Mord im Dienstbotenzimmer - Amy Myers - E-Book
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Mord im Dienstbotenzimmer E-Book

Amy Myers

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Beschreibung

Butler Greeves war ein mächtiger Mann auf Stockbery Towers, einem Herrensitz in Kent zum Ende des vorigen Jahrhunderts. Aber beliebt war er nicht. War er ein Erpresser? Ein Heiratsschwindler? Eines Tages wird er vergiftet aufgefunden. Wer von den Dienstboten hätte ihn ermorden wollen? Oder haben auch der Herzog nebst Gattin und ihre zur Jagd angereisten Gäste ein Motiv? Zuerst einmal verdächtigen alle den Chefkoch Auguste Didier. Was der Halbfranzose dem englischen Gaumen an französischer Küche zumutet, daran kann man sich schon leicht vergiften. So ist der charmante Auguste gezwungen, selbst Nachforschungen anzustellen, um seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen ... 

Ein spannender und amüsanter Krimi aus dem viktorianischen England.

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Seitenzahl: 377

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Über Amy Myers

AMY MYERS wurde 1938 in Kent geboren. Sie studierte an der Reading University englische Literatur, arbeitete als Verlagslektorin und war bis 1988 Direktorin eines Londoner Verlages. Seit 1989 ist sie freischaffende Schriftstellerin. Sie ist mit einem Amerikaner verheiratet und wohnt in Kent. Amy Myers schreibt auch unter dem Namen Harriet Hudson und Laura Daniels.

In ihren ersten Ehejahren arbeitete ihr Mann in Paris, und sie pendelte zwischen London und der französischen Hauptstadt hin und her. Neben vielen anderen Dingen mußte sie nun lernen, sich auf französischen Märkten und den Speisekarten französischer Restaurants zurechtzufinden. Dabei kam ihr die Idee, einen französischen Meisterkoch zum Helden eines klassischen englischen Krimis zu machen: Auguste Didier war geboren. Alle Kriminalromane von Amy Myers erscheinen im Aufbau Taschenbuch Verlag.

Informationen zum Buch

Butler Greeves war ein mächtiger Mann auf Stockbery Towers, einem Herrensitz in Kent zum Ende des vorigen Jahrhunderts. Aber beliebt war er nicht. War er ein Erpresser? Ein Heiratsschwindler? Eines Tages wird er vergiftet aufgefunden. Wer von den Dienstboten hätte ihn ermorden wollen? Oder haben auch der Herzog nebst Gattin und ihre zur Jagd angereisten Gäste ein Motiv? Zuerst einmal verdächtigen alle den Chefkoch Auguste Didier. Was der Halbfranzose dem englischen Gaumen an französischer Küche zumutet, daran kann man sich schon leicht vergiften. So ist der charmante Auguste gezwungen, selbst Nachforschungen anzustellen, um seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen.

Ein spannender und amüsanter Krimi aus dem viktorianischen England.

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Amy Myers

Mord im Dienstbotenzimmer

Aus dem Englischenvon Elfi Schneidenbach

Inhaltsübersicht

Über Amy Myers

Informationen zum Buch

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1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Impressum

Kapitel 1

»Mord?« rief Mrs Hankey und wogte den Gang zum Dienstbotenzimmer hinab. Die übrige höhere Dienerschaft folgte ihr verwirrt auf dem Fuße. »Aber wer sollte denn Mr Greeves ermorden wollen?«

Ein Bäcker und Konditor, ein Chefkochlehrling, zwei Küchenmädchen, zwei Abwaschfrauen, ein Küchenjunge, ein Teeküchenfräulein, eine niedere Kammerzofe, ein Lampenanzünder, fünf Lakaien, eine Gemüseputzerin, fünf Hausmädchen, ein Laufbursche, zwei Aushilfsbediente, zwei Nähmädchen und vier Waschfrauen hätten es ihr auf Anhieb sagen können. Die niedere Dienerschaft war jedoch selbstverständlich nicht zugegen gewesen, als Edward Jackson, der Zimmerjunge des Butlers, so unhöflich in die hierarchische Feste des Haushälterinnenzimmers hineingeplatzt war, wo die höhere Dienerschaft in feierlicher Zeremonie nach dem Mittagessen den Tee nahm, und geschrien hatte: »Der alte Greeves, er bricht Blut, Sie müssen kommen, Mrs Hankey. Jemand hat versucht, ihn umzubringen.«

Die majestätische Erscheinung der Haushälterin hatte sich – die Bestrafung Edward Jacksons im Interesse der Gesundheit von Mr Greeves aufschiebend –, erhoben, hastig, doch mit fast übermenschlicher Gefasstheit mehrere Flaschen aus den Eichenschränken in ihrer Vorratskammer zusammengesucht und war hinausgerauscht, um Beistand zu leisten. Erst jetzt war der Haushälterin das volle Ausmaß von Jacksons Worten klar geworden. »Jemand hat versucht, ihn umzubringen.«

Im Zimmer des Butlers wurde jegliche von ihr möglicherweise gehegte Hoffnung, dies sei ein von Edward Jackson ersonnener abscheulicher Scherz, zerstreut. Auf dem Teppich erbrach sich würgend eine hingestreckte Gestalt, das Gesicht schmerzverzerrt, der Körper in Krämpfen zuckend. Mrs Hankey stieß nur ein unwillkürliches »Archibald!« hervor, dann sank sie in einem Rascheln von schwarzem Bombasin auf die Knie, um Linderung zu verschaffen. Es wurde jedoch bald klar, dass Senf und warmes Wasser wenig bei Greeves bewirken würden, auch nicht die Brechwurzel, die mit zitternder Hand folgte.

»Madame, ich denke, den Doktor – unverzüglich.« Auguste Didier, Chefkoch, beugte sich über sie, löste sanft ihre Arme vom unglückseligen Butler und zog sie auf die Füße. »Edward, zu den Pferdeställen. Schick die leichte Kutsche nach Dr. Parkes. Ethel, vielleicht …«Er bedeutete dem obersten Hausmädchen, dass Mrs Hankey weggebracht werden sollte.

Doch selbst diese Ausnahmesituation konnte Edith Hankey nicht völlig ihrer guten Schule berauben: »Stellen Sie diesen ekelhaften, schmutzigen Teller und das Glas in den Geschirrraum, Mr Hobbs. Und waschen Sie sie ab, wenn ich bitten darf.«

Davon in Anspruch genommen, es dem stöhnenden Mann erträglicher zu machen, schenkte Auguste Didier diesen harmlosen Worten unzureichende Aufmerksamkeit.

Was bedauerlich war.

»Tee, Ethel«, bat Mrs Hankey, einer Ohnmacht nahe, und hielt ein gestärktes Stück spitzenumsäumten Batist an die Augen. Es war ein Zeichen für die Ungewöhnlichkeit der Situation, dass Miss Gubbins sich sofort in der angrenzenden Teeküche mit Tassen und Untertassen zu schaffen machte, wobei sie völlig außer Acht ließ, was ihrer Position als oberstes Hausmädchen ziemlich war.

Mit Ausnahme von Auguste Didier hatte sich die höhere Dienerschaft, die Oberen Zehn, wie sie von jeher, ungeachtet ihrer tatsächlichen Zahl, genannt wurden, widerstrebend in das Zimmer der Haushälterin zurückbegeben. Dort angekommen, musste einem Problem der Etikette Beachtung geschenkt werden. Da gerade Oktober und die 1891er Hochsaison für Fasane war, logierte auf Stockbery Towers eine Jagdgesellschaft, und der begleitenden Dienerschaft musste notgedrungen von deren Pendants Gastfreundschaft erwiesen werden. Da sie zugegen gewesen war, als Edward Jackson ins Zimmer stürzte, war sie jetzt schwer zu entfernen, und es bedurfte Ethels gesamten Taktgefühls, jene Dienerschaft zu überreden, sich ihren pflichtgemäßen Beschäftigungen zu widmen. Das nahm geraume Zeit in Anspruch, und als schließlich der Diener von Prinz Franz vertrieben worden war, weilte auch Auguste wieder unter ihnen, nachdem ihn Dr. Parkes, der inzwischen eingetroffen war, aus dem Dienstbotenzimmer, wie der Raum des Butlers genannt wurde, gewiesen hatte.

»Der gute Doktor will uns aufsuchen«, verkündete er, noch etwas pikiert, weil seine Anwesenheit nicht für notwendig erachtet worden war. Er zuckte zusammen, als er sah, wie die unumgängliche Milch in den Zitronentee gegossen wurde; er hatte es schon seit langem aufgegeben, zu protestieren. Diese Engländer – sie verdarben die besten Nahrungsmittel der Welt aus Nachlässigkeit in Detailfragen. Bei heftiger Erregung, nein, keinen Tee, um die Lebensgeister zu wecken, sondern einen Heiltrank aus Eisenkraut, etwas Kamille vielleicht, um den Magen zu besänftigen, aber doch keinen schwarzen Tee. Oder eine chocolat chaud. Brillat Savarin hatte recht, wie immer. Das beruhigte die Nerven. Brauchte aber wirklich einer der Anwesenden Beruhigung? fragte sich Auguste. Greeves war bei den meisten höheren Bedienten nicht beliebter als bei den niederen. Der wichtigtuerische, grauhaarige, fünfzigjährige Butler des Herzogs von Stockbery war nicht nur für die reibungslose Leitung von Stockbery Towers und dessen Gütern verantwortlich, sondern auch für die finanzielle Verwaltung von Stockbery House in Mayfair. Ein Diener, und doch kein Diener. Eine Machtinstitution.

»So ein liebenswerter Mann«, flüsterte Edith Hankey. »Niemand würde so etwas mit Absicht tun.«

Es entstand eine Pause, während der die höhere Dienerschaft sich geflissentlich dem Teenippen widmete. Auguste, der sich an selbigem Ritual beteiligte – in solchen Krisensituationen musste man sich anpassen –, schaute sich unter seinen Kollegen um; sein gallischer Scharfsinn registrierte unvoreingenommen Details, obwohl er von den Ereignissen des Tages genauso erschüttert war wie die anderen. Mrs Hankeys Zuneigung zu Greeves mochte vielleicht bei ihren Untergebenen ein Gegenstand der Belustigung gewesen sein, aber Auguste glaubte, sie gut genug zu kennen, um echtes Gefühl auszumachen. Obgleich er nicht sicher war, welche Art von Gefühl. Wie alt war sie? Fünfzig, fünfundfünfzig? Schwer zu sagen. Alt genug, um sich in ihrer Lage über ihre alten Tage Sorgen zu machen und voller Begeisterung die Aufmerksamkeiten von jedem willkommen zu heißen, der bereit zu sein schien, sie mit ihr zu teilen. Er mochte sie irgendwie; sie war keine geistreiche Frau und herrschsüchtig, wenn ihr der Sinn danach stand. Hinter ihrer abschreckenden Schale schlug jedoch ein ziemlich weiches Herz, falls man bis dahin vordringen konnte. In jungen Jahren war sie ansehnlich gewesen, und mit ihrem kastanienbraunen Haar, dem noch jede graue Strähne fehlte, und ihrer fülligen Figur, war sie das tatsächlich auch heute noch. Nur die Lippen, wenn sie sie zusammenkniff, offenbarten die persönlichen Enttäuschungen, welche die Jahre hinterlassen hatten. Man sprach sie gewöhnlich mit Mrs an, aber anstelle eines Ehemannes hatte sie Stockbery Towers zu ihrem Heim, ihrer Familie, ihrer Leidenschaft gemacht.

»Könnte er vielleicht versucht haben, Selbstmord zu begehen?« warf Ethel Gubbins unbedacht ein.

Edith Hankey starrte sie mit vernichtendem Blick an. »Mr Greeves – Selbstmord? Und weshalb sollte er denn, bitte sehr, Selbstmord begehen, da er voller Freude der Zukunft entgegensehen konnte? Wir standen, wie Sie, Miss Gubbins, sehr wohl wissen, in gutem Einvernehmen.«

»Dann war es eben ein Unfall«, warf Ernest Hobbs, der Kellermeister, eilends ein, um Versöhnung bemüht. Er stammte aus Kent, war da geboren und aufgewachsen und hatte die langsame, bestimmte Art seiner Vorfahren. Er vermittelte immer den Eindruck von jemandem, der etwas erstaunt ist, nicht mehr der Lampenanzünder zu sein, als welcher er seine Laufbahn auf Stockbery Towers begonnen hatte.

»Wie kann man aus Versehen soviel Gift schlucken, dass es derartig wirkt?« fragte May Fawcett streitlustig, sichtlich verärgert darüber, nicht beachtet worden zu sein. Intelligent, achtundzwanzig, mit scharfgeschnittenem Gesicht, war sie Kammerzofe bei der gnädigen Frau; und es war ein offenes Geheimnis für alle, mit Ausnahme von Mrs Hankey, dass sie und Greeves nicht so sehr ein Verhältnis guten Einvernehmens als vielmehr ein tatsächliches Verhältnis gehabt hatten, das mehr unmittelbare körperliche Freuden zeitigte, als sie von der Haushälterin in geheimen Stunden erträumt werden konnten. Augustes Sympathien gehörten Mrs Hankey, aber bei einer Wette hätte er sein Geld auf eine Heirat von Greeves und May Fawcett gesetzt.

»Durch etwas, das er gegessen hat, höchstwahrscheinlich«, fuhr Ernest Hobbs herausfordernd fort, wobei er Auguste bedeutungsvoll ansah. Sechs Augenpaare wandten sich dem zweiunddreißigjährigen Küchenchef zu. Das übliche Zwinkern verschwand, seine dunkelbraunen Augen blitzten, jahrhundertealtes französisches Ehrgefühl war in ihm geweckt worden. Obzwar zur Hälfte englischer Abstammung, war er in Frankreich erzogen worden. Durch etwas, das er gegessen hat? Meinten diese Dummköpfe etwa, dass seine Speisen, die von ihm beaufsichtigt und zubereitet wurden, für die er verantwortlich war, jemanden vergiften könnten? Außer Zorn war da jedoch auch ein leichtes Schaudern. Diese Menschen, die ihn jetzt anstarrten, waren noch vor ein paar Stunden seine Kollegen gewesen, seine Freunde, seine Familie. Jetzt schienen sie Fremde zu sein, die ihn anklagten.

»Ein Pilz, es muss ein Pilz gewesen sein«, warf Kammerdiener John Cricket eifrig ein.

»Oder jenes schreckliche französische Zeug, das sie pflücken, so was Ähnliches wie Spinat. Vielleicht war es das. Vielleicht haben Sie fälschlicherweise einige Rhabarberblätter dazugetan. Ist leicht möglich. Armer Mr Greeves, ich nehme an, er …« Der Gedanke war jedoch zu furchtbar, um in Worte gefasst zu werden, und Edith Hankeys weißes, quadratisches Batisttuch musste wiederum seine Pflicht erfüllen.

Auguste kochte vor Wut. Er war an scharfe dienstliche Auseinandersetzungen mit Mrs Hankey gewöhnt, seit er darauf bestanden hatte, dass es sein Vorrecht als Küchenchef sei, die Nachspeisen zuzubereiten, statt es ihrer Verfügungsgewalt als Gebieterin der Teeküche zu überlassen. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Nachdem er beobachtet hatte, wie sie eine crème bavarois mit Reismehl andickte, war ihm bewusst geworden, dass er Stellung beziehen musste. Jetzt deutete sie an, dass er Rhabarber nicht von Sauerampfer unterscheiden könne.

Ethel führ wie immer dazwischen, um die Wogen zu glätten. »Aber Mrs Hankey, wir haben alle Spinat zum Mittag gegessen.«

»Aber nicht alle haben Pilze gegessen«, warf Cricket hartnäckig, mit rachsüchtig funkelnden Augen ein. »Und er könnte Pech gehabt haben. Hat einfach den Grünen Knollenblätterpilz erwischt. Hätte jeden von uns treffen können.«

»Monsieur Cricket, würden Sie für den gnädigen Herrn braune Stiefel für einen Besuch in seinem Club herausstellen?« fragte Auguste bedrohlich leise.

Cricket blinzelte nervös. Er konnte bezüglich der Stiefelfrage nichts erwidern.

»Dann haben Sie bitte die Freundlichkeit, zu begreifen, dass ich nicht einfach eine Amanita phalloides in un garni du champignons fallen lasse.« Augustes Tonfall war schneidend und höhnisch. Das war eine Beleidigung, die nicht ignoriert werden durfte.

Es herrschte nervöse Stille.

»Vielleicht war es etwas, das er gestern Abend zu sich genommen hat«, warf Frederick Kammer mit dem unglückseligen Namen ein. Als Herzoglicher Kammerherr war er die ständige Zielscheibe für dümmliche Witze von Gästen, was er stoisch ertrug; noch ärger jedoch war, dass der Herzog die Angewohnheit hatte, sämtliche fünf Lakaien Frederick zu nennen, weil Lakaien auf Stockbery Towers seit jeher Frederick genannt wurden (irgendwann im vorigen Jahrhundert hatte einer so geheißen), und dass er somit in ständiger Gefahr schwebte, in einem Überraschungsmoment auf den Namen in einer Art und Weise zu reagieren, die für ihn als höherer Bedienter unangebracht war. Höhere Bedienstete wurden selbstverständlich mit ihren Familiennamen angesprochen. Daraus resultierte, so mutmaßte Auguste, Kammers unausgesetzte Wachsamkeit, das unaufhörliche Lauern auf irgendeine echte oder eingebildete Beleidigung.

»Weshalb wurde ihm denn dann nach dem Mittagessen schlecht?« Mrs Hankeys Stimme bebte. »Ihm ging es gut, als wir da waren. Hat nicht geklagt – nicht mehr als sonst«, fügte sie ehrlicherweise hinzu.

Das Mittagessen der Dienerschaft war, im Gegensatz zum Lunch der gnädigen Herrschaft, wie üblich verlaufen. Die höhere Dienerschaft und deren Pendants, welche zu den Gästen des gnädigen Herrn anlässlich der Jagdgesellschaft gehörten, das heißt Lord Arthur Petersfields Kammerdiener, die Zofe der Marquise, der Diener des Prinzen von Herzenberg und Mrs Harthams Kammerzofe, hatten das Hauptgericht im Dienstbotenspeisesaal eingenommen, sich dann in würdevoller und genau festgelegter Rangordnung zum Dienstbotenzimmer, dem Allerheiligen der höheren Dienerschaft, begeben. Dort hatten sie Nachspeise und Käse eingenommen. In den meisten Häusern hätten sie im Dienstbotenzimmer auch Tee oder Kaffee getrunken, doch Mr Greeves zog es vor, mit verletzender hierarchischer Konsequenz seinen weitaus überlegenen Status zu unterstreichen, indem er allein einen kleinen Imbiss und ein Glas Brandy zu sich nahm, während sich die übrige höhere Dienerschaft die halbe Wegstrecke, die sie gekommen war, zurückbegab und scharf nach links zum Zimmer der Haushälterin abbog. Dort genehmigte man sich eine bescheidene Stärkung, bevor man sich trennte, um seinen verschiedenen Pflichten nachzugehen. Das heißt, gewöhnlich war es so. Heute hatten die Tassen kaum die Lippen berührt, da war der kreidebleiche Zimmerjunge des Butlers ohne anzuklopfen hereingestürzt.

Niemand wusste eine Antwort auf Mrs Hankeys Frage. Die Unterhaltung verebbte, Vermutungen wurden laut. Zögernd, einer nach dem anderen, entfernte sich die höhere Dienerschaft, um ihre nachmittäglichen Beschäftigungen in Angriff zu nehmen; ein jeder von ihnen eilte halb ängstlich, halb hypnotisiert an der geschlossenen Tür des Dienstbotenzimmers vorüber.

Die niedere Dienerschaft schien sich ebenfalls in einer für diese Tageszeit ungewöhnlichen Zahl in der bescheidenen Umgebung des Dienstbotenspeisesaals aufzuhalten, der in bequemer Nähe des Dienstbotenzimmers lag. Sie erging sich in finsteren Vermutungen, basierend auf dem faszinierten Studium der Taten von Jack the Ripper und hervorgerufen durch das unerwartete Drama von Leben und Tod in ihrer Mitte. Keine Unschlüssigkeit herrschte hier darüber, was am Ende des Nachmittags stehen würde. In ihren Gedanken war Greeves bereits verloren, hingemordet von einem Erzfeind – obgleich zum letzten Punkt die Meinungen auseinandergingen. Aber wäre der Herzog selbst mit einem Messer im Rücken aufgefunden worden, hätte das kaum mehr Aufregung verursacht. Herzog und Herzogin waren nichts als bloße Namen für die kleinen Leute des außerordentlich umfangreichen Haus- und Hofpersonals. Während ihres gesamten Dienstlebens würden sie die beiden vielleicht nie sehen, außer beim flüchtigen und festgeschriebenen Erscheinen der gnädigen Herrschaft zum jährlichen Dienerschaftsball. Archibald Stewart Greeves hingegen war die allgegenwärtige Drangsal gewesen, die einen jeden Augenblick ereilen konnte, diese ungebildeten Mädchen aus Kent fürchteten ihn mehr, als vom Kapuzenpferd »geholt zu werden«, eine Androhung, die ihre Mütter noch immer aussprachen.

Das Erscheinen von Sergeant Bladon und, nach angemessener Zeit, von Constable Perkins ließ die persönlichen Vermutungen zu offizieller Gewissheit werden. Greeves musste tot sein. Das selbstherrliche Benehmen von Dr. Parkes, dessen Uhrkette anmaßend über seinem dicken Bauch baumelte, als er aus dem Dienstbotenzimmer auftauchte, bestätigte den ihnen liebsten Verdacht. Das war gemeinster Mord.

Es war ungefähr fünf, als die höhere Dienerschaft sich erneut versammelte und Ethel ihnen die wichtige Neuigkeit mitteilte, dass Sergeant Bladons Fahrrad im Hof gesehen worden war, womit sie, wie immer, einen Schritt hinter der niederen Dienerschaft zurücklagen.

Kaum hatte man die weitverzweigten Möglichkeiten, die diese Nachricht eröffnete, in sich aufgenommen, als nach einem Klopfen an Mrs Hankeys Tür ein vor Neugier schier platzender niederer Dienstbote sichtbar wurde, der Dr. Parkes hereinführte. Alle Augen wandten sich dem wohlbeleibten Doktor im Gehrock zu.

Er räusperte sich selbstbewusst. »Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, meine Damen und Herren, dass Mr Greeves, hm, verstorben ist.«

Ein Aufschrei von May Fawcett; ein leises Weinen von Mrs Hankey.

»Und meine Zweifel sind nicht ausgeräumt. In keiner Weise ausgeräumt, wie ich Seiner Gnaden berichten werde«, betonte er und starrte sie an. Er konnte es kaum erwarten, Seiner Gnaden Bericht zu erstatten, das war sein großer Augenblick. »Ich habe um die Anwesenheit der Polizei bitten müssen. Mr Greeves’ Zimmer stehen unter Bewachung.«

Die Wortwahl seiner Erklärung vermittelte der höheren Dienerschaft die Vorstellung, die gesamte berittene Garde galoppiere die Auffahrt hinauf, doch mit der Nachricht, die Polizeiwache bestehe nur aus Ned Perkins, dem jüngsten Sohn des Fleischers, hielt die Wirklichkeit wieder Einzug.

»Schönen Nachmittag, Maître.«

Die Herzogin von Stockbery war immer pedantisch genau mit ihrer Grußformel. Sie saß im blauen Nachmittagskleid aus Chiffon in der Bibliothek und erweckte, umgeben von den Porträts der herzoglichen Vorfahren, den Anschein von Zerbrechlichkeit. Doch ihr entschlossenes Kinn strafte diesen Anschein Lügen. Der Herzog begnügte sich mit einem bloßen Kopfnicken und einem »Abend, Didjer«. So versessen der Herzog auch auf die französische Kochkunst sein mochte, er betrachtete dennoch alle Franzosen als etwas weibisch und ihre Sprache als eine Überspanntheit, auf der sie, wider jegliche Vernunft, bestanden.

»Haben mein Personal hingemeuchelt, was, Didjer?« bemerkte der Herzog, der sich mit seinem Gesamtgewicht von 95 kg behaglich in einem braunen Ledersessel niedergelassen hatte; unter buschigen grauen Brauen schauten überraschend intelligente Augen hervor. »Hatten wohl noch einen Schuss von dem alten Quoorma, was, Didjer, was?«

Auguste erstarrte. Der gnädige Herr war der gnädige Herr, doch sogar er hätte ihn nicht ganz so unverblümt an jenes frühere Missgeschick zu erinnern brauchen. Schon wahr, er hatte die Verwendung von Gewürzen, wie sie in den »Kulinarischen Notizen« von Oberst Kenny-Robert empfohlen wurden, nicht ganz beherrscht. Das war jedoch zu seiner Anfangszeit in England gewesen. Jetzt wurden seine Mulligatawny-Suppe, seine Curry-Gerichte von den Gästen des gnädigen Herrn gierig verschlungen. Nun, sogar Oberst Milligan, der seinen Abschied von der Indischen Armee genommen hatte, nachdem ihm das Viktoria-Kreuz verliehen worden war, und der infolgedessen bei ehrgeizigen Gastgeberinnen sehr gefragt war, hatte Didiers Curry zur Bedingung für seinen Besuch gemacht.

»Aber George«, wandte die Herzogin ein, legte ihre Hand sanft auf den herzoglichen Arm und lächelte Auguste mit geübtem Charme zu. Obwohl sie fünfzehn Jahre jünger war als ihr Mann, konnte man kaum glauben, dass sie Mutter einer zwanzigjährigen Tochter und eines zweiundzwanzig-jährigen Sohns war. Die gnädige Frau wäre die erste gewesen, die einem darin beigepflichtet hätte. Nur sie und May Fawcett kannten die Mühe, die darauf verwandt wurde, diese Wirkung zu erzielen.

Der Herzog grunzte: »Schlimme Sache, trotzdem. Ganzes Haus ein einziges Durcheinander. Der Kerl von Sergeant sagt mir, Greeves wurde vergiftet, aber sie wissen nichts. Hatte sogar die Unverschämtheit, mir mitzuteilen, dass er einen Wachposten dalassen wird. Muss ein Unfall gewesen sein. Bleibt schon mal was liegen. Kann passieren.«

Auguste erstarrte, aber der gnädige Herr, den die Gefühle seiner Untergebenen nicht scherten, fuhr fort: »Ist ganz verständlich. Organisation ist im Eimer. Habe gestern Nachmittag gegen fünf Uhr ein Mädchen herumspringen sehen.« Der Herzog schüttelte verzweifelt den Kopf. Sein Abscheu, weibliches Personal nach der Mittagszeit zu sehen, war legendär. »Was soll das, sie trägt kein Schwarz, wenn sie müsste, und die Freds sind vor dem Lunch in Livree. Ich weiß nicht, was mit dem Personal los ist. Disziplin ist im Eimer. Kümmern Sie sich drum, Didjer, seien Sie so gut.«

»Gewiss, Euer Gnaden«, murmelte Auguste.

Es war einfacher, beizupflichten, als darauf hinzuweisen, dass es jetzt die Pflicht von Mr Hobbs und nicht die des Küchenchefs sei, der niederen Dienerschaft Disziplin beizubringen. Der Herzog hatte die vereinfachte Vorstellung, dass ein Befehl, der einem Bedienten gegeben wurde, an alle weitergeleitet werden könnte, dass hinter jener mit grünem Fries bespannten Tür eine geeinte Kraft wäre, deren einziges Bestreben es sei, ihr Bestes für die Herzöge von Stockbery zu geben. Obgleich, so vermutete Auguste, letztendlich war es an dem. Vor diesem Letztendlich jedoch, was für kleinliche Zänkereien, was für Eifersüchteleien, was für Rivalitäten, was für argwöhnisch gehütete Vorrechte und Trennungslinien gab es da! Es war so lächerlich – abgesehen von seinen eigenen Ressentiments natürlich. Wie froh er war, dass er als Küchenchef mit seinen beiden Gehilfen, den zwei Küchenmädchen, der Gemüseputzerin, den zwei Abwaschfrauen und dem Küchenjungen eine kleine eigenständige Einheit innerhalb des großen Imperiums des Hauspersonals bildete. Oder war es nur Greeves mit seinen hinterhältigen Anspielungen, lag es nur daran, dass er sein drohendes, nachdenkliches Auge auf sie gerichtet hatte, dass dieses ständige Gefühl von Unbehagen entstanden war, mit dem sie so lange gelebt hatten?

»Monsieur Didier«, die Aussprache der Herzogin war tadellos, sie hatte einen ganzen Londoner Sommer lang einen französischen Liebhaber gehabt, »uns ist bewusst, was für ein Schlag das gewesen ist und wie betrübt Sie wegen dieses unglückseligen Ereignisses sein müssen. Aber, Monsieur Didier, können Sie es noch schaffen? Es ist ganz unmöglich, die Ankunft unserer Gäste am Freitag hinauszuschieben.«

»Verdammte Unverschämtheit«, grunzte der Herzog. »Wichtigtuer von Polizist schlug vor, wir sollten ganze Sache abblasen, bis er das beendet hätte, was er seine Ermittlungen nennt. Sagte ihm, ich wüsste, der alte Hobbs meistert die Lage bestens. Und er hat die Impertinenz, mir zu erklären, dass er das nicht gemeint hätte. Habe ihm gehörig den Kopf gewaschen.«

»Oui, Madame«, sagte Auguste. Er ignorierte diesen Einwurf und konzentrierte sich auf die wichtigen Dinge. Seine Augen leuchteten auf, wie immer bei Besprechungen von les menus, le banquet, die den eigentlichen Anlass für diese ungewöhnliche Vorladung am Nachmittag darstellten. Normalerweise wurde er morgens zur Audienz vorgelassen. Von Freitag zu Montag würden weitere fünfzehn Logiergäste anreisen, abgesehen von den Gästen, die bloß für einen Tag zu Jagd und Tanz geladen waren. Es war natürlich nur ein kleiner Tanzabend, nicht vergleichbar mit dem Ball, den man am Ende der dreiwöchigen Jagd geben würde. Die Gäste am Freitag würden mit dem Zug aus London, Chatham und dem Südosten eintreffen. Nur ein Zug kam in Frage, denn er hatte eine Sonderverbindung nach Hollingham Halt, und dessen Passagiere waren unter dem spitzzüngigeren Teil des Bahnpersonals als die Tower-Ausflügler bekannt.

Vor dem zwanglosen Tanzabend am Freitag war ein Diner à la Russe vorgesehen. Für Sonnabend dann ein Büfett, das alle bisherigen Büfetts übertreffen sollte. Die Speisekammern mit den Marmorborden ächzten unter der Last der Vorräte, die ihrer Verwandlung in Kunstwerke entgegensahen; die Kühlfächer würden bald voller Sorbets sein, um heiße, durch das Tanzen erweckte Leidenschaften abzukühlen; die Vorratskammern für Wildbret wurden in Vorbereitung der kommenden kulinarischen Freuden ihres Inhalts beraubt.

Während die gnädige Herrschaft mit erfreuten Ausrufen und gelegentlichem Stirnrunzeln die Speisefolgen studierte, fragte sich Auguste, wie sie Greeves’ Tod aufgenommen hatten. War das grauenerregende Wort Mord ihnen gegenüber erwähnt worden? Und wenn ja, fühlten sie sich davon betroffen? Oder war die Sache für sie, da sie auf der anderen Seite der grünen Friestür stattgefunden hatte, bloß ein Salonspiel von der Art »Errate den Mörder«, in dem sie nur unbeteiligte Zuschauer waren? Mord war diesem aristokratischen Haus nicht etwa fremd. Es hatte in vergangenen Zeiten allerhand Morde gegeben – Ethel hatte sie ihm genüsslich geschildert in jenen dunklen Nächten, in denen sie unbeobachtet in dem riesigen Park von Stockbery Towers umherwandeln konnten. Da hatte es den unglückseligen Fall der Schwester des neunten Herzogs gegeben, die von Geburt an etwas seltsam war und sich des Nachts mit einem langen Küchenmesser zur Behausung des Kutschers geschlichen hatte; den des jüngeren Bruders des dritten Herzogs, den niemand je wieder zu Gesicht bekommen hatte nach dem furchtbaren Mord am Lord von Lyme, seinem Rivalen bei Hof um die Gunst der ehrbaren Königin Bess. Und den…

»Was zum Teufel ist denn das, Didjer?« Ein gebieterischer Finger zeigte auf die sorgfältig geschriebene Aufstellung.

»Panzerkrebs, Euer Gnaden, aus dem Fluss Len.«

Der Herzog schnaubte wütend. »Warum, zum Teufel, können wir nicht ein paar von diesen écrevisses à la provençale bekommen? Etwas mit ein wenig Geschmack.«

»Ne compliquez pas les choses, Euer Gnaden. Komplizieren Sie die Dinge nicht«, entgegnete Auguste ehrerbietig. »Das hat der Maître, Monsieur Escoffier, immer gesagt. In Kent – Panzerkrebs. In der Provence – écrevisses.

»Warum, zum Teufel, ich Sie überhaupt rübergeholt habe, weiß ich wirklich nicht«, grunzte der Herzog. »Habe seit Wochen keine anständige Soße mehr bekommen.«

Nachdem Auguste den Kampf um die Speisenfolge gewonnen hatte, machte er sich auf den Weg zum Zimmer der Haushälterin, wo man eine weitere Kanne Zitronentee zu sich nahm und voller Inbrunst munter drauflosredete.

»Er sagte, seine Zweifel wären nicht ausgeräumt«, äußerte Hobbs besorgt. »Das bedeutet…«

»Verbrechen«, flüsterte Cricket.

»Unsinn«, schluchzte Mrs Hankey. »Wieso denn nur? Es war ein Unfall. Die schottische Waldschnepfe muss es gewesen sein. Sein kleiner Imbiss, auf den er so versessen war. Dieser Junge, es ist alles seine Schuld. Er hat ihn zubereitet.«

Auguste zuckte die Achseln. »Wie könnte man jemanden mit Anchovisfilets und Rahmsoße vergiften, Mrs Hankey? Zufällig?«

So sehr er selbst auch alle diese Imbisse als Gift betrachtete, als tätliche Beleidigung für die Geschmacksknospen am Ende eines Mahles, war es doch schwer, sie sich als Medium für ein tödliches Gift vorzustellen, besonders aus den Händen eines fünfzehnjährigen Jungen. Als Zimmerjunge des Butlers war es Jacksons Aufgabe, im angrenzenden Anrichteraum Imbiss und Kaffee zuzubereiten. Aber wie sollte ihnen zufällig Gift beigefügt worden sein?

»Denken Sie an meine Worte«, sagte Cricket, obwohl das kaum einer jemals tat. »Man wird herausfinden, dass er arsensüchtig war wie jener Mr Maybrick. Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs Hankey. Ich stimme Ihnen zu. Es muss ein Versehen gewesen sein. Der Doktor hat unrecht. Mr Greeves hat ein bisschen zu viel genommen.«

Diese Worte verfehlten ihre aufheiternde Wirkung auf Mrs Hankey. »Arsensüchtig«, entgegnete sie verächtlich. »Weshalb sollte er Arsen nehmen? Es sei denn, es hat ihm jemand verabreicht« Ihre Augen richteten sich auf May Fawcett. »Einige Leute haben es darauf angelegt, ihm das Leben zur Qual zu machen, weil sie nämlich wussten, dass er mir sein Wort gegeben hatte.«

May Fawcett wurde rot, war jedoch nicht eingeschüchtert. Gehässig fauchte sie: »Falls das auf mich gemünzt sein sollte, Mrs Hankey, möchte ich, wenn Sie gestatten, betonen, dass ich weit davon entfernt war, Mr Greeves das Leben zur Qual zu machen; im Gegenteil, ich war das einzige bisschen Spaß, das Archibald hatte.«

Auguste spürte einen Schauer unheilvoller Vorahnung. An normalen Tagen kamen er und seine Kollegen einigermaßen gut miteinander aus, ein paar scharfe Bemerkungen, nichts Außergewöhnliches – eine zusammengewachsene Schar höherer Bedienter. Und dann ein Tod, ein gewaltsamer, und plötzlich ist alles verändert. Es war wie mit einer Soße: Man fügt eine letzte Zutat hinzu und die Geschmacksrichtung des Ganzen hat sich verändert. Ist vielleicht verdorben …

Edith Hankey starrte May Fawcett an, als sei sie unfähig, die Unverschämtheit zu glauben, die sie gerade gehört hatte. Schließlich brach es aus ihr hervor: »Archibald? Sie erdreisten sich, ihn Archibald zu nennen. May Fawcett, wie können Sie es wagen! Das hätten Sie nie getan, als er noch …« Ihre Stimme versagte.

Miss Fawcett fiel mit einem triumphierenden, grausamen Lächeln über sie her. »Doch, das hätte ich getan. Weshalb denn nicht? Er liebte mich, verstehen Sie.«

Aha, dachte Auguste. Jetzt werden die Fetzen fliegen. Der große Knall, und alles kommt heraus.

»May«, sagte Kammer scharf.

Geschwind huschten Augustes Augen zu ihm. Was war denn das? May, nicht Miss Fawcett?

Kammers Einwurf wurde nicht beachtet.

Edith Hankey war aufgestanden, um May Fawcett mit ihrer gesamten Persönlichkeit, wenn schon nicht mit ihrer Körpergröße, zu überragen. »Sie vergessen, wer Sie sind, Miss. Haben Sie den Verstand verloren? Verliebt – in Sie? Ich war es, mit der er in gutem Einvernehmen stand.«

Verächtlich schaute das Mädchen sie an; die Wende, die das Gespräch genommen hatte, ließ sie zeitweilig jeglichen Gedanken an ihre Zukunft vergessen. »Wir liebten uns. Wir wollten heiraten, sobald wir ein Haus auf dem Gut bekommen hätten.«

Mrs Hankeys Gesicht war knallrot. »Sie? Sie bösartige kleine Lügnerin. Er wollte mich heiraten, Miss. Mich.«

»Sie!« erwiderte Miss Fawcett mit vernichtendem Hohn. »Wozu hätte er Sie denn haben wollen? Ein Mann mag was Hübsches im Bett, nicht eine reife alte Krähe wie Sie.« Und damit fing sie an zu weinen, während Mrs Hankey zu einem zitternden Etwas aus Schock und Wut geworden war.

»Wen kümmert es schon, wie er gestorben ist?« schluchzte May. »Er ist tot.«

Diese Erkenntnis dämpfte Mrs Hankeys ohnmächtigen Zorn, und sie setzte sich plötzlich hin. Zuerst begann ihr Kinn, dann ihre Lippen zu zittern. Ethel Gubbins sprang auf und eilte zu ihr, May einen vernichtenden Blick zuwerfend.

»So etwas durften Sie nicht sagen, Miss Fawcett. Das durften Sie wirklich nicht. Wir alle sind fassungslos …« Sie legte den Arm um Mrs Hankey, eine Geste, die unter anderen Umständen undenkbar gewesen wäre. »Jetzt kommen Sie mit in mein Zimmer und legen sich hin, Mrs Hankey. Ich werde mich um Sie kümmern. Ausweinen wird Ihnen gut tun.«

Ein weiterer vernichtender Blick, diesmal an die Adresse der Männer gerichtet, vermutlich wegen der Nutzlosigkeit ihres Geschlechts, und Mrs Hankey wurde aus ihrem Zimmer hinaus, den Flur entlang zu Ethels Zimmer im ersten Stock geführt. Im Takt ihrer Schritte waren auf dem Flur laute Schluchzer zu hören, die nunmehr hervorzubrechen begannen. Die verbliebene höhere Dienerschaft vermied es geflissentlich, sich gegenseitig in die Augen zu schauen. Kein Greeves mehr. Jetzt keine Mrs Hankey. Für eine gewisse Zeit war die Autorität abhanden gekommen.

Ernest Hobbs, als Greeves’ amtierender Nachfolger die neue Macht im Land, war der erste, der das Schweigen brach. »Mr Didier, hrumph, die Zeit.«

Fünf Augenpaare wandten sich zu der kleinen französischen Uhr auf Mrs Hankeys Kaminsims. Ihre Besitzer erfassten deren Mitteilung gleichzeitig. Zehn Minuten vor sieben.

Fünf Leute waren fast im selben Augenblick an der Tür. May Fawcett, die mit einem Taschentuch heftig ihr Gesicht rieb, war den anderen um Haaresbreite voraus. »Ihr Kleid«, schrie sie auf. »Das Bad. Wenn dieses kleine Flittchen wieder das Wasser vergessen hat …« Ihre eiligen Schritte hallten den Flur hinab, knapp gefolgt von John Cricket, der ähnliche, die Kleidung betreffende Pflichten für den gnädigen Herrn zu verrichten hatte.

Auguste Didier war erschüttert. Er hatte es zum ersten Mal in seinem Leben fast völlig vergessen.

Abendessen. Es war Zeit für le Diner.

Auguste rückte Schürze und Mütze zurecht und blieb in der Eingangstür zur riesigen Küche stehen, um sein Reich zu überschauen. Für einen Franzosen war er groß, etwa 1,75 m, und für einen Koch schlank. Für seine Angestellten war er ein Gott und für die weiblichen ein Gott in zweifacher Hinsicht, denn seine dunklen, warmen, französischen Augen brachten einen Hauch von Exotik in ihr eintöniges Leben. Heute würde dieser Gott Neuigkeiten über Den Mord mitteilen können, denn dass es Mord gewesen sein musste, davon war das niedere Dienstpersonal inzwischen überzeugt. Seine Gehilfen hatten ihn noch nicht bemerkt. Sie bewegten sich ohne jenes Flair totaler Hingabe, das so dringend erforderlich ist für Perfektion. Er runzelte die Stirn. Die gewohnte warme Luft der Küchenherde und Gasöfen wehte ihn an, stimulierte ihn und drängte alle Gedanken an Mord ins Unterbewusstsein. Dort konnten sie wie Mittelmeerfische in provençalischer Kräutermarinade langsam reifen, meinte er. Sein Geist musste frei sein für die Hauptsache – das Diner. Ihm blieb nur noch eine Stunde. Er wurde sich wieder seiner Macht bewusst. Er war ein Maître. Hatte ihm nicht Auguste Escoffier selbst diesen ehrenvollen Titel verliehen? Und das hier war sein Reich.

Er schnupperte. Es roch gut, duftete nach Braten, die langsam im Küchenherd bräunten, nach Geflügel auf Spießen.

»Gladys, ma petite!«

Sie schaute auf; augenblicklich schien die untersetzte Gestalt im bedruckten braunen Kattunkleid neue Entschlusskraft zu gewinnen. Sie eilte zum Black-Beauty-Gasherd, wo gerade die Soßenzubereitung begann. Einige Küchenchefs überließen die Soßen und sogar das Gemüse vollkommen ihren Untergebenen. Ach, jene Chefs hatten ja keine Ahnung. Man brauchte die Saucen nur etwas zu lange zu kochen, und eine Tragödie konnte sich ereignen. Ein Küchenchef, den er aus Paris kannte, hatte sich erschossen, weil die brandade, die für den Comte de Paris bestimmt war, sich zersetzte. Der Gedanke an jähen Tod erinnerte Auguste wieder unangenehm an Greeves. Er ignorierte diese Erinnerung jedoch und begab sich auf seine »Cooksche Kochtour«, wie die Mädchen es respektlos nannten. Was konnte man schon anderes von Mädchen erwarten, die noch nicht einmal achtzehn waren? Sie wussten nicht, dass Essen eine Kunst war – für sie war es etwas, um sich die Bäuche vollzustopfen, etwas, von dem sie zu Hause nicht ausreichend bekamen. Doch nach einem weiteren Jahr bei ihm würden sie es wissen. Wahrscheinlich würden sie jedoch bereits vorher verheiratet sein. Es war ihnen verboten, Verehrer zu haben, aber sie fanden immer einen Weg. Und wer konnte es ihnen verübeln? Wenige von ihnen waren wie Rosa Lewis.

»Ah, la soupe.«

Er hob die Schöpfkelle an die Lippen. Bebend vor Angst sah Gladys ihn an. Die potage à la Reine war leicht – vielleicht ein soupçon zu viel Rahm, es war jedoch unerheblich. Er lächelte ihr zu, und sie war selig. Annie hatte nicht so viel Glück. Die consommé – er runzelte die Stirn. Es wäre für niemanden außer Auguste wahrnehmbar, er aber konnte eine übereilte, zu schnell zum Kochen gebrachte Bouillon schmecken; ihr fehlte die Finesse. Er dachte daran, Annie zu beschämen und ihr zu befehlen, sie wegzuschütten, doch heute, ja, heute war es schwer gewesen, das gab er zu.

»Das nächste Mal aber, petite Annie, werden Sie …«

Er setzte seinen Rundgang fort: Braten wurden inspiziert, Pasteten und eine Soße für ein entremet für gut befunden, die Steinbuttsuppe war vorbereitet, die carpes farcies bereits fertig, die Brandyquarkspeise stand ordnungsgemäß in der Speisekammer mit den Marmorborden. Er rührte das Sorbet im Kühlfach ein letztes Mal um. Der gnädige Herr war besonders erpicht auf Sorbets und wollte sie häufig zwischen den Gängen serviert haben. Auguste empfand das als Fehler – vielleicht une petite salade, ein Sorbet war jedoch zu maßlos. Das erschreckte den Magen, statt ihn zu beruhigen.

Zehn Minuten vor acht. Die Freds, wie sie sogar schon bei der höheren Dienerschaft hießen, fanden sich in der Küche ein, um die Suppenterrinen zur Anrichte zu bringen. Normalerweise warteten sie reglos. Heute Abend war es anders. Sie waren weit lebhafter, als es ihrem Stand gebührte.

»Ist es wahr, Mr Didier, dass jemand dem alten Greeves den Garaus gemacht hat?«

»Wo is Mrs Hankey, Mr Didier? Sie hat doch nich wirklich Gift genommen und is über seiner Leiche in Ohnmacht gefallen?« Das war die romantische Version von Gladys.

»Non, Gladys, Mrs Hankey ist…«

»Hab’ gehört, er hat sich selbst umgebracht …«

»John, die Suppe«, sagte Auguste streng, als die erste Terrine kam. Nichts, nicht einmal ein Todesfall in den Reihen der höheren Dienerschaft, durfte den eingespielten Ablauf stören. Die Freds kehrten zurück, um sich nun der Braten anzunehmen. Jetzt konnte sich Augustes Lehrling, William Tucker, entfalten. Die kalten Braten waren schon auf den langen Eichenserviertischen aufgereiht, wo sie den ganzen Abend über für den unwahrscheinlichen Fall bleiben würden, dass der Appetit eines Gastes nach zehn Gängen vielleicht immer noch nicht gestillt sein könnte. Die heißen Braten wurden zur Anrichte getragen, um weitere fünfzehn obligate Minuten, dampfend und in ihrer Kruste mürbe werdend, dort zu stehen, damit der Herzog sie leichter schneiden konnte.

»Attention, Michael«, ertönte Augustes besorgter Ruf, als der neueste Fred mit einem beladenen Tablett in der Hand unsicher schwankte.

Als nächstes war der Fisch an der Reihe. Um dieses Gericht sorgte sich Auguste immer am meisten. Er warf einen gequälten Blick auf den St. Pierre, als dieser unter der Obhut von John, dem ältesten Fred, schnell an ihm vorbeigetragen wurde. Die Rhabarbersoße – war sie vielleicht ein wenig zu bitter für den englischen Gaumen? Der Lachs konnte sich ohne Gefahr in den großen Wärmschüsseln der Anrichte selbst überlassen bleiben, aber die Seezungen, vielleicht waren sie heute eine Spur zu lange in ihrer ravigote-Sose verblieben?

Als endlich der letzte Gang hinausgetragen worden war, begannen die erschöpften Schwerstarbeiter über ihr eigenes Abendessen nachzudenken, und sein ganzes mächtiges Reich legte eine Ruhepause ein. Sechzig Meter entfernt wurden neun Löffel an fleißig plaudernde Münder geführt, wobei Mord dank der grünen Friestür in sichere Entfernung gerückt war. Heute Abend würde Ernest Hobbs als amtierender Butler hinter dem Sessel des Herzogs stehen, und Auguste dachte: Was könnte das Leben mehr bieten? Ein Mann von sechzig, zehn Jahre lang gequält und schikaniert vom lächelnden, niederträchtigen Greeves, hatte jetzt endlich eine Machtposition inne. Wie würde ihm das gefallen? Wenn er Hobbs wäre, würde er ganz offen frohlocken. Keine kleinliche Kritik mehr am Zustand des Geschirrs, nach unerwarteten Kellerbesichtigungen zur Überprüfung des Vorrats keine endlosen Aufforderungen, Rechenschaft abzulegen. Nein, Hobbs konnte kaum Grund haben, Greeves’ Ableben zu bedauern. Besonders wegen dieser Sache mit seiner Tochter. Auguste war damals nicht auf Stockbery Towers gewesen, aber das Gerücht hielt sich noch hartnäckig.

»Mr Didier, Sie sind in meiner Teeküche gewesen«, ertönte die anklagende Stimme von Mrs Hankey, die in die Küche stürmte und seine Gedanken unterbrach. »Also, das werde ich nicht zulassen …«Sie war fest entschlossen, trotz ihrer öffentlich zur Schau gestellten Schwäche keinerlei Beschneidung ihrer Rechte zu gestatten. Unfähig zu schlafen, unfähig irgend etwas außer Archibalds schmerzverzerrtem Gesicht zu sehen, war sie wieder aufgestanden.

»Ah, Madame Hankey, was sollte ich denn tun? Die charlotte – sie benötigte einfach eine Spur – eine je ne suis quoi « Auguste, der sich absichtlich ganz besonders französisch gab, gestikulierte ausdrucksvoll mit den Händen. »Nun, nur la belle Madame Hankeys Hagebuttengelee wäre dafür passend.«

Besänftigt, wenn auch noch misstrauisch, rümpfte Mrs Hankey die Nase. Ihr Hagebuttengelee war weithin bekannt für seine Reinheit, das stimmte. Obgleich das keinen unbefugten Übergriff auf ihre Teeküche entschuldigte, während sie ihr unter solch tragischen Umständen den Rücken gekehrt hatte.

In Wirklichkeit hatte Auguste in der Teeküche etwas anderes gewollt. Er hatte bereits einmal jemanden mit den gleichen Symptomen wie Greeves sterben sehen, und in der Teeküche waren die eifersüchtig gehüteten Medikamente, mit denen Mrs Hankey die kranken Hausangestellten bei allen kleinen Unpässlichkeiten behandelte. Darunter befand sich eine für sechs Pence bei Harrods gekaufte Flasche Eisenhutextrakt, von dem einige wenige Tropfen die Grundlage für das von Dr. Parkes empfohlene Husten- und Schnupfenmittel waren, in großer Dosis jedoch wirkte er schnell tödlich. Die Flasche war noch da gewesen, als Auguste nachgeschaut hatte. Sie war halb leer, was jedoch nichts besagte.

»Nun gut, Mr Didier, es darf jedoch nicht wieder vorkommen. Der Verlust meines Achibalds«, Edith Hankey senkte die Stimme, »ist ein schlimmer Schlag für mich gewesen, Mr Didier; ich bin aber hier immer noch die Haushälterin. Ich werde mich in der Hand haben.«

Auguste verzog das Gesicht. Warum mussten sich die Engländer immer in der Hand haben? Sie würde sich viel besser fühlen, wenn sie einfach heulen und schreien würde wie ein Marseiller Fischweib. Nach diesem Ausbruch von Vertraulichkeit fand Mrs Hankey ihre standesgemäße Würde wieder. »Abendessen wird es in meinem Zimmer geben, da Mr Greeves’ Zimmer – ah – nicht verfügbar ist.«

»Ned Perkins sagt, man behandelt es als möglichen Mordfall, Mr Didier«, bemerkte wichtigtuerisch einer der Freds, der mit einem Imbisstablett vorüberhuschte.

»Das langt jetzt, John«, fuhr Mrs Hankey eisig dazwischen. »Es ist Mr Greeves, von dem Sie sprechen, denken Sie daran.«

Eingeschüchtert eilte der Fred von dannen, mit der Absicht, diese Neuigkeit empfänglicheren Ohren mitzuteilen.

Auguste wich Mrs Hankeys Blick aus.

Schließlich begann sie zu sprechen. »Mord«, sagte sie ungläubig. »Auf Stockbery Towers? Mr Greeves? Archibald?« Ihre Stimme wurde immer höher und zittriger. Sie drehte sich jäh um, verschwand über den Korridor in ihr Zimmer und überließ Auguste seinen Gedanken.

Diese waren ein einziges Durcheinander; er brauchte Zeit, musste sich ruhig hinsetzen, um sie methodisch zu ordnen, wie er es mit den Zutaten für ein Rezept tat, und musste sie dann auf kleiner Flamme in einem pot-au-feu kochen lassen. Dass dies notwendig war, sagte ihm seine französische Logik. Notwendig für seine eigene Sicherheit. Greeves’ Tod am Nachmittag deutete darauf hin, dass sein Mittagessen dafür verantwortlich war. Richtig, der erste Teil jener Mittagsmahlzeit war wie üblich mit dem niederen Dienstpersonal eingenommen worden, da aber Greeves bei Tisch sorgsam von seinen höheren Mitbedienten flankiert wurde, war es feist unmöglich, dass einer der niederen Dienstboten Gelegenheit gehabt hatte, Greeves’ Essen Gift beizumischen. Das bedeutete, dass die Giftmischerei auf die zweite Hälfte der Mahlzeit im Dienstbotenzimmer begrenzt blieb. Das war ein unangenehmer Gedanke – und es würde zweifellos nicht lange dauern, bis selbst der beschränkteste Ermittlungsbeamte von Kent draufkommen würde. Und wer war verantwortlich für das Mittagessen? Er selbst, Auguste Didier. Ein Ausländer und als solcher die natürliche Zielscheibe für Verdächtigungen durch redliche und treue Bürger von Kent.

Wer hatte ein Motiv, Archibald Greeves zu ermorden? Nach dem Ausbruch des heutigen Nachmittags zu urteilen, gab es unterirdische Strömungen in den bisher ziemlich ruhigen Wassern der Oberen Zehn, von denen er nichts wahrgenommen hatte. Wenn nun Mrs Hankey von May Fawcett gewusst hatte? Und Ernest Hobbs, er hatte ein Motiv, falls es Greeves gewesen war, der seine Tochter in Schwierigkeiten gebracht hatte. Oder May Fawcett? Vielleicht hatte Greeves in Wirklichkeit doch die Absicht gehabt, Mrs Hankey zu heiraten? May hätte das nicht gefallen. Sie hatte Interesse an Auguste gezeigt, als er vor zwei Jahren herkam. Sie war jedoch nicht sein Typ. Ein zu scharfgeschnittenes Gesicht und zu dünn; ihre hohen Kragen und vorn enganliegenden Röcke trugen wenig dazu bei, der englischen Figur zu schmeicheln, und May Fawcett sah mit ihrem langen Gesicht und dem zurückgekämmten Haar meistens wie ein übelgelauntes Pferd aus. Und doch war sie irgendwie hübsch, wenn sie sich zu lächeln bemühte, was in letzter Zeit aber immer seltener vorzukommen schien. Wenn Kammerzofen nicht heirateten, konnte ihre Zukunft traurig und einsam sein. Kein Wunder, dass sie mit Greeves’ Aufmerksamkeiten prahlte. Sie würde natürlich gehen müssen. So ein Filou, er hatte sich ganz schön in die Nesseln gesetzt! Mrs Hankey würde ihr jetzt niemals mehr gestatten zu bleiben.

Ethel Gubbins war ganz anders. Zwanzig Jahre alt, sanft, warmherzig, das vortreffliche englische Mädchen vom Lande, wie seine Mutter es ihm geschildert hatte. Braune Locken, große graue Augen und eine Art, ihn anzuschauen, die ihn manchmal fast seinen Entschluss vergessen ließ, Tatjana immer treu zu bleiben, zumindest mit dem Herzen. Ihm dünkte jedoch, dass Ethel nicht ganz so sanft sein konnte, wie sie aussah. Sie hatte fünf Hausmädchen unter sich und konnte eine ebenso strenge Vorgesetzte sein wie Mrs Hankey, wenn ihre Anordnungen nicht eingehalten wurden.

Dann waren da noch die beiden Männer: Frederick Kammer und John Cricket. Cricket, ein schlauer, nervöser Mann in den Vierzigern, hatte sicherlich Grund, Greeves nicht zu mögen. Und umgekehrt. Ein Kammerdiener war ein potenzieller Rivale für den Butler. Er konnte seinem Herrn in heimlichen Momenten etwas zuflüstern, wenn er das Bad einließ, ihn ankleidete, dem gnädigen Herrn die Stiefel schnürte, private Dienste verrichtete. Das schuf Bande zwischen ihnen, die ein Butler, wie tüchtig er auch sein mochte, nie erstreben konnte. Greeves hatte diesen Wettbewerb irgendwie unterbunden, denn Cricket zeigte schiere Angst vor ihm. Kammer war ein größeres Rätsel, der Typ von Engländer, den Auguste als schwer auslotbar empfand. Ein sinnlicher Mann, mit seinen vollen Lippen und Wangen, nahm er an. Ungefähr in seinem Alter. Er blieb für sich und erfüllte seine Pflichten vorschriftsmäßig und gut. Auguste fragte sich, was zwischen ihm und May Fawcett war, falls da überhaupt etwas war.

Und schließlich Edward Jackson, und der merkwürdige Fakt, den Augustes Unterbewusstsein zu der Zeit registriert hatte, als sich gerade so viel anderes ereignete. Warum war Edward Jackson gar so sicher gewesen, dass jemand Greeves umgebracht hatte?

In diesem Augenblick gab die Klingel aus dem Speisesaal das Signal, dass der Kaffee serviert werden konnte, und Kammer beeilte sich, ihn den Damen zu bringen, die nun im großen, reich verzierten Salon versammelt waren, während Hobbs eifrig mit Karaffen von Portwein und Brandy um die Herren herum sprang. Das war das Signal für das niedere Dienstpersonal, sich im Dienstbotenspeisesaal zu versammeln, und für die Oberen Zehn, die jetzt ihre Abendkleidung angelegt hatten und etwas verunsichert wegen des ungewöhnlichen Treffpunkts waren, sich im Zimmer der Haushälterin einzufinden. Mrs Hankey, die sich prachtvoll in dunkellila Satin gekleidet hatte und deren stattliche Brust und hoher Hals von einem schwarzen Spitzentuch bedeckt waren, hielt als Mittelpunkt des Geschehens theatralisch und schweigsam Hof. May Fawcett schwebte in schwarzem Chiffon heran. Ethel hatte ihr Bestes mit dunkelgrünem Crepe versucht. Die Kammerzofen der Gäste, die von dieser unerwarteten Abweichung vom Protokoll überrascht worden waren, glichen in roten und blauen Farben schillernden Paradiesvögeln.

Fast sofort ergab sich ein Problem. Die förmliche Prozession in den Dienstbotenspeisesaal zum Abendessen musste von dem Herrn mit dem höchsten Rang angeführt werden; der geleitete die ranghöchste Kammerzofe der Gäste. Mr Greeves war tot, Ernest Hobbs noch mit seinen Pflichten bei der Herrschaft beschäftigt. Also blieb nur …

»Mr Didier, würden Sie bitte?« Edith Hankey beugte sich dem Unvermeidlichen und nickte huldvoll einem kleinen dunkelhaarigen Mädchen mit lustigen Augen zu. »Die Markies dee Lavalley«, verkündete sie eindrucksvoll.

Mademoiselle Emilie Levine, Kammerzofe, die dem Brauch gemäß für den Abend den Rang der Herrin einnahm, ergriff Augustes Arm, der ihr bereitwillig gereicht wurde. Es ergaben sich unmittelbare Vorteile aus Greeves’ Tod, so schien es, und die Aussicht auf einen Abend, an dem er französisch sprechen konnte, erfreute ihn außerordentlich. Er zog sie fester an sich. Ethel war nicht so erfreut, und eine Schmollmiene zeigte sich auf ihrem hübschen Gesicht, als sie den Arm von Petersfields Kammerherrn, einem wohlbeleibten Fünfundfünfzigjährigen, nahm. May bediente sich etwas nervös des Beistandes durch den Kammerherrn des Prinzen, eines jungen blonden Mannes mit steifen, korrekten Manieren.