Die Morde von Wickenham - Amy Myers - E-Book
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Die Morde von Wickenham E-Book

Amy Myers

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Beschreibung

Ein Vater-Tochter-Detektivduo auf der Suche nach der Wahrheit
Der britische Cosy Crime für Fans von Rhys Bowen

Als ein Skelett in den Wäldern des Wickenham Manor Hotels in der englischen Grafschaft Kent gefunden wird, fühlt sich Peter Marsh direkt an einen alten Fall erinnert. Zusammen mit seiner Tochter Georgia versucht der ehemalige Polizist einen Zusammenhang zwischen den Verbrechen zu finden. Hat der Mord an Ada Proctor, Tochter des örtlichen Arztes, etwas damit zu tun? Damals, 1929, wurde Davy Todd des Mordes angeklagt, doch seine frühere Freundin ist von seiner Unschuld überzeugt. Als in Wickenham plötzlich ein weiterer Mord geschieht, zweifeln auch Peter und Georgie an Davys Schuld. Ist der Mörder nach all den Jahren noch immer auf freiem Fuß?

Erste Leserstimmen
„Von britischen Cosy Krimis kann ich einfach nicht genug bekommen. Ich freue mich riesig auf weitere Teile mit dem sympathischen Vater-Tochter-Gespann!“
„unterhaltsamer Whodunit-Roman mit liebevoll gezeichneten Charakteren“
„Ein spannender Kriminalfall, charmante Ermittler und dazu eine angenehme Prise Humor – perfekt!“
„ein Cosy Crime zum Miträtseln mit unerwarteten Wendungen“

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Seitenzahl: 433

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Über dieses E-Book

Als ein Skelett in den Wäldern des Wickenham Manor Hotels in der englischen Grafschaft Kent gefunden wird, fühlt sich Peter Marsh direkt an einen alten Fall erinnert. Zusammen mit seiner Tochter Georgia versucht der ehemalige Polizist einen Zusammenhang zwischen den Verbrechen zu finden. Hat der Mord an Ada Proctor, Tochter des örtlichen Arztes, etwas damit zu tun? Damals, 1929, wurde Davy Todd des Mordes angeklagt, doch seine frühere Freundin ist von seiner Unschuld überzeugt. Als in Wickenham plötzlich ein weiterer Mord geschieht, zweifeln auch Peter und Georgie an Davys Schuld. Ist der Mörder nach all den Jahren noch immer auf freiem Fuß?

Impressum

Deutsche Erstausgabe August 2020

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-157-9 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-346-7 Hörbuch-ISBN: 978-3-96817-197-5

Copyright © 2004 by Amy Myers Titel des englischen Originals: The Wickenham Murders

Veröffentlicht nach Vereinbarung mit Amy Myers.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Übersetzt von: Nadine Erler Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Honza Krej, © St. Nick, © Stuart Monk, © Scisetti Alfio, © Venus Kaewyoo Korrektorat: Anke Wendt

E-Book-Version 20.03.2023, 14:04:38.

Die Morde von Wickenham

Jetzt auch als Hörbuch verfügbar!

Die Morde von Wickenham
Amy Myers
ISBN: 978-3-96817-197-5

Ein Vater-Tochter-Detektivduo auf der Suche nach der WahrheitDer britische Cosy Crime für Fans von Rhys Bowen

Das Hörbuch wird gesprochen von Elisa Taggert.
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Vorwort

Ich möchte mich bei Edwin Buckhalter von Severn House und seiner Verlagsleiterin Amanda Stewart dafür bedanken, dass sie diesen Roman von seinen ersten Anfängen an unterstützt haben, ebenso wie ihrem großartigen Team, das so tatkräftig für die Verwirklichung des Projekts gesorgt hat – vor allem meinem Lektor Hugo Cox für seine Adleraugen. Wie immer gilt mein Dank meiner Agentin Dorothy Lumley von der Dorian Literary Agency für den untrüglichen Instinkt, mit dem sie bei meiner Arbeit die Spreu vom Weizen trennt. Auf dem Weg von der ersten vagen Idee bis zur Vollendung eines Romans lauern viele Fallen und ich danke denen, die ihr Bestes getan haben, um mich am Hineintappen zu hindern: Vor allem Nick Claxton, dem Leiter der Rechtsmedizin am LGC, Teddington und seinen Kollegen; Suzanne Smith, Martin Kender und Allan Jamieson, Direktor des Forensic Institute, Edinburgh; dem Royal Observatory in Greenwich; Marian Anderson, Clifford Long und Valerie Barnard. Sollte ich doch in unsichtbare Fallen getreten sein, ist es nicht ihre Schuld. A. M.

1. Kapitel

Georgia Marsh schloss die Haustür und warf einen verstohlenen Blick in das Arbeitszimmer ihres Vaters. Gut – er war aufgestanden, und sie hörte das gewohnte Quietschen seines Rollstuhls. Er saß jedoch nicht am Computer – das war weniger gut. Sie trat leise ein, weil sie wissen wollte, was sie erwartete. Jetzt, da sie Nachbarn waren und nicht mehr im selben Haushalt wohnten, war es leichter einzuschätzen. Er saß noch am Frühstückstisch (mit ein paar Stapeln von Büchern und Papieren, die er offenbar ungeduldig beiseitegeschoben hatte) und beugte sich über einen aufgeschlagenen Daily Telegraph. Er musste gemerkt haben, dass sie hinter ihm stand. „Georgia!“, schrie er triumphierend. „Marsh & Daughter sind wieder im Geschäft!“ Sie schleuderte ihren Mantel von sich und eilte zu ihm, auf das Schlimmste gefasst. „Wir waren nie aus dem Geschäft, Peter!“ Bei der Arbeit war er immer „Peter“ für sie. Die Rolle des Vaters wurde an der Bürotür abgegeben, weil sie beide es so wollten. Es machte das Zusammensein außerhalb der Arbeitszeit erträglicher, wenn sie bei ihren Wortgefechten Distanz wahrten – jedenfalls theoretisch. Das System funktionierte, mehr oder weniger zumindest. Ihre Bemerkung traf zu. Es gab immer einen Artikel zu schreiben, etwas Interessantes zu erforschen, ein Buch, das zu Ende gelesen oder korrigiert werden musste, oder ein Anruf bei Detective Inspector Mike Gilroy (der Ärmste!). Ohne eine Miene zu verziehen, hatte sie einmal vorgeschlagen, dass Peters ehemalige Polizeidienststelle am Stour in Kent ihm einen Router für zu Hause zur Verfügung stellen sollte, damit seine Leitung sicher war. Der Detective Inspector hatte säuerlich, und ohne den Hauch eines Lächelns, abgelehnt. Aus Peters leicht altmodischer Sicht gab es kein Ablaufdatum für ausstehende, wohlverdiente Gefallen. Es war schließlich erst neun Jahre her, dass er in den Ruhestand gegangen war. Eine Schießerei, seit der er gelähmt war, hatte ihn dazu gezwungen. „Was für einen Braten riechst du jetzt wieder?“ Sie schaute ihm neugierig über die Schulter, aber keine auffällige Schlagzeile sprang ihr ins Auge. „Fee fi fo fum!“ Offensichtlich hatte etwas sein Interesse geweckt. Er tippte mit dem Finger auf einen vierzeiligen Absatz unter der Rubrik „In Kürze“. „Erinnerst du dich noch an Wickenham? In den North Downs, irgendwo in Richtung Gravesend. Ich habe doch gesagt, dass es ein trostloses Dorf war, nicht wahr?“

„Das sagt mir nichts. Oder doch.“ Eine verschwommene Erinnerung tauchte auf. „Das ist aber ewig her!“

„Ewig? Bestimmt, denn diese zwei Beine waren damals noch in Betrieb“, erwiderte Peter ohne Bitterkeit. „Aber du musst dich doch erinnern! Ich hatte einen Fall in Dartford und du bist gekommen, weil du mich aus irgendeinem Grund sehen wolltest. Wir haben in Wickenham Tee getrunken.“ Die Erinnerung wurde langsam wach. „Ein Dorf, das versucht, kein verschlafener Vorort von London zu sein“, fiel ihr ein. „Oh, und ein lustiges altes Café, in dem es Tee mit Sahne und altbackenen Kuchen gab. Und was ist nun mit Wickenham?“ Zu ihrem Ärger verdeckte Peter den wichtigen Abschnitt mit der Faust. „Skelett in Kalkhöhle entdeckt.“

„Ist das alles?“ Die Kalkhöhlen im Norden von Kent stellten bekanntermaßen eine große Gefahr für neugierige Jungen und arglose Spaziergänger dar, die durch die Wälder streiften. Sie waren tief und senkrecht, und oft führten alte Gänge zu den Tunneln, die sich unter ihnen erstreckten. Die Höhlen waren eine Versuchung für Abenteuerlustige, vor allem, weil ihr Alter unbekannt war. Waren es Minen aus grauer Vorzeit, Verstecke oder Anlagen für Kalkbrennereien aus dem neunzehnten Jahrhundert? Was auch immer – Peters Aufregung schien ihr unbegründet. „Komm schon, Georgia“, sagte er ungeduldig. „Es sieht dir gar nicht ähnlich, so kurzsichtig zu sein. Woher sollen wir wissen, ob das alles ist? Es könnten die sterblichen Überreste eines angelsächsischen Königs sein oder die des verschollenen Earl of Lucan! Es könnte die größte Herausforderung sein, vor der wir je standen! Du weißt doch noch, was ich damals gesagt habe – dass in Wickenham offene Fragen in der Luft liegen!“

„Hast du das gesagt?“ Sie runzelte die Stirn und ärgerte sich, dass sie sich immer noch nicht erinnerte. Schließlich war der gemeinsame „Riecher“ die Grundlage für ihre Zusammenarbeit. Sie war vor allem für die Recherche zuständig und er für das Schreiben; Telefonate und alles, was mit dem Internet zu tun hatte, teilten sie unter sich auf. Peter hatte ein rollstuhlgerechtes Auto, aber seine Streifzüge in die Außenwelt waren – wenn es um die Arbeit ging – sorgfältig inszenierte Auftritte, in denen er die Rolle des an den Rollstuhl gefesselten Autors meisterhaft spielte. „Du, Georgia, bist meine Augen und meine Beine“, erklärte er erhaben – wenn er nicht doch beschloss, selber mitzumischen. Alles in allem waren Marsh & Daughter ein gutes Team. Das Wichtigste war, dass sie und ihr Vater den gleichen Instinkt für unerledigte Dinge hatten; manchmal schlummerten diese in der Geschichte, meistens jedoch in der Atmosphäre eines Ortes. Das fesselte sie beide. Sie war sich nie ganz sicher, ob dieses Gespür angeboren war, oder ob es sich im Laufe der Jahre erst entwickelt hatte. Vielleicht beides. In seiner früheren Laufbahn hatte Peter sich immer für eine bestimmte Sorte von Fällen interessiert, von denen Gilroy, damals noch Detective Sergeant, gesagt hatte, sie seien „ihm auf den Leib geschneidert“. Und immer hatte die Lösung darin gelegen, der Vergangenheit nach zu lauschen. „Fingerabdrücke auf der Zeit“, so nannten Peter und sie die Spuren der Vergangenheit. Nichts Handfestes, nichts Greifbares, nur die Spuren, die traumatische Ereignisse am Ort des Geschehens hinterließen; vor allem dann, wenn sie nicht abgeschlossen waren. Schließlich, so Peters Ausführung, galten Geister als eine Art Fingerabdruck auf der Zeit, denn sie suchten die Orte heim, an denen sie gelebt hatten. Es war ein Widerspruch und höchst unlogisch, dass Peter, der für die Vorstellung sichtbarer Geister nur Spott übrighatte, ebenso wie sie felsenfest an die Fingerabdruck-Theorie glaubte. Es war genau so, als ob man ein Haus oder eine Kneipe zum ersten Mal betrat und sofort eine frohe oder traurige Atmosphäre wahrnahm. Der Eindruck konnte aus der Gegenwart oder der Vergangenheit stammen, aber er war da. Georgia war anfangs skeptisch gewesen, aber dann hatte sie Montségur im Südwesten Frankreichs besucht, den Schauplatz des Massakers an den Katharern im dreizehnten Jahrhundert. Das hatte sie überzeugt. Selbst das Kommen und Gehen tausender Touristen und Pilger hatte die Atmosphäre der Tragödie nicht ausgelöscht. Wickenham war nicht unbedingt Montségur, aber Kent war eine interessante Gegend. Die allzu offensichtlichen Zeichen der Moderne – der Schnellzug über den Ärmelkanal, Autobahnen et cetera – hatten Wunden geschlagen und verbargen die schlummernde Vergangenheit, die sich dann und wann bemerkbar machte und sich der Welt in Erinnerung brachte. Die kürzliche Entdeckung des Ringlemere Cup, eines goldenen Bechers aus der Bronzezeit, war ein Beispiel dafür. Ihr eigenes Dorf, Haden Shaw, lag nicht weit von Canterbury entfernt und befand sich, ebenso wie Wickenham, in den North Downs in Kent. In diesem Dorf war die Vergangenheit allgegenwärtig. Umso ärgerlicher war es, dass sie sich nicht besser an Wickenham erinnern konnte. „Also, wessen Skelett ist es? Ist das das Geheimnis?“

„Nicht unbedingt. Wahrscheinlich sogar nicht“, sagte er selbstzufrieden. „Erinnerst du dich an den Fall Ada Proctor? Der ist mir in den Sinn gekommen, als wir dort waren, und deine Mutter hat es nachgeschlagen, als wir wieder zu Hause waren.“ Immer hieß es „deine Mutter“, nie Elena. Das war seine Art, sie seelisch auf Abstand zu halten. Dass ihre Mutter den Fall nachgeschlagen hatte, erklärte wahrscheinlich, warum Georgia die Erinnerung daran verdrängt hatte. Es waren die alptraumhaften Jahre gewesen, die jetzt in ein fernes Land zu gehören schienen – verbotenes Gelände, welches sie und Peter nicht mehr betraten, auch wenn es noch tief in ihrem Inneren begraben lag. Es galt die stillschweigende Übereinkunft, dass dies der Ansporn für die Arbeit von Marsh & Daughter war. Elena Marsh hieß jetzt Elena Pardoe und lebte mit Ehemann Nr. 2 in Frankreich. „Ja“, sagte Georgia laut. „Das dachte ich mir.“

„Die Tochter eines Arztes.“ Sie kramte in ihrem Gedächtnis. „Sie wurde an einem Freitagmorgen in aller Frühe erwürgt auf einem Feld aufgefunden. Es war in den 1930er Jahren oder so.“

„1929, um genau zu sein.“

„Sie wurde sexuell missbraucht.“

„Falsch. Oder jedenfalls nicht bewiesen. Einige Kleidungsstücke fehlten, andere waren zerrissen und verrutscht, und es gab reichlich Anzeichen für einen heftigen Kampf. Vielleicht war es ein sexueller Übergriff, aber die Rechtsmedizin konnte nur Erwürgen nachweisen.“

„Aber darum“, Georgias Interesse war geweckt, „argumentierte der Ankläger, das sei nicht wichtig. Sie war eine Frau reiferen Alters, kräftig und stark genug, um das eigentliche Vorhaben ihres Angreifers abzuwehren. Sie muss ihn abgeschüttelt haben und er packte sie von hinten, um sie am Schreien zu hindern.“ „Das dürfte auf einem einsamen Feld mitten in der Nacht wohl kaum eine Rolle gespielt haben. Ich weiß noch, dass das mein erster Gedanke war, als ich über den Fall gelesen habe. Ich habe es irgendwo hier.“ Peter nahm seine langstielige „Buchzange“, die immer griffbereit lag, zog ein Buch aus dem Regal und fing es mit der freien Hand auf. Dank langjähriger Übung war er sehr geschickt darin. „John Mitchison, Village Murders, 1972. Es ist der einzige veröffentlichte Bericht, soviel ich weiß, und er ist mir in Erinnerung geblieben. Denk nach, Georgia. Welche Frage drängt sich auf?“

„Was wollte sie mitten in der Nacht auf dem Feld mit jemandem, dem sie nicht hundertprozentig vertraute? Hieß es nicht, ihr Angreifer sei ein dünner Bursche gewesen und nur von mittelgroßer Statur?“

„Ja. Der junge Davy Todd. Ah, Margaret“, er wandte sich an seine Betreuerin, die auch seine Haushälterin war. „Da kommen Kaffee und Kuchen, um mich wiederherzustellen!“

„Nein, hier kommen Kaffee und ein Apfel, um Sie wiederherzustellen“, teilte sie ihm kurzangebunden mit. Margaret war der vernünftigste Mensch, dem Georgia je begegnet war. Das musste sie auch sein, um mit Peters Launen fertig zu werden. Sie war die Sprechstundenhilfe des Dorfarztes gewesen, bis sie sich mit seinem Computer verkracht hatte. Zum Glück für die Marshs war das gleichzeitig mit Elenas Abschied passiert. Sechs Stunden am Tag hielt sie Peters Leben in Ordnung. Mehr oder weniger jedenfalls. „Man sollte meinen, dass ich als Krüppel etwas bekommen sollte, das ich mag!“, beklagte sich Peter bitter. „Sagen Sie sich einfach, dass Sie Äpfel mögen.“ Margaret war offenbar nicht zu Verhandlungen bereit und hatte ihre Hartnäckigkeit zu einer schönen Kunst entwickelt. Nachdem das Ritual beendet war und Margaret siegreich den Rückzug angetreten hatte, wandte sich Peter wieder an Georgia. „Davy Todd war der junge Gärtner der Proctors. Es lagen nur Indizien gegen ihn vor, aber die waren schwerwiegend, und Dr. Proctor bezeugte widerwillig, dass Ada immer sehr vertraulich mit Davy umgegangen sei. Er wurde verhaftet, man machte ihm den Prozess und befand ihn für schuldig. Im April 1930 wurde er wegen Mordes gehängt. 1929 war er zwanzig Jahre alt. Und sie war siebenunddreißig.“ Nur drei Jahre älter als ich, dachte Georgia sofort. „Irgendwelche Zweifel am Urteil, Peter?“

„Dafür, liebe Georgia, habe ich meine Tochter. Mir kommt dieser Mord sehr seltsam vor, vor allem, da er an Allerheiligen passiert ist – kaum die Jahreszeit für Knutschereien unter freiem Himmel. Also ist es deine Aufgabe, herauszufinden, ob Ada Proctor und Davy Todd bis heute ihre Fingerabdrücke im Dorf hinterlassen haben.“

„Wir wissen nicht, ob es überhaupt jemand tut“, rief sie ihm ins Gedächtnis. „Es ist Jahre her, dass wir da waren! Was auch immer du damals gespürt hast – es ist vielleicht schon seit einer Ewigkeit verschwunden.“

„Na und? Wenn Anne Boleyns Geist hinter dem Kamin hervor käme, würdest du auch nicht sagen: ‚Verschwinde, du kommst Jahrhunderte zu spät, du bist nicht mehr interessant!‘, oder?“

„Ich weiß nicht, was ich sagen würde“, antwortete Georgia ehrlich. „Vielleicht würde ich um mein Leben rennen – oder vielleicht würde ich sie fragen, ob sie weiß, dass ihre Tochter, Good Queen Bess, ein Medienstar des einundzwanzigsten Jahrhunderts geworden ist. Gestern Abend kam wieder eine Dokumentation im Fernsehen. Hast du sie gesehen?“

„Bleib beim Thema – Wickenham.“ Peter tippte auf die Zeitung. „Hier sind Marsh & Daughter gefragt!“

„Spar dir die Floskeln“, sagte sie höflich. „Du bist heute Morgen ungewohnt schlechter Laune, Georgia. Wo ist deine Spürnase für Geheimnisse, Entdeckungen, Abenteuer?“

„Die schläft noch auf meinem Kissen“, erwiderte sie. „Ich hatte eine etwas unruhige Nacht. Jemand hat um drei Uhr morgens in voller Lautstärke den Emperor gehört. Für dich ist es kein Problem, da das Haus an einer Straßenecke steht, es stört niemanden außer mir.“ Es war die übliche Neckerei. Sie wussten beide, warum er es tat.

***

Ada Proctor hatte sich in den zwei Wochen seit ihrem ersten Gespräch über den Fall hartnäckig geweigert, aus ihren Gedanken zu verschwinden. Aber sie waren kaum weitergekommen. Bevor Ada in ihr Leben getreten war, hatten sie an einem interessanten Fall in East Anglia gearbeitet – auch ein Skelett, also warum ging ihr ausgerechnet der Mord an Ada nicht aus dem Kopf? Wahrscheinlich lag es daran, dass sie kaum Fortschritte machten, redete Georgia sich ein. Aber Peter hatte ihr nur einen Blick zugeworfen, als sie das gesagt hatte, und sie wusste, warum. Sie erinnerten sich, dass sie an dem Tag, als sie sich in Wickenham getroffen hatten, nicht allein gewesen waren. Nicht nur Elenas Anwesenheit hatte sie Wickenham in den Schleier des Vergessens hüllen lassen. Zac war auch dabei gewesen. Kein Wunder, dass sie ihr Bestes getan hatte, um diesen Tag zu verdrängen – ebenso wie ihre kurze (aber aufregende, das musste sie ihm zugestehen) Ehe. Nur konnte sie es leider nicht völlig aus ihrem Gedächtnis streichen, weil Zac seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis immer mal wieder auftauchte wie ein funkelnder neuer Penny – meistens ohne einen einzigen davon in der Tasche. Einen unfähigeren Kriminellen als Zac Taylor konnte sie sich nicht vorstellen, aber leider hatte er sie trotzdem drei Jahre lang zum Narren gehalten. Es war dumm von Ada Proctor gewesen, Davy Todd zu ermutigen, aber Georgia saß selbst im Glashaus und konnte nicht mit Steinen werfen. Marsh & Daughter konnten zurzeit mit gar nichts werfen, weil ihnen Informationen fehlten. In der Lokalpresse fand sie ab dem Tag seiner Hinrichtung nichts mehr über Davy Todd. In den 1930er Jahren hatte es noch keinen öffentlichen Druck gegeben, zweifelhafte Urteile nachhaltiger zu untersuchen. Allerdings sprach nichts von dem, was Georgia bisher gelesen hatte, dafür, dass es sich um ein solches handelte. Es hatte nicht einmal eine Revision gegeben. Die größte Enttäuschung war die Durchforstung der Webseite des National Archive / Public Record Office gewesen. Es gab kaum Informationen über den Prozess. „Keine Revision und natürlich auch kein Protokoll“, hatte Peter düster berichtet. Die stenografierten Mitschriften waren 1912 abgeschafft worden, und der Fall war eindeutig nicht von großem öffentlichen Interesse gewesen; das Treasury Solicitor’s Department und der Director of Public Prosecutions hatten nicht alle Unterlagen aufbewahrt. „Der arme alte Davy war kein bedeutender, polarisierender Aufklärer wie ein Roger Casement, der wegen Hochverrats angeklagt war“, fuhr Peter fort. „Es gibt eine Liste bei den eidesstattlichen Aussagen und eine in den Anklageschriften, aber ich glaube nicht, dass wir daraus etwas erfahren würden, das wir nicht schon wissen. Nur Vorladungen von Geschworenen, Anklagen, Haftentlassungen und so weiter sowie die Ergebnisse des ursprünglichen Prozesses und der Berufungen. Wenn wir Glück haben, sind die Untersuchungsergebnisse des Rechtsmediziners da.“

„Sind Listen von Beweisstücken dabei?“

„Ja, du kannst nach Kew fahren und nachsehen. Ich konnte im Bericht in der Times nichts Dramatisches finden, dem man nachgehen müsste.“ Das war der einzige Lichtblick, denn in Ada Proctors Zeit waren die Presseberichte über Gerichtsverhandlungen viel ausführlicher gewesen als heute, und vor ein paar Jahren hatte Peter ein Vermögen ausgegeben – für den Mikrofiche-Katalog der Times der ersten neunzig Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und die auf CD aufgezeichneten aktuelleren Belege. Davy Todd war am ersten November 1929 verhaftet worden, die Obduktion hatte am Montag, dem vierten, stattgefunden und das Begräbnis am nächsten Tag. Drei Tage später hatte man ihn vor dem Old Bailey angeklagt und ihm Anfang Februar den Prozess gemacht. Nach heutigen Maßstäben war alles sehr schnell gegangen, aber für damalige Verhältnisse war es völlig normal gewesen. Der Prozess hatte nur zwei Tage gedauert, aber in der Times standen ein paar Absätze mit wörtlich zitierten Aussagen. „Hier“, Peter fuchtelte mit einer Seite aus einer Zeitung, „ist die Stimme von Davy Todd. Der Reporter der Times wollte oder konnte den Dialekt von Kent nicht für seine Leser wiedergeben.“

„Lies es mir vor“, bat Georgia. Dialekte aus Vergangenheit und Gegenwart gehörten zu Peters Spezialitäten, und er machte sie liebend gern nach. Das war seine Gelegenheit und er ergriff sie beim Schopf. „Es ist aus seinem Kreuzverhör“, fing Peter an. „Frage: ,In dieser Nacht wollten Sie sich mit Miss Proctor treffen, nicht wahr?ʻ ‒ ,Nein, erst in der nächsten Nachtʻ, sagt Davy. ,Wir wollten eigentlich schon, es war ja Allerheiligen, sehen Sie, aber sie wollte nach London, und wusste noch nicht, wann sie wiederkommen würde. Also verabredeten wir uns für den nächsten Abend, und ich bin stattdessen zu meiner Mary gegangen. Ich war froh darüber. Dann habe ich an dem Abend gesehen, wie Miss Proctor in die Felder ging; ich war überrascht, das habe ich auch zu Mary gesagt, jawohl. Jawohl.ʻ“ Georgia überlief es kalt. Peter war gut – zu gut. Es konnte ein Problem darstellen, nach Jahrzehnten die so perfekt nachgeahmten Worte von Davy Todd zu hören. Ohne weitere Hintergrundinformation war die Gefahr der Voreingenommenheit einfach zu groß. Peter war sich dessen ebenso bewusst wie sie, denn er sagte: „Für den Moment ist es genug, nur noch einen Auszug. Hier steht er wirklich unter Druck, würde ich sagen. Frage: ,Sie mochten Miss Proctor, nicht wahr?ʻ Antwort: ,Jawohl.ʻ Dann hakte der Staatsanwalt nach: ,Sie mochten sie sehr, nicht wahr? Sie wollten sie berühren, sie küssen.ʻ Antwort: ,Nein, das habe ich mich nicht getraut. Sie war die Tochter vom Doktor.ʻ Frage: ,Nicht getraut? Also wollten Sie sie anfassen.ʻ Antwort: ,Das wollte ich nie. Niemals nicht.ʻ“

„Was ist mit Ada?“, brachte Georgia hervor. „Sie kann sich nicht mehr äußern.“

„Du wirst schon etwas finden“, sagte Peter leichthin, „wenn du nach Wickenham fährst.“ Wenn, nicht falls – das fiel ihr auf. Wickenham war die nächste Hürde, der sie sich also stellen musste; am besten ohne Zacs Schatten, der neben ihr herlief. Sie musste objektiv sein. Im Augenblick war Peter viel überzeugter als sie, dass entweder der Fall Proctor, oder eben das gefundene Skelett, eine gründliche Untersuchung von Marsh & Daughter verdiente. Bisher hatte sie nicht viel über Adas Leben herausgefunden – nur eine Todesanzeige von Dr. Edward Proctor aus Wickenham aus dem Jahr 1935. Und Peter war nach etwas Stöbern im Internet darauf gestoßen, dass Winifred Proctor, wahrscheinlich seine Frau, etwa zehn Jahre früher gestorben war. Man konnte also davon ausgehen, dass Ada in der elterlichen Praxis sowie bei der Arzneiausgabe geholfen und zudem ihrem Vater den Haushalt geführt hatte – Letzteres war eine unvermeidliche Rolle und als solche alltäglich für so viele Frauen, die nach dem furchtbaren Blutbad des Ersten Weltkriegs keinen Ehemann gefunden hatten. Ihr Gesicht – eine Kopie aus einem Zeitungsbericht, die an Peters Computer lehnte – starrte ihnen entgegen, so trotzig und geheimnisvoll, wie es unter einem Glockenhut eben ging. „Stell sie dir ohne den Hut vor – was siehst du dann?“, fragte Peter. „Eine Frau, die einen Abschluss in Oxford gemacht hätte, wenn sie dreißig Jahre später geboren wäre“, erwiderte Georgia prompt. Das Gesicht war ihrem eigenen nicht unähnlich – lang und recht schmal. Aber Ada hatte glattes, kurzes Haar gehabt und sie selbst trug einen Pferdeschwanz, deshalb hinkte der Vergleich ein wenig. „Ja. Meinst du, dass sie leidenschaftlich war?“

„Schwer zu sagen.“ Georgia runzelte die Stirn. Auf der grauen, verschwommenen Kopie, die noch dazu von einem schlechten Original stammte, kam die Persönlichkeit nicht zur Geltung. „Ich würde sagen, ja, aber damit meine ich nicht zwingend in sexueller Hinsicht. Sie wirkt wie eine Frau mit festen Überzeugungen.“

„Das könnte wichtig sein, Georgia. Nichts von dem, was wir bisher gelesen haben, erklärt, was sie so spät am Abend in Crown Lea vorhatte – außer, sich mit Davy Todd zu treffen. Ihr Vater sagte aus, er habe sie um halb zehn im Haus gesehen, als er sich zur Nachtruhe begab – ist das nicht ein wunderbarer Ausdruck, Georgia? Ich glaube, ich werde das ab jetzt auch sagen – und sie wurde zwischen neun und elf Uhr getötet, das ist ein ziemlich langer Zeitraum. Nehmen wir an, dass es mehr oder weniger korrekt ist, vor allem, da ihre Leiche früh am nächsten Morgen gefunden wurde, nicht allzu lange nach der Tat. Wurde sie direkt am Fundort erwürgt? Das wissen wir nicht. Es steht in keinem Bericht. Oder wurde sie dorthin geschleift? Und das Wichtigste: Wenn sie sich in jener Nacht nicht mit Davy Todd treffen wollte, mit wem dann? Sie sieht aus wie eine vernünftige Frau, das heißt, wer auch immer es war – entweder wollte sie Sex mit ihm oder sie vermutete in keinster Weise, dass er etwas in der Richtung vorhatte. Und sogar Davy gibt zu, dass sie verabredet waren.“

„Das bringt uns wieder an den Anfang. Wenn sie in den jungen Gärtner vernarrt gewesen wäre, hätte sie einen gastlicheren Treffpunkt wählen können als ein Feld mitten in der Nacht.“ Wieder Schachmatt. Eine Liebesnacht auf einem matschigen Feld Ende Oktober? Selbst wenn Ada wirklich etwas von Davy gewollt hätte, so hätte sie sicher einen gemütlicheren Ort gefunden. „Die Verteidigung sagte, er sei bis etwa halb zwölf bei seiner Freundin Mary Elgin gewesen“, sagte Peter, „und sie bestätigte die Aussage unter Eid, auch wenn ihr natürlich niemand glaubte. Sie sagte, ihr Vater sei nach Hause gekommen und habe sie und Davy zusammen ertappt, aber der stritt dies entschieden ab. Deshalb war klar – jedenfalls für die Geschworenen –, dass sie log, um Davy zu schützen. Aber hier ist ein interessanter Punkt. Zwei Zeugen sagten aus, sie hätten Davy in einem ausgesprochen derangierten Zustand nach Hause gehen sehen – mit blutverschmiertem Gesicht – und das war gegen viertel vor zwölf, nach dem Ende des Balls. Das sprach für seine Version, aber da Marys Vater es leugnete, ging man davon aus, dass Davy spät nach Hause kam, weil er Ada ermordet hatte. Wenn wir davon ausgehen, dass Ada gegen elf Uhr schon tot war, was hat Davy dann in diesen fünfundvierzig Minuten gemacht?“

„Vielleicht war er in Panik?“, schlug Georgia vor. „Warum ist er dann nicht weggelaufen? Oder gleich nach Hause gegangen?“

„Vielleicht hat er gehofft, dass ihn niemand sehen würde?“

„Schwaches Argument. Und außerdem hat eine Zeugin, das Dienstmädchen der Proctors, ausgesagt, Ada sei an dem Abend aufgeregt gewesen, da sie später jemanden treffen wollte. Es war ein großes Geheimnis, und ihr Vater sollte es auf keinen Fall erfahren. Hätte Ada es überhaupt jemandem erzählt, wenn sie mit Davy verabredet gewesen wäre? Ich bezweifle es. Sicher nicht ihrem Dienstmädchen. Andererseits hat ein anderer Zeuge ausgesagt, Ada sei eine unbescholtene Frau gewesen, die nie spät mit jemandem ausgegangen wäre, den sie nicht kannte und dem sie nicht vertraute – und Davy Todd vertraute sie, wie ihr Vater bestätigt hat.“ In diesem Moment wurden sie vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Peter meldete sich ungeduldig und dann änderte sich seine Stimme plötzlich. Er schlug seinen Schnurr-Ton an. „Wie schön, von dir zu hören, Mike.“ Er lauschte aufmerksam, dann schnurrte er ein liebenswürdiges Dankeschön. „Hat Mike geknurrt, gestöhnt oder gegrinst?“, fragte Georgia. Detective Inspector Mike Gilroys Grinsen war über das Telefon wahrnehmbar, aber es kam selten vor, auch wenn sie den Verdacht hatte, dass es sich in seinem Inneren öfter ausbreitete, als er sich nach außen hin anmerken ließ. Sie fragte sich, ob seine Frau Helen einen anderen Mike sah. Sie hatte die beiden nur wenige Male zusammen erlebt, und nichts hatte dafürgesprochen. Aber manchmal malte sie sich aus, dass Mike sich einen Papierhut aufsetzte und bei albernen Weihnachtsspielen mitmachte. „Ich verstehe nicht, warum du die fixe Idee hast, ich sei Mike lästig. Er war nur zu gern bereit, die Dienststelle in Darenth für mich zu kontaktieren.“

„Okay, also, was gibt es Neues über das Skelett in der Kalkhöhle?“

„Es wurde gefunden, als ein paar Kinder hinuntergeklettert sind. Was natürlich strengstens verboten ist. Die Kalkhöhle war eingestürzt; ein Teil war zwar unversehrt geblieben, aber im Boden war ein glockenförmiges Loch aufgebrochen. Das Skelett lag unter einem Haufen Geröll, der sich im Lauf der Jahre angesammelt hatte. Der Rechtsmediziner hat eine forensische Untersuchung in Auftrag gegeben, und bisher weiß man, dass es ein erwachsener Mann zwischen dreißig und vierzig war. Es hat dort schon einige Zeit gelegen und hatte Knochenbrüche, die von einem Sturz herrührten. Weißt du, Georgia, mein Riecher sagt mir, dass diese menschlichen Knochen der rote Faden sind, dem wir folgen sollten.“

„Gibt es irgendwelche Hinweise auf die Identität?“ Sie war noch nicht bereit, seine Begeisterung zu teilen. „Ein paar Fetzen Kleidung und einige andere Sachen, die noch untersucht werden müssen, und die vielleicht damit zu tun haben, vielleicht aber auch nicht. Noch nichts Aufregendes, aber du kannst wetten, dass das noch kommt. Machen wir uns an die Arbeit, auch wenn das Skelett noch keinen Namen hat.“ Nur eine Leiche, dachte Georgia. Und auch, wenn man sie endlich gefunden hat, wird sie wohl nicht einmal identifiziert, auch wenn Peter noch so zuversichtlich ist. Selbst, wenn das Labor brauchbare DNA in den Knochen fand, würde es in der nationalen DNA-Datenbank wohl keinen Treffer geben. Verrückterweise überzeugte genau dieses sie davon, dass Wickenham ein Projekt für die Marshs war, obwohl der Fall Ada Proctor sie viel mehr interessierte als dieses namenlose Skelett. Sie wusste, dass das auch Peter antrieb – und damit waren die Würfel gefallen. „Siehst du Stoff für ein neues Buch darin“, fragte sie unumwunden, „oder zumindest für einen Artikel?“ Peter hatte soeben ihr neues gemeinsames Manuskript über einen Mordfall aus den 1940er Jahren eingereicht, und er hasste es, kein Projekt zu haben. „Natürlich. Aber Wickenham selbst ruft nach uns, mein Schatz“, sagte er tugendhaft. „Etwas dort muss zur Ruhe gebracht werden.“

2. Kapitel

In Wickenham deutete kaum etwas darauf hin, dass hier irgendwas zur Ruhe gebracht werden musste. Es wirkte wie eine wachsende Gemeinde, nahe an London gelegen; man musste zwar pendeln, aber man bekam nicht das Gefühl, dass das Dorf zwischen den Hauptverkehrszeiten ausgestorben war. Georgia beschloss, durch die Straßen zu schlendern, bevor sie im Green Man eincheckte, in dem sie für die Nacht ein Zimmer gebucht hatte. Sogar für eine Frau war ein Pub eine gute Unterkunft, aber sie musste sich erst an die Atmosphäre des Dorfes gewöhnen. Erste Eindrücke waren nicht unbedingt richtig, aber gerade deswegen wertvoll und nicht zu missachten. Dörfer zu erkunden, war ein eigenes Fachgebiet der Archäologie. Zunächst die physische Archäologie: Das alte Dorf erstreckte sich an einer Hauptstraße entlang, mit ein paar prächtigen Häusern aus dem Mittelalter und der Tudorzeit und einem kleinen grünen Hügel in der Mitte. Mit dem goldenen Herbstlaub in der milden Septembersonne bot es einen friedlichen Anblick, und nichts deutete auf geheimen Aufruhr hin, weder aus der Vergangenheit, noch aus der Gegenwart. Majestätische Bauten im georgianischen und viktorianischen Stil flankierten die älteren Häuser, und am Rand des Dorfes standen die stolzen Neubauten aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Sie hatte den Eindruck, dass sehr viel gebaut worden war, seit sie und Peter hier gewesen waren. Auch wenn etliche Grünflächen hatten weichen müssen, so waren die Siedlungen doch sehr viel ansehnlicher als die typischen Bauten der Sechziger und Siebziger. Die psychische Archäologie interessierte sie wesentlich mehr. Heutzutage hatten die meisten Dörfer Jahresringe wie ein Baum – die Alteingesessenen, die seit Generationen dort lebten, Zugereiste, die schon so lange dort wohnten, dass sie mittlerweile dazu gehörten, und Zugereiste, die meistens erst vor kurzem hergezogen waren, die pendelten und/oder kein Interesse am Dorf selbst hatten. Alte Loyalität sträubte sich gegen frisches Blut, alte Sitten prallten auf neue Ideen und das spielte eine Rolle, wenn sie und Peter richtiglagen und Wickenham seine Wunden leckte. Der Pub The Green Man befand sich im Zentrum des Dorfes. Es gab noch mindestens einen anderen Pub in Wickenham, The Red Dragon, vom einstigen Herrenhaus, Wickenham Manor, ganz zu schweigen, das jetzt ein schickes Landhotel war. Gegenüber vom Pub lag der Park, umgeben von ein paar schönen Backsteinhäusern aus der Tudorzeit und ein oder zwei Läden, darunter Todds Fleischerei. Auf dem flacheren Teil des Parks war, laut Reiseführer, früher Cricket gespielt worden. Für ein modernes Feld war er nicht groß genug, und die Spiele fanden heute auf einem anderen Feld neben dem Fußballplatz statt. Beide gehörten zu dem Landsitz Wickenham Manor. Sie wusste davon, weil ein Plakat am Schwarzen Brett im Pub eine Bürgerinitiative gegen den Verkauf der Plätze angekündigt hatte. Sie dachte an die hitzige Stimmung, die solche Angelegenheiten in ihrem eigenen Dorf, Haden Shaw, hervorrief, und rechnete damit, dass diese Sache heiß umkämpft sein würde. Wickenham machte einen friedlichen Eindruck, aber vielleicht trog der Schein. Der Park war eindeutig nur zum Anschauen da, nicht, um dort Hunde auszuführen. Natürlich hätte man auf diesem makellos gepflegten Rasen nie Hundehaufen geduldet. Das Dorf legte offenbar großen Wert auf seine Erscheinung. Wenn es eine Unterschicht gab, entschied Georgia, dann musste diese auf ihrem Platz bleiben – oder vielleicht zeigte sie sich nur des nachts. Wenn sie im Pub bliebe, würde sie es schon herausfinden. Sie würde versuchen, nach und nach alle äußeren Schichten abzustreifen, bis sie zur Seele des Dorfes vorgedrungen war. „In Wickenham lässt es sich leben, sind wir nicht großartig?“ war die Botschaft, die es verkündete, ob bewusst oder nicht. Spontan entschied sie sich, vom Pub bis an das Ende des Parks zu gehen, denn sie erinnerte sich, dass dort damals die Teestube gewesen war. Servierte die reichlich mürrische Besitzerin immer noch altbackenen Nusskuchen von gestern in ihrem wunderschönen Garten? Seltsam, dass sie sich plötzlich an diesen Garten erinnerte. Vielleicht lag es daran, dass ihr wieder in den Sinn kam, was sie damals gedacht hatte: Der Garten wurde mit so viel Liebe gehegt, dass für die Arbeit in der Teestube keine mehr übrig blieb. Zuerst lief sie an dem Cottage vorbei, weil sie es nicht gleich erkannte. Erst als sie die Bäckerei dahinter sah, fiel ihr wieder ein, wo genau die Teestube gewesen war, und sie kehrte um. Jetzt gab es hier keinen Tee mehr. Vielleicht hatte man wegen neuer Statuten schließen müssen, aber wahrscheinlich war die Besitzerin einfach zu alt geworden. Es war nun ein hübsches Privathaus mit modernen neuen Fensterläden und Bleiglasfenstern. Klematis rankte sich unaufhaltsam aufwärts. Eine grell gestrichene Schubkarre zierte eine Wand, und die Rosen und all die anderen Blumen, die einst kunterbunt in dem Garten gewachsen waren, hatten schnurgeraden Beeten weichen müssen. Rosen gab es immer noch, aber es waren moderne Züchtungen – jede Biene mit etwas Selbstachtung würde sie ignorieren. Das war nicht mehr der Garten, an den sie sich erinnerte. Oh, mürrische alte Dame, was glaubst du? Warum hast du deinen Kuchen vernachlässigt und nur deine Rose geliebt? Vorsicht, Georgia, warnte sie sich selbst. Sie war hier, um zu arbeiten, nicht um Gedichte über eine geschlossene Teestube zu schreiben. Es war Zeit, dass sie mit der Routinearbeit der Ermittlungen anfing. Sie hatte schon einen Plan dafür. Sie würde den Vormittag in ihrem Pub verbringen und nach unten gehen, um sich ein erstes Gefecht mit dem Besitzer, Geschäftsführer oder Wirt zu liefern. Dann würde sie zum Mittagessen in der Bar bleiben, um in die Stimmung des Dorfes einzutauchen.

The Green Man war ein altes Gebäude, hatte aber offenbar im Laufe der Jahre viele Veränderungen erlebt. Auf der Zielgeraden zum praktischen Komfort gab es keinen Rückweg zum früheren Charme uriger Balken und altmodischer Nischen. Trotzdem herrschte eine angenehme Atmosphäre, und sie war zuversichtlich, dass es immer noch der Treffpunkt für alle Schichten der Gemeinde war. „Was führt Sie hierher? Urlaub?“ Der Mann hinter dem Tresen zapfte ihr Biermischgetränk mit einem Selbstbewusstsein, als sei es der erlesenste Bordeaux aus seinem Weinkeller. Er war der Besitzer, nicht der Geschäftsführer, das schloss sie aus der Unbefangenheit, mit der er sie begrüßt hatte. „Arbeit, fürchte ich.“ Er konnte höchstens vierzig sein, schätzte Georgia. Viel zu jung, um etwas über Ada Proctor zu wissen. „Und was gibt es an einem Mittwoch in Wickenham zu tun?“

„Ich recherchiere für einen Schriftsteller.“ Sie wusste aus Erfahrung, dass das Wort „Journalist“ keine zuverlässige Hilfe war. Manchen funkelten sofort Dollarzeichen in den Augen, andere schreckten zurück. ‚Recherchen für einen Schriftsteller‘ schuf eine gute Distanz. Nur wenige wussten, was das bedeutete, und sie selbst konnte es auch nicht genau beschreiben. Sie dachte zuerst, er würde nicht darauf eingehen, aber dann tat er es doch. „Recherchieren, so?“

„Wickenhams Geschichte.“

„Oh. Ich wette, Sie wussten nicht, dass der großartige Alfred ‚Mighty‘ Mynn hier zum ersten Mal Cricket mit nur einem Tor gespielt hat?“ Das hatte sie nicht gewusst, und es stimmte auch nicht, es sei denn, das Dorf Harrietsham beanspruchte diese Ehre zu Unrecht. „Wie interessant“, sagte sie anerkennend. „Spielen Sie ebenfalls?“

„Ich? Nein. Man muss fünfzig Jahre hier gewohnt haben, um ins Team zu kommen. Ich habe erst zehn zusammen.“

„Ich untersuche einen Mord, der hier 1929 passiert ist.“ Das war sicher ungefährlich. Damit trat man keinem auf die Zehen. „Zu früh für mich. Seitdem sind noch ein paar mehr geschehen, glaube ich.“ „Das Skelett in der Kalkhöhle, meinen Sie? Glaubt man im Dorf an einen Mord? Es wirkt eher wie ein Unfall.“ „Ich weiß nichts darüber.“ Georgia fürchtete, dass sie zu weit gegangen war, und er sich verschließen würde wie eine Auster, aber er tat es nicht. Er erzählte von einer Kneipenschlägerei, die sich vor fünf Jahren ereignet hatte – natürlich nicht im Green Man, wie er hastig versicherte, und von einem Tischler, der verrückt geworden war, und der vor acht oder neun Jahren seine Familie massakriert hatte. Nichts davon konnte Peters Spürnase geweckt haben, denn beides war nach ihrem ersten Besuch damals geschehen. Ihr eigener Riecher, erkannte sie, hatte auch noch keine Witterung aufgenommen. War Ada Proctor eine heiße Fährte oder nicht? Sie hatte noch keine Ahnung. Schließlich hatte sie in der Lokalpresse Randnotizen über zwei andere Morde gefunden. Ein Mädchen in den Zwanzigern war Ende der 1950er Jahre tot am Rand des Dorfes aufgefunden worden, und in den 1970er Jahren war ein Bauer aus dem Ort von einem Nachbarn wegen eines Eifersuchtsdramas erschossen worden. Georgia kam zu dem Schluss, dass sie Ada Proctor als Wickenhams „unerledigte Angelegenheit“ weiterverfolgen musste, bevor sie etwas Neues anfing, darunter auch das Skelett. Sie fühlte sich dem Gesicht auf dem Foto verpflichtet und konnte es nicht einfach so im Stich lassen. Die Bar füllte sich langsam mit Stammgästen, die immer um die Mittagszeit kamen, also nahm sie ihre Ofenkartoffeln und noch ein Biermischgetränk mit in eine Ecke und versuchte, möglichst auszusehen wie ein Teil des Gebälks. Die Körpersprache der Gäste verriet eine Menge über die Bewohner eines Dorfes. Die Müßiggänger am Rand stützten einen Ellbogen auf, andere machten sich breit und legten beide Ellbogen auf die Theke, der Freundeskreis thronte in der Mitte, der Stammgast saß auf seinem Platz, und die Durchreisenden und Rentner zogen sich bescheiden an die Tische zurück. Von der ersten Sorte waren heute nur wenige da, denn das waren meistens Pendler oder Wochenendgäste, aber die anderen waren in großer Anzahl vertreten. Im Telefonbuch gab es keine Elgins, aber jede Menge Todds, die in der Gegend wohnten, darunter auch den Fleischer. Aber es war ein Allerweltsname, und obwohl sie es geduldig bei allen probiert hatte, hatten alle abgestritten, irgendetwas mit Davy Todd zu tun zu haben. Aber sie dachte daran, dass der Mord über siebzig Jahre zurücklag. Das Gedächtnis konnte sowohl kurz als auch lang sein, wenn es um Mord ging, und sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Sie hatte den Zeitpunkt für ihren Besuch in Wickenham mit Bedacht gewählt, denn laut Lokalzeitung gab es diese Woche in der Dorfhalle eine Ausstellung alter Postkarten, organisiert von einem Mr. Jim Hardbent. Das war ihr Plan für den Nachmittag, und sie erhoffte sich viel davon. Die Dorfhalle thronte hinter dem Park auf einem großen, eigenen Platz, an einer neuen Straße gelegen und zudem mit einem Parkhaus ausgestattet. Ein modernes Gebäude, das aussah, als verdanke es seine Existenz einem reichlichen Geldsegen. Die Ausstellung befand sich in einem Nebenzimmer, die Halle wirkte leer, und Georgia war erleichtert, dass ein Mann allein an einem Tisch saß. Sie beschloss, mit der Ausstellung anzufangen. Sie wunderte sich, dass es von einem einzigen Dorf so viele verschiedene Postkarten geben konnte. Sie dankte dem Schicksal, dass die meisten aus der Blütezeit der Dorfpostkarten stammten – dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Sie nahm sich Zeit und versuchte, nicht nur Informationen zu sammeln, sondern auch in die Atmosphäre einzutauchen und sich vorzustellen, wie das Dorf wohl zu Ada Proctors Zeit ausgesehen hatte. Danach wandte sie sich an den ‚Museumsdirektor‘. „Sind Sie Mr. Hardbent?“, fragte sie. Wenn ja, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Kein junger Sammler, sondern ein braungebrannter, bärtiger Mann mittleren Alters oder schon etwas älter. Er hatte wahrscheinlich sein ganzes Leben hier verbracht und kannte den Hintergrund jeder einzelnen Postkarte. „Das bin ich.“

„Gibt es eine Karte mit dem alten Haus des Arztes, vor dem Zweiten Weltkrieg?“, fragte sie. „Ich interessiere mich für den Mord an Ada Proctor.“

„Tatsächlich?“ Er schaute sie aufmerksam an. Er sah vielleicht aus wie ein einfacher Dorfbewohner, aber sein Blick war wachsam. „Was ist daran interessant?“

„Davy Todd“, erwiderte sie prompt. Er nickte. „Und warum?“ Wenigstens hatte er von ihm gehört. Eins zu null für Davy. „Ich untersuche alte Mordfälle.“

„Komischer Job für eine Frau. Was hat das für einen Sinn? Gruselig nenne ich das.“

„Wenn Sie zur Familie des Opfers gehören würden, hätten Sie sicher nicht gern das Gefühl, dass Ihr Angehöriger einfach in der Anonymität verschwunden und in Vergessenheit geraten ist. Und wenn die Verwandten des Mörders der Meinung sind, es sei ein Unrecht geschehen, so haben sie vielleicht auch nichts gegen neue Ermittlungen.“ Sie hatte das Gefühl, dass sie sich ungeschickt ausdrückte und eine abweisende Antwort verdiente. „Lassen Sie sie in Frieden ruhen, sage ich.“

„Wenn Sie meinen. Ich weiß nicht, ob im Fall Ada Proctor ein Fehlurteil gefällt wurde, aber ich möchte mehr herausfinden. Wenn es nichts gibt, gehe ich wieder. Wenn doch, grabe ich so viel wie möglich aus, bis ich weiß, was wirklich passiert ist.“ Er dachte nach, und zu ihrer Erleichterung nickte er widerwillig. „Ich zeige sie Ihnen. Sie haben sie übersehen.“ Er ging mit ihr zu einem der Stände und wies auf eine Postkarte einer recht unscheinbaren Villa im spätviktorianischen Stil. „Um 1910 aufgenommen. The Firs hieß es.“

„Und wem gehört es jetzt?“ Sie erinnerte sich nicht, es gesehen zu haben. „Es wurde schon vor Jahren für ein neues Bauprojekt abgerissen. Im Krieg wurde es von einer Fliegerbombe getroffen.“ Ohne, dass sie darum gebeten hatte – auch wenn sie wusste, dass sie eingeschätzt wurde –, zeigte er ihr den Rest der Ausstellung und erklärte alles so eingehend, dass das Dorf in ihrer Phantasie zum Leben erwachte. „Das ist Wickenham Manor.“ Er wies auf ein großes klassisches Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert, umgeben von Gärten. „Es hat sich kaum verändert, auch wenn es jetzt ein Hotel ist. Das Anwesen war vor dem Krieg noch größer, sie mussten einiges davon verkaufen. Squire Bloomfield hat nichts mehr zu sagen, auch wenn die Familie noch im Dorf wohnt und ihr das Hotel gehört.“

„Weiß die Familie vielleicht etwas über den Mordfall Proctor?“

„Kann sein. Sagen Sie ihnen, dass ich Sie geschickt habe.“ Eine Pause. „Sie sind nicht von hier, oder?“

„Nein. Ich komme von der anderen Seite des Medway und bin somit einer Ihrer Feinde“, sagte sie ernst. Die uralte Unterscheidung zwischen ‚aus Kent‘ und ‚kentisch‘ spielte immer noch eine Rolle, deshalb war sie immer vorsichtig. „Haben Sie keine eigenen Morde bei sich zu Hause, die Sie untersuchen können?“ Er antwortete im gleichen Ton, nicht unbedingt abweisend, fand sie, aber sie fühlte sich immer noch wie unter einem Mikroskop. „Dieser interessiert mich. Er wirkt so“, sie suchte nach dem richtigen Wort, „unwahrscheinlich.“

„Warum?“ Wieder musste sie sich rechtfertigen, aber daran war Georgia gewöhnt und antwortete unumwunden. „In den Zeitungsberichten kommt Ada einem nicht vor wie der Typ Frau, der sich in einen Gärtner verliebt, noch dazu in einen, der nur etwas mehr als halb so alt war wie sie. Was wollten die beiden zusammen, da draußen – wenn sie zusammen waren?“

„Das weiß man nicht, oder? Wie die Leute sind, meine ich.“ Es trat wieder eine Pause ein, dann fügte er hinzu: „Dafür brauchen Sie Bert Todd. Sie finden ihn im Altenheim – wenn er nicht im Green Man ist.“

„Ich habe ihn angerufen, aber er sagte, er sei nicht mit Davy verwandt.“ Sie erinnerte sich lebhaft an das Telefonat – das kürzeste ihres Lebens. Er hatte nur gesagt „Nein, bin ich nicht“ und aufgelegt. „Natürlich hat er das gesagt. Niemand will einen Onkel, der wegen Mordes gehängt wurde. Sie können versuchen, ihn umzustimmen. Sagen Sie ihm, dass Jim Hardbent Sie geschickt hat.“

„Danke.“ Georgia war wirklich dankbar. Endlich ein Türöffner, und sie würde ihn nicht unbedacht verschwenden. „Wie würden Sie es finden, wenn mein Vater und ich – wir arbeiten zusammen – der Meinung sein sollten, dass der Mordfall Proctor Material für ein Buch bietet?“ Am besten formulierte sie die Frage explizit. Jim Hardbent würde sicher nicht gern hören, dass in Wickenham generell etwas „faul“ war. Eine lange Pause trat ein, die sie nicht verstand. Dann antwortete er: „Ich würde es wohl lesen. Wenn es richtiggemacht wurde.“ Was sollte sie davon halten? Er wartete auf ihre Reaktion, also war sie noch nicht aus dem Schneider. Sie entschied sich für die Flucht nach vorn. „Ihre Postkarten. Die sagen die Wahrheit, nicht wahr? Auch wenn die Wahrheit hundert Jahre alt ist. Wir betrachten sie aus der Distanz und fällen keine Urteile, ziehen aber Schlüsse. Genau das tun mein Vater und ich in unseren Büchern. Okay?“ Wieder eine Pause. Dann sinnierte er: „Mein Dad hat oft von dem Fall erzählt. Er ist mit Davy Todd zur Schule gegangen.“

„Tatsächlich?“ Ihre Neugier war geweckt. „Was für ein Junge war Davy? Kannte Ihr Vater auch Ada?“

„Davy war merkwürdig, sagte Dad, aber er sagte nie, warum. Und Ada, nun ja, sie war die Tochter des Arztes. Sie passten nicht zusammen. Es gab viel Gerede, sagte Dad immer. Angeblich war Davy nicht der Einzige, mit dem sie sich traf.“

„Er hat nicht abgestritten, dass sie verabredet waren, aber laut seiner Aussage erst für den nächsten Abend. Und selbst wenn, warum sollte sie so verrückt gewesen sein, mit ihm in die Felder zu gehen?“

„Er war der Gärtner. Sie konnte sich nicht unter den Augen ihres Vaters mit ihm abgeben, oder? Sie musste ihre Verehrer woanders treffen. Dad sagte, es sei nicht das erste Mal gewesen, dass sie mit Davy in die Felder ging – oder mit einem anderen.“ Jetzt ging es los. Sie kam dem Kern der Sache näher. „Auf den Bildern, die ich gesehen habe, sah sie nicht aus wie eine Frau, die an jedem Finger zehn Liebhaber hat.“

„Die sehen nie so aus, nicht wahr?“ sagte Jim geheimnisvoll.

Der Gedanke, dass es offenbar mehr über Ada herauszufinden gab, versetzte Georgia in Hochstimmung. Sie beschloss, den Friedhof zu erkunden. Adas Vater hatte sie sicher hier beerdigen lassen, die Frage war nur, ob das Grab hier bei St. Nicholas war oder auf dem neuen Friedhof, an dem sie auf dem Weg nach Wickenham vorbeigekommen war. Die Kirche befand sich am Rand des Anwesens von Wickenham Manor, zwischen dem Green Man und der Auffahrt zum Hotel. Der Friedhof war recht groß. Ein Blick auf die ersten Grabsteine sagte ihr, dass sie am richtigen Ort war. Auf mehreren stand der Name Hardbent und bestärkte sie in der Annahme, dass Jim in Wickenham geboren war. Es dauerte eine Weile, bis sie die Gräber der Proctors gefunden hatte. Adas Eltern und mehrere andere Vorfahren waren hier beerdigt. Adas Grab befand sich neben dem ihrer Eltern und hatte einen schlichten Stein mit der Inschrift: Ada Proctor, 1892–1929. Geliebte Tochter von Edward und Winifred. Ruhe in Frieden. Das Grab war nachlässig gepflegt und zugewachsen, aber nicht völlig verwahrlost, und sie fragte sich, wer sich nach dem Tod von Adas Vater darum gekümmert hatte. Die Todds? Sie ging mit neuem Schwung wieder in den Pub. Sie würde die Bloomfields erst einmal in Ruhe lassen, aber am gleichen Abend stellte sie sich Bert Todd vor. In der Bar des Green Man war er leicht zu finden. Ein großer Mann, er saß auf einem Eckstuhl, der wohl sein Stammplatz war. Sie erinnerte sich, dass sie ihn auch mittags dort gesehen hatte. „Ah. Jim hat schon gesagt, dass Sie kommen und mich ausfragen würden. Ich mag keine neugierigen Frauen“, war seine ermutigende Einleitung. „Ich auch nicht“, erwiderte sie. „Ich bin interessiert, nicht neugierig. Das ist etwas Anderes. Darf ich Sie auf ein Pint einladen?“

„Meinetwegen, aber die Antwort bleibt gleich. Ich rede nicht.“

„In Ordnung.“ Georgia holte das Pint und stellte es ihm hin. „Ich verstehe Sie“, sagte sie und setzte sich neben ihn. „Sie halten Ihren Onkel für schuldig, deshalb wollen Sie nicht darüber reden.“ Er verschluckte sich vor Verblüffung. „Ich will einfach nicht reden! Kapiert?“

„Nehmen wir an, er war unschuldig. Ich sage nicht, dass er wirklich unschuldig war, weil ich es nicht weiß. Aber ich will mehr über den Fall wissen.“

„Hören Sie, Miss, ich gehe nicht in den Pub, um mich mit einer verdammten Frau zu streiten – dafür habe ich eine zu Hause!“ Sie lachte und seine Miene hellte sich auf. „Nichts für ungut.“

„Kein Problem.“

„Hören Sie, ich erzähle es Ihnen“, bot er großzügig an. „Ich weiß nicht, ob Onkel Davy schuldig oder unschuldig war, aber man könnte es dem armen Teufel nicht vorwerfen, wenn er es getan hätte. Er war zwanzig, ein gutaussehender Bursche, den Bildern nach zu urteilen, und die Dame des Hauses hat sich an ihn herangemacht. Ada Proctor war mannstoll. Jeder war ihr recht. Verheiratet, jung, alt – einfach jeder. Meine Großmutter sagte, sie war nicht ganz richtig im Kopf. Hat ihren Verlobten im Großen Krieg verloren und war danach hinter allem her, was Hosen anhatte.“

„Gibt es noch Leute im Dorf, die alt genug sind, um sich an Davy oder die Proctors zu erinnern? Ich möchte mit möglichst vielen reden.“

„Der alte Doktor ist kurz nach Miss Ada gestorben, und sie war sein einziges Kind. Aus dieser Familie lebt niemand mehr. Und Davy – ich denke, mein Cousin Ned und ich sind die Einzigen, die etwas über ihn wissen. Von unseren Vätern also. Ned war erst zwei, als Davy aufgeknüpft wurde, aber Neds Familie hat damals nicht hier gewohnt. Ich wurde in dem Jahr geboren – 1930.“

„Und es gibt keine Elgins mehr?“ Er nippte an seinem Pint. „Nicht, dass ich wüsste. Es gibt Leute, die sich vielleicht erinnern, aber nichts wissen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Als sie abends in ihr Zimmer kam, wäre sie fast sofort ins Bett gesunken, aber sie raffte sich auf, zu notieren, was sie an diesem Tag erreicht hatte. Sie hatte gut angefangen, sagte sie sich, und überflog ihre gekritzelten Ergebnisse, auch wenn sie den leisen Verdacht hatte, dass ihr etwas entgangen war. Morgen würde sie ihre Notizen für Peter auf dem Laptop abtippen, nahm sie sich vor, und dann würden Fragen aufkommen. Alles führte zu Ada Proctor. War sie der Typ Frau A oder Frau B, die brave zurückhaltende Tochter oder die sexbesessene Rebellin? Oder beides? Jetzt kam ihr ein Gedanke. Man konnte Berts Geschichte zur Kenntnis nehmen, aber vielleicht verzerrten Hörensagen und Tratsch die Wahrheit. Außerdem war er ein Todd, und seine Familie hatte vielleicht ein wenig schmeichelhaftes Bild von Ada überliefert. Georgia war sich unbehaglich bewusst, dass sie sich normalerweise nicht so früh auf eine Person oder einen Aspekt eines Falles konzentrierte wie hier in Wickenham. Ada war anders, sagte sie sich, oder wollte sie, Georgia, es so sehen? Ada war in den Dreißigern gewesen, alleinstehend, und hatte bei ihrem Vater gelebt und für ihn gearbeitet. Ada hatte ihren Verlobten im Krieg verloren. Georgia fragte sich, ob sie Gemeinsamkeiten sah? War Ada einen Schlingerkurs gefahren? Hatte sie es weder geschafft, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, noch nach vorn zu schauen, weil die Schatten ständig da gewesen waren? Georgia schauderte. Sie hatte ihre eigenen Schatten und Zac war nur einer davon. Seinen Schatten musste man sich stellen. Hatte Ada das getan, oder hatte sie sich hinter ihrer Rolle als Arzttochter und -helferin verschanzt? Oder hatte sie aufbegehrt, indem sie sich Liebhaber suchte? Bleib auf dem Teppich, Georgia, wies sie sich selbst zurecht. Du phantasierst, mein Mädchen. Ada war wahrscheinlich genauso gewesen, wie sie in den Gerichtsakten wirkte: eine pflichtbewusste Tochter, die andere Wege als die Ehe gesucht hatte, um ihrem Leben einen Sinn zu geben. Für sie selbst waren die Schatten zum Glück nur flüchtig; Gäste, die nicht lange blieben.

Am nächsten Morgen stärkte sich Georgia für die schwere Arbeit der Forscherin mit einem ausgiebigen englischen Frühstück und überdachte mit klarem Kopf, welche Möglichkeiten sie hatte. Sie nahm sich vor, sich die Postkartenausstellung noch einmal anzusehen, und für gutes Wetter bei Jim zu sorgen. Sie wusste, dass seine Unterstützung nicht selbstverständlich war, und daher rührte auch ihr leiser Zweifel. Sie spürte, dass er immer noch nicht sicher war, was er von ihr halten sollte. Warum war er so schnell bereit gewesen, sie zu unterstützen? Was auch immer der Grund war, er half ihr nicht aus Nächstenliebe, sie musste sich seine Mitwirkung verdienen. Aber vorher wollte sie die Stelle finden, an der Ada gestorben war. Das Feld namens Crown Lea lag am Ende eines Seitenwegs; ein zugewachsener Pfad, der von der Hauptstraße abzweigte. Sie erinnerte sich, dass sie ihn in der Nähe der ehemaligen Teestube gesehen hatte. Sie nahm die Landkarte mit und fand den Weg, den Ada genommen haben musste – im Dunkeln