare verfolgten die Frau im Treppenhaus auf ihrem Weg nach oben, sie gestikulierte mit ihren Händen und schimpfte mit einer imaginären Person. In der linken Wohnung im zweiten Stock flammte Licht an. Die Lampe im Treppenhaus erlosch, die beiden Männer konnten sich wieder an ihr Vorhaben machen. Der Mann sprang vor und erwischte die Dose, die wie an einem seidenen Faden hing. Gleich darauf fluchte er.
„Was ist los?“
„Es läuft nichts mehr raus, aber die verdammte Büchse ist noch halbvoll.“
„Du hast wieder den billigen Mist gekauft!“
„Der Markenkram kostet dreimal so viel.“
„Dann schüttel mal schön, du weißt ja, wie das geht“, rief der andere hämisch.
Es gelang ihm schließlich doch noch, den restlichen Inhalt herauslaufen zu lassen. Das Fließgeräusch wurde immer unregelmäßiger und lauter und am Ende blubberte nur noch das Treibgas.
„Wie sieht es bei dir aus?“, rief er leise nach vorn, während er die leere Dose in der Plastiktüte verschwinden ließ.
„Fertig, schau mal.“
Einen kurzen Augenblick standen beide andächtig nebeneinander am Pkw, als bewunderten sie im Halbdunkel die Motorhaube wie ein Kunstwerk. Die einen Zentimeter breiten Kratzer waren durch die Lackschicht und die Grundierung bis auf das Blech gedrungen, deutlich waren die Buchstaben zu lesen.
Der Breitere von ihnen stieß seinen Begleiter mit dem Ellenbogen an und drehte sich um. Es wurde Zeit, dass sie verschwanden, sie sollten ihr Glück nicht zu sehr strapazieren. Er kam nur zwei Schritte weit, ein lautes Zischen ließ ihn herumwirbeln. Sein Kumpan hockte neben dem Vorderrad auf dem Boden und war gerade im Begriff, wieder aufzustehen. Aus seiner Faust ragte eine schmale Klinge heraus. Es konnte sich nur um das Einhandmesser handeln, das er am Gürtel trug, wenn sie ihre nächtlichen Aktionen durchführten. Mit einem Riesenschritt stand er vor ihm und drückte ihn gegen den Wagen. Der senkte sich auf der Gehwegseite langsam ab. Das Zischen schien endlos zu sein und immer lauter zu werden.
„Bist du nicht ganz dicht, Net?“
„Ist doch egal, was wir kaputtmachen. Das war richtig geil, Mann. So muss es sich anfühlen, wenn ich dem alten Schwein das Messer zwischen die Rippen ramme.“
Der Besonnenere versuchte vergeblich, den Blick des Freundes zu fixieren.
„Komm wieder runter, Mann. Halt dich an die Absprachen. Komm jetzt, wir müssen hier endlich verschwinden.“
Mit der linken Hand schloss Valerie umständlich die Tür auf und drückte sie schwungvoll in den Flur hinein. In der rechten Hand trug sie zwei volle Einkaufstüten und war froh, sie an der Wand neben dem Eingang zur Garderobe abstellen zu können.
„Anna?“
Keine Antwort.
Wo steckte sie, wenn man sie schon mal brauchte?
Valerie hatte Zoè in den Kindergarten gebracht und war auf der Rückfahrt schnell in den Supermarkt gehetzt, um sich einen zweiten Weg zu ersparen.
Mit einer Handbewegung warf sie ihre Jacke um die Ecke auf einen Haken, nahm mit beiden Händen die Tüten auf und ging in die Küche. Mit hastigen Bewegungen sortierte sie nur die Lebensmittel heraus, die dringend gekühlt werden mussten, der Rest verschwand in einem Schrank. Darum würde sie sich nach dem Besuch kümmern.
„Anna, wo steckst du?“
Wieder keine Antwort. Valerie ging zurück in den Flur. Durch den Zugang des vom Wohnzimmer abgetrennten Arbeitsbereiches konnte sie sehen, dass der Computer auf dem Schreibtisch eingeschaltet war.
„Hier steckst du. Warum antwortest du nicht?“
„Ach, du bist wieder zurück? Hab dich gar nicht gehört.“
Valerie war nicht entgangen, dass sich die Grundfarbe des Bildschirmes abrupt verändert hatte, als sie nähergekommen war.
Sie schüttelte den Kopf und drehte ab, um im Bad zu verschwinden. Vor dem Spiegel kontrollierte sie schnell ihre Kleidung und den Sitz der Hochsteckfrisur. Beim Verlassen des Badezimmers fiel ihr Blick auf das Bild mit dem kleinen Mädchen im blauen Mantel. Der rotzige Blick, das selbstbewusste Auftreten der Stiefel. Sie war froh, den Kroyer an diesem zentralen Punkt im Flur platziert zu haben. Er strömte Ruhe aus und Familie. Wie keinen anderen Gegenstand verband sie ihn mit behüteten Kindheitstagen, mit Sonne und Ferien am Strand. An manchen Tagen meinte sie sogar, das Salz des Meeres auf ihren Lippen schmecken zu können.
Heute nicht.
Die Sorge um Zoés Zukunft schnürte ihr förmlich die Luft ab. Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf, dass sie am liebsten zehn Dinge auf einmal erledigen wollte.
„Anna. Hast du den Frühstückstisch abgeräumt?“
Wieder blieb die Antwort aus. Ärgerlich sog sie die Luft durch die Nase. Mit großen Schritten hastete sie durch den langen Flur, links vorbei an der Küche. Beim Vorbeigehen an dem schmalen Durchgang registrierte Valerie aus den Augenwinkeln, wie sich erneut der Computerbildschirm veränderte. Die dominierende Farbe wechselte von einem verwaschenen Grün zu grellem Weiß.
Zum zweiten Mal!
Irritiert zog sie die Augenbrauen hoch, war aber viel zu angespannt, um sofort zu reagieren. Sie ging einige Schritte in den Essbereich hinein und stellte erleichtert fest, dass der Tisch aufgeräumt war, sogar die mit dunklem Leder bezogenen Stühle standen ordentlich an ihren Plätzen. Vorsichtshalber bückte sie sich und entdeckte auf dem Teppich unter Zoés Stuhl einige Cornflakesbrösel, die sie mit spitzen Fingern aufnahm, um nichts zu zerdrücken. Ein letzter prüfender Blick in die Runde und sie begab sich zurück in die Küche, um die Krümel zu entsorgen. Am schmalen Durchgang zum Arbeitsbereich wechselte wieder schlagartig die Farbe.
Laut fragte sie über die Schulter, während sie in die Küche abbog:
„Was war das gerade eben?“
„Nichts.“
Das i kam so unnatürlich lang gezogen, dass aus dem winzigen Wörtchen eine kleine Melodie entstand.
Niiiiiiiiiiiiichts.
„Du schaltest jedes Mal, wenn ich vorbeigehe, eine Seite weg, ich bin doch nicht blind oder blöd.“
„Ach was.“
Nun wurde das a länger und länger.
Valerie sagte nichts. Noch hielten sich Stress und Ärger die Waage. Ihre ganzen Gedanken kreisten nur um den kommenden Termin. Jeden Augenblick musste die Klingel schrillen. Und obwohl sie schon die ganze Zeit gerade auf diesen einen Moment wartete, wusste sie genau, dass sie vor Schreck zusammenzucken würde. Trotz der Anspannung nahm sie sich die Zeit und war mit ein paar schnellen Schritten im Büro.
„Wieder! Du hast wieder etwas weggeblendet!“
„Was du auch immer hast. Ich schaue mir verschiedene Seiten an, da wirkt das schon mal so, als würde ich etwas wegschalten.“
„Ich weiß doch, was ich sehe. Du warst wieder auf dieser versifften Chatseite.“
„Und wenn. Verboten ist es nicht.“
„Nein, verboten ist es nicht. Aber jeden Moment bekommen wir Besuch, du weißt das. Frau Berger vom Jugendamt. Wir müssen ein glückliches Paar vorspielen, wenn es keine Schwierigkeiten mit der Adoption geben soll.“
„Und. Sind wir das nicht?“
Der süffisante Unterton ließ Valeries grüne Augen zu gefährlichen Schlitzen werden.
„Du nimmst mich nicht Ernst. Dabei weißt du genau, wie wichtig es ist.“
Bevor Valerie weiter über den Dialog nachdenken konnte, klingelte es. Wie erwartet zuckte sie zusammen. Mit klopfendem Herzen eilte sie zur Tür.
Frau Berger war eine Frau von irgendwo zwischen Anfang und Mitte fünfzig mit untersetzter Figur. Sie trug Jeans und Strickjacke.
Erleichtert schaute Valerie an ihrer eigenen Jeans herunter.
Helle, kritische Augen musterten Valerie von oben bis unten, der Blick verriet Skepsis. Valeries sportlich legeres Äußeres schien nicht so recht zur eleganten Wohnung im noch eleganteren Stadtteil Rotherbaum zu passen. Was hast du erwartet? Ein Luxusweibchen im Chanelkostüm?
Schleichend trat die Frau ein, als beträte sie einen Tatort, an dem sie selber keine Spuren hinterlassen wollte. Die Augen wanderten unruhig und prüfend hin und her und schienen das Umfeld zu scannen.
Der Computer!
Valeries Puls jagte in die Höhe. Sie ging vor und wurde unwillkürlich schneller, als könnte der mickrige Vorsprung reichen, das befürchtete Unglück zu verhindern. Sie erreichte den kritischen Bereich und hielt vor Aufregung den Atem an. Der Bildschirm war dunkel. Erleichtert atmete sie aus. Anna hatte den Computer ausgeschaltet, war an den Esstisch herangerollt und tat so, als blättere sie interessiert in der Tageszeitung.
„Darf ich vorstellen? Anna-Lena Holland, meine Lebensgefährtin, und das ist Frau Berger vom Jugendamt.“
Anna setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und reichte brav die Hand.
„Ich würde gern aufstehen, aber“, wie entschuldigend zeigte sie auf den Rollstuhl. Ihre dunklen Augen funkelten dabei unternehmungslustig, sie konnte es einfach nicht lassen.
Valerie atmete tief durch. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie auf Anna aufpassen musste. Sie setzte sich links neben die Freundin und legte ihre linke Hand auf Annas rechte, als könnte sie sie damit an die Leine legen.
Unsere Nagellacke passen nicht zusammen, wenn man die Hände nebeneinanderlegt. Die Rottöne harmonieren nicht miteinander.
Merkwürdig, dass mir das nicht vorher aufgefallen ist.
Was für idiotische Gedanken mir durch den Kopf gehen, erschrak sie sofort.
„Verheiratet sind Sie beide nicht miteinander?“, kam auch schon die erste, zuckersüß gestellte Frage.
„Nein, dafür hatten wir noch keine Zeit. Wir sind beruflich zu stark eingespannt.“
Valerie blieb die Luft weg. Worte wie eine Faust, die sich tief in die Magenkuhle gräbt. Wie lange hatte sie die Freundin auf dieses Gespräch vorbereitet. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, hätte Anna gepackt und ordentlich durchgeschüttelt.
Stattdessen musste sie die Situation irgendwie retten. Valerie umarmte Anna und zog sie an sich, bis sich ihre Wangen berührten. Deutlich spürte sie den Widerstand, den die Freundin aufbaute.
„Zu stark angespannt ist nicht das richtige Wort. Ich bin selbstständig tätig und Frau Holland unterstützt mich dabei, aber von hier, von zu Hause aus. Es ist nicht so, dass wir ständig unterwegs sind. Vieles kann ich vom Computer aus erledigen. Und einen Trauschein haben wir bislang nicht gebraucht, um glücklich zu sein.“
Die Jugendamtsmitarbeiterin notierte sich alles mit einem Kugelschreiber, der sich ähnlich widerspenstig anstellte wie Anna. Das Kratzen der Spitze auf dem Papier war für einen endlos wirkenden Moment das einzige Geräusch im Raum.
„Durch ihre,“ angestrengt suchte sie nach einem passenden Wort, die dadurch entstehende Pause wirkte peinlich, aber es fiel ihr einfach nichts Eleganteres ein, „durch ihre Behinderung ist Frau Holland, also Anna, an das Haus gebunden. Jeden Vormittag kommt eine Physiotherapeutin, um mit Anna zu trainieren. Es ist eigentlich immer jemand hier.“
Valerie spürte, wie eine unangenehme Hitze langsam in ihr hochstieg und sie sich verhaspelte wie in einer schlecht vorbereiteten mündlichen Prüfung.
Reiß dich bloß zusammen, kein legasthenisches Gestammel.
Für einen winzigen Moment meinte sie Ablehnung im prüfenden Blick der Besucherin zu erkennen, oder bildete sie sich das nur ein?
„Entschuldigen Sie, wenn ich so direkt frage ...“
„Sie können alles direkt fragen,“ fiel ihr Anna ins Wort. „Damit haben wir überhaupt kein Problem. Was genau wollen Sie wissen?“
Die Frau tippte mit dem Kugelschreiber in Richtung Rollstuhl.
„Sind Sie von Geburt an an den Rollstuhl gefesselt?“
„Nein.“
Nur ein kurzes Nein, keine Erklärung, nichts.
Valerie schaute hilfesuchend nach oben, als suche sie Beistand bei einer höheren Macht.
Wieder atmete sie tief ein, es ging los.
„Anna-Lena sitzt erst seit zwei Jahren im Rollstuhl, sie wurde, sie hatte ...“
„Ich hatte einen Unfall, vor zwei Jahren. Ich wäre beinahe ertrunken und habe zu wenig Sauerstoff bekommen. Seitdem kann ich meine Beine nicht mehr kontrollieren, weil im Gehirn der Bereich der Motorik betroffen war. Alles andere ist nicht geschädigt worden. Oder? Habe ich einen Schaden?“
Beinahe verschlagen der Blick, den sie Valerie zuwarf.
„Nein, natürlich nicht“, obwohl die etwas ganz anderes auf der Zunge hatte.
„Kannten Sie sich damals schon?“
„Aber natürlich“, was zunächst nicht einmal gelogen war, aber dann. „Damals waren wir auch schon zusammen.“
Eifrig schrieb die Dame mit.
„Warum wollen Sie ausgerechnet dieses Kind adoptieren?“
„Sie ist die Tochter eines Freundes, der verstorben ist. Sie hat sonst niemanden mehr außer mir, außer uns. Ihr Vater hat es in seinem Testament so verfügt.“
Die Frau ließ sich lange Zeit, in den Unterlagen zu blättern und sprach dabei wie zu sich selbst.
„Fünf Jahre alt, britische Staatsangehörige, die Mutter bei der Geburt gestorben, der Vater 2008 in Rom verstorben. Was für ein Schicksal für so ein kleines Würmchen. Die britischen Behörden haben einer Adoption bereits zugestimmt.“
Endlich schien sie zugänglicher zu werden.
„Sie spricht nur ein paar Brocken englisch. Als ihr Vater starb, war Zoè drei Jahre alt. Ich habe sie zu mir nach Den Haag geholt, während ich gleichzeitig über einen britischen Anwalt das Adoptionsverfahren angestrengt habe. Wir waren eine Zeitlang zusammen in Den Haag und kurz in Southampton, bevor wir nach Deutschland zurückkamen. Für eine zweisprachige Erziehung war sie meiner Meinung nach zu jung, also haben wir deutsch gesprochen und sie war in der ganzen Zeit in einem deutschen Kindergarten. Wenn sie zurück nach England müsste, könnte sie sich dort nicht verständigen.“
„Was machen Sie eigentlich genau beruflich, Frau Leving?“
„Ich bin Privatermittlerin und Frau Holland bekommt eine Rente.“
„Privatermittlerin? Im Kaufhaus?“
„Nein, natürlich nicht.“
Wieder kratzte die Mine über das Blatt.
Privatermittlerin!
Kann eine Mine spöttisch klingen?
Valerie kam sich vor, als säße sie auf einer immer heißer werdenden Herdplatte. Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her.
Die Brille der Besucherin war weit auf der Nase nach unten gerutscht. Eigentlich sah die Frau ganz freundlich aus, vor allem, wenn sie lächelte, auch wenn durch die Fragen der Eindruck entstand, dass dies eher versehentlich geschah. Die heruntergerutschte Brille ließ Valerie an ihre Schulzeit zurückdenken. Ihr unbeliebter Physiklehrer hatte sich einen Spaß daraus gemacht, seine mehr oder weniger unschuldigen Opfer mit stechendem Blick über die dicken Gläser hinweg zu fixieren und paralysieren. Nach einer kurzen Pause holte er dann zur nächsten Frage aus.
Die Augen der Besucherin wanderten durch das großzügig dimensionierte Wohnzimmer. Vom riesigen Fernseher glitten sie über das Designersofa und blieben an einer Bilderserie hängen, die Zoè schwarzweiß und lebensgroß in verschiedenen Posen zeigte.
„Finanziell scheinen sie ganz gut dazustehen.“
Sie ließ offen, ob dies eine Frage oder eine Feststellung war.
Valerie sah Anna unsicher an, bevor sie antwortete.
„Ich habe eine Erbschaft gemacht, mein Vater war ein sehr erfolgreicher Rechtsanwalt. Deshalb bin ich finanziell unabhängig. Früher war ich bei der Kriminalpolizei, nach meiner Hospitation bei Europol in Den Haag habe allerdings gekündigt, um mich um Zoè kümmern zu können. “
Früher, das klang so, als wäre sie schon uralt. Aber genauso kam es ihr vor, als wäre alles ganz weit weg und konnte sie nicht mehr erreichen.
„Sie haben also Ihren sicheren Beruf aufgegeben, um für das Kind da zu sein.“
Frau Berger vertiefte sich in ihren Notizblock. Valerie fragte sich, ob die Feststellung gut oder schlecht für sie war.
„Sind Sie denn in der Lage, sich um ein Kind zu kümmern?“, fragte Frau Berger an Anna gewandt und meinte doch nur den Rollstuhl.
„Natürlich. Auf Rädern bin ich wesentlich schneller als früher zu Fuß“.
Anna hatte die Frage sofort durchschaut.
Valerie schnaufte. Wie lange hatten sie über diesen Tag diskutiert, sie hatte gehofft, dass die Positionen klar waren. Aus Erfahrung wusste sie zur Genüge, wann es Anna reichte und sie die Kratzbürste auspackte. Schnell sprang sie ein.
„Wir haben eine Haushaltshilfe, die uns entlastet. So haben wir mehr Zeit für Zoè.“
Wieder der Kugelschreiber, kratz, kratz, kratz.
„Brauchen Sie tägliche Pflege? Muss sich Frau Leving um Sie kümmern?“
Annas Augen wurden größer, erst auf Valeries Blick hin schluckte sie tapfer die Antwort herunter und blieb stumm.
„Anna ist vollkommen selbstständig, bis auf die Physiotherapeutin benötigt sie niemanden.“
„Mit Männern wird das Kind in seiner Entwicklung nicht in Berührung kommen?“
Valerie wurde noch wärmer im Nacken.
Warum gibt es keinen Fragenkatalog für den Besuch von Jugendamtsmitarbeiterinnen, so wie es die Führerscheinfragen schon vorher zu lesen gibt?
„Wir haben natürlich auch männliche Bekannte, die gelegentlich zu Besuch kommen.“
„Die sind dann aber eher schwul, ja?“
Kratz, kratz.
Valerie starrte die Frau an. Zu gern hätte sie gewusst, was sich in diesem Moment hinter dieser Stirn abspielte. Ein Bild altrömischer Gelage schoss ihr durch den Kopf, wild kopulierende Männer und Frauen, wie in dem alten Caligulafilm. Und Zoè tapste, mit hasenängstlichen Augen, den Rücken an der Wand, durch diese Szene.
„Nicht nur, manche schon“, hörte sie sich sagen.
„Mein Vater kommt regelmäßig vorbei. Er ist für Zoè ein wunderbarer Opa. Die beiden verstehen sich prima, und er ist nicht schwul, jedenfalls nicht, dass wir es wüssten.“
Annas Tonfall war noch eine Nuance streitsüchtiger geworden. Valeries Gedanken rotierten.
„Wir haben auch einige männliche Mitarbeiter, die den Außendienst machen, sozusagen.“
Jetzt wurden Annas Augen kugelrund, sie schaute für einen winzigen Moment erstaunt, dann hatte sie sich wieder im Griff und lächelte freundlich. Jedenfalls hätte ein Nichteingeweihter es für freundlich halten können..
„Kann ich mal das Zimmer des Kindes sehen?“
Sag nicht ständig Kind, gibt ihr eine Identität, sag ihren Namen oder sag wenigstens Mädchen.
Mit mulmigem Gefühl ging Valerie vor und öffnete die Kinderzimmertür.
„Süß, ein wenig übertrieben vielleicht, aber süß“, war die einzige Reaktion.
Blickpunkt des Zimmers war ein Himmelbett, das mitten im Raum stand. Der Rest des in zarten Pastelltönen gehaltenen Raumes wurde von Stofftieren und anderem Spielzeug dominiert.
„Wie sehen Sie unsere Chancen, als lesbisches Paar die Kleine zu adoptieren? Müssen wir schnellstens heiraten?“
„Nein, müssen Sie nicht. Auch alleinstehende Personen, ob homo- oder heterosexuell, können ein Kind adoptieren. Die Vermittlungsstellen bevorzugen zwar in der Regel traditionelle Familienformen, aber in Ihrem Fall ist das sicher etwas anderes, das Kind lebt ja schon bei Ihnen.“
Die Besucherin ging durch den Flur zurück in Richtung der Eingangstür. An einem kleinen Bild blieb sie hängen und betrachtete es, ihr Kopf ging dabei hin und her.
„Das Bild ist wirklich hinreißend. Es nimmt einen regelrecht gefangen. Man kann gar nicht daran vorbeigehen.“
Noch weiter nach vorn rückte ihr Kopf, bis sie in der Lage war, die kleine Schrift zu lesen.
„P.S. Kroyer. Porträt von Tove Bentzon. Nie gehört.“
„Das Original hängt in einem Museum in Skagen, Dänemark. In unserer Familie heißt es nur 'Das kleine blaue Mädchen', wegen der dominierenden Farbe des Mantels.“
„Ganz reizend.“
Dann war sie verschwunden. Valerie atmete tief durch. Keine Stunde hatte der Besuch gedauert, ihr war es wie eine kleine Ewigkeit vorgekommen.
Nachdem Valerie die Tür geschlossen hatte und in den Essbereich zurückgekehrt war, funkelten Annas Augen sie an wie glühende Kohlen.
„Einzelperson, homo- oder heterosexuell“, ahmte sie die Besucherin nach.
„Es ist völlig scheiß egal, wer oder was du bist. Das ganze Theater können wir uns sparen. Was hat dir der Rechtsanwalt bloß für einen Mist erzählt? Wie bist du überhaupt auf den gekommen?“
„Durch meine Mutter. Der Mann war der Partner meines Vaters.“
„See- und Schifffahrtsrecht, na klasse. Der kennt sich mit Containern und Schweröl aus. Was für eine Referenz! Und der hat dir das mit der Lesbenvorstellung vorgeschlagen?“
Valerie ließ sich auf einen Stuhl sinken, ihr Blick war nach innen gekehrt.
„Ich habe ihn gefragt, ob das etwas bringen würde. Weil ich keinen Mann als Partner präsentieren konnte und es auch nicht wollte. Ich habe es ihm in den Mund gelegt und er hat nur gemeint, dass es vermutlich nicht schaden kann.“
Valerie besann sich an das Gespräch in dem mit dunklem Holz getäfelten Büro. Sie hatte noch gedacht, dass es der richtige Ort sei, um über Lieferverträge und Schiffstonnagen zu verhandeln, aber nicht über das Leben eines kleinen Mädchens. Sie erinnerte sich, dass eigentlich nur sie geredet und sich über die Schwerfälligkeit des Behördenapparates echauffiert hatte. Ihr Gegenüber blätterte in den Akten, machte sich Notizen, nickte hin und wieder und versprach, den Fall zu prüfen. Ihr war es vorgekommen, als hätte er überhaupt nicht richtig zugehört. Aber kaum, dass sie die Kanzlei verlassen und sie in ihrem Auto saß, klingelte bereits das Handy. Ihre Mutter war am Apparat und bombardierte sie mit Fragen über ihre vermeintliche homosexuelle Partnerschaft. Es gelang Valerie ziemlich schnell, ihrer Mutter den wahren Hintergrund zu erklären und sie zu beruhigen. So geriet die Episode vorübergehend in Vergessenheit, bis sie einige Tage darauf die Durchschrift des Briefes erhielt, den der Rechtsanwalt an das Jugendamt geschickt hatte. Darin stand es schwarz auf weiß und in ganzer epischer Breite, Valerie und Anna waren ein glückliches, gleichgeschlechtliches Paar, das sich nichts sehnlicher wünschte, als einen kleinen Menschen zu umsorgen.
„Egal.“
Ihr Körper spannte sich wieder.
„Das ziehen wir jetzt so durch, wie wir es besprochen haben, zurück können wir nicht mehr. Zumindest solange, bis die Adoption besiegelt ist.“
Sie schaute Anna in die Augen. Die Freundin verzog das Gesicht.
„Hast du den Blick gesehen? Die Frau hat mich angeschaut, als wäre ich ein Insekt, das sich auf ihren Teller verirrt hat.“
„Du hättest dich ruhig etwas geschickter anstellen können, beruflich stark eingespannt, mein Gott. Was hast du dir dabei gedacht?“
„Ich hab gedacht, ich sage was Schlaues, von wegen finanzieller Absicherung und so weiter. Das ist doch nur gut für die Kleine. Man kann auch alles auf die Goldwaage legen. Du verlangst von mir, dass wir ein lesbisches Pärchen geben, das überfordert mich. Als du vorhin Herzilein gespielt hast, habe ich befürchtet, du knutscht mich gleich ab.“
„Na und. Wäre das so schlimm gewesen? Wir müssen diese Rolle jetzt durchziehen. Und dazu passt auch nicht, dass du ständig im Internet chattest.“
„So? Warum denn nicht?“
„Weil du gelähmt bist und im Rollstuhl sitzt.“
Sofort biss sich Valerie auf die Zunge, aber es war zu spät. Die Worte waren ihr im Ärger einfach herausgerutscht, sie konnte sie nicht mehr zurückholen. Sie hätte sich ohrfeigen können, weil sie genau wusste, wie sehr es Anna kränkte, aber es war zu spät.
Augenblicklich trat ein feuchter Schimmer in die Augen der Freundin.
„Na und? Was willst du damit sagen? Ich muss doch nicht den Laden zumachen so wie du, nur weil du enttäuscht worden bist. Ich habe keine Kontrolle über meine Beine, aber noch völlig normale Empfindungen. Dieses verdammte Ding hier“, sie schlug mit der rechten Hand auf die Armlehne ihres Gefährts, „hat mich in die Grube gelegt, aber du beerdigst mich endgültig.“
Abrupt drehte Anna den Rollstuhl und rollte schnell den langen Flur hinunter. Sofort lief Valerie hinter ihr her und erreichte sie kurz vor ihrem Zimmer.
„Anna warte. Das war unglaublich dumm von mir, es tut mir leid. Ich bin so angespannt wegen Zoè, das habe ich wirklich nicht so gemeint.“
Valerie legte ihr den Arm auf die Schulter.
Anna winkte ab und drehte ihr Gesicht zur Seite.
„Ich weiß, ich auch nicht.“
Valerie war bewusst, was sie der Freundin und auch sich abverlangte.
War es wirklich die richtige Entscheidung gewesen?
Ja, sagte sie sich trotzig. Ihre jahrelange Freundschaft war bisher durch nichts zu erschüttern gewesen, sie bedeutete Sicherheit für Zoè. Hätte sie sich in dieser wichtigen Phase ihres Lebens auf einen Mann verlassen sollen?
„Alles wieder gut, Lenchen?“
Ihre Hand massierte zärtlich den Nacken der Freundin.
Die nickte nur.
„Hast du an den Babysitter für heute Abend gedacht?“
Anna hielt nur kurz den ausgestreckten Daumen nach oben, dann machte sie eine wedelnde Handbewegung, ohne sich umzudrehen und rollte in ihr Zimmer. Sie wollte in Ruhe gelassen werden. Deutlich konnte Valerie von hinten das feuchte Schimmern auf ihrer Wange erkennen.
Vier Monate zuvor.
Der Mann am Steuer konzentrierte sich auf den Verkehr vor ihm. Mit einer hastigen Bewegung der rechten Hand fuhr er durch das graue Schläfenhaar, um sofort danach wieder das große Lenkrad mit beiden Händen zu packen. Hände, denen man ansah, dass der Mittfünfziger sein Geld nicht nur mit Büroarbeit verdiente. Derb und schwielig waren sie, trocken und eingerissen von der häufigen Benutzung scharfer Waschpaste. Die Nägel beider Daumen waren von einer seltsamen, nach innen eingedellten Form. In der Nacht hatte es Neuschnee gegeben. Auf der zweispurigen Straße lag Schneematsch, von unzähligen Reifen zu Spurrinnen ausgefahren und immer glatter werdend. Die Scheibenwischer bewegten sich mit quietschenden Geräuschen über die Panoramascheibe, das vom Vordermann hochgeschleuderte Wasser enthielt Streusalz, die hellen Schlieren erschwerten die Sicht.
Mürrisch blickte Jürgen Finkenwerder auf seinen Beifahrer, der sich auf seinem Sitz räkelte, als ginge ihn das alles nichts an. Der Mann war nur wenig jünger, aber seine Haare waren heller, deshalb fiel der Grauton nicht so deutlich auf. Umso stärker war dafür sein Bauchansatz ausgeprägt, obwohl sein Gesicht und seine Extremitäten schlank waren. Auch seine Hände zeugten von einem arbeitsreichen Leben. Die Schuhe ausgezogen, lagen die in verbrauchten Socken steckenden Füße ausgestreckt auf dem mächtigen Armaturenbrett.
Aus den Augenwinkeln bemerkte der Fahrer im letzten Moment, dass der Wagen vor ihnen hart abgebremst wurde, weil die Ampel umsprang. Er stieg ebenfalls in die Bremse und stützte sich am Lenkrad ab. Das schwere Wohnmobil schlingerte auf der matschigen Fahrbahn, das Heck des Pkw kam bedrohlich näher, knapp dahinter kamen sie zum Stehen.
Ronald Leuschner schien dem Geschehen völlig entrückt zu sein. Er hatte sich mit den Füßen abgestützt, nur sein Kopf nickte bei dem Bremsmanöver nach vorn, das Handy in seinen Händen bewegte sich simultan zum Kopf. Wie gebannt starrte er auf den Monitor.
Finkenwerder ballte seine Faust und richtete sie drohend nach vorn.
„Du Idiot! Sogar wir wären noch bei Gelb durchgekommen. Sag mal, was treibst du da eigentlich?“
„Hier. Willst du mal sehen? Habe ich gerade erst aus dem Internet runtergeladen, ein kleiner Appetitmacher für unterwegs.“
Geheimnisvoll grinste er und hielt ihm sein Handy direkt vor die Nase. Finkenwerder warf nur einen raschen Blick auf den kleinen Bildschirm, der Straßenverkehr vor ihm verlangte seine ganze Aufmerksamkeit.
„So kann ich nicht viel erkennen. Ich habe nur etwas nackte Haut gesehen. Was war das?“
„Eine ganz niedliche Taube, höchstens sieben oder acht. Geile Bilder. Wie lieb sie in die Kamera guckt. Die würde ich mir auch gern mal vornehmen.“
„Und, wo hast du sie her?“
„Internet. Hab ich doch gesagt.“
„Internet, Internet,“ äffte der Fahrer. „So etwas gibt es nicht einfach so im Internet, werd mal genauer.“
„Tauschbörse. Habe ich mir runtergeladen.“
„Das habe ich befürchtet.“ Die Stimme wurde gereizter, der Mann presste die Worte zwischen den Lippen hervor. „Tauschbörse bedeutet, dass du auch etwas geben musst, sonst funktioniert der ganze Download nicht.“
„Ja natürlich, peer to peer.“
„Eben. Peer to peer. Geben und nehmen. Und was hast du gegeben?“
„Ein paar Bilder von unserer letzten Fahrt, was sonst?“
Der Fahrer zog die Luft scharf ein, ein gefährliches Zischen erklang.
„Bist du blöd? Merkst du nichts mehr? Wir waren uns darüber einig, dass unser Bildmaterial niemals in irgendeiner Tauschbörse auftaucht.“
„Mach dir nicht ins Hemd. Ich habe nur Bilder genommen, auf denen man nichts von uns sieht, außer unseren besten Stücken natürlich, das war logischerweise nicht zu vermeiden.“
Er lachte heiser, es klang, als liefe die fotografierte Wirklichkeit noch einmal vor seinem geistigen Auge ab.
Finkenwerder ließ sich nicht locker.
„Diese Börsen werden überwacht, du Blödmann. Nicht nur von den Bullen. Rechtsanwälte beschäftigen ganze Bürokolonnen, um Urheberrechtsverletzungen abmahnen zu können, nicht zu vergessen die ganzen selbsternannten Schnüffler. Wenn die auf solches Material stoßen, geben sie die Daten an die Behörden weiter. Und wenn die deine Verbindungsdaten haben, ist der Rest ein Kinderspiel.“
Fluchend kurbelte er am Lenkrad. Der Ärger über den Leichtsinn seines Kumpanen hatte ihn abgelenkt. Die rechten Räder des Wohnmobils waren an den vereisten Rand geraten, das Fahrzeug versetzte und schaukelte auf. Nur mit Mühe konnte er den Wagen in der Spur halten. Sein Beifahrer aber blieb die Ruhe selbst, weder die ruppige Fahrweise noch die Vorwürfe erschütterten sein Gemüt.
„Alles Quatsch.“
Überheblich verzog er das Gesicht.
„Ich surfe anonym. Da passiert nichts, das ist doch sowieso alles nur Angstmacherei in den Medien mit der Überwachung.“
„Anonym ja? Und das soll funktionieren? Du kommst schon nicht mit deiner Firma klar und willst mir jetzt erzählen, dass du plötzlich der große Computerexperte bist. Lass gefälligst die Scheiße sein. Du reitest uns noch rein. Wir haben eine klare Absprache, absolute Diskretion. Von unseren Bildern und Videos geht nichts raus. Nur so funktioniert es, sonst lassen wir es in Zukunft oder ich fahre allein.“
„Allein? Vergiss nicht, wer die Kontakte in Cheb hat und stell dich nicht so an, die paar Bilder.“
„Wenn sie dich erwischen und hochnehmen, kann ich darauf warten, wann sie bei mir vor der Tür stehen. Unsere gemeinsame Verbindung nachzuweisen ist dann das kleinste Problem. Du schrammst ständig knapp an der Insolvenz vorbei mit deiner Klitsche und hast nichts zu verlieren, lange nicht so viel wie ich.“
Mit verfinstertem Gesicht blickte er stur nach vorn. Er betätigte den rechten Blinker und fuhr in einer langgezogenen Kurve auf die Autobahn. Lange Zeit sprach niemand von ihnen, beide hingen ihren Gedanken nach. Finkenwerder ärgerte sich, dass Leuschner die einfachsten, aber wichtigsten Sicherheitsregeln missachtete. Er dachte über Alternativen nach. In einem Punkt musste er Leuschner recht geben, er besaß die Kontakte in Cheb. Bewusst hatte sich Finkenwerder in der fremden Stadt zurückgehalten und Leuschner vorgeschickt. Dieser Sicherheitspuffer war es ihm wert, dass er ständig den größeren Anteil der Kosten für ihre Fahrten übernahm. Intuitiv spürte er, dass von Ronald Leuschner eine Gefahr ausging. Er musste einen Weg finden, die Spuren der Verbindung zwischen ihnen beiden zu verwischen. Die Winterlandschaft zog unterdessen wie ein Film an den Seitenfenstern vorbei. Der Scheibenwischer quietschte, weil das hochspritzende Wasser die Scheibe nicht ausreichend benetzte.
„So ein Mist, ich habe etwas Wichtiges vergessen.“
Der Beifahrer löste sich aus seiner Lethargie und riss den Fahrer aus seinen trüben Gedanken.
„Sag nicht, du hast vergessen, deinen Kumpel zu instruieren?“
„Nein, keine Panik, der weiß Bescheid. Deine Frau kann ruhig im Hotel anrufen. Er wird ihr erzählen, dass die Herren ausgegangen sind und ruft mich dann sofort auf dem Handy an. Da bleibt genügend Zeit zum Reagieren.“
„Und wenn er gar nicht da ist, wenn sie anruft?“
„So ein Seminar geht doch mindestens bis 16.00 Uhr, oder nicht? Da wird sie nicht früher anrufen, sie könnte doch stören. Und Punkt 16.00 Uhr ist mein Kumpel an der Rezeption, jeden Tag, bis in den späten Abend. Da kann nichts schiefgehen.“
Er schaute wieder auf das Handydisplay und klopfte mit den Fingerspitzen leicht auf das dargestellte Bild.
„Ich habe kein Geschenk, nichts, überhaupt nichts. Das habe ich völlig vergessen. Fahr an der nächsten Raststätte raus, vielleicht kann ich dort noch etwas organisieren.“
„Muss das sein? Wir sind sowieso schon spät dran durch die Straßenverhältnisse.“
„Dauert nur ein paar Minuten.“
Nach weiteren zwanzig Minuten, in denen keiner von beiden sprach, ließ der Fahrer das Wohnmobil auf dem Lkw-Parkplatz einer Rastanlage ausrollen.
„Hier.“
Ronald Leuschner drückte ihm sein Handy in die Hand.
„Sieh dir solange die geilen Bilder an, das bringt dich wieder auf bessere Gedanken und du verdirbst mir nicht länger die Laune.“
Für seinen Bauchansatz sprang er erstaunlich beweglich aus dem Wagen und stiefelte mit großen Schritten auf das Gebäude zu.
Finkenwerder starrte ihm genervt nach. Für ihn war Ronny nicht mehr als ein nützlicher Idiot. Er betrachtete die Bilder im Handy. Die Kleine war tatsächlich nicht schlecht, sehr schlank mit heller Haut und einem unverdorbenen Gesicht. Der Fotograf schien sie überredet zu haben, gymnastische Übungen zu machen und sie war mit Eifer dabei und spreizte die Beine so weit sie konnte. Solange keine zweite Person auftauchte, wirkten die Bilder einigermaßen unverfänglich. Er musste daran denken, wie er seinen Begleiter bei einem dieser trockenen Berufsseminare kennenlernt hatte. Plötzlich lag eine Zeitschrift über Freikörperkultur auf dem Tisch. Auf der Titelseite ein kaum zehnjähriges Mädchen, unbekleidet. Er konnte sich bei dem Anblick nicht zurückhalten und hatte zugeschnappt wie ein Fisch bei einem Köder. So dauerte es nicht lange, bis sie sicher waren, einen Gleichgesinnten vor sich sitzen zu haben. Er befeuchtete seine Lippen. Seine schlechte Laune besserte sich, er spürte, wie sich die Vorfreude auf die kommenden Tage in Erregung verwandelte. Diese Fahrt sollte ein letzter Baustein in seinem Plan sein. Finkenwerder war ein nüchterner, rational denkender Mensch, der es nicht zuließ, dass seine Lust unkontrolliert die Oberhand über sein Tun übernahm. Ronny dagegen war eher romantisch veranlagt. Er bildete sich ein, er würde den Mädchen mit seinen Geschenken eine Freude bereiten und sie würden sich ihm deshalb mit Lust hingeben. Der gealterte Liebhaber, der ein junges Mädchen in die Freuden der Liebe einführt. Lächerlich. Als würde eine Achtjährige Lust empfinden. Sie funktionierten, weil sie sonst von ihren Zuhältern verprügelt würden. Warum sollte man also nicht selbst auch ein wenig Hand anlegen? Wie sehr es ihn erregte, einen dieser kleinen Körper mit dem Gürtel zu bearbeiten.
Er war noch ganz in das Anstarren der Abbildungen und in seine Phantasievorstellungen vertieft, dass er nicht mitbekam, wie Ronny zum Wohnmobil zurückkehrte. Ertappt gab er ihm das Handy zurück.
„Nicht schlecht.“
„Sag ich doch und deine Laune ist auch gleich besser. So eine wie die Kleine müssten wir bekommen. Wie die die Beine bewegen kann. Die hat noch gar keine Haare. Aber die Taube vom letzten Mal war auch nicht schlecht. Die wäre auch wieder in Ordnung.“
„Ich weiß nicht, die war ganz in Ordnung, aber sie müsste jetzt bald zehn sein. Wenn sich die ersten Tittchen abzeichnen, interessieren sie mich nicht mehr. Aber schön gejammert hat sie, als ich sie mir mal richtig vorgenommen habe. Und. Hast du etwas bekommen?“
„Ja, hier.“
Mit einem breiten Grinsen ließ er aus seiner geschlossenen Faust eine Kette aus billigen, roten Plastikperlen gleiten, bis sie an seinem Zeigefinger hängenblieb und hin und her schaukelte.
„Wenn ich einer Kleinen diese Kette um den Hals lege, wird sie viel geschmeidiger, wie Wachs in meinen Händen. Sogar die Kleinsten sind schon scharf auf Klunker. Kaum zu glauben, mit welchem Schrott man die kleinen Biester zufriedenstellen kann.“
„Aber nur die ganz Kleinen, die etwas Größeren wissen genau, was los ist. Da bin ich lieber für die harte Tour, dann wissen alle, wo es langgeht.“
Finkenwerder lachte schallend. Das Wohnmobil setzte sich wieder in Bewegung.
„Siehst du hinter meinem Sitz die kleine, schwarze Tasche?“, fragte Finkenwerder gutgelaunt und deutete mit dem Kopf nach hinten.
„Zieh sie mal zu dir ran und wirf einen Blick hinein.“
Neugierig geworden drehte sich Ronald Leuschner auf seinem Sitz herum. Er beugte sich vor und angelte mit der linken Hand nach der beschriebenen Tasche, bis er sie auf seinem Schoß abstellen konnte. Umständlich öffnete er zwei Verschlussclips, klappte den Deckel hoch und hielt gleich darauf einen digitalen Camcorder in der Hand.
„Die neueste Generation, super Auflösung und eine riesige Festplatte.“
Leuschner pfiff anerkennend durch die Zähne.
„Und hier?“
Daumen und Zeigefinger machten eine reibende Bewegung.
„Für einen Tausender bekommst du den nicht, aber dafür hast du eine astreine Bildqualität, fast wie im Fernsehen.“
Der sich immer mehr verbessernde Gemütszustand seines Kumpels schien Leuschner sofort auf seine Weise nutzen zu wollen.
„Du Jürgen, ich bin ein bisschen klamm. Kannst du mir mit ein paar Scheinen aushelfen?“
Der Angesprochene drehte seinen Kopf und schaute lange, viel zu lange zur Seite.
„Kommt nicht infrage, Ronny. Du schuldest mir immer noch einen Teil von unserer letzten Fahrt. Ich miete jedes Mal das Wohnmobil und zahle die Spritkosten. Fährst du immer noch deinen Riesenschlitten? Sieh zu, dass du den Wagen los wirst.“
„Den will doch keiner haben, hab ich doch schon versucht.“
Der kleine Zufahrtsweg lag in nahezu völliger Dunkelheit. Nur am Anfang und am Ende standen zwei brennende Laternen, sie wirkten wie kleine, helle Inseln in einem dunklen Meer. Durch den Kontrast ließen sie die Umgebung umso finsterer erscheinen.
Aus der Ferne drang die undefinierbare Geräuschkulisse der Großstadt wie ein beruhigendes Rauschen herüber, im kleinen Gewerbegebiet selbst herrschte absolute Stille.
Vor Valerie befand sich rechts vom Weg ein mit mannshohem Maschendraht eingezäunter Flachbau, dessen Silhouette sich vor dem Hintergrund der Lichtabstrahlung der Stadt vage abzeichnete. In seiner Höhe standen am Straßenrand mit einigem Abstand zwei Lkw-Wechselbrücken auf ihren spinnenbeindünnen Stützen. Dahinter parkte ein Kastenwagen, der trotz der Dunkelheit alt und verbraucht wirkte.
Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, lag der zum Flachbau gehörige Firmenparkplatz um diese Zeit völlig verwaist. Kein einziges Fahrzeug parkte darauf.
Valerie streckte die Beine durch und seufzte leise. Ihre Gedanken wanderten für einen Moment zu Zoé, die zuhause friedlich in ihrem Himmelbett schlief, hoffentlich! Nele, die gerade volljährig gewordene Nachbarstochter aus dem Erdgeschoß verdiente sich immer gern ein kleines Taschengeld mit Babysitten. Am liebsten abends, wenn Zoè schlief und sie im Wohnzimmer auf dem riesigen Flachbildschirm von einem Musiksender zum anderen zappen konnte.
Über eine Stunde kauerte sie bereits gespannt hinter dem Lenkrad und starrte, notdürftig geschützt durch ein ausgefranstes Gebüsch, von einem verlassenen Grundstück in die Straße hinein. Zumindest hielt sie es für verlassen, von dem Maschendrahtzaun waren nur noch Fragmente erhalten. Vor einem schmuddeligen Schiebetor lag ein Haufen Bauschutt und Firmenschilder waren nirgends zu sehen gewesen. Aus den Fugen der Pflasterung kämpfte sich die Vegetation zurück, überall auf dem Vorplatz standen kleine Sprösslinge, die kräftigsten waren gut kniehoch. Das Gebüsch, hinter dem sie nach sorgfältiger Prüfung der Örtlichkeit den dicken Volvo versteckt hatte, verdiente den Namen normalerweise nicht. Bis Hüfthöhe war es noch einigermaßen grün, darüber war es so licht wie ein abgetakelter Weihnachtsbaum.
Egal. Hauptsache, die reflektierenden Teile des Autos waren verdeckt.
Wenn nicht gleich etwas passiert, werden wir wohl abbrechen müssen, war ihr nächster Gedanke und schon musste sie über den ungewöhnlichen Auftrag grübeln.
Ihr Auftraggeber, der Besitzer der kleinen Elektronikfirma in dem eingezäunten Flachbau, vermutete, dass einer seiner Mitarbeiter in dieser Nacht aufkreuzen und die Räumlichkeiten betreten würde.
Der Mann war durch interne Kontrollen aufgefallen und sollte angeblich die Alarmanlage und die Überwachungskameras manipuliert haben, um ungesehen ins Objekt zu gelangen. Er konnte nicht wissen, dass längst andere, neu installierte Kameras das Geschehen aufzeichnen würden. Der Seniorchef, ein großer, stämmiger Mann mit vollem, schlohweißem Haar und rot durchzogenen Wangen, hatte sie auffallend, ja unverschämt lange gemustert und mit Komplimenten überhäuft. Unverbindlich lächelnd nahm Valerie die gerahmten Bilder der Enkelkinder auf dem Schreibtisch zur Kenntnis.
„Achtung, es kommt ein Auto.“
Annas Stimme, von der Freisprechanlage verzerrt, zerstörte die Stille. Obwohl sie auf diese Meldung erwartete, zuckte Valerie kurz zusammen.
„Das wird er sein, er blinkt. Siehst du ihn schon?“
„Nein.“ Aufmerksam starrte sie in die Dunkelheit. „Doch. Jetzt sehe ich den Lichtschein.“
Scheinwerferkegel wurden immer heller, dann bog ein kleiner Kompaktwagen langsam in die Straße ein. Für einen Sekundenbruchteil schaute Valerie direkt in das Licht und war geblendet. Der Wagen fuhr weiter in Richtung des Parkplatzes. Wie in Zeitlupentempo kam er näher, der Fahrer schien auf jedes Detail zu achten. Beim Einbiegen in den kleinen Parkplatz blieb das Fahrzeug kurz stehen, die Scheinwerfer richteten sich genau auf das Gebüsch, hinter dem Valerie mit ihrem Wagen stand. Ihr Herz klopfte bis hinauf in den Hals. Langsam rutschte sie noch tiefer den Sitz hinunter, obwohl sie sich in dem großen SUV ohnehin immer verloren vorkam und kaum zu sehen war. Zwischen dem Lenkrad und der ausgeklappten Navi lugte sie hinüber. Sie atmete erleichtert aus, als der Wagen endlich auf den Platz fuhr und stand, die Scheinwerfer erloschen.
„Und? Was passiert? Halt mich auf dem Laufenden.“
Trotz der Verzerrung war Annas Anspannung zu spüren.
„Gar nichts. Er ist noch nicht ausgestiegen. Schätze, er wartet ab, ob alles ruhig bleibt.“
Wie zur Bestätigung flammte im Innern des fremden Wagens für einen kurzen Moment ein Feuerzeug auf.