Mord auf Woodring Manor - Amy Myers - E-Book

Mord auf Woodring Manor E-Book

Amy Myers

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Beschreibung

Ein Vater-Tochter-Detektivduo suchen den Mörder eines Kriegshelden
Der neue Fall für Marsh & Daughter

Bei einem Wiedersehen von Spitfire-Piloten aus der Schlacht um England erfahren Georgia und Peter Marsh, dass in den 1970er Jahren ein bisher ungeklärter Mord stattgefunden hat, und beschließen, zu ermitteln. Das Opfer war der populäre Kriegsheld Patrick Fairfax. Doch als das Vater-Tochter-Team den Fall untersucht, entdecken sie, dass Fairfax nicht so beliebt war, wie er zunächst allgemein erschien. Die Familie Fairfax hält die Flamme der Bewunderung am Brennen, vielleicht um zu verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt? Doch bald machen Peter und Georgia eine Entdeckung, die einen tödlichen Lauf von Ereignisse in Gang setzt …

Erste Leserstimmen
„Ein sehr sympathischer Cosy Crime der alten Schule.“
„Es macht einfach Spaß, den beiden bei ihrer mitreißenden Spurensuche zu folgen.“
„spannend, rätselhaft und amüsant“
„Wer Detektivromane nach britischem Vorbild mag, wird diesen Roman lieben.“

Weitere Titel dieser Reihe
Die Morde von Wickenham (ISBN: 9783968171579)
Die Morde von Wickenham (Hörbuch) (ISBN: 9783968171975)
Die Melodie der Toten (ISBN: 9783968172996)
Die Melodie der Toten (Hörbuch) (ISBN: 9783968173092)
Mord auf Woodring Manor (Hörbuch) (ISBN: 9783968173962)

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Seitenzahl: 426

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Über dieses E-Book

Bei einem Wiedersehen von Spitfire-Piloten aus der Schlacht um England erfahren Georgia und Peter Marsh, dass in den 1970er Jahren ein bisher ungeklärter Mord stattgefunden hat und beschließen, zu ermitteln. Das Opfer war der populäre Kriegsheld Patrick Fairfax. Doch als das Vater-Tochter-Team den Fall untersucht, entdecken sie, dass Fairfax nicht so beliebt war, wie er zunächst allen erschien. Vielleicht hält die Familie Fairfax vielmehr die Flamme der Bewunderung am Brennen, um zu verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Schon bald machen Peter und Georgia eine Entdeckung, die einen tödlichen Lauf von Ereignissen in Gang setzt …

Impressum

Deutsche Erstausgabe Dezember 2020

Copyright © 2021 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-378-8 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-409-9

Copyright © 2006 by Amy Myers Titel des englischen Originals: Murder in Hell's Corner

Veröffentlicht nach Vereinbarung mit Amy Myers.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Übersetzt von: Nadine Erler Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Wichai Prasomsri1 stock.adobe.com: © st1909, © Chansom Pantip, © Leonid Ikan depositphotos.com: © christas Korrektorat: Martin Spieß

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Mord auf Woodring Manor

Vorwort der Autorin

Der Flugplatz von West Malling wurde 1940 während der Luftschlacht um England heftig von der Luftwaffe bombardiert, ebenso wie andere Flugplätze in Kent und Sussex, um sie vor einem Einmarsch der Deutschen unbrauchbar zu machen. In diesem Roman kommt die fiktive Schwadron 362 zum Einsatz, aber in Wirklichkeit flogen keine Spitfires von West Malling aus, bis die Schlacht Ende Oktober zu Ende war. Während der Schlacht war nur eine Schwadron 26 auf diesem Flugplatz aktiv und flog Lysander-Maschinen. Robin J. Brooks’ From Moths to Merlins bietet eine unschätzbare Geschichte des Flugplatzes, der jetzt nicht mehr existiert und einer Siedlung aus Häusern und Geschäften Platz gemacht hat. Ich möchte dem Luftfahrthistoriker Norman Franks dafür danken, dass er meine Fragen so geduldig und überzeugend beantwortet hat, ebenso wie Marion Binks, Douglas Tyler und dem Tangmere Aviation Museum. Alle etwaigen Fehler in dem Roman gehen allein auf mein Konto. Ich danke auch Edwin Buckhalter und meiner Lektorin Amanda Stewart von Severn House für ihr Interesse an diesem Projekt und meiner Agentin Dorothy Lumley von der Dorian Literary Agency für ihre immerwährende Unterstützung. Und schließlich bin ich dankbar für die Erinnerungen, die mir die echten Spitfire-Piloten persönlich anvertraut und in ihren Memoiren während meiner Jahre beim Verlag William Kimber hinterlassen haben.

1. Kapitel

„Nein, lass uns lieber da entlang gehen.“ Georgia Marsh kämpfte gegen eine plötzliche, unerklärliche Panik. Sie versuchte unbefangen zu klingen, aber Luke ließ sich nicht so leicht täuschen.

„Es sieht dir gar nicht ähnlich, einem bisschen Matsch auszuweichen. Was ist los?“

„Nichts.“ Es klang albern, aber was sollte sie sonst sagen? Luke war der Verleger von Marsh & Daughter und der Mann, den sie liebte, aber trotzdem – er trieb sich auf einem Gebiet herum, zu dem nur sie und ihr Vater Zutritt hatten. Wie konnte sie Luke dem (anscheinend) Ruhigen, dem (nach außen hin) Entspannten und (wenn es ihm passte) Pragmatischen erklären, dass dieser zugewachsene schlammige Pfad durch das Unterholz, der so verlockend hinter einer Kurve verschwand, für sie bedrohlich aussah? Manche Orte hatten diese Atmosphäre von menschlichem Leid, das sich Gehör verschaffen wollte. Ein solcher Ort lag vor ihnen. Sie war sicher und es machte ihr Angst.

„Du bist ganz blass“, bemerkte Luke ungerührt, sah sie jedoch aufmerksam an. „Was heißt ,nichts’?“

Georgia schluckte. Angenommen, es war wirklich nichts? Sie konnte sich doch irren, oder? Vielleicht war es einfach nur die Finsternis, die sich am helllichten Tag so plötzlich vor ihr aufgetan hatte. Und wenn es eine Drachenhöhle war, sollte sie sich den Drachen stellen und Feuer mit Feuer bekämpfen!

„Okay, gehen wir, Indiana Jones.“ Sie war selbst überrascht von ihrer plötzlichen Kühnheit. Sie ging sogar voran, jedoch mit vorsichtigen Schritten – der Pfad war feucht und überwuchert. Es konnte nicht so schlimm sein, sagte sie sich. Schließlich war dies die gepflegte Anlage eines florierenden Hotels im sogenannten ländlichen Kent, nicht das Ende der Zivilisation. Trotzdem ging sie vorsichtig weiter und war froh, Luke hinter sich zu wissen; so konnte er sich nicht unerwartet umdrehen und ihr bleiches Gesicht sehen. Dann kamen sie zu der Kurve des Weges … Vorwärts, sagte sie sich energisch, und unterdrückte den Impuls, sich umzudrehen und davon zu laufen.

Aber schon nach wenigen Schritten konnte sie nicht weiter. Stattdessen blieb sie stehen, versunken in den Anblick, der sich ihr bot, bis Luke neben ihr war. Sie war hypnotisiert wie Wordsworth von seinen Narzissen, hatte aber sicher nicht das gleiche Gefühl. Bei ihr war es Erleichterung über das, was sie vor sich sah – der blaue Schleier eines Waldes in Kent im Mai. Der Pfad vor ihnen führte in ein Tal, das durch einen Wall vor neugierigen Blicken geschützt war. Zu beiden Seiten wuchsen reichlich Glockenblumen, ein blaues Meer, aus dem hier und da ein grauer Felsen herausragte. Es war anders als die übrigen Gärten von Woodring Manor. Wenn sich überhaupt Gärtner hierher verirrten, dann suchten sie die Natur und zwangen ihr nicht ihren Willen auf.

„Glockenblumen“, verkündete Luke zufrieden. „Bist du jetzt nicht froh, dass du nicht ausgerissen bist?“

Georgia antwortete nicht. Sie konnte nicht. Ihre Erleichterung wich einer quälenden Unruhe, die sich nicht abschütteln ließ. Ihr Instinkt hatte sie nicht getrogen. So herrlich der Anblick auch war, hinter diesen Glockenblumen verbarg sich eine Tragödie, und deren Wurzeln lagen in diesem kleinen Tal. Es roch nach Tod.

„The Ash Grove“, sagte sie abrupt.

„Buchen und Haselnusssträucher, würde ich sagen“, antwortete Luke gleichgültig und ging hinunter ins Tal.

Sie wollte ihm folgen, aber ihre Beine versagten ihr den Dienst. Around us for gladness the bluebells were ringing .. Amid the dark shades of the lonely ash grove. Ging so nicht das alte Volkslied? Das Wäldchen war ein Ort voller Kummer, Tod und Verlust gewesen, auch wenn die Geschichte dahinter in Vergessenheit geraten war. Was verbarg sich hier? Sie wollte Luke zurufen, dass er sich in Sicherheit bringen und aus dem Märchenwald flüchten sollte, und musste sich zwingen, ruhig zu bleiben.

„Du spinnst, Georgia“, sagte sie sich und als er wieder bei ihr war, hatte sie sich fast davon überzeugt, dass es stimmte.

„Es wird Zeit, dass wir Peter suchen“, sagte Luke und nahm ihren Arm. Es war ein gutes Gefühl, auch wenn sie nur ungern zugab, dass sie Gesellschaft brauchte. „Er müsste jetzt hier sein.“ Sie hatte bei Luke in South Malling übernachtet und ihr Vater wollte heute Morgen aus Haden Shaw kommen. Sie wohnten beide dort, in der Nähe von Canterbury.

„Man muss ihn nie lange suchen.“ Sie brachte ein Lachen zustande. Alles war wieder normal, jetzt, da das Tal hinter ihr lag.

Woodring Manor war keine architektonische Schönheit mit seinen viktorianischen Türmen, nachgemachten Balken und einem Hauch gotischer Pracht, aber es war ein Blickfang. Das dachte Georgia, als sie den See umrundeten und den Hang zur Terrasse und zum Hotel hinaufgingen. Es befand sich mitten im Nichts auf einem niedrigen Hügel am Ende einer Landstraße, die von der Mereworth Road abzweigte. Rasen und Gärten führten zu einem kleinen See hinunter und jenseits davon begann die Wildnis des Waldes. Damit die Mittagsgäste die Aussicht genießen konnten, hatte man den früheren Ballsaal und den Speisesaal zu einem Restaurant umgebaut und auch ein kleiner Wintergarten mit Bar fehlte nicht. Als sie und Luke bei der Terrasse ankamen, sah sie eine Gruppe älterer Herren, die in Sesseln saßen und sich unterhielten – darunter Peter, der irgendwie seinen Rollstuhl in den Kreis manövriert hatte. Dadurch schien er über ihnen zu thronen und wirkte wie der Anführer der Gruppe, was Georgia sehr lustig fand – vor allem, als sie näherkamen und sie sah, dass die Männer alle Uniform und die gleichen Krawatten trugen. Die Aufmachung kam ihr bekannt vor.

„Royal Air Force“, flüsterte Luke ihr zu. Mittlerweile las er ihre Gedanken so leicht, dass es Georgia schon fast unbehaglich war. Jetzt begriff sie, warum Peter so in sein Gespräch vertieft war, dass er ihre Ankunft nicht bemerkt hatte. Sein Vater hatte bei der Royal Air Force gedient und an ihm hatte sie natürlich diese Krawatte gesehen.

Was verlangte die Etikette?, fragte sie sich. Hier gab es nicht genug Sitzplätze für sie alle, aber Peter hatte offensichtlich nicht vor, sich vom Fleck zu rühren.

„Georgia, Luke“, rief er erfreut, als er sie beide endlich zur Kenntnis nahm. „Darf ich bekannt machen – die Spitfire-Schwadron 362. Sie versammeln sich hier zum Gedenken an den Militärflugplatz West Malling, an den jetzt leider nur noch ein Kontrollturm und eine Bronzestatue erinnern.“

Spitfires? Meinte er den Zweiten Weltkrieg oder die Nachkriegszeit?, fragte sie sich. Peter wollte es ihnen offenbar gerade erzählen, aber als er anfing, die Gruppe vorzustellen, erschien der Restaurantchef und bat die Veteranen, zum Essen zu kommen. Georgia behielt nur ein Knäuel aus Namen und Eindrücken: da waren ein beinahe kahlköpfiger, magerer Mann mit wachen Augen, ein rotwangiger Mittelpunkt der Gruppe, ein ernster, grauhaariger, intellektueller Typ, ein stämmiger, energischer Typ und ein beinahe knochendürrer Mann mit verwirrtem Blick. Sie mussten alle mindestens fünfundachtzig sein, ein oder zwei vielleicht schon fast neunzig, schätzte sie. Also hatten sie vielleicht im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Das Quintett verabschiedete sich mit höflichen Floskeln, griff nach Gehstöcken, straffte die hängenden Schultern unter weiten Anzugjacken und rief sich Namen zu. Sie schnappte Daz, Bob und Jan auf.

„Zusammen haben sie so viele Medaillen und Geschichte, dass sie ein Museum eröffnen könnten“, sagte Peter zufrieden, als sie und Luke in den nun leeren Sesseln Platz nahmen. „Ist euch aufgefallen, dass einer von ihnen den Distinguished Service Order hatte und ein paar das Distinguished Flying Cross?“

„Alle aus dem Zweiten Weltkrieg?“, fragte Luke.

„Ich glaube schon.“

„Und ich dachte, du würdest schon ihre gesamten Lebensgeschichten kennen“, sagte seine Tochter.

„Leider nicht, Georgia“, sagte Peter, ohne beleidigt zu sein. „Mein berühmter Charme hat nicht gewirkt, auch wenn sie sehr nett waren.“ Eine Pause, dann fragte er unschuldig: „Wollen wir im Restaurant essen?“

„Hey, was ist aus der schnellen Kleinigkeit in der Bar geworden?“, fragte Georgia.

„Ich lade euch beide ein“, sagte Peter entschieden.

„Da können wir nicht nein sagen“, erwiderte Luke liebenswürdig. „Einverstanden, Georgia?“

Sie nickte. „Peters Neugier stelle ich mich nie in den Weg.“

„Wie gut du mich verstehst!“, sagte ihr Vater. „Zugegeben, ich habe ein gewisses Interesse. Worüber spricht man bei solchen Veteranentreffen?“

„Über die alten Zeiten.“

„Das ist es ja gerade“, sagte Peter. „Sie haben es nicht getan, als ich dazukam.“

„Weil du dazukamst“, verbesserte Luke.

„Meinst du, sie haben aus Rücksicht auf einen Mann im Rollstuhl aufgehört, über ihre Kriegserinnerungen zu reden? Dann könnten sie gar nicht darüber sprechen. Im Krieg haben sie sich sicher schnell an den Anblick Behinderter gewöhnt.“

„Ich meinte, dass du ein Außenstehender warst“, erklärte Luke gelassen.

„Nach meiner Erfahrung sind Außenstehende das beste Publikum“, sagte Peter. „Schließlich habe ich ein persönliches Interesse. Mein Vater war Pilot in Burma.“

Damit bestätigte sich Georgias Verdacht. Aus irgendeinem Grund hatte der Bluthund Witterung aufgenommen. Es war ihre von ihnen beiden akzeptierte Pflicht, das im Keim zu ersticken, wenn sie konnte. Wenn nicht, war etwas dran.

„Manche Leute wollen über ihre Kriegserlebnisse reden, andere nicht“, sagte sie rundheraus. „Man kann sie nicht am Kragen packen und verlangen, dass sie reden wie Lewis Carrolls alter Mann auf der Pforte.“

Peter sah aus, als habe man ihn in seiner Ehre gekränkt. „Ich denke, das ist mir klar – so viel Taktgefühl habe ich dann doch noch. Deshalb“, sagte er nachdenklich, als Luke verschwand, um mit dem Kellner zu reden, „merke ich auch, dass du nicht darüber reden möchtest, was dich draußen im Garten so aufgeregt hat. Streit mit Luke?“

„Nein. Dieser Ort“, sagte sie unumwunden und hielt sich nicht damit auf, dass ihr Vater sein Taktgefühl so schnell wieder vergaß. „An einem Ufer – in einem verwilderten Teil des Gartens – fließen Teiche in den See und am anderen Ufer liegt ganz versteckt ein Tal voller Glockenblumen.“

„Aber du hörst keine Glocken läuten?“

„Ganz sicher nicht.“ Sie warf ihm einen Blick zu und wusste, dass er es verstehen würde. „Vielleicht geht es nur mir so ...“

„Oder vielleicht wirkt es auf mich genauso. Nun gut, ich sehe es mir nach dem Essen an. Kommst du mit?“

Sie zog ein Gesicht. „Das sollte ich wohl, sonst wird Luke sich fragen, warum du dich allein auf den Weg machst, um Glockenblumen zu besichtigen.“

„Ich glaube, Luke bekommt mehr mit, als du dir vorstellst. Vielleicht fühlt er sich sogar ausgeschlossen.“

Georgia wischte den Einwand ungeduldig beiseite. „Darüber haben wir doch schon gesprochen. Selbst wenn Luke es als Privatperson versteht, tut der Verleger in ihm es vielleicht noch lange nicht. Wir geben uns solche Mühe dabei, das, was unsere Neugier weckt, von den Tatsachen zu trennen, aus denen am Ende das Buch entsteht. Wir sind uns darin einig, dass sie für sich sprechen, also warum sollen wir Luke unnötig Sorgen machen?“

„Weil er irgendwie zur Familie gehört, irgendwie aber auch nicht. Und ich muss sagen, liebe Tochter, dass das nicht ewig so gehen kann.“

„Ich weiß“, sagte sie ärgerlich. Ihr war klar, dass es ihre Schuld war. Aber der Status quo war viel bequemer als der Weg nach vorn, der vielleicht steinig sein würde – wenn er zu einer zweiten Ehe führte, die so endete wie ihre erste.

Als sie das Restaurant betraten, waren nur wenige Besucher da. Das war auch gut so, denn die Mitglieder der einstigen Schwadron 362 nahmen ihre Veteranentreffen offenbar ernst. Die Gruppe war wohl zu klein, dachte Georgia, um einen eigenen Raum zu bekommen, aber ein beinahe leeres Restaurant war anscheinend gut genug.

Sie beobachtete die ehemaligen Piloten interessiert, während sie, Peter und Luke ihre annehmbare Mahlzeit aßen. Einer von ihnen – der Stämmige, dessen Namen sie behalten hatte (er hieß Bob) – hatte einen Skizzenblock auf dem Schoß und zeichnete eifrig. Seine Kameraden merkten es nicht oder nahmen jedenfalls keine Notiz von ihm. Die Zeremonie – sogar die Erlaubnis, zu rauchen – ging mit einer Hingabe vonstatten, die Georgia rührend fand.

„Meine Herren – die Königin.“ Der dünne Mann mit dem verwirrten Blick brachte den Toast aus. Alle fünf waren offenbar in ihre eigenen Gedanken und den Grund für ihr Kommen vertieft. Selbst wenn das Restaurant überfüllt gewesen wäre, hätte es keinen Unterschied für sie gemacht, dachte Georgia. Angesichts ihrer Vergangenheit mussten alle Leute aus der Gegenwart ihnen vorkommen wie fahle Schatten, und heute rief sich die Schwadron 362 ihre Wertvorstellungen wieder ins Gedächtnis. Einmal stand der Mann mit den hellen Augen auf, um einen weiteren Toast auszubringen – sie hörte nicht, auf wen – und sagte die altbekannten, aber immer noch bezaubernden Zeilen auf:

Oh, I have slipped the surly bonds of earth

And danced the skies on laughter-silvered wings ...

Sie kannte das Gedicht, hatte es aber noch nie von Männern gehört, die tatsächlich am Himmel getanzt hatten, wenn es auch für sie oft ein Tanz mit dem Tod gewesen war. Sie alle konnten von sich sagen, dass sie wie der Dichter die Hand ausgestreckt und das Gesicht Gottes berührt hatten.

„Von John Magee“, flüsterte Peter. „Ein Kanadier. Er wurde 1941 abgeschossen und kam ums Leben, erst 19 Jahre alt. Bemerkenswert, ein solches Gedicht in Kriegszeiten zu schreiben. Und da drüben sitzen fünf, die für die gleiche Sache geflogen sind.“

„Das ist eine Menge“, bemerkte Luke, „wenn man es sich überlegt.“

„Fünf von tausend? Allein von der Bomberflotte kamen 55.000 ums Leben, ganz zu schweigen von den anderen Einheiten. Und das gilt nur für dieses Land, ohne die anderen Alliierten und die Deutschen.“

„Stimmt“, gab Luke zu, „aber wenn man davon ausgeht, dass zu jeder Zeit ungefähr zwölf Leute in einer Schwadron waren – und diese Männer sehen alle aus wie Mitte Achtzig, also war es wohl wirklich die gleiche Zeit – wo sind dann die anderen? Schwadronen starben nicht nach dem Krieg aus, sie existierten weiterhin. Wisst ihr, was ich glaube? Das hier ist kein Veteranentreffen einer ganzen Schwadron, sondern eines Teils einer Schwadron.“

„Interessant“, sagte Georgia. „Vielleicht hast du recht.“

„Wir Verleger sind manchmal eine geringfügige Unterstützung für euch schwer arbeitende Autoren“, sagte Luke liebenswürdig.

„Und noch etwas ist ungewöhnlich“, sagte Peter. „Es sind keine Frauen hier.“

Georgia lachte. „Die letzte Bastion einer Männerdomäne.“

„In gewisser Hinsicht ja“, sagte Peter ernst. „Aber diese Männer sind nicht mehr die Jüngsten und körperlich nicht mehr auf der Höhe. Wo sind die Krankenschwestern, die Helferinnen, die Ehefrauen, die Töchter, die sich um ihre armen alten Väter kümmern? Sogar Enkelkinder sind oft dabei, wenn Großväter vom Krieg erzählen.“

Georgia dachte nach. „Die Gruppe ist zu eng verbunden. Sie schließen alle Eindringlinge aus, jedenfalls die, die kein so dickes Fell haben wie du. Wahrscheinlich trinken sie, so viel sie wollen, und die Lakaien lesen sie auf, wenn es um Mitternacht zur Geisterstunde schlägt.“ Unwillkürlich kam ihr der Gedanke an eine Geisterstunde in dem Tal, aber sie verdrängte ihn sofort.

„Vielleicht.“ Peter gähnte – etwas demonstrativ, fand Georgia. „Ich brauche frische Luft. Ist euch nach einem Spaziergang durch die Gärten?“

„Schon wieder?“, jammerte Luke. „Ich bin für heute genug durch Matsch gestiefelt.“

„Vielleicht brauche ich jemanden, der mich schiebt“, sagte Peter energisch.

Die launische Sonne war jetzt verschwunden. Georgia schlenderte von der Terrasse aus in den Garten und war wild entschlossen, einen großen Bogen um das Tal zu machen. Peter kam allein bestens zurecht, sagte sie sich, und wahrscheinlich stimmte es auch. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Schwadron 362. Lukes Bemerkung hatte sie nachdenklich gestimmt. Wenn er recht hatte, warum war diese Gruppe hier? Nur um sich an ihre Zeit in West Malling während des Krieges zu erinnern?

„Wo ist der Flugplatz?“, fragte sie.

„Verschwunden – unter dem Einkaufszentrum von King’s Hill“, erwiderte Luke. „Ganz zu schweigen von den Mietshäusern. Es war traurig, mitanzusehen, wie er zugeschüttet wurde. Er hatte eine fantastische Landebahn, die noch aus der Zeit vor dem Krieg stammte und ab Mitte der 1930er Jahre vom Malling Aero Club betrieben wurde. Alle berühmten Piloten waren hier.“

„Amy Johnson?“, fragte Georgia.

„Ja, und Sir Alan Cobhams Flying Circus. 1939 übernahm die Royal Air Force den Flugplatz – ein Jahr später in der Luftschlacht um England war die Lage günstig für Biggin Hill und Kenley. Der Flugplatz gewann im Krieg noch mehr an Bedeutung, vor allem am Anfang der Bombenangriffe, aber im August 1944 wurde er für den Militärbetrieb geschlossen.“

„Und damit war seine Geschichte zu Ende?“

„Nein. Nach dem Krieg diente er der Royal Air Force weiterhin als Quartier – bis Anfang der 60er, dann haben die Amis ihn für ein paar Jahre übernommen und irgendwie blieb er in Betrieb, bis es zu teuer wurde und man ihn verkaufte.“

„Woher weißt du so viel darüber?”, fragte Georgia neugierig. Sie hörte zum ersten Mal, dass Luke sich für Luftfahrt interessierte, obwohl unter seinen Veröffentlichungen auch Geschichten und Memoiren aus dem Krieg waren.

„Das ist kaum zu vermeiden, wenn man hier wohnt. Jedenfalls war ich in den 1970ern mit meinem Dad hier, um die Red Arrows zu sehen ... Wo willst du hin?“ Luke sah sich überrascht um, als Peter seinen Rollstuhl wendete und den Pfad entlang polterte, der in das Tal führte. Georgia war froh, dass er sie nicht gebeten hatte, mitzukommen. Peter war manchmal anderer Meinung als sie und sie hoffte, dass er es dieses Mal nicht sein würde.

„Mir die Glockenblumen ansehen, von denen Georgia erzählt hat“, rief Peter ihm über die Schulter zu. „Verdammt! Ich stecke fest!“

Luke warf ihr einen raschen Blick zu, ging zu Peter und bugsierte den Rollstuhl aus dem Matsch. Sie hörte, dass Peter danke sagte, was ihm sicher schwerfiel. Peter hasste es, etwas nicht allein zu schaffen. Sie sah zu, wie er in seinem Stuhl auf die Wegbiegung zufuhr, aber dann verschwand er aus ihrem Blickfeld und man hörte nur noch die Vögel ihr Mai-Lied singen. Luke schwieg und Georgia fühlte sich schuldig. Schloss sie ihn wirklich nur aus, weil es vernünftig war, oder wollte sie bestimmte Teile ihres Lebens für sich behalten, als eine Art Pufferzone?

Als Peter zurückkam, nickte er ihr ernst zu und sie wusste, was das bedeutete. Er hatte das gleiche Gefühl wie sie. Die Sache war abgemacht, aber sie fand den Gedanken bedrückend. Sie mussten untersuchen, was dahintersteckte. Vielleicht war es gar nichts, vielleicht war es nur die Tragik einer unglücklichen Liebe und ging Marsh & Daughter nichts an. Kein unaufgeklärter Mordfall, kein Unrecht, das nach Wiedergutmachung schrie. Warum machte sie sich überhaupt Sorgen? Mit solchen Untersuchungen verdienten sie ihre Brötchen und es war seltsam, dass sie sich dagegen sträubte.

„Ein komischer Flecken Erde“, sagte Peter fröhlich auf dem Rückweg zum Hotel. „Habt ihr die großen Felsen mitten in den Glockenblumen gesehen? Das ist hier ist ja keine Berglandschaft, wie kommen diese riesigen Findlinge hierher? Sie müssen hier platziert worden sein, wahrscheinlich waren sie für einen Felsengarten gedacht. Man hat sie liegen gelassen und nun haben die Glockenblumen das Sagen.“

Das war ein unverfängliches Thema, aber Georgia war trotzdem froh, als sie wieder im Hotel waren. Peter ließ das Restaurant links liegen, fuhr schnurstracks auf den behindertengerechten Eingang zu und dann in Richtung Bar. Natürlich – er vermutete die Schwadron 362 dort. Er hatte etwas vor und das war kein Problem für sie, solange es nichts mit dem Tal zu tun hatte.

Im Hotel angekommen, ging sie zuerst auf die Damentoilette und erst dann in die Bar. Sie fand sich im Keller wieder. Dort mussten die Küchen gewesen sein, als das Haus gebaut worden war, aber jetzt waren hier Konferenzräume und Toiletten. Letztere waren sehr schön eingerichtet, gut beleuchtet und erfüllt vom Duft eines frischen Duftsträußchens. Aber es kam ihr düster vor und sie wollte so schnell wie möglich wieder hinaus. Sie war sogar dankbar für das Brummen des Handtrockners, das sie ablenkte. Es war kein Panikanfall wie im Tal, aber sie war trotzdem froh, als sie wieder auf dem Flur war.

Sie stieß wieder zur Schwadron. Sie saßen in Sesseln rund um einen Tisch in einer Ecke der Bar. Peter rollte gerade auf sie zu und gab sich sehr überrascht, sie wieder zu sehen. Er machte eine schmeichelhafte Bemerkung über das Gedicht von Magee, über sein Interesse am Zweiten Weltkrieg und die Erinnerungen an die Flugschauen, die er in seiner Jugend in Farnborough gesehen hatte. Natürlich sei er zu jung, sagte er bescheiden, um sich an den Krieg zu erinnern, aber vielleicht dürfe er sie auf einen Drink einladen?

Er durfte. Als die Getränke serviert waren und man sich vorgestellt hatte, fing Peter an, von der Laufbahn seines Vaters bei der Royal Air Force in Burma zu erzählen. Nur wenig davon stimmte, wenn Georgia sich richtig erinnerte, aber wenigstens taute die Stimmung so weit auf, dass sie und Luke sich in den erlauchten Kreis hineinwagten. Trotzdem herrschte eine ausgeprägte Atmosphäre von „Wir und die“.

„Ein interessantes Hotel ist das hier“, bemerkte Peter beiläufig.

Der Mittelpunkt der Gruppe ließ ein fiepsiges Lachen hören. Man hatte ihn als Harry Williams vorgestellt, aber seine Freunden nannten ihn Porgie. Wahrscheinlich nach Georgie-Porgie aus dem Kinderreim, der „die Mädchen küsste und sie zum Weinen brachte“.

„Matt sei Dank“, sagte Harry. „Es hat ihm gehört.“

Peter war beeindruckt. „Ein schönes Anwesen.“

Matt entpuppte sich als der dünne Mann, der den Toast ausgebracht hatte – der mit der verwirrten Miene.

„Nach dem Krieg hast du es den früheren Besitzern für ‘nen Appel und ‘n Ei abgekauft, nicht wahr, Matt?“, fuhr Harry fort und endlich musste Matt antworten. Georgia hielt ihn nicht für abweisend, er stand nur ungern im Rampenlicht.

„Ich habe es bis vor Kurzem geführt, dann hat Andrew es übernommen.“ Er flüsterte beinahe.

„Sein Sohn“, erklärte Harry hilfreich. „Er hat es vor drei Jahren verkauft und dann hat diese Hotelkette es übernommen. Jetzt haben sie hier einen Manager.“

„Waren Sie alle gemeinsam in West Malling?“, fragte Georgia fröhlich, als das Gespräch ins Stocken geriet.

„Eine Zeit lang“, antwortete der Intellektuelle. Er hieß Jan Molkar und sprach mit einem leichten Akzent, den sie nicht gleich einordnen konnte. Holländisch vielleicht? Wieder gab niemand einen Kommentar ab.

„War es damals schon ein Hotel?“, sprang Luke ein.

„Sozusagen“, erwiderte der, den sie Daz nannten. Es musste ein Spitzname sein, dachte Georgia, denn vorgestellt hatte man ihn als Reverend Bill Dane. Er trug nicht mehr den Kragen eines Geistlichen. Er hatte das Gedicht von Magee vorgelesen und schien immer noch der Lebhafteste der fünf zu sein.

„Es war unsere Offiziersmesse“, fuhr er fort, „und unsere Stuben hatten wir auch hier. Als der Krieg ausbrach, wurde es beschlagnahmt, so wie das Herrenhaus in Richtung Malling. Wie sich die alte Ordnung ändert! Die Gärten sind jetzt ein Park und das Haus wurde zu einem Mietshaus umgebaut. 1940 hatte die Schwadron 26 es sich unter den Nagel gerissen und für uns war kein Platz, also landeten wir hier.“

„Ein ganzes Stück vom Flughafen entfernt, nicht wahr?“, fragte Luke.

„Ja, das war auch der Sinn der Sache“, antwortete der mit dem Zeichenblock, Bob McNee. Sein Name und sein leichter Dialekt kündeten von seiner Herkunft. Auf Georgia wirkte er wie der typische Gemeinderat – denn alles an ihm verkörperte Stabilität und Zuverlässigkeit.

„Die Flugplätze wurden in der Luftschlacht um England immer wieder zerbombt“, fuhr Bob fort. „Es war schlimm genug, sie zu verlieren, ohne auch noch die kostbaren Piloten einzubüßen. All das Training wäre verschwendet gewesen.“

„Sie müssen die Gegend gut gekannt haben“, sagte sie. Keine geistreiche Bemerkung, aber irgendwie mussten sie ja das Gespräch in Gang halten. Sie hatte den Verdacht, dass sie sie loswerden wollten, doch das konnte es nicht sein. Die Körpersprache der Piloten war freundlich, aber es lag eine Spannung in der Luft, die sie sich nicht erklären konnte.

„Ja.“

„Und Sie sind die letzten Überlebenden der Schwadron?“, hakte sie nach.

„Nicht ganz. Wir sind ...“ Harry sah die anderen an. „Wir sind die Gruppe der Luftschlacht um England. Bei Flugschauen kommt die ganze Schwadron zusammen und auch einmal im Jahr in London.“

„Waren Sie nach der Schlacht auch noch alle in der gleichen Schwadron?“

Eine Pause. „Nach und nach sind wir alle unseren eigenen Weg gegangen. Das war Routine. Beförderungen, Verletzungen, der Kriegsverlauf änderte sich – alles Gründe, warum sich unsere Wege trennten.“

So sehr sie sich auch sträubte, Georgia musste schon wieder an das Tal denken. Hier waren Drachen, die Feuer mit Feuer bekämpften. Das war ein merkwürdiger Ausdruck, den sie normalerweise nicht benutzte. Es war beinahe, als dächte sie ... Sie bremste ihren Gedankenfluss. Sie war hier. Sie hörte diesen ehemaligen Piloten zu, mehr nicht.

„Wir hatten eine Bar im Kellergeschoss“, sagte Jan. „Wir nannten sie den Hell’s Bells Club. Den ganzen Tag Engel ...“ Er sah ihre verständnislose Miene und erklärte in seinem bedächtigen Englisch: „Das ist das Codewort für mehrere tausend Fuß Höhe. Und des Nachts waren wir dann eben Teufel.“

Vielleicht hatte die Gruppe auf dieses Stichwort gewartet, denn plötzlich war das Eis gebrochen und die Männer stimmten einen zitternden Gesang an.

The bells of hell go ting-a-ling-a-ling

For you but not for me ...

„Und darum, meine Dame“, schloss Harry, „hat die Luftwaffe Kent ‚Höllenfeuerecke‘ genannt. Die Nachrichten über unsere Schandtaten im Hell’s Bells Club verbreiteten sich schnell. Ich mache natürlich nur Spaß“, fügte er schnell hinzu, als sich die Blicke der anderen auf ihn richteten. Sie sahen ihn an, als sei er aus der Rolle gefallen. „Kent hat diesen Namen bekommen, weil unsere Jungs der Luftwaffe einen so heißen Empfang bereitet haben.“

So kam das Gespräch auf die Schlacht selbst und der Moment ging vorbei.

Georgia kam zu dem Schluss, dass der Hell’s Bells Club vielleicht dafür verantwortlich war, wie sie sich vorhin im Kellergeschoss gefühlt hatte. Vom Hell’s Bells Club zur Damentoilette – ein trauriger Abstieg! Aber wenigstens war es nicht schlimmer. Ihre Fantasie war einfach mit ihr durchgegangen.

„Wir sollten auch gehen“, sagte Luke sichtlich erleichtert, als die Gruppe Anstalten machte, aufzubrechen. Es war vier Uhr, als sich alle verabschiedet hatten und gegangen waren, und Luke fürchtete wohl, dass sie zu spät zu ihrem Termin in Wickenham kommen würden. „Die Leute vom Fernsehen haben gesagt, dass sie um fünf Uhr dort sein würden.“

Nicht, dass sich die Leute vom Fernsehen für sie interessieren würden, wie Georgia wusste. Sie wollten Mary Beaumont interviewen; der Anlass war das Erscheinen des neuesten Buches von Marsh & Daughter. Es handelte von einem Mord, der 1929 in dem Dorf geschehen war.

„Das ist die Erklärung“, sagte Peter zu Georgia, als Luke die Rechnung bezahlen ging. „Natürlich herrscht hier eine bestimmte Atmosphäre, kein Wunder bei so viel Gewalt und Leid in der Vergangenheit. Stell dir nur vor, was sie tagsüber am Himmel durchmachten. Das mussten sie abends im Alkohol ertränken, und sei es nur, um die Lücken zu vergessen – hinterlassen von denen, die nicht zurückgekommen waren.“

„Es erklärt vielleicht die Atmosphäre im Kellergeschoss“, antwortete Georgia widerwillig, „aber nicht die im Tal.“ Wenn es nur so wäre!

„Vielleicht gab es dort eine Nissenhütte für die Piloten. Wer weiß?“

„Zwischen zwei Ufern?“

„Vielleicht ist dort später ein Marschflugkörper runtergekommen und dadurch entstand der Krater.“

„Ja.“ Georgia griff dankbar nach diesem Strohhalm. Natürlich. Ihr fiel ein, dass sich an der Grenze zwischen Charing Heath und Lenham eine ähnliche Tragödie ereignet hatte, bei der eine Gruppe von Royal Engineers ausgelöscht worden war. Vielleicht war hier auch so etwas geschehen, das bei aller Schrecklichkeit nicht nach einer Untersuchung von Marsh & Daughter rief. Sie würden nichts finden. Nichts zu betrauern bis auf den Verlust einer Generation junger Männer, die nicht Fußball, sondern mit dem Tod gespielt hatten, und die ihr Leben eingesetzt hatten, keine Münzen am Glücksspielautomaten. Männer, die nicht Langeweile, sondern Angst im Alkohol ertränkt und geliebt hatten, weil es vielleicht kein Morgen gab.

„Wartet auf mich“, sagte Peter, als Luke zurückkam. Er fuhr mit seinem Rollstuhl dem entschwindenden Barkeeper hinterher; entweder wollte er auf das WC für Behinderte oder hatte höhere Ziele. Georgia hoffte auf Ersteres. Sie wollte diesem Ort entfliehen und die Vorstellung, dass Peter hier eine Geschichte witterte, fachte ihre Zweifel nur wieder an. Peter war nach fünf Minuten zurück, fünf Minuten, in denen Luke wie auf Kohlen saß, weil er fürchtete, dass sie zu spät kommen würden. Er war jetzt im Verleger-Modus und witterte Publicity, und Georgia verstand ihn. Bei seiner Rückkehr hatte Peter jedoch die Maske der Gebrechlichkeit abgelegt und sah aus wie der ehemalige Polizist, der er war.

„Sieh an.“ Peter sah sogar für seine Verhältnisse sehr selbstzufrieden aus.

„Hat er dir gesagt, was du wissen wolltest?“, fragte Georgia höflich.

„Ich wusste nicht, was ich wissen wollte. Aber danke, ja.“

„Der alte Bedienstete erzählt alles“, bemerkte Luke. Der Barkeeper musste mindestens fünfundzwanzig sein.

„Er hat hier angefangen, als die neuen Besitzer das Hotel übernahmen“, sagte Peter. „Wusste nichts über die Schwadron 362 oder darüber, dass das Hotel im Zweiten Weltkrieg beschlagnahmt wurde.“

„Was wusste er denn dann?“

Peter zog das Kaninchen aus dem Hut, das er bisher so sorgsam verborgen hatte. „Dass hier in den 1970er Jahren ein Mord passiert ist, der nie aufgeklärt wurde.“

„An wem?“, fragte Luke.

„Wo?“, fragte Georgia gleichzeitig und war schon wieder in Aufruhr. Sie hatte das schreckliche Gefühl, dass sie die Antwort schon wusste.

„Das wusste mein Informant beides nicht.“

„Weiter nichts?“

„Doch. Er glaubt, dass das Opfer etwas mit dem Hotel zu tun hatte.“

„Personal?“

„Vielleicht, aber seine Wortwahl – die er nicht erklären konnte, als ich nachgefragt habe – klang nach einem engeren Verhältnis, vielleicht zu den Besitzern. Oh, und übrigens ...“

„Ja?“, fragte Georgia scharf, als er abbrach.

„Er glaubt, dass der Mord irgendwo auf dem Anwesen geschehen ist.“

***

Georgia war in Gedanken noch im Hotel Woodring Manor und fand es seltsam, eine halbe Stunde später in Wickenham zu sein. Jetzt gefiel es ihr, weil sie das Gefühl hatte, dass der Schatten, der über dem Dorf gehangen hatte, verblichen war. Vielleicht war es immer so gewesen, aber sie und Peter hatten zehn Jahre lang das gleiche Bild von Wickenham im Kopf gehabt – ein unglückliches Dorf, dessen dunkles Geheimnis ans Licht gekommen war, als man ein Skelett entdeckt hatte.

Wenn nun in zehn Jahren das Tal von Woodring Manor plötzlich wieder auftauchen und sie verfolgen würde? Keine Spitfires, kein Feuer, das mit Feuer bekämpft wurde, aber vielleicht ein Drachen in Form eines ungeklärten Mordfalles. Zehn Jahre? Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es nicht mehr so lange dauern würde.

2. Kapitel

Georgia hörte die streitenden Stimmen schon, bevor sie die Haustür ihres Vaters geöffnet hatte. Es war lediglich der altbekannte Disput darüber, ob die Arbeit vorging oder das Mittagessen – einen Disput, den Margaret, sein unentbehrlicher Teilzeitschatten, meistens gewann.

„Georgia, Gott sei Dank!“, rief er. „Sag bitte Margaret“, die war wohl auf beiden Ohren taub, „dass die Sandwiches warten können.“

„Nicht, wenn sie getoastet sind“, sagte Margaret ungerührt. Sie kam jeden Tag stundenweise, je nachdem, wer sie am meisten brauchte, Peter oder ihr kränklicher Mann. Wann sie Zeit für sich hatte, war eines der großen Rätsel des Lebens. Sie war Sprechstundenhilfe bei einem Arzt gewesen und hatte daher reichlich Erfahrung mit dickköpfigen Patienten. Peter betrachtete sich natürlich nicht als solchen. Er sah es als gleichberechtigte Partnerschaft an, bei der im Zweifelsfall er das Sagen hatte.

„Margaret hat recht“, sagte Georgia. „Ich habe jedenfalls Hunger, wenn das Essen auch für mich gilt.“

„Du hast keine Seele“, sagte Peter erbittert.

„Und Sie haben keine Ausdauer“, fiel Margaret wieder ein. „Nehmen Sie eins, Georgia, und ich mache noch mehr“, sagte sie und ging an ihr vorbei in Richtung Küche. Georgia nahm ihren Vater und die Sandwiches in Angriff.

„Was ist denn so dringend?“, fragte sie.

„Der Fall.“ Peter ließ sich dazu herab, ein Stück Käse und eine halbe Tomate zu verzehren.

„Fall?“, fragte sie vorsichtig und argwöhnte, in welche Richtung es gehen würde. Sie und ihr Vater wohnten Tür an Tür in der Hauptstraße von Haden Shaw und sie hatte mitbekommen, dass Peter ein paar Tage verdächtig ruhig gewesen war. „Einen Fall hat man erst, wenn es etwas zu ermitteln gibt.“

„Ein ungeklärter Mord. Das reicht sicher. Und Georgia, ich bin sicher, dass ich jetzt weiß, wer das Opfer in Woodring Manor war.“

Sie dachte, er würde sie schnurstracks in die Präsenzbibliothek von Maidstone schicken, um sämtliche Lokalzeitungen aus den 1970er Jahren zu durchforsten. Zu ihrer Überraschung hatte er ihr keinen solchen Auftrag gegeben. Hatte er es vergessen? Nein, das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein. Widerwillig wurde sie neugierig. Ein Streit unter Mitarbeitern? Ein Gast des Hotels? Ein verkrachtes Liebespaar? Einem ungeklärten Mord konnte man nicht so leicht nachgehen wie einem aufgeklärten – im letzteren Fall hätte es einen Prozess gegeben. Aber Peter war offenbar schon fündig geworden.

„Die Times hat ausführlich darüber berichtet“, sagte er.

Tatsächlich? Dann musste es eine interessante Geschichte gewesen sein. Ihre Neugier wuchs. „Wer war das Opfer?“

„Patrick Fairfax.“ Peter lehnte sich zufrieden zurück und erwartete anscheinend, dass sie rief: „Natürlich!“

„Wer?“

Peter seufzte. „Es liegt wohl an meinem Alter. Ich bin in den 50ern aufgewachsen und man hat mir eine Überdosis Heldentaten der Spitfire-Piloten eingetrichtert.“

Es traf sie wie ein elektrischer Schlag. „Spitfires?“, fragte sie wachsam. Fünf alte Herren huschten wie Schatten an ihrem inneren Auge vorbei.

„Richtig. Patrick Fairfax, Distinguished Service Cross, Distinguished Flying Cross. Hat angeblich nur knapp das Victoria Cross verpasst. Während des Kriegs Feste gefeiert und feste geflogen. 1942 anonymer Autor von This Life, This Death, das nach dem Krieg immer wieder unter seinem Namen neu aufgelegt wurde. Beliebt in der Gesellschaft. 1975 eines Abends ermordet auf dem Gelände von Woodring Manor aufgefunden.“

„Im Mai?“ Jeder Schritt führte näher zur unwillkommenen Wahrheit.

„Wieder richtig, Georgia. Am Samstag, dem 10. Mai. Erschossen nach einem Veteranentreffen. Ich brauche dir nicht zu erzählen, welcher Schwadron.“

„362 natürlich.“ Jetzt, da Peter ihr etwas über den Hintergrund erzählt hatte, fiel ihr ein, dass sie tatsächlich schon von Patrick Fairfax gehört hatte. Nicht in der gleichen Liga wie Johnnie Johnson oder Bader, aber nahe daran. Und sie hatte sogar vor vielen Jahren This Life, This Death gelesen. Es waren die gedankenreichen, bewegenden, sogar poetischen Erinnerungen eines Piloten an die Luftschlacht um die England, die zu ihrer Zeit Richard Hillarys The Last Enemy Konkurrenz gemacht hatten. „Gab es nicht auch eine Verfilmung?“

„Shooting for the Stars“, soufflierte Margaret hilfsbereit. Sie kam mit noch mehr getoasteten Sandwiches herein.

„Genau“, triumphierte Peter, als Margaret die leeren Teller abräumte und verschwand. „Der Film wird in der Todesanzeige erwähnt, aber es hört sich an, als sei er ziemlich schwach gewesen. Wahrscheinlich ein Publikumsmagnet, als er in den 50ern gedreht wurde.“

Georgia durchforstete ihr Gedächtnis, denn sie mochte alte Filme. Sie war lange nach der Zeit der Double-Feature-Programme geboren worden, aber Peter hatte sie in das Vergnügen der wirklich schlechten B-Movies eingeweiht, die meistens nur Füllmaterial für Klasse A gewesen waren.

„Es war eher eine Schnulze als ein Kriegsfilm, finde ich.“ Ihre Erinnerung wurde lebendig. „Liebende, die durch den Krieg getrennt wurden. Sie war bei der Womenʼs Auxiliary Air Force. Wird das in der Todesanzeige erwähnt?“

„Nein, aber er hatte damals schon Frau und Kinder.“

Soweit sie sich erinnerte, hatte die Romanze unter einem schlechten Stern gestanden – durch eine der tragischen Launen des Schicksals, wie sie in Dramen wie The Dancing Years von Ivor Novello und dem Cary-Grant-Film An Affair to Remember so populär gewesen waren.

„Ich habe ein Bild von Fairfax in einem von Dads alten Büchern entdeckt. Es zeigt ihn in seiner Glanzzeit“, sagte Peter. „Sieh nur.“ Er fand das Bild und schob ihr das Buch hin. Es war gar kein Foto, sondern eine Profilzeichnung. Helles Haar, klassische Gesichtszüge und Fairfax schaute nicht den Künstler an, sondern blickte einer unbekannten Zukunft entgegen. Er trug ein Halstuch – der Kampfflieger, wie er leibte und lebte. Aber wenn er heutzutage in normaler Kleidung in einen Pub gehen würde, würde er gar nicht auffallen.

„Irgendwelche Hinweise darauf, warum der Mord nicht aufgeklärt wurde?“

„Noch nicht. Lass mir Zeit.“

„Oder wer die Verdächtigen waren?“ Raten hatte hier keinen Sinn. „War es vielleicht Selbstmord?“

„Letzteres können wir vergessen. Was Ersteres betrifft, so wurde jemand befragt, aber keine Namen genannt. Ein sensibleres Zeitalter.“

„Irgendwelche Hinweise auf das Motiv?“

„Nein. In der Times steht nur noch etwas über die Beerdigung, danach nichts mehr. Die Crème de la Crème der Royal Air Force war dabei und die halbe Schickeria von London – Schauspieler, Schauspielerinnen, Leute, die für die Fliegerei schwärmten, ehemalige Piloten.“

„Wenn der Mord nach dem Veteranentreffen geschehen ist, müssen sie befragt worden sein, also –“

„Steht uns vielleicht Material zur Verfügung“, beendete Peter den Satz für sie.

„Aber was hat der Mord nun mit dem Hotel zu tun?“

„Entschuldige, das habe ich vergessen zu erzählen. Patrick Fairfax war der Besitzer – gemeinsam mit Matthew Jones und einem dritten Partner.“

Ihr drehte sich der Magen um und das war nicht die Schuld der Sandwiches. Sie und Peter waren gefährlich nahe an dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab und es ein Fall für Marsh & Daughter wurde. Aber immer noch standen all ihre Alarmzeichen auf Rot und rieten ihr, schnellstmöglich das Weite zu suchen.

„Sein Name kam bei dem Treffen vergangenes Wochenende nicht zur Sprache.“

„Woher sollen wir das wissen? Wir waren ja nicht die ganze Zeit bei ihnen.“

„Wenn sie eine solche Berühmtheit in ihren Reihen hatten, kann man doch erwarten, dass sie ihn erwähnen“, fuhr sie eigensinnig fort. „Vor allem, da sie uns so freimütig erzählt haben, dass Matt Jones der andere Besitzer war.“

„Du nimmst das zu wichtig“, sagte Peter – mit Recht, gestand sie sich. „Außerdem gab es für Fairfax anscheinend nicht nur das Hotel. In seiner Todesanzeige steht, dass er auch den Wormshill Aviation Club leitete, der sein eigentlicher Liebling war. Das Hotel wird nur nebenbei erwähnt, vielleicht war er ein stiller Teilhaber. Vielleicht hütete er das Geld und überließ Matthew Jones die Leitung.“

„Du hast Blut geleckt, nicht?“, fragte sie zitternd.

„Ich muss zugeben, dass es verlockend ist. So ein bekannter Fall, ungelöst – und dann noch dieses Tal.“

„Wenn er wirklich dort umgebracht wurde.“

Peter grinste. „Finden wir es heraus.“

„Ich wundere mich, dass du das noch nicht getan hast.“

„Ich hätte, aber gewisse Leute“, er hob bedeutsam die Stimme, als sie hörten, wie Margaret sich auf den Nachhauseweg machte, „mussten mich ja unbedingt unterbrechen.“ Die Schuldige antwortete nur mit dem Zuknallen der Haustür.

***

Georgia kritzelte ihre Unterschrift auf das Papierklemmbrett des Postboten – was sie seit dem letzten Mittwoch öfter getan hatte – und brachte Peter das Päckchen. Er griff ungeduldig danach und riss es auf wie ein Kind ein Geburtstagsgeschenk. Nun gut, sie hätte es wohl auch so gemacht, gestand sich Georgia ein. Aber sie wusste, dass es mit Patrick Fairfax zu tun haben musste, und deshalb wollte sie es immer noch ignorieren.

„Ausgezeichnet“, rief Peter und starrte bewundernd ein gebrauchtes, schmuddeliges Buch ohne Umschlag an. Sie schaute ihm über die Schulter und las den Titel. Dancing the Skies: The Life of Wing Commander Patrick Fairfax, DSO, DFC von Jack Hardcastle. War das die Erklärung dafür, dass auf dem Veteranentreffen, in das sie hineingeplatzt waren, das Magee-Gedicht vorgelesen worden war?, fragte sie sich sofort. Vielleicht war es ein Code zwischen den Überlebenden, das Gedicht zu Ehren von Fairfax zu lesen, statt nur einen Toast auf seinen Namen auszubringen. Aber das, sagte sich Georgia energisch, ist nur eine Hypothese ohne Fakten.

„Handelt es auch von seinem Tod?“, fragte sie.

„Wahrscheinlich. Es ist 1977 erschienen. Sein Leben könnte jedoch interessanter sein, wenn man bedenkt, dass der Mord an ihm nie aufgeklärt wurde. Ich habe Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um dieses Buch zu bekommen. Es ist die einzige Biografie über ihn. This Life, This Death enthält zu wenig harte Fakten, denn als es zum ersten Mal erschien, galten noch kriegsbedingte Einschränkungen. Ich habe es gestern gelesen.“

„Hat er nicht später noch eine ausführliche Biografie geschrieben? Ich dachte, das hätten viele Piloten getan.“

„Nicht alle. Einige wollten den Krieg lieber vergessen, als in alten Erinnerungen herumzuwühlen.“

„Selbst, wenn eine herausragende Karriere dabei ist?“ Georgia hatte selbst im Internet recherchiert, und Patrick Fairfaxʼ Laufbahn nach der Luftschlacht um England war interessant. Eine Verwundung hatte den Einsätzen als Pilot zeitweise ein Ende gemacht und dazu geführt, dass er kurzzeitig Unterricht gegeben hatte – vielleicht hatte er dann This Life, This Death geschrieben. Dann übernahm er in Tangmere das Kommando der Schwadron 348, wurde über Frankreich abgeschossen, als er bei einem Einsatz mit dem köstlichen Namen Rhabarber war, entkam der Gefangennahme und kehrte über Gibraltar nach England zurück, nachdem er die Pyrenäen überquert hatte. Er wurde im Norden Staffelkommandant und ging dann zur Planung des D-Day zum Luftfahrtsministerium. Nach dem Krieg hatte er den Wormshill Aviation Club in den North Downs in der Nähe von Sittingbourne geleitet, der nicht nur Wochenendausflüge anbot, sondern auch Flugschauen organisierte.

„Erfolg hatte im Krieg seinen Preis. Danach darüber zu schreiben war wohl nicht leicht“, antwortete Peter.

„Warum ist er dann zu Treffen der Schwadron gegangen, um alles immer wieder durchzukauen?“

Peter legte die Stirn in Falten und dachte nach. „Veteranentreffen können gerade wegen der gemeinsamen Erinnerungen veranstaltet werden. Man braucht gar nicht zu reden, weil alle wissen, was passiert ist. Jedenfalls hat Fairfax – aus welchem Grund auch immer – kein Buch mehr geschrieben.“

„Und wer ist oder war Jack Hardcastle?“

„Er ist Luftfahrthistoriker. Er hat die Schwadron-Geschichte Silvered Wings geschrieben – auch ein Zitat von Magee übrigens. Es erschien in den 1980er Jahren und er hat noch eine ganze Reihe weiterer Bücher veröffentlicht, allerdings keine mehr über 362. Aber mit diesen werden wir eine ganze Weile zu tun haben, wenn wir die Hintergründe erforschen.“

„Wir?“ Sie hatte böse Vorahnungen.

„Ja.“ Er sah sie aufmerksam an. „Du bist nicht einverstanden?“

„Ich habe mich in dem Tal unbehaglich gefühlt“, sagte sie zögernd. „Es ist jetzt leichter, da wir von Fairfax wissen, aber trotzdem“, erinnerte sie ihn, „wissen wir noch nicht mit Sicherheit, ob das Tal etwas mit dem Mord an Fairfax zu tun hat. Wir wissen nur, dass die Leiche ‚auf dem Anwesen‘ gefunden wurde.“

„Ah. Habe ich dir schon erzählt, dass Mike heute Nachmittag vorbeikommt?“

Mike war Peters ehemaliger Sergeant aus seiner Zeit bei der Polizei von Kent, Stour Area, und mittlerweile ein hoch angesehener Detective Chief Inspector. Er hatte einige Zeit beim ehemaligen National Crime Squad, der jetzigen Serious Organised Crime Agency, verbracht, und deshalb hatten sie ihn eine ganze Weile nicht gesehen.

„Ein Freundschaftsbesuch?“ Natürlich nicht. Peter wollte Zusammenarbeit, wie er es nannte. Mike nannte es Überredungskunst.

„Mike war für die Downs zuständig, bevor er nach Stour kam. Vielleicht ist er hilfsbereit.“

Das war Mike Gott sei Dank immer; er protestierte nur gegen Peters unverhohlene Missachtung aller polizeilichen und protokollarischen Regeln. Wenn er und Margaret sich zusammengetan hätten, wären sie eine gute Gewerkschaft in Peters Leben gewesen.

Mike war fast ebenso gelassen wie Luke. Meistens machte er ein Pokerface und zuckte mit keiner Wimper, es sei denn, er verfolgte eine bestimmte Absicht. Wenn sie ihn – was selten vorkam – mit seiner Frau Helen und seinen kleinen Kindern sah, wirkte er immer noch unnachgiebig, aber keineswegs unzugänglich. Das Pokerface war heute besonders nützlich, denn so prallten Peters unverschämte Forderungen an ihm ab wie ein Squashball von einer Wand.

Mike erschien im Laufe des Nachmittags und trank Tee, während Peter redete. „Ich erinnere mich“, sagte er schließlich.

„Du kannst doch 1975 unmöglich dort gewesen sein, Mike“, sagte Georgia ungläubig. „Da warst du doch noch ein Kind.“

„Ja, aber der Fall war noch nicht zu den Akten gelegt worden. Das wurde er erst, als ich in den 80ern dazu kam, als junger Grünschnabel.“

Peter biss sofort an. „Wie ging es deinen Kollegen damit?“

Mike dachte nach. „Sie waren frustriert, weil sie den Fall ungelöst zu den Akten legen mussten.“

„Lag es daran, dass sie wussten, wer es war, aber nicht genug Beweise hatten?“

„Das kann ich nicht sagen. Es ist zu lange her. Ich weiß nur noch, dass ich deshalb alles Mögliche über den Krieg gelesen habe. Ich ging immer zum Flugplatz von Malling und stellte mir die Luftschlacht um England vor. Die Alarmstarts, die Bombenangriffe auf den Flugplatz, das Schachbrett der Weltpolitik, dessen Figuren Piloten wie Fairfax gewesen waren. Faszinierend. Ein Jammer für Fairfax – und auch für mich, der erst in der Schlussphase dazukam –, dass er den Bombenhagel der Luftwaffe überlebt hat, nur um dann Jahre später einem heimtückischen Mord zum Opfer zu fallen. Dadurch war es noch schlimmer, dass wir den Fall nicht lösen konnten.“

„Du weißt nicht mehr, wer der Hauptverdächtige war?“

„Nein.“

Peter schnaubte verächtlich. „Das kannst du besser, Mike.“

„Nein, kann ich nicht.“ Er hielt inne. „Aber ich weiß jemanden, der es kann.“

„Und wer ist das?“ Peters Augen leuchteten. Georgia und Mike wussten beide, dass er die ganze Zeit darauf gewartet hatte. Mike würde keine Dankesworte hören, sie sich aber denken.

„Die Ermittlungen wurden von Detective Inspector Wilson geleitet. Starb in den 90ern – noch im Geschirr sozusagen. Sein Wachtmeister war Chris Manners. Der ist jetzt im Ruhestand und wohnt irgendwo in Sussex. Ich kann seine Adresse für dich herausfinden.“

Peter strahlte. „Und die Unterlagen über den Fall ...?“

„Du wirst viel Glück brauchen“, sagte Mike säuerlich. „Dafür musst du dich der üblichen Wege bedienen – und guten Grund haben, mich zu fragen.“

Natürlich hatten sie keinen, noch nicht jedenfalls. Georgia hielt inne. Noch nicht? Zu ihrem Entsetzen merkte sie, was sie soeben akzeptiert hatte – dass dieser Fall etwas für sie beide war.

***

„Kommst du mit, Georgia?“, fragte Peter. Sie hatten Mannersʼ Kontaktdaten von Mike bekommen und Peter hatte ihn angerufen.

Georgia überlegte. Je weniger Leute bei solchen Gesprächen dabei waren, desto besser, deshalb führten sie und Peter sie meistens allein. In diesem Fall war sie jedoch unentschlossen. Als ehemaliger Polizist sollte Peter vielleicht lieber allein mit ihm sein, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie dabei sein wollte – und sei es nur, um sich ihrem Widerwillen gegen diesen Fall zu stellen.

Christopher Manners lebte in Burwash, nahe der Grenze zwischen Sussex und Kent. Es war der Stolz des Dorfes, dass Rudyard Kipling vor seinen Toren auf dem Landsitz Bateman’s gewohnt hatte, der jetzt dem National Trust gehörte. Sie hatte Bateman’s besucht, kannte das Dorf und mochte seine breite, von Cottages gesäumte Hauptstraße. Es sah vielleicht aus wie das Motiv einer Postkarte, war aber ein Dorf, in dem reges Leben herrschte, kein verschlafenes Nest. Sie fanden Christopher Manners’ Cottage in einer Seitenstraße. Als er sie in sein Arbeitszimmer führte, war sie etwas überrascht, ein ganzes Bücherregal mit Werken von Kipling zu sehen. Er war ihr nicht wie der „Empire und Raj-Typ“ vorgekommen. Das war dumm von ihr gewesen. Wie wollte man einen Typ beurteilen? Man hatte ja nur Stereotype im Kopf – in diesem Fall den Atavismus eines großen, aufrechten Mannes mit Schnurrbart und funkelnden Augen. Christopher Manners war ganz anders. Er war freundlich und zurückhaltend, grauhaarig, mittelgroß, rundlich und kein bisschen furchterregend – weshalb sich wohl viele Missetäter in Sicherheit gewiegt hatten. Er musterte sie mit wachem Blick.

„Ein interessanter Mann war dieser Kipling“, bemerkte Christopher, als er sah, dass Georgias Blick auf das Regal fiel. „Man hat ein Bild von ihm – verstaubter alter Bücherwurm – und stellt dann verblüfft fest, dass er schnelle Autos liebte und aus den USA flüchten musste, weil er Ärger mit der angeheirateten Verwandtschaft hatte. Agatha Christie, walten Sie Ihres Amtes!“

„Hatten Sie ein Bild von Patrick Fairfax?“, fragte sie und fand es amüsant, dass er seine eigenen Stereotype pflegte. Wofür hielt er sie? Eine lustige Witwe? Eine alte Jungfer oder Geschiedene, die ihr Leben einer einzigen Sache gewidmet hatte?

„Ich musste. Er war tot, als ich ihn sah. Er hatte sowieso mehr oder weniger ein Bild von sich selbst geschaffen.“

„Wie?“, fragte Peter.

„Uns saßen so viele Leute im Nacken, weil er einflussreiche Freunde hatte, sodass wir das Gefühl hatten, er könne dem heiligen Petrus das Wasser reichen.“

„Und konnte er das? Sie haben sicher mit vielen Kollegen und Freunden von ihm gesprochen.“

„Das einstimmige Urteil fiel zu seinen Gunsten aus. Wir haben jeden Stein umgedreht. Ein paar Würmer krabbelten hervor, aber keiner hat die Untersuchung überlebt.“

„War niemand dringend tatverdächtig?“, fragte Georgia. „Oder war er das Zufallsopfer eines Fremden? Raubmord, eine Schlägerei im Suff oder was auch immer?“

„Warum interessiert Sie das?“, fragte Christopher unverblümt. „Für eins Ihrer Bücher, nehme ich an. Nun, dann viel Glück. Das meine ich ernst. Sie sollten es eigentlich wissen, Peter – wenn die Polizei von Kent den Übeltäter damals nicht dingfest machen konnte, besteht kaum Hoffnung, dass es Ihnen jetzt gelingt. Ich wünschte, Sie könnten es. Ich möchte das Schwein zur Strecke bringen.“

„Ah. Irgendein bestimmtes Schwein?“, bohrte Peter nach.

Christopher grinste, weil er sich ertappt fühlte. „Es kam nur ein Motiv zur Sprache und das konnte wiederum nur einer haben. Matthew Jones, der Mitbesitzer des Hotels. Wir haben ihn gründlich in die Mangel genommen. Und nichts herausbekommen.“

„Was war das Motiv – hatte es persönliche Gründe?“, fragte Georgia.