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Es gibt keine Wölfe im Spandauer Forst. Oder? Wolfs Land ist ein fesselnder Thriller um eine junge Ermittlerin mit Tourette-Syndrom und den Wolf im Menschen. Im Spandauer Forst in Berlin wird die grausam zugerichtete Leiche einer jungen Frau gefunden. DNA-Spuren belegen, dass sie Wölfen zum Opfer gefallen ist. Ein schrecklicher Unglücksfall, den Charlotte Schönfeldt, die Neue in der Berliner Mordkommission, rasch zu den Akten legen soll. Lotte ist das gerade recht. Sie ist nur deshalb zur Kripo gegangen, um den Tod ihrer Eltern aufzuklären, die in den Wirren der Wendezeit unter nie geklärten Umständen ums Leben gekommen sind. Doch Lotte fällt nicht nur durch riskante Alleingänge, sondern auch durch ihre Tics auf: Sie hat das Tourette-Syndrom. Als eine weitere Frau im Spandauer Forst verschwindet, wird Lotte immer tiefer in den Wolfs-Fall hineingezogen und gerät selbst in große Gefahr … L.U. Ulder weiß, wovon er schreibt: Hauptberuflich arbeitete er bei der Polizei. Mit Wolfs Land hat er einen packenden Thriller geschaffen - über Wölfe, die DDR-Vergangenheit und eine eigensinnige junge Ermittlerin, die sich vom Tourette-Syndrom nicht aufhalten lässt. Entdecken Sie auch die anderen spannenden Thriller von L.U. Ulder: - Tödliche Zeiten - Ein dunkler Trieb"Dieser Thriller hat alles, was eine spannende Geschichte braucht!" - The reading maiden über Ein dunkler Trieb
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Seitenzahl: 567
L. U. Ulder
Thriller
Knaur eBooks
Im Spandauer Forst wird die grausam zugerichtete Leiche einer Frau gefunden. DNA-Spuren belegen: sie ist Wölfen zum Opfer gefallen. Ein Unglücksfall, den Charlotte Schönfeldt, die Neue in der Berliner Mordkommission, rasch zu den Akten legen soll. Lotte ist das nur recht. Sie ist lediglich bei der Kripo, um den Tod ihrer Eltern aufzuklären, die in den Wirren der Wendezeit unter nie geklärten Umständen ums Leben gekommen sind. Doch die junge Kommissarin fällt nicht nur durch riskante Alleingänge, sondern auch durch das Tourette-Syndrom auf. Als eine weitere Frau verschwindet, wird Lotte immer tiefer in den Wolfsfall hineingezogen und gerät selbst in große Gefahr
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
77. Kapitel
78. Kapitel
79. Kapitel
80. Kapitel
81. Kapitel
82. Kapitel
83. Kapitel
Frühjahr 2018
Der Wolf war immer da.
War seit jenem Tag sein ständiger Begleiter, wie ein zweiter Schatten, der sich nicht abschütteln ließ. Ob in der Nacht in seinen Albträumen, die ihn schweißnass hochschrecken ließen, in Momenten nachlassender Konzentration in seinen abschweifenden Gedanken und auch jetzt, hier im Wald. Hier ganz besonders. Hier schien er der Grund für jedes Knacken von Zweigen, für jedes plötzliche Auffliegen der Vögel zu sein.
Durch das staunende, beinahe ehrfürchtige Interesse seiner Kollegen und erst recht später, als die Begebenheit durch eine Indiskretion bekannt geworden war und Pressevertreter bei ihm aufliefen, fühlte er sich schon ein wenig besonders. Der Mann, dem sich die Bestie erstmals so nah an der Hauptstadt gezeigt hatte. Immer wieder musste er sich das mit dem Handy geknipste Bild anschauen. Ein paarmal hatte er ernsthaft darüber nachgedacht, seine Beobachtung aufzuschreiben, sie für die Nachwelt zu konservieren. Aber instinktiv spürte er, dass er nicht wortgewandt genug dafür war. Er würde es verderben, die Besonderheit dieser Begegnung auf ein unbedeutendes Normalmaß zurückwerfen.
Eindrucksvoll oder gar majestätisch war dieser Wolf nicht gewesen. Ganz und gar nicht. Geduckt, ungepflegt, geradezu mickrig. Was die Statur anging, das exakte Gegenteil von seinem übergewichtigen Kollegen Rigo Striebeck.
Und schon ärgerte sich Sebastian Kirsch. Während er sich zielstrebig durch den Spandauer Forst bewegte, um die Arbeit so schnell wie möglich zu erledigen, trödelte sein Kollege hinter ihm her, als wäre er auf einem Waldspaziergang. Immer wieder sah Kirsch, dass sich Striebeck an einem Baum anlehnte, um eine Pause zu machen. Und mit jedem Mal wurde er langsamer. Schon bald war ihm klar, dass sie ihr Pensum an diesem Tag nicht mehr schaffen würden. Normalerweise kamen ihm Überstunden nicht ungelegen. Nur ausgerechnet heute hatte er seiner Frau versprochen, pünktlich nach Hause zu kommen, weil sie auf eine Geburtstagsfeier gehen wollten. Die Aussicht auf einen Abend mit Verwandten besserte seine Laune nicht auf.
Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken.
Dasselbe Geräusch wie vorhin, zu Beginn ihrer Runde. Seinen ersten, naheliegenden Gedanken, es könne sich um einen Waldarbeiter handeln, hatte er sofort wieder verworfen. Diese Arbeiten wären angemeldet worden, und auf dem Plan für den heutigen Tag war nichts dergleichen eingetragen. Vielleicht jemand, der mit einer Erlaubnis Brennholz sägte. Das hochfrequente Geräusch eines Zweitaktmotors war ihm sehr vertraut. Aber gleich darauf wurde ihm klar, wer diesen Krach verursachte. Motorkettensägen bewegten sich nicht mit hoher Geschwindigkeit durch den Wald. Also wieder diese Flegel, die mit ihren Geländemotorrädern die Waldwege beschädigten. Vorhin war es aus östlicher Richtung gekommen, irgendwo aus dem Teufelsbruch, mitten im Naturschutzgebiet. Langsam und gleichmäßig war es immer leiser geworden und schließlich ganz verschwunden. Jetzt tauchte es wieder auf, diesmal aus der entgegengesetzten Richtung. Der Fahrer musste einen großen Bogen genommen haben.
Kirsch drehte sich um. Sein Kollege Striebeck lehnte wieder einmal mit ausgestrecktem Arm in gut zwanzig Metern Entfernung an einem Baum. Eine Esche, deren Schicksal sie gerade mit einem roten Querstrich besiegelt hatten. Der Baum bedrängte seinen wesentlich wertvolleren Nachbarn und musste daher weichen.
Striebeck beugte sich weit nach vorn, als müsse er sich übergeben. Kirsch schüttelte den Kopf. Der Kollege kam wieder hoch, er hatte nur nach Luft geschnappt. Sein Gesicht war knallrot und schwitzig. Die zu Beginn der Arbeit hochgeschlossene Jacke klaffte auf. Als er sich umdrehte, kam der über dem Gürtel hängende Bauch zum Vorschein.
Kurz nach Mittag waren sie bei strahlendem Sonnenschein gestartet, hatten den Dienstwagen der Revierförsterei in der Schönwalder Allee am Waldrand abgestellt. Seit knapp drei Stunden waren sie nun schon zu Fuß unterwegs, im berechneten Zickzack durch das Waldstück, um möglichst keine blinden Stellen auf der Karte zu hinterlassen. Bei strammem Marsch würden sie zurück zum Pritschenwagen eine halbe Stunde benötigen. Mit dem übergewichtigen Kollegen musste Kirsch vorsorglich eine ganze Stunde einplanen. Er schaute auf seine Armbanduhr. Es wurde Zeit aufzubrechen, wenn er überflüssige Diskussionen mit seiner Gattin vermeiden wollte. »Was meinst du?«, rief er Striebeck zu und winkte dabei mit der Farbspraydose in der Luft in die grobe Richtung des abgestellten Autos.
Rigo Striebeck nickte nur und brachte ein mattes »wir haben genügend Bäume markiert« heraus.
Sebastian Kirsch kehrte zurück und trat an seinen Kollegen heran, der sich jetzt mit dem Rücken an den Baum lehnte und immer noch schwer atmete. »Was ist los mit dir? Geht es dir nicht gut?«
»Doch, doch. Ist nur gestern Abend spät geworden. Mein Schwager kam mit einem Obstbrand vorbei. Den schwitze ich gerade aus.« Der kleine, stämmige Mann grinste vielsagend.
»Hörst du das Motorengeräusch?«
Striebeck hielt die Luft an und lauschte in den Wald hinein. »Ja, es kommt näher.«
»Es ist nur eine einzige Maschine, glaube ich. Sie kommt über den südlichen Wanderweg. Wenn wir uns beeilen, können wir vielleicht das Kennzeichen ablesen.« Der hagere Kirsch, zehn Jahre jünger als sein Kollege, wartete die Antwort gar nicht erst ab. Er drehte sich um und marschierte mit großen Schritten los. Striebeck würde ihm schon folgen.
Unterwegs sammelte er einen gut einen Meter langen Stock auf und nahm ihn in die rechte Hand. Nach zwei Minuten, er hatte nur noch wenige Meter bis zum kreuzenden Weg, wurde das heulende Motorengeräusch rasend schnell lauter. Die Angst, zu spät zu kommen, ließ ihn noch schneller werden. Ein leichtes Geländemotorrad, auf dem dicht gedrängt zwei schlanke Personen mit Helmen auf dem Kopf hockten, raste mit halsbrecherischem Tempo über den Weg in Richtung Osten. Immer wieder verdeckt von den Bäumen, wie eine Einzelbildschaltung. Kirsch sprang mit einem Satz aus dem Unterholz heraus auf den Weg und sah nur noch das Heck der kleinen Maschine. Der Mitfahrer drehte sich nur kurz um und blickte dann wieder nach vorn.
Es dauerte geschlagene zwei Minuten, bis Kirschs Begleiter endlich neben ihm stand, genauso schwer atmend wie er selbst. »Und? Hast du wenigstens das Kennzeichen abgelesen?«
Kirsch schüttelte den Kopf. »Es war nach oben gebogen. Aber ich habe mit dem Handy ein Foto gemacht, so erkennt man sie vielleicht an den Helmen wieder.«
»Und was wolltest du mit dem Stock? Ihn denen in die Speichen werfen?«
Der hagere Mann mit dem dunklen Vollbart schaute auf den Stock, zuckte mit den Schultern und schleuderte ihn kommentarlos in den Wald hinein.
»Sie vertreiben noch das ganze Wild«, brummte Striebeck, der nicht nur Forstarbeiter, sondern auch Jäger war und damit ein ganz eigenes Interesse an vitalen Wildbeständen hatte.
Sebastian Kirsch nickte nur, während sie sich auf den Rückweg machten und sich dabei parallel zum Wanderweg durch den Wald bewegten. Sie hatten die Hoffnung noch nicht aufgegeben, den Motorradfahrer vielleicht bei seiner Rückkehr zu erwischen.
Wild vertreiben, waren Striebecks Worte gewesen. Bei dem Stichwort kehrten Kirschs Gedanken sofort wieder zu der Begegnung vor einigen Wochen zurück. Dass sich diese Art von Wild verscheuchen ließ, bezweifelte er.
Er war an dem Tag allein und privat unterwegs gewesen, am Rand des Tegeler Forstes, den nur die Havel vom Spandauer Forst trennt. Einfach nur, um frische Luft zu schnappen und ohne berufliche Zwänge durch den Wald zu wandern.
Wie aus dem Nichts hatte sich das Tier angepirscht. Er hatte es weder kommen sehen noch gehört, weil er in Gedanken versunken die Umgebung betrachtet hatte. Es war einfach erschienen und hatte dann auf dem befestigten Weg gestanden, keine hundert Meter von ihm entfernt, quer zur Laufrichtung, als wolle es ihm den Weg verstellen.
Der Wolf war noch ein Jungtier. Das hatte er sofort erkannt, obwohl er kein Experte war. Schmal und schmächtig, wie unterernährt. Er hatte überrascht gewirkt von der plötzlichen Begegnung, aber keinesfalls ängstlich. Eher neugierig, so als wollte er mit seinen hellbraunen Augen prüfen, ob sich das seltsam aufrecht stehende Wesen vor ihm als Beute eignete.
Kirsch war schlagartig stehen geblieben. Sein Schreck war deutlich größer als der des Tieres. Er rief sich die Grundregeln für Wolfsbegegnungen ins Gedächtnis, die in der Revierförsterei für den Fall einer Begegnung wieder und wieder erörtert worden waren. Immerhin sollten sich im Berliner Umland mittlerweile zweiundzwanzig Wolfsrudel angesiedelt haben. Eine Begegnung wie diese war nur eine Frage der Zeit gewesen.
Die Arme nach oben bewegen, um sich größer zu machen, lautes Sprechen, in die Hände klatschen, rückwärtsgehen.
Kirsch war zunächst stehen geblieben und hatte dann zwei Schritte seitwärts gemacht. Der Wolf hatte seine Bewegungen ganz genau verfolgt. Vorsichtig und langsam hatte Kirsch sein Handy aus der Jackentasche gezogen. Er hatte es gerade noch geschafft, ein Foto von dem Tier zu machen, bevor es sich desinteressiert umdrehte und genauso schnell und lautlos wieder verschwand, wie es gekommen war.
Das Bild war später einem Wolfsberater vorgelegt worden, der das Tier zweifelsfrei als jungen Wolfsrüden identifiziert hatte. In der Dienststelle hatte man sich darauf geeinigt, nichts von der Sichtung durchsickern zu lassen, um keine unnötigen Wellen zu schlagen und vor allem, um den dann einsetzenden Wolfstourismus zu vermeiden. Aber da war es bereits zu spät gewesen.
Nachdem Sebastian Kirsch noch am selben Tag seiner Ehefrau von der Begegnung erzählt und ihr unter ihrem skeptischen Blick das Bild gezeigt hatte, hatte er sich durch ihre offenkundige Besorgnis angestachelt gefühlt, das Erlebte ein wenig aufzupeppen. Aus dem scheuen, neugierigen Tier wurde eine gefährlich knurrende Bestie, die sich auf ihn zubewegte und nur durch das Werfen von Steinen davon abhalten ließ, ihn anzugreifen. Es hatte dann nicht lange gedauert, bis es eine Bekannte der Ehefrau erfahren hatte und die Wolfssichtung schließlich auf Umwegen doch in der Presse gelandet war, samt dem von Kirsch geschossenen Bild. Die Vorhaltungen seines Vorgesetzten Gerhard Rode hallten jetzt noch in seinen Ohren. Zum Glück hatte es diese Begegnung nicht im eigenen Forst gegeben.
Weil ihm plötzlich bewusst wurde, dass er weder die Schritte noch den schweren Atem seines Kollegen hörte, drehte sich Kirsch um. Rigo Striebeck stand einen Steinwurf entfernt neben einem Baum. Er hatte seine Blase erleichtert und richtete gerade seine Kleidung. Genau in diesem Moment schien etwas seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Selbst aus der Entfernung war deutlich zu sehen, wie er in seiner Bewegung ruckartig erstarrte und sich seine Figur straffte. Er beugte den Kopf vor. Dann ging er einige Schritte und war hinter dicken Baumstämmen für Kirsch immer wieder mal außer Sicht.
»Komm mal schnell, hier liegt etwas!«, rief Striebeck plötzlich viel zu aufgeregt für sein eher bedächtiges Temperament und wedelte hastig mit der linken Hand.
Kirsch runzelte die Stirn, er dachte sofort an den näher rückenden Feierabend. Weil Striebeck nicht der Typ war, der unnötig Alarm schlug, setzte er sich in Bewegung und erreichte ihn nach einigen Sekunden. Der Kollege lehnte mit dem Rücken an einem Baum, ein mittlerweile vertrauter Anblick. Nur starrten diesmal seine Augen ins Leere, und die Rötung im Gesicht war einer ungewöhnlichen Blässe gewichen. Er deutete mit dem Daumen hinter sich.
»Sieh selbst«, stammelte er.
Sebastian Kirsch ging drei Schritte weiter und sah etwas Undefinierbares auf dem Waldboden liegen. Etwas Offenes, wie ausgehöhlt. Er brauchte einen Augenblick, um dieses Etwas als einen aufklaffenden Körper zu identifizieren. Nach oben ragten freigelegte Rippen heraus, an denen noch Gewebefetzen hingen. Ein gerissenes Wildtier, von einem streunenden Hund vielleicht, sagte er sich, weil das Undenkbare einfach nicht sein konnte. Widerstrebend wanderte sein Blick über den aufgebrochenen Brustkorb nach unten. Als er die Reste einer Hose erspähte, musste er die Augen schließen und die aufkommende Übelkeit unterdrücken.
Detlef Schmidtbauer kehrte mit einer Handvoll Akten von der Gruppenleiterbesprechung zurück und nahm, von seinem Bauch behindert, umständlich am Tisch Platz. Thomas Gassner, der ihm gegenübersaß, registrierte, wie Kollege Broder beflissen seine Unterlagen beiseiteschob, um dem Vorgesetzten Platz zu machen. Außer dem leichten Hochziehen einer Augenbraue ließ sich Gassner nichts anmerken. Der Neuzugang in der kleinen Gruppe der Mordkommission, Charlotte Schönfeldt, blickte neutral wie immer. Um die vor einem Monat frisch vom Lehrgang zu ihnen gestoßene Kollegin hatte es vor ihrem Erscheinen lebhafte Diskussionen gegeben, und auch jetzt hatten sich die Gemüter noch nicht beruhigt.
Schmidtbauer, Kriminalhauptkommissar und mit neunundvierzig Jahren knapp zehn Jahre jünger als Gassner, hatte jede sich bietende Gelegenheit genutzt, um bei seinen Vorgesetzten Verstärkung für die Gruppe einzufordern. Als dann die schlanke Kollegin mit den kurzen struppigen Haaren in sein Büro marschiert war, hätte er am liebsten die Zeit zurückgedreht. Charlotte, die sich Lotte nennen ließ, war Berufsanfängerin und musste eingearbeitet werden. Eine unnötige Belastung, wie Schmidtbauer meinte. Vor allem aber entsprach sie nicht seinem Frauenbild und auch nicht dem des ständig wie aus dem Ei gepellt aussehenden Adrian Broder.
Sie wirkte ungepflegt, die streichholzlangen Haare waren meistens ungekämmt. Die löchrige Jeans trug sie bereits den gesamten Monat, falls sie keine weitere identische besaß, und das knittrige und viel zu große T-Shirt ließ an den Ärmelausschnitten immer wieder mal einen BH aufblitzen. An ihren Armen und im Nacken waren Tätowierungen zu sehen. Feine Löcher am Mund und in der Nase deuteten auf Piercings hin, die sie immerhin vor Dienstbeginn entfernte. Lotte wirkte seltsam unnahbar, lachte nie und reagierte auch nicht auf die derben Sprüche von Adrian Broder, der permanent versuchte, sie zu provozieren. Ihre einzige Reaktion war, dass sie sich Situationen, die ihr nicht zu gefallen schienen, entzog. Sie verschwand dann ganz einfach für ein paar Minuten.
Gassner konnte die Ablehnung, die Schmidtbauer und Broder der Kollegin entgegenbrachten, bei jedem Zusammentreffen spüren. Also hatte er beschlossen, sie unter seine Fittiche zu nehmen, bis sie selbstständig arbeiten konnte.
»Wir haben hier einen besonders schönen Fall aufgedrückt bekommen.« Schmidtbauer klappte den Deckel einer daumendicken Akte auf. »Habt ihr bestimmt schon alle in der Presse gelesen.«
Sofort war klar, worauf er hinauswollte. Die Zeitungen überboten sich seit Tagen mit ihren Schlagzeilen. Von einer Invasion der Wölfe war die Rede, das Berliner Umland sei nicht mehr sicher. Eine große Boulevardzeitung warnte sogar vor sportlichen Aktivitäten im Berliner Tiergarten, der mitten in der Stadt gelegen war. Wolfsgegner und Wolfsfreunde überschlugen sich mit ihren Expertisen.
»Es steht inzwischen fest, dass die Frau an Bissverletzungen gestorben ist. An ihrem Leichnam wurden keinerlei Spuren anderweitiger Gewaltanwendungen gefunden. Die Berichte unterstellen, dass sie beim Joggen von Wölfen angegriffen und getötet wurde. Das Bissmuster soll jedenfalls mit dem von Wölfen übereinstimmen. Die entsprechenden DNA-Untersuchungen, um streunende Hunde auszuschließen, stehen noch aus. Aber nach der Bewertung der Tötungsart und den Verletzungen würde es mich überraschen, wenn sich herausstellen sollte, dass Nachbars Pudel die Frau erlegt hat.« Er grinste über seinen eigenen Witz, und nur Adrian Broder lachte mit.
»Wenn das alles schon feststeht, was sollen wir dann noch mit der Akte?«, wollte Thomas Gassner wissen.
»Du weißt doch, wie das läuft. Showprogramm für die Galerie. Ein bisschen ermitteln, Spaziergänger befragen, den Angehörigen ein bisschen was bieten, bis das Ergebnis der feingeweblichen Untersuchungen da ist, und dann einen eleganten Abschlussbericht schreiben. Und danach soll sich die Politik um das Problem kümmern.« Er schaute vornübergebeugt in die Runde. Durch das Neonlicht an der Decke war sein blondes, schütteres Haar kaum zu sehen, die Kopfhaut schimmerte fahl.
»Das wäre doch was für unsere neue Star-Ermittlerin«, ließ sich Adrian vernehmen. »Ein bisschen dumme Fragen stellen und dann einen Bericht schreiben, das müsste sie doch hinbekommen.«
Gassner nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass Lotte ihre linke Faust, die auf dem Oberschenkel lag, so fest zusammenpresste, bis die Knöchel weiß hervortraten.
»Traust du dir das zu?«, wollte Schmidtbauer wissen.
»Natürlich.«
Die Akte wechselte den Besitzer. Lotte schnappte sie sich und war mit ihr so flott verschwunden, dass niemand der Anwesenden noch etwas dazu sagen konnte.
Die restlichen Akten waren schnell verteilt und die Besprechung beendet. Thomas Gassner kam auf dem Weg zurück in sein Büro an Lottes kleinem Raum vorbei. Er klopfte einmal und trat ein, ohne die Antwort abzuwarten. Der Raum war leer. Neugierig blickte sich der Oberkommissar um. Es waren keine persönlichen Gegenstände zu sehen. Ein Schreibtisch, zwei Stühle, Computer – das war alles. Nur die über der Stuhllehne hängende Jeansjacke verriet, dass das Büro belegt war. Gassner drehte sich um und stieß beinahe mit Lotte zusammen, die lautlos von hinten gekommen war.
»Da bist du ja. Wo warst du denn?«
Sie war ein Stück zurückgetreten, um seinen Schritt in ihre Richtung auszugleichen. »Warum? Spionierst du mir nach?«
Er versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, es blieb neutral. Weil er den Blick nicht gleich abwandte, fiel ihm auf, wie ihr rechtes Auge zu blinzeln begann. Sie stand ganz offensichtlich unter großer Anspannung.
»Natürlich nicht. Ich wundere mich nur, dass du regelmäßig verschwindest. Geht es dir nicht gut?«
»Nervöse Reizblase. Zufrieden?«
»He, komm wieder runter. Ich tue dir nichts. Ich bin in diesem Team das kleinste Problem für dich.«
Sie reagierte nicht auf seine Andeutung, sondern schob sich an ihm vorbei, umrundete den Schreibtisch und setzte sich.
»Ist noch etwas?«, fragte sie in genervtem Ton.
»Brauchst du Hilfe bei deinem Fall? Falls ja, weißt du, wo du mich findest.«
Ohne noch einmal aufzuschauen, klappte sie die Akte auf. Gassner musste sich eingestehen, dass er ihre abweisende Art verletzend fand.
»Bist du sicher, gerade diesen Fall der Neuen zu übertragen?«
»Thomas, was willst du? Dieser Fall ist zum Üben genau richtig. Ein Unglücksfall, der noch ein bisschen glatt geschrieben werden muss. Beim Abschlussbericht kannst du ihr ja unter die Arme greifen. Wäre die Frau beim Joggen vor ein Auto gelaufen, hätte das kaum einen interessiert. Ein Dreizeiler in der Zeitung, und das wär’s gewesen.«
»Eben. Genau deshalb kann man sich an diesem Fall gewaltig die Finger verbrennen. Alle wichtigen Leute und die, die sich dafür halten, werden die Ermittlungen beobachten und ihren Senf dazugeben.«
Schmidtbauer grinste nur.
»Sie ist eine Berufsanfängerin, Detlef. Wenn sie es verbockt, wird das auf dich zurückfallen.«
»Das kommt darauf an, wie man es anstellt. Ich sehe den Fall als Chance.«
»Als Chance, sie loszuwerden?«
»Natürlich. Was sonst? Sie hat hier nichts verloren. Schau dir doch mal an, wie sie rumläuft. Sie sieht ja genauso aus wie unsere Klientel.«
»Na und? Ich wusste gar nicht, dass du so oberflächlich bist. Das ist heute so. Die laufen alle so rum.«
Der Vorgesetzte drehte einen Kugelschreiber durch seine Finger, ehe er mit überheblichem Ton antwortete. »Sie ist beinahe dreißig und kein Kind mehr. Sie verschwindet einfach, wenn man ihr einen Fehler erklären will. Lässt einen einfach stehen. Sie kapselt sich völlig vom Team ab. Und deshalb bekommt sie von mir nur noch diese Scheißfälle, bis sie selbst merkt, dass es ein Fehler war, ausgerechnet zu uns zu wollen.«
Lotte hatte sich selbst für die Mordkommission beworben und angegeben, dass sie sich ganz besonders für Vermisstenfälle interessiere. Seit einiger Zeit konnten sich die Berufsanfänger aussuchen, wo sie eingesetzt werden wollten, solange dem keine besonderen Hemmnisse im Wege standen.
»Gib ihr noch etwas Einarbeitungszeit. Wer weiß, aus welchen Verhältnissen sie kommt.«
»Damit kennst du dich ja aus, ich weiß.«
Thomas Gassner ignorierte das hämische Grinsen und verließ das Büro. Schon lange war er nicht mehr in dieser Deutlichkeit mit seiner Vergangenheit konfrontiert worden. Der Siebenundfünfzigjährige war trockener Alkoholiker. Bei Feiern im Kollegenkreis trank er nur Mineralwasser und verschwand bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wieder. Seine Ehe war wegen der Sucht schon vor Jahren gescheitert. Seine Tochter, die jetzt Anfang zwanzig war, hatte sich in dieser Phase völlig von ihm entfremdet. Seine Versuche, den Kontakt nicht abreißen zu lassen, hatte sie teilnahmslos über sich ergehen lassen und kein einziges Mal selbst die Initiative ergriffen, bis er es aufgegeben hatte. Seine Ex hatte längst einen neuen Partner, zum Glück war es kein Kollege von ihm.
Immerhin, so wie die neue Kollegin war seine Tochter nicht geraten. Er redete sich ein, dass sie die Trennung bis auf die Entfremdung ohne größere Probleme überstanden hatte.
Gedankenverloren ging er durch den Flur, der nur von künstlichem Licht erhellt wurde. Erneut betrat er das kleine Büro der Kollegin.
»Lass uns noch mal über den …« Mitten im Satz brach er ab. Das Büro war leer. Lotte war verschwunden, und die Akte lag auch nicht mehr auf dem Tisch.
Lotte Schönfeldt fuhr mit ihrem Bulli weit in den Oberjägerweg hinein, bis sie endlich die Stelle fand, an der vor ein paar Tagen die Dienstwagen der Mordkommission und der Spurensicherung abgestellt worden sein mussten. Der von Reifen völlig zerfahrene Rand des Waldweges ließ kaum eine andere Deutung zu. Sie stellte den Motor ab und schnappte sich die Akte vom Beifahrersitz. Konzentriert blätterte sie durch die Seiten, bis sie die Skizze eines Kollegen fand, die den Weg bis zur Fundstelle der Leiche markierte. Damit sollte sie den Platz finden. Sie stieg aus, ging ums Auto herum und öffnete die Heckklappe. Zwischen zwei eingepackten Luftmatratzen und einer Decke fand sie ihre alten Gummistiefel und wechselte, auf einem Bein hüpfend, das Schuhwerk. Bevor sie losmarschierte, hob sie den Kopf leicht an und lauschte in den Wald hinein. Bis auf munteres Vogelgezwitscher war nichts zu hören. Sie machte sich auf den Weg. Die Akte schob sie vorn in ihren Hosenbund hinein. So behielt sie die Hände frei, für den Fall, dass sich doch noch ein Wolf in der Gegend herumtrieb.
Nach mehr als einer halben Stunde auf dem schmalen Wanderweg verließ sie den ausgetretenen Pfad. Zwei wie ein umgekehrtes »V« als Markierung aufgestellte Stöcke befanden sich noch an ihrem Platz und leiteten sie über den frisch ausgetretenen Waldboden zum Ziel. Reste des rot-weißen Flatterbandes, mit dem der Fundort weiträumig abgesperrt worden war, lagen vereinzelt immer noch herum.
Lotte zog die Akte unter ihrer Kleidung hervor und schlug sie auf. Sie suchte ein Bild von der Auffindesituation der Leiche und verglich es mit dem Jetzt-Zustand. Sie korrigierte ihren Standort, bis sie an der Stelle stand, an der sich zuvor die Füße des Opfers befunden hatten.
Der Ort begann, ihr ein Unwohlsein einzuflößen. Angst wollte sie sich selbst nicht eingestehen. Aber sie spürte, wie die Anspannung größer wurde. Das rechte Augenlid begann wieder zu flattern.
Blödsinn, sagte sie sich selbst. Was soll dir hier schon passieren? Schließlich bist du bewaffnet. Als wollte sie sich selbst beruhigen, tastete ihre rechte Hand unter die Jacke, bis sie den kühlen Stahl der Pistole an den Fingerspitzen spürte.
Durch das konzentrierte Betrachten des aufgewühlten Bodens vor ihren Füßen gelang es ihr, sich auf andere Gedanken zu bringen. Die Erde war zigfach auf Spuren untersucht worden. Sogar eine Metallsonde war dem Bericht nach verwendet worden, um ja jede Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Außer den vielen, sich überlagernden Fußabtritten deutete nichts an diesem Ort darauf hin, dass hier ein Mensch sein Leben gelassen hatte. Lotte begann sich zu fragen, was sie hier erwartet hatte, und erinnerte sich an einen Film, in dem der Ermittler, der gleichzeitig Profiler gewesen war, die Tatorte eines Serienmörders aufgesucht hatte, um seine Spur aufzunehmen. Die Witterung, um so zu denken wie der Täter. Jetzt musste sie erstmals grinsen, seitdem sie durch den Wald gestolpert war. So zu denken wie der Täter. Sie könnte das Wolfsgeheul imitieren. Das wäre immerhin ein Anfang, und hier würde es niemand hören. Vielleicht wäre das befreiend. Erneut hob sie den Kopf und lauschte in den Wald hinein. Etwas war anders als vorhin, aber was?
Dann kam sie drauf. Die Vögel, sie waren verstummt. So, als wären sie abgetaucht und würden mit Spannung auf ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis warten. Das mulmige Gefühl kehrte zurück, stärker als zuvor. Das Auge blinzelte. Es wurde Zeit zu verschwinden.
»Was machen Sie hier?« Die Stimme traf ihre Ohren so unvermittelt wie ein Schlag ins Gesicht.
»Wen geht denn das nichts an?«, brachte sie schlagfertig heraus.
»Mich«, kam prompt die Antwort, die den Hintersinn ihrer Frage vermissen ließ.
Langsam drehte sich die Kriminalkommissarin um. Nur zehn Meter von ihr entfernt stand ein Mann in grünem Jägeroutfit, schweren Stiefeln und einem merkwürdigen Hut, dessen Krempe um den Kopf herum eierte. Ein Gewehr hing über seiner Schulter, der Lauf ragte in den Himmel hinauf. Der Mann schaute energisch aus. Dunkle Haare, dunkler Bart, alles schon deutlich angegraut. Die sechzig hatte er locker überschritten. Das Kinn leicht nach oben gereckt, sah er aus wie jemand, der Menschen führte oder sich zumindest einbildete, etwas zu sagen zu haben.
Verfluchter Mist, dachte Lotte. Ausgerechnet in dieser angespannten Situation musste dieser Heini auftauchen. In der linken Hand hielt sie die Akte, während die Rechte sich zu einer Faust ballte. Die falsche, auch das noch. Konzentriere dich, lass es jetzt nicht raus. Sie spürte, wie sich die Fingernägel in den Handballen gruben, bis es schmerzte.
»Der komplette Waldbereich ist gesperrt. Niemand darf das Gebiet betreten. Haben Sie die Schilder nicht gesehen, die überall stehen?«
Lass mich doch zufrieden, du …
»Nein. Ich war bestimmt zu schnell mit dem Auto unterwegs.«
Sie konnte sehen, wie ihr Gegenüber nach Luft schnappte. Sie durfte ihn nicht provozieren, musste zusehen, dass sich die Lage entspannte, so schwer es ihr auch fiel. Die Situation würde sonst eskalieren. »Ich bin von der Kripo. Mordkommission Berlin.«
Über sein Gesicht huschte ein spöttisches Grinsen, sein Blick wanderte von ihrer Tätowierung am Hals nach unten und blieb auf ihrem Knie hängen, beim größten Loch in der Jeans.
Tu was, bevor es passiert, Lotte.
Mit der Akte in der Hand zog sie die Jacke so weit zur Seite, dass er das Schulterholster mit der Waffe sehen konnte. »Das hier ist die Ermittlungsakte über den Fall.«
Er begann, es zu glauben, und auch Lotte entspannte sich so weit, dass sie die Faust lösen und mit zwei Fingern in ihrer rechten Hosentasche fischen konnte, bis sie die Marke erwischte. »Hier, meine Kripomarke. Falls Sie immer noch Zweifel haben.«
Er trat näher und warf einen Blick darauf. »Sie bluten an der Hand«, meinte er nur.
Erst jetzt bemerkte sie die Hautverletzung durch die zu langen Fingernägel der rechten Hand. Es war unglücklich gewesen, dass sie nicht die linke Hand hatte benutzen können. Auf der linken Seite war sie immer vorbereitet, hielt die Nägel kurz.
Der Mann stellte sich ihr als Förster vor und begleitete sie ein Stück in Richtung ihres abgestellten Autos.
»Wie viele Wölfe gibt es hier?«, fragte Lotte.
»Es gibt keine Wölfe im Spandauer Forst.«
»Ach ja?« Lotte betrachtete skeptisch den Mann in Grün und rief sich die Bilder von der Toten ins Gedächtnis, die zerbissene Kehle, der aufgebrochene Unterleib. »Wissen das die Wölfe auch?«
»Hier im Forst gibt es keine. Das ist ja das Merkwürdige. Wir hatten im benachbarten Tegeler Forst eine einzige Wolfssichtung, ein Jungtier, das allein unterwegs war. Aber das war scheu und ist gleich wieder verschwunden. Es ist hier definitiv nicht sesshaft geworden und war offensichtlich auf Wanderschaft.«
»Aber die Frau wurde von Wölfen angefallen. Das gilt als sicher.«
»Ja. Das ist unerklärlich für uns. Im Umland, in Brandenburg, haben sich mittlerweile zweiundzwanzig Rudel angesiedelt. Aber verteilt auf einem riesigen Gebiet.«
Er legte ein Tempo vor, das Lotte mit ihren zu weiten Gummistiefeln kaum mithalten konnte. Sie kam sich plötzlich vor wie ein Kind, das Mühe hatte, dem Vater zu folgen. Nebenbei erfuhr sie, dass er Gerhard Rode hieß, Förster für das Gebiet und gleichzeitig der Vorgesetzte der beiden Forstarbeiter Kirsch und Striebeck war, die die Leiche gefunden hatten. Der von ihm vorgeschlagene Austausch von Visitenkarten kam ihr wie eine Verletzung des persönlichen Intimbereichs vor.
»In Griechenland ist im vergangenen Jahr auch eine Frau von Wölfen getötet worden«, warf Lotte ein.
»Das hieß es, ja. Aber dann hat man nichts mehr davon gehört. Es sollte DNA-Analysen geben. Ich kenne aber das Ergebnis nicht. Gibt es hier schon eine Analyse? Dürfen Sie mir das überhaupt sagen?«
»Das Ergebnis ist noch nicht da. Nur die Bissverletzungen sind begutachtet worden, demnach waren es mehrere Wölfe.«
»Theoretisch könnte es auch ein großer Hund gewesen sein, der sie totgebissen hat. Und anschließend wurde sie von durch die Gegend streunenden Wölfen angefressen. Schon haben Sie Wolfs-DNA an der Leiche.«
Wo hast du gestern gesteckt?«
Thomas Gassner war klar gewesen, dass Detlef die Kollegin sofort anblaffen würde, sobald sie auftauchte. Er hätte sie gern vorgewarnt, nur war sie wie so oft als Letzte in der kleinen Runde aufgekreuzt und hatte sich mit knappem Gruß auf ihren Platz gesetzt. Gassner sah, dass sie sich anspannte, sie zwinkerte wieder. Die linke Hand verschwand unter dem Tisch. »Auf Ermittlung. Frau, tot, Wölfe. Schon vergessen?«
»Du kannst nicht einfach so verschwinden, ohne jemandem etwas zu sagen.«
»Muss ich mich abmelden, ja?«
»Natürlich. Wir müssen wissen, wo du bist.«
»Warum? Wir sind doch nicht im Kindergarten, oder doch?« Es war das erste Mal seit ihrer Zeit in der Moko, dass Lotte mehrere Sätze hintereinander sprach.
Detlef Schmidtbauers Gesicht verfärbte sich immer mehr. Während er sprach, nickte sein Nachbar Adrian beflissen. »Es geht hauptsächlich um deine Sicherheit, verdammt! Stell dir vor, wir müssten dir dringend Hilfe leisten. Oder du musst uns unterstützen und kein Mensch erreicht dich. Es gehört zu den Gepflogenheiten dieser Dienststelle, dass man jederzeit weiß, wo die Kollegen stecken, klar?«
Lotte nickte, während ihr Blick stur auf einen imaginären Punkt auf dem Tisch geheftet war. Sie presste ihre Zähne aufeinander, der Kiefer mahlte. Deutlich war das Spiel der Kaumuskeln in ihrem hageren Gesicht zu sehen.
»Womit warst du überhaupt unterwegs?«, brachte sich Adrian Broder ins Gespräch ein. »Von unseren Dienstwagen fehlte keiner.«
»Wen geht das nichts an?«
»Mich«, fiel auch Schmidtbauer auf ihr Wortspiel herein.
Ihre Stimme bebte, und Gassner hatte das Gefühl, dass sie gleich explodieren würde. »Mit meinem Wagen natürlich.«
»Mit der Nuttenkarre?«, mischte sich wieder Adrian ein.
»Ja«, presste Lotte heraus und sprang auf. Bevor noch jemand etwas sagen konnte, war sie auch schon verschwunden.
Thomas Gassner schloss die Tür zu seinem Büro nicht vollständig. Er wollte hören, wenn Lotte zurückkehrte. Die kurze Frühbesprechung war nur Minuten nach ihrem abrupten Abgang beendet worden, nachdem allen klar geworden war, dass sie nicht einfach nur auf die Toilette verschwunden war. Schmidtbauer hatte noch etwas vor sich hin geschimpft, sich aber schnell beruhigt. Vermutlich hatte er den Zwischenfall insgeheim zufrieden registriert. Die Kollegin arbeitete ihm direkt in die Hände.
Eine Tür wurde leise geöffnet und sofort wieder geschlossen. Sie war zurück. Gassner stand sofort auf und ging hinüber. Er klopfte nicht einmal, sondern drückte sofort die Tür auf.
Lotte war im Begriff, sich hinter den Computer zu setzen. Erschrocken blickte sie auf, starrte ihn feindselig an. Ihre Augen waren gerötet, als hätte sie geweint.
»Was ist?« Ihr Ton war wie vorhin, rotzig und abweisend. Die Hände jedoch verrieten ihre Unsicherheit. Sie waren unablässig in Bewegung und kneteten einander.
»Ich glaube, wir müssen uns mal unterhalten.«
»Warum? Über den Fall?«
»Nein, über dein Verhalten und darüber, dass du dir damit keine Freunde machst.«
»Ich will mir keine Freunde machen. Hier jedenfalls nicht.«
»Das glaube ich dir sofort. Aber wenn du so weitermachst und dich nicht wenigstens ein bisschen an die Regeln hältst, wirst du nicht mehr lange hier sein. Und ich glaube, dass du das auf keinen Fall willst.« Diese Worte schienen sie zu erreichen, zumindest erwiderte sie nichts Abweisendes, sondern starrte auf den Tisch. »So wie es im Moment aussieht, bin ich der Einzige hier, der nicht will, dass sie dich versetzen oder noch schärfere Geschütze auffahren. Lass dir von einem erfahrenen Kollegen ein paar Tipps geben. Hör sie dir wenigstens an, dann kannst du immer noch entscheiden, ob du sie annimmst oder nicht.«
Lotte saß vor der aufgeklappten Akte. Sie schaute zwar darauf, aber ihre Gedanken waren ganz woanders. Sie dachte über den älteren Kollegen nach. Er war bislang tatsächlich der Einzige, der in ihrer Gegenwart noch keinen dummen oder zotigen Spruch abgelassen hatte. Was sie von seinem Angebot halten sollte, wusste sie nicht. Er war alleinstehend. Wer weiß, vielleicht versuchte er auf die Kumpel-Tour, bei ihr zu landen. Derartige Versuche hatte sie schon während des Studiums und erst recht während der Praktika erlebt. Natürlich spürte sie, dass der Start in der Ermittlungsgruppe, die sie sich selbst ausgesucht hatte, mehr als unglücklich verlaufen war. Mitten in diese Überlegungen platzte das Klingeln des Telefons.
»Sind Sie die Ermittlerin, die diesen Wolfsfall bearbeitet?«, schnarrte eine unangenehm klingende Stimme. Definitiv ein älterer Mann.
»Wer will denn das wissen?«
»Wer das wissen will? Also hören Sie mal.« Der Ton wurde um eine weitere Nuance unfreundlicher. Lotte zeigte sich unbeeindruckt. Die Wartezeit bis zum Beginn des Studiums bei der Polizei hatte sie in einem Callcenter überbrückt, schwierige Kunden waren an der Tagesordnung gewesen.
»Wollen Sie mir jetzt sagen, wer Sie sind und was Sie wollen?«
»Ihr Ton wird noch ein Nachspiel haben. Ich bin Präsident des Landwirtschaftsverbandes …« Die Kommissarin inspizierte ihre Fingernägel, während der Anrufer sie mit einem ganzen Schwall von Titeln überschüttete. Ein Adelstitel und ein zum im Namen, so viel blieb immerhin hängen. »Und jetzt komme ich zum eigentlichen Grund meines Anrufes.«
»Das hätten wir schon vor Minuten haben können«, fiel ihm die Angerufene ins Wort.
Diesmal ließ er sich nicht aus dem Konzept bringen. »Es dürfte ja wohl hoffentlich klar sein, dass es Wölfe waren, die diese arme Frau ums Leben gebracht haben.«
»Sie scheinen das besser zu wissen als wir von der Polizei.«
»Genau. Und ein anderes Ergebnis ist von unserer Seite aus auch nicht akzeptabel, verstehen Sie. Denn …«
»Nein. Das verstehe ich nicht.«
»Sie werden doch nicht allen Ernstes behaupten, dass etwas anderes dabei herauskommt. Und wenn doch, dann haben Sie nicht alle Tassen im Schrank.«
»Mit den Tassen und dem Schrank sollten Sie bei sich selbst anfangen. Und falls Sie noch irgendwelche berechtigten Fragen haben, wenden Sie sich an unsere Pressestelle.
Auf Wiederhören.«
Die kleine Bar war Thomas Gassners Vorschlag gewesen, ein Treffen an einem neutralen Ort nach Feierabend. Nur widerwillig hatte Lotte zugestimmt. Und sie hatte aufgerüstet. Piercings an der Unterlippe, an den Nasenflügeln und ein großes auf der Zunge, das beim Sprechen deutlich vernehmbar gegen die oberen Zähne stieß. Wenn die anderen Kollegen sie so sehen würden, dachte Thomas, der bemüht war, nicht auf diese Blickpunkte in ihrem Gesicht zu starren. Stattdessen lenkte er sich mit seinem Mineralwasser ab. Für Adrian wäre es der perfekte Anlass für weitere Sticheleien unterhalb der Gürtellinie. Lotte hatte so viel Kajal und Wimperntusche aufgetragen, dass sich die Wirkung ihres Gesichtes völlig verändert hatte. Der ausdruckslose Blick war verschwunden, sogar, wenn sie normal schaute, schienen die hellblauen Augen zu funkeln.
»Der Typ wird Ärger machen, ganz bestimmt. Mach dir vorsichtshalber eine Gesprächsnotiz. Von diesen Anrufen werden noch einige kommen. Die Tatsache, dass Wölfe einen Menschen getötet haben, bringt die Volksseele zum Kochen. Das kann man täglich in der Presse verfolgen.«
Lotte runzelte die Stirn. »Ist es denn eine Tatsache?«
»Ich glaube schon. Der Obduktionsbericht lässt keinen anderen Schluss zu, und soweit ich weiß, ist es eindeutig Wolfs-DNA.«
»Woher weißt du das? Ich habe das Ergebnis noch nicht bekommen.«
»Bekommst du morgen, ganz sicher.«
Sie schlug vor Wut mit der flachen Hand auf den Tresen, einmal, zweimal, dreimal. Die Bedienung und einige andere Gäste drehten den Kopf in ihre Richtung.
»Beruhige dich. Wenn man so wie ich viele Jahre auf dieser Dienststelle ist, dann hat man natürlich seine Quellen und ist für die auch der Ansprechpartner, wenn sie schnell etwas loswerden wollen.«
Ihre Augen funkelten ihn an, bevor sie vom Barhocker sprang und in Richtung Ausgang stapfte. Erst unmittelbar vor der Tür schwenkte sie nach links und verschwand in dem Gang, der zu den Toiletten führte.
Thomas Gassner nippte an seinem Mineralwasser und wartete geduldig. Sie konnte sich schließlich nicht ewig verstecken. Nach beinahe zehn Minuten tauchte sie wieder auf. Das Gesicht nach unten gerichtet, nahm sie wieder auf dem Hocker Platz und knetete nervös die Hände.
»Na, beruhigt?«
»Wie meinst du das?«
»So, wie ich es sage. Jedes Mal, wenn dich etwas ärgert, verschwindest du. Zeig mal deine Hände.« Ihm waren Rötungen aufgefallen, deshalb griff er nach ihrer linken Hand und wollte sie drehen, um die Knöchel zu sehen. Langsam erkannte er ein Muster in ihrem Verhalten.
»Fass mich nicht an«, zischte sie gefährlich. »Niemand fasst mich an.«
»Beruhige dich, ich will dir nichts Böses. Du musst versuchen, dich besser unter Kontrolle zu bekommen.«
Sie hob abwehrend die Hände, wollte von diesem Thema nichts mehr hören. Er konnte jetzt erkennen, dass ihre Augen nicht gerötet waren. Dafür aber die Knöchel, gerötet und geschwollen. Sie hatte mit den Fäusten gegen irgendetwas geschlagen, musste regelrecht getrommelt haben. Er beobachtete, wie sie hastig einen großen Schluck Cola trank.
»Kommen wir zurück zu den Wölfen. Normalerweise könntest du die Akte jetzt zumachen, wenn du morgen das Ergebnis bekommst. Aber Detlef wird noch etwas Ermittlungsarbeit drum herum erwarten.«
Sie nickte. »Ich werde morgen versuchen, ein paar Bekannte der Frau abzuklappern.«
»Aber melde dich ordnungsgemäß ab und nimm nicht wieder dein eigenes Auto. Das ist hier nicht üblich, so etwas gibt es nur im Film.«
Das Licht bewegte sich nicht. Es blieb immer gleich, ohne eine Veränderung, wurde weder heller noch dunkler. Der einzige Orientierungspunkt war eine trübe Lichtquelle, auf die sie sich zubewegen sollte. Aber es geschah nichts. Und es gab nichts außer diesem einen Licht. Kein Geräusch, kein Plätschern von Wasser, nur absolute Stille. Langsam wurde ihr kalt, und mit der Kälte löste sich Stück für Stück die Starre, die sie erfasst hatte und gegen die sie sich nicht wehren konnte. Ihre rechte Hand fuhr über den linken Arm, versuchte, ihn durch Reiben ein wenig zu wärmen, aber das war nur eine automatische Reaktion des Körpers, noch nicht von ihr gesteuert. Sie fühlte nur, spürte ihren Herzschlag, ein Gefühl, als wolle die Brust bersten. Der Atem ging schnell, wie ein Hecheln. Herzschlag, Kälte, Atem, die Empfindungen kehrten zurück, und mit ihnen die Erleichterung.
Endlich wurde es klarer, das Bewusstsein schob sich wieder über diesen Traum, ganz langsam nur. Sie saß nicht in einem kleinen Boot auf einer dunklen, unbekannten Wasserfläche, sondern auf dem Bett. Im Schneidersitz auf dem Bett starrte sie auf das schwache Licht der Wandlampe.
Diesen Traum hatte sie unzählige Male in der Pubertät geträumt. Er begann immer mit einem unsichtbaren Verfolger, ein Schatten nur, wie ein Fabelwesen. Dann veränderte sich ihr Herzschlag, schmerzhaft und laut, in der Brust und in den Ohren. Gefolgt von diesem Wachtraum, der sie wie paralysiert auf dem Bett hocken ließ. Er war zurückgekehrt, seit einiger Zeit schon. Das war ein Zeichen, ganz sicher. Es würde jetzt bald etwas passieren.
Lotte schlang die Arme um den Oberkörper, rieb sich beide Oberarme warm. Dann fiel ihr etwas ein, erschrocken blickte sie sich um. Der Kollege von gestern. War etwas passiert?
Das Bett war leer, sie befand sich allein darin, und nichts deutete darauf hin, dass es zwischendurch anders gewesen sein könnte. Ihre Hand fuhr unter den Slip zwischen die Beine, nichts. Gott sei Dank.
Angestrengt versuchte sie, sich an den Ausgang des vorherigen Abends zu erinnern, es dauerte lange. Mit reichlich Wodka-Energy hatte sie das Gespräch mit dem Kollegen daheim vor dem Fernseher Revue passieren lassen.
Nach dem vierten oder fünften Getränk verschwammen die Erinnerung und das Gesicht des Kollegen in einem dunklen Nichts. Zurück blieb nur der schale Geschmack von zu viel Wodka-Energy im Mund. Sie beugte sich zur Seite und zog die oberste Schublade des Nachtschrankes auf. Zielsicher erwischten ihre Fingerspitzen eine in Folie eingeschlagene Fotografie. Eine Farbaufnahme, die Jahre hatten es verblassen lassen. Es zeigte eine Frau mit gewelltem, blondem Haar. Sie lachte in die Kamera und schien mit ihrem Aussehen zu kokettieren, als würde sie in einen Spiegel schauen. Der unmodernen Kleidung nach war es etwa dreißig Jahre alt, in diesem Alter musste sich die Frau zur Zeit der Aufnahme befunden haben.
Als ihr Blick auf das Bild fiel, liefen ihr Tränen über die Wangen, immer mehr, bis ihr lautloses Weinen in ein Schluchzen überging, das den Oberkörper durchschüttelte. Erst als sie das Bild an ihre Brust drückte, ließ der Weinkrampf nach, und sie begann, eine leise Melodie zu summen. Irgendwann schlief sie wieder ein.
Sie tauchte als Letzte in der kleinen Runde auf, und auch das nur, weil sie es zwar noch unter die Dusche geschafft, aber nicht mehr die Haare getrocknet hatte. Während sie sich unter dem unfreundlichen Blick des Gruppenleiters auf ihrem Platz niederließ, fiel ihr ein, dass ihr in der Hektik des Morgens ein weiteres Detail entgangen war.
Die Piercings.
»Ich wusste gar nicht, dass du unter die Schrottis gegangen bist mit dem ganzen Altmetall im Gesicht«, stänkerte Adrian bereits. Immerhin sagte er Gesicht und nicht Visage.
Detlef Schmidtbauer blickte auf, anscheinend war es ihm noch gar nicht aufgefallen. Kopfschüttelnd widmete er sich wieder seinen Unterlagen.
Die kurze Frühbesprechung lief ab wie jeden Morgen. Ein minutenlanger Monolog von Schmidtbauer, der die eingegangene Arbeit unter den Kollegen verteilte. Nur für sie war nichts dabei, vielleicht hatte sie deshalb schon abgeschaltet und bekam nicht mit, dass er sie ansprach.
»Was ist los, Charlotte Schönfeldt? Schläfst du noch?«
»Nein. Was ist denn los?«
Wieder schüttelte der Vorgesetzte den Kopf. »Ich habe dich gefragt, was dein Wolfsfall macht. Hast du noch etwas rausbekommen?«
»Nein, gar nichts. Ich warte auf das Untersuchungsergebnis und klappere heute noch ein paar Freunde von der Frau ab.«
»Ooooh«, grinste er sie an. »Soll das so etwas wie eine offizielle Abmeldung sein? Ein Hinweis, wo du dich heute rumtreiben wirst.«
»Ja«, brachte sie, so neutral es ihr möglich war, heraus.
»Leg mir einen Zettel hin, wo du bist und wie man dich erreichen kann. Alles nur zu deiner eigenen Sicherheit.«
Sie hatte im Vergleich zu allen anderen Mietern die längste Zeit in dem Haus in der Herzbergstraße gelebt, nur ein einzelner Mann hatte ähnlich lange dort gewohnt, war aber noch vor der Frau verzogen. Es passte sich gut. Von einer weiblichen Person, mit etwas Glück einer Hausfrau, erhoffte sie sich am ehesten Antworten auf ihre Fragen. In den Unterlagen des Einwohnermeldeamtes fand sich kein Hinweis auf eine vorherige Meldeadresse. Alles deutete also darauf hin, dass die Frau bereits vor dem Fall der Mauer unter der Anschrift gelebt hatte. Lotte drückte auf die Klingel und spürte ein flaues Gefühl im Magen. Vielleicht machte sie endlich den erhofften nächsten Schritt in ihren Bemühungen. Schon die spärlichen Recherchemöglichkeiten der vergangenen Wochen in den Polizeidateien hatten sie weiter gebracht als sämtliche Nachforschungen der vergangenen Jahre. Die Person, vor deren Tür sie stand, musste jetzt achtundsiebzig Jahre alt sein. Hoffentlich noch fit und willens genug, sich an die alten, längst vergangenen Zeiten zu erinnern.
Als hätte jemand in der Wohnung auf Besuch gewartet, war eine Stimme im Flur zu hören, und die Tür wurde geöffnet. Eine auffallend große Frau stand vor Lotte, etwas füllig und sehr gepflegt. Die grauen Haare waren sorgfältig frisiert, und mit dem eng anliegenden Rock und der wie frisch aufgebügelt wirkenden Bluse hätte sie sofort gesellschaftliche Verpflichtungen übernehmen können.
»Was kann ich für Sie tun, mein Kind?«, übernahm Frau Theiler sofort die Initiative und blickte sie aus hellen, wachen Augen an.
Diese Frau war bei klarem Verstand und stand noch mitten im Leben, konstatierte Lotte und spielte sofort mit offenen Karten. »Sie haben zur Wendezeit in der Herzbergstraße gelebt, deshalb bin ich hier. Ich suche eine Frau, die dort ebenfalls gewohnt haben muss, vielleicht können Sie mir weiterhelfen.«
Das schien überzeugend und vor allem vertrauensbildend geklungen zu haben. Lotte wurde in eine mit Antiquitäten vollgestopfte Wohnung gebeten und musste sich auf einem plüschigen Sofa im Wohnzimmer entscheiden, ob sie lieber Tee oder Kaffee trinken wollte.
»Wie heißt denn die gute Frau, die Sie suchen?« Als dampfende Tassen auf dem kleinen Beistelltisch standen, nahm Elisabeth Theiler den Gesprächsfaden sofort wieder auf. »Wie heißt denn die gute Frau, die Sie suchen?«
»Den Namen habe ich leider nicht, den möchte ich gern von Ihnen wissen. Ich habe nur dieses ältere Bild. So müsste sie damals ausgesehen haben.«
Die alte Dame setzte sich eine Brille auf, die die Eitelkeit zuvor in einer Schublade hatte verschwinden lassen. Lange studierte sie die Fotografie und schaute dabei wieder und wieder zu Lotte. Der kam es vor, als riefe die Frau sich die alte Zeit und die Wechsel der einzelnen Mieter in Erinnerung. Vor Aufregung hielt sie es kaum aus. Sie spürte, dass sie sich konzentrieren musste, und ballte vorsorglich die Faust, um das Zwinkern des Auges zu unterdrücken.
»Sie war sehr attraktiv. Genau wie Sie, mein Kind.«
Lotte lächelte pflichtschuldig. Dass sie gut aussah, sagten ihr meistens nur Kerle, die sie zu fortgeschrittener Stunde ins Bett bekommen wollten.
»Nein, wirklich. Ich meine das ernst. Sie verstecken sich nur hinter Ihrer burschikosen Maske. Wenn Sie sich Ihre Haare wachsen ließen und, entschuldigen Sie, diese furchtbaren Metalldinge aus dem Gesicht entfernten, Sie würden sich über Ihre Wirkung wundern.« Frau Theiler schaute wieder auf das Bild und schüttelte den Kopf. »Diese Frau kenne ich leider nicht. Sie hat in der Zeit, in der ich dort gewohnt habe, nicht in dem Haus gelebt, und das waren einige Jahre. Und ja, ich bin mir sicher. Ich habe ein ausgezeichnetes Personengedächtnis. Aber mir fällt etwas anderes auf, je länger ich das Bild betrachte.« Sie schaute wieder zu Lotte. »Sie sieht Ihnen sehr ähnlich, meine Liebe. Die Augen und die Nase, ganz eindeutig. Kann es sein, dass es sich bei der Frau auf dem Bild um Ihre Mutter handelt?«
Lotte war viel zu verblüfft, um es abzustreiten. Die alte Frau nickte wissend und klopfte ihr mit der linken Hand auf den Handrücken.
»Die Wendezeit und die Zeit davor hat vielen von uns große Opfer abverlangt«, fuhr sie fort und sagte Lotte damit, dass sie gar nicht tiefer in sie eindringen wollte. »Mir fällt ein Name ein. Ein Mann weiß ganz bestimmt, wer die Frau auf dem Bild ist oder war. Die Frage ist nur, ob er Ihnen helfen wird. Können kann er es ganz bestimmt.« Sie beugte sich vor und begann zu flüstern. Ihre hellblauen Augen strahlten dabei. »Marian Sand. Aber sagen Sie niemandem, dass ich Ihnen den Namen genannt habe.«
»Wer ist dieser Mann?« Lotte erinnerte sich an den Namen, es war der Mann, der ähnlich lange wie die alte Dame im Haus gewohnt hatte.
»Fragen Sie lieber, was dieser Mann war. Er wohnte die ganzen Jahre gleich neben dem Eingang und hat alles mitbekommen, was in unserem Block vor sich gegangen ist. Hat Listen geführt, die Nase überall reingesteckt und war immer als Erster da, wenn etwas passiert ist. Er müsste etwas jünger sein als ich. Ich habe ihn ewig nicht gesehen, mit etwas Glück lebt er noch.« Die alte Frau beugte sich noch weiter vor und erfasste Lottes Unterarm. »Seien Sie vorsichtig, die alten Seilschaften funktionieren immer noch, und lassen Sie sich nicht täuschen. Er war einer von denen, ganz sicher.« Sie formte mit der Hand einen Trichter und hielt ihn ans Ohr.
Lotte saß nach dem Gespräch wie betäubt in ihrem Bulli. Ihr Atem ging hechelnd, das Blinzeln des rechten Auges ignorierte sie. Da war sie endlich, die so lange gesuchte Spur. Die Bruchstücke ihrer wenigen Kindheitserinnerungen begannen, sich zu einem Bild zu formen. Ihre Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. So hatte man es ihr erzählt, als sie alt genug war, um Fragen zu stellen. Erst viel später hatte Lotte heimlich einen kurzen Blick in ihre Heimunterlagen werfen können und gesehen, dass die Sterbedaten ihrer Eltern zwei oder drei Jahre auseinanderlagen. Genau wusste sie es nicht mehr, und niemand konnte oder wollte ihr mehr darüber erzählen.
Erst die beiläufige Bemerkung eines anderen Mädchens im Heim hatte Zweifel in ihr geweckt, die wie ein Stachel in ihr bohrten: »Wessen Eltern sind denn schon bei zwei Unfällen gestorben? Du willst dich doch nur wichtigmachen.«
Ein Stasimann im Umfeld ihrer Mutter. Das musste die Spur sein. Entschlossen schlug sie mit der Hand auf das Armaturenbrett.
Die aktuelle Adresse von Marian Sand herauszubekommen, war das kleinste Problem gewesen. Vorsorglich hatte Lotte die Adresse überprüft, im Internet recherchiert. Verbessert hatte sich seine Wohnsituation nicht, vom Plattenbau in ein Abbruchhaus.
Und das Gebäude sah noch genauso abgerissen aus wie auf den alten Bildern, die sie gesehen hatte. Als wäre die Zeit stehen geblieben, und als hätte es die Wende mit all ihren Veränderungen nie gegeben. Schmutziger, abblätternder Putz, Holzfenster mit aufgeplatzten Lackschichten, die Treppenstufen im Haus von unzähligen Schritten rund geschliffen. Aufgebrochene Briefkästen, deren Inhalt herausquoll, Dreck und Unrat vor dem Haus und im Inneren.
Mit vor Aufregung klopfendem Herzen, aber gleichzeitig zufrieden über den Fortschritt ihrer Nachforschungen, stapfte Lotte in den zweiten Stock. Dann stand sie vor einer grau lackierten Tür. Die schrille Klingel war selbst im Treppenhaus deutlich zu hören. Weil sich ihrem Empfinden nach in der Wohnung nicht schnell genug etwas rührte, klingelte sie erneut, diesmal länger und energischer. Gleichzeitig trat sie mit ihren Schnürstiefeln gegen die Tür. Endlich war ein Schlurfen zu hören, das sich näherte. Der Türspion verdunkelte sich.
»Nun machen Sie schon auf! Ich sehe doch, dass Sie da sind!«, rief sie ungeduldig und trat erneut gegen die Tür.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?« Die brüchige Stimme eines alten Mannes, unsicher und verängstigt.
»Polizei! Öffnen Sie die Tür.« Sie staunte selbst, wie natürlich ihr diese selbstbewussten Worte über die Lippen gekommen waren. Nur in der Wohnung schienen sie nicht die erhoffte Wirkung zu erzielen. Es blieb still. »Nun machen Sie schon auf, verdammt! Ich habe es eilig, Mann.« Wieder latschte sie mit dem rechten Fuß gegen das Türblatt.
»Was wollen Sie von mir?«
Lotte verdrehte die Augen und atmete tief durch. Dann schlug sie mit der flachen Hand gegen die Wand dicht neben dem Klingelknopf. »Ich muss Ihnen Fragen stellen und ein Bild zeigen. Jetzt öffnen Sie schon! Hier, schauen Sie mal richtig durch Ihr Guckloch. Hier ist meine Dienstmarke.«
Sie hielt die Kripomarke mit einigen Zentimetern Abstand vor den winzigen Türspion und hoffte, dass sie vollständig zu sehen war.
»Drehen Sie sie etwas, ich sehe nichts. Es ist alles nur dunkel.«
Sie stutzte. Täuschte sie sich, oder war die Stimme plötzlich fester als zuvor? Sie schwenkte die Marke hin und her, und dann endlich hörte sie das metallische Klappern einer Sicherheitskette. Schwerfällig bewegte sich ein Schließzylinder, und endlich schwang die Eingangstür ein Stückchen nach innen.
Der Mann, der vor ihr stand, stützte sich mit der rechten Hand auf einem Gehstock ab. Er trug ein blau kariertes Hemd und eine schwarze Jogginghose, die von Hosenträgern gehalten wurde. Seine Füße steckten ohne Socken in braunen Pantoffeln. Schütteres und etwas zu langes Haar stand wirr vom Kopf ab. Er sah aus, als hätte er gerade ein Nickerchen gemacht.
Sie wollte sich an ihm vorbei in die Wohnung drücken, er aber blieb stur stehen und hielt mit der linken Hand die Tür fest in ihrer halb geöffneten Position.
»Herr Sand, Sie sind doch Marian Sand, oder?« Sie machte wieder einen Schritt rückwärts. So dicht wollte sie dem Alten nicht auf die Pelle rücken. Er roch säuerlich, wie jemand, der sich lange nicht gewaschen hatte. »Ich will Ihnen nur ein Bild zeigen von einer Frau. Sie sind mich gleich wieder los.«
»Von einer Frau?« Jetzt sprach er mit dieser heiseren, brüchigen Stimme wie am Anfang. Lotte schaute in sein Gesicht. Ihr Gefühl sagte ihr, dass irgendetwas im Verhalten dieses Mannes nicht stimmig war. Spielte er ihr den verletzlichen Alten nur vor? Sein Blick aber war trübe und völlig desinteressiert. Wahrscheinlich täuschte sie sich.
»Ja, eine Frau.« Sie zog das wellige Bild aus der Tasche. »Sie war mal eine Nachbarin von Ihnen, vor der Wende. Sie müssen Tür an Tür gewohnt haben in der Herzbergstraße. Sie wissen doch noch, Berlin-Lichtenberg, Plattenbau.«
»Das ist lange her«, sagte er mit wackelndem Kopf, ohne sich das Bild anzuschauen.
»Hier, nun werfen Sie wenigstens mal einen Blick darauf.« Sie hielt ihm das Bild dicht vor das Gesicht, um es dann so weit zurückzuziehen, dass er es erkennen konnte.
»Kenne ich nicht. Habe ich nie gesehen.«
»Das kann nicht sein, schauen Sie noch mal genauer hin.«
»Nein, kenne ich nicht.« Seine Stimme wurde wieder energischer. »Wie soll sie denn heißen?«
Lotte ging nicht auf seine Frage ein. Sie ärgerte sich, denn von diesem Besuch hatte sie sich mehr versprochen.
»Kennen Sie noch Nachbarn aus der Zeit damals? Wissen Sie, wo die abgeblieben sind?«
Er zuckte mit den Schultern. »Sind alle weggemacht. Rüber in den Westen. Von denen habe ich niemanden mehr gesehen.«
»Es können ja nicht alle abgehauen sein. Los, schauen Sie noch mal genau hin«, versuchte sie es erneut und hielt ihm das Bild noch einmal vor das Gesicht.
»Nein, verdammt! Ich kenne diese Frau nicht. Wer ist sie? Was hat sie getan, dass die Polizei hinter ihr her ist? Sind Sie von den Politischen?«
Lotte spürte, wie Ärger in ihr aufstieg. Vorsorglich presste sie mit der linken Hand eine Faust. Von diesem störrischen Alten hatte sie sich mehr Antworten erhofft. Während sie dem Mann mit einem Fuß in seiner Wohnung gegenüberstand, überlegte sie, wie sie weiter vorgehen wollte.
Das Klingeln des Diensthandys kam so überraschend, dass sie ihre Jackentaschen nach dem Gerät abklopfen musste, bis sie es fand. Weil sie dabei unbewusst einen Schritt rückwärts machte, fiel im nächsten Augenblick die Tür zu. Der Alte war weg, und so, wie der Typ drauf gewesen war, würde er die Tür so bald nicht wieder öffnen. Erstaunlich war aber seine schnelle Reaktion. Ganz so hilflos, wie er vorgab, war er mit Sicherheit nicht.
»Ja, was ist?«, knurrte sie unfreundlich in den Apparat in der Annahme, es würde sich um einen Kontrollanruf ihres Vorgesetzten oder seines Vasallen handeln.
»Spreche ich mit Frau Kriminalkommissarin Schönfeldt?«, hörte sie eine gestelzte männliche Stimme, die ihr bekannt vorkam, ohne dass sie sie einordnen konnte.
»Ja, klar. Wer ist denn da?« Die linke Faust ballte sich wieder zusammen. Die Nägel gruben sich in den Handballen.
»Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Hier ist Gerhard Rode.« Sie grübelte, und weil sie nicht sofort antwortete, redete er weiter. »Der Förster aus dem Spandauer Forst. Sie erinnern sich bestimmt, wir haben die Visitenkarten ausgetauscht.«
»Aber auf der steht nicht meine Handynummer.«
»Nein, die habe ich von Ihrem Kollegen bekommen. Ein sehr freundlicher Mensch«, warf er ein, »dieser Herr Border oder so.«
»Was kann ich für Sie tun?«, schaffte sie immerhin einen neutralen Ton, ohne auf die falsche Namensnennung einzugehen.
»Sie müssen in den Wald kommen, und zwar so schnell wie möglich. Hier schleichen in der Nähe der Fundstelle merkwürdige Typen rum.«
Darauf würde ich wetten, dachte sich Lotte. Gekleidet in grünem Loden und mit Gewehren über der Schulter.
»Zwei Männer, noch keine dreißig. Einer schlank mit roten Haaren, der andere ein Dicker. Beide trugen Rucksäcke. Als ich sie gefragt habe, was sie im Wald treiben, weil sie so auffällig herumgeschlichen sind, sagten sie mir, ich solle mich zum Teufel scheren.«
»Was Sie natürlich nicht gemacht haben.«
»Doch. Ich hatte ja kein Netz, um Sie anzurufen.«
Still, da kommt jemand.«
Till Bultmann reagierte nicht. Er kramte mit der rechten Hand tief in dem tarnfarbenen Rucksack, der neben ihm auf dem Waldboden stand. Deutlich hörte Jannis Berger das Knistern von Kunststofffolie, das in dem völlig ruhigen Waldstück geradezu beängstigend laut wirkte.
Jannis fluchte leise vor sich hin, weil schon wieder eine Störung zu erwarten war. Erst der Spinner von Förster vorhin, der aufdringliche Fragen gestellt hatte, als würde ihm der Wald gehören. Und jetzt näherte sich ihnen erneut jemand. Jemand, der durch den Wald stolzierte wie ein Stadtmensch und keinerlei Interesse erkennen ließ, sich der besonderen Atmosphäre der Natur anzupassen.
Ein Fluch war zu hören. Eindeutig eine weibliche Stimme. Der Boden war von dem Regen der vergangenen Nacht aufgeweicht. Vielleicht war die Frau ausgerutscht oder hatte sich die Schuhe verschmutzt.
Das Knacken auf dem schmalen Waldweg kam näher, und Till wühlte immer noch mit dem Arm bis zum Anschlag im Rucksack. Sie durften auf keinen Fall in dieser Situation gesehen werden. Eine Begegnung auf dem Weg würde kein Problem darstellen, dämliche Fragen wie vorhin würden schon die passenden Antworten erhalten, aber nicht hier und nicht so.
Der rundliche Jannis tippte seinem Begleiter energisch auf die Schulter, bis der endlich reagierte, aufschaute und ihn wie mit Kuhaugen anglotzte. Jannis legte den Zeigefinger auf seine Lippen und nickte mit dem Kopf nach rechts. Endlich verstand sein Kumpel. Beide gingen simultan ein Stückchen tiefer in Deckung.
Die Schritte kamen heran. Nur Sekunden später kam eine junge Frau in ihr Blickfeld. Ihre kurzen, blonden Haare standen ungeordnet vom Kopf ab und wirkten wie selbst geschnitten. Sie trug löchrige Jeans und eine olivfarbene Jacke, die wie ein alter Armeeparka aussah. Die schwarzen Gummistiefel an ihren Füßen waren viel zu groß und wollten bei jedem Schritt herabfallen, was beim Gehen schlurfende Geräusche verursachte. Ihre Hände steckten trotzig in den Jackentaschen. Ohne von den beiden Beobachtern Notiz zu nehmen, ging die Frau vorbei und folgte weiter dem Weg.
»Was war das denn?«
»Auf jeden Fall keine normale Spaziergängerin, so wie die angezogen war.«
»Bis auf die Frisur sah sie gar nicht mal schlecht aus«, befand Jannis Berger.
Till ging nicht darauf ein. »Die sucht hier etwas. Wir sollten ihr folgen«, schlug er vor. »Sie kennt vielleicht die Stelle. Los, komm!«
Er verstaute eine Tüte, die er bisher in der Hand gehalten hatte, wieder im Rucksack und verschloss ihn sorgfältig. Beim Aufstehen warf er ihn sich über die Schulter.
Sie versuchten zuerst, der Frau zu folgen, indem sie parallel zum Weg durch den Wald gingen, mussten aber schnell feststellen, dass in diesem Bereich der Bewuchs zu dicht war, das Tempo konnten sie nicht mithalten. Also ließen sie den Abstand größer werden und gingen außerhalb des Sichtbereiches ebenfalls auf dem Weg. Das wäre für den Fall, entdeckt zu werden, wesentlich unverdächtiger. Till Bultmann vorweg, hinter ihm schnaufte Jannis Berger immer lauter. Der Abstand schien beachtlich angewachsen zu sein. Bei jeder Biegung des Weges verhielten sie sich vorsichtig und peilten zunächst auf die Strecke vor ihnen, konnten die schmale Gestalt aber nicht mehr sehen.
Der rothaarige Till wäre an einem kaum sichtbaren Trampelpfad vorbeigegangen, zu sehr konzentrierte er sich auf das, was sich seiner Meinung nach weit vor ihnen befand. Und auch Jannis war schon vorbei, nur aus dem Augenwinkel fiel ihm eine kaum wahrnehmbare Veränderung des Waldbodens rechts des Weges auf. Nebeneinander blieben sie vor der niedergetretenen Vegetation stehen. Hier waren in letzter Zeit mehrere Menschen entlanggegangen.
»Los, hinterher«, drängte Jannis schwer atmend.
»Ich weiß nicht. Vielleicht ist sie nicht allein und …«
»Das kann sein«, fiel ihm sein Begleiter ins Wort. »Sie trifft sich mit ihrem Lover. Da bekommen wir ein bisschen was geboten.«
»Wir sollten uns vom Weg verziehen und warten, ob sie zurückkommt.« Till Bultmann war eindeutig der Bedächtigere von ihnen, derjenige, der sorgfältig jeden Schritt abwägte.