Nell Drury und das Varieté des Todes - Amy Myers - E-Book
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Nell Drury und das Varieté des Todes E-Book

Amy Myers

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Beschreibung

Ein ungesühnter Mord unter Schauspielern – Nell Drury ermittelt wieder
Der 20er Jahre Cosy Crime für Fans von Rhys Bowen

Kent, 1926: Auf Wychbourne Court herrscht Trubel als Lady Ansleys alte Theatergruppe für eine kleine Aufführung im Herrenhaus zusammenkommt. Chefköchin Nell Drury wird schnell klar, dass Lady Ansley nicht nur wegen der Reaktion der Gäste nervös ist, denn nicht alle sind erfreut darüber, sich wieder zu sehen. Schnell entstehen Spannungen unter den schillernden Schauspielern und längst vergrabene Erinnerungen werden aufgewühlt: Was geschah mit Mary Ann Darling, der jungen Varieté-Schauspielerin, die vor dreißig Jahren verschwand? Nell beginnt mit Fingerspitzengefühl zu ermitteln. Unterstützung bekommt sie dabei von Inspektor Melbrany, der ihr nur zu gern unter die Arme greift. Als sich die Vorstellung dem Ende zuneigt, beginnt das wirkliche Drama …

Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits erschienen Titels Das Varieté des Todes.

Weitere Titel dieser Reihe
Nell Drury und der Mörder von Wychbourne Court (ISBN: 9783968179391)

Erste Leser:innenstimmen
„klassische, aber total unterhaltsame Whodunit-Geschichte“
„Nell Drury ermittelt wieder mit viel Charme, Herz und Verstand!“
„historischer Krimi in ansprechendem 20er-Jahre-Setting“
„Unerwartete Geheimnisse und spannende Charaktere – tolle Reihe!“
„Cosy Krimi zum Miträtseln und Versinken …“

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Seitenzahl: 453

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Über dieses E-Book

Kent, 1926: Auf Wychbourne Court herrscht Trubel als Lady Ansleys alte Theatergruppe für eine kleine Aufführung im Herrenhaus zusammenkommt. Chefköchin Nell Drury wird schnell klar, dass Lady Ansley nicht nur wegen der Reaktion der Gäste nervös ist, denn nicht alle sind erfreut darüber, sich wieder zu sehen. Schnell entstehen Spannungen unter den schillernden Schauspielern und längst vergrabene Erinnerungen werden aufgewühlt: Was geschah mit Mary Ann Darling, der jungen Varieté-Schauspielerin, die vor dreißig Jahren verschwand? Nell beginnt mit Fingerspitzengefühl zu ermitteln. Unterstützung bekommt sie dabei von Inspektor Melbrany, der ihr nur zu gern unter die Arme greift. Als sich die Vorstellung dem Ende zuneigt, beginnt das wirkliche Drama …

Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits erschienen Titels Das Varieté des Todes.

Impressum

Erstausgabe 2019 Überarbeitete Neuausgabe November 2021

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-116-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-326-9

Copyright © 2019 by Amy Myers Titel des englischen Originals: Death at the Wychbourne Follies

Published by Arrangement with Amy Myers. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2020, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2020 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Das Varieté des Todes (ISBN: 978-3-96817-353-5).

Übersetzt von: Anja Samstag Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © lumyaisweet, © hespasoft shutterstock.com: © Darya Komarova, © yykkaa depositphotos.com: © davidschrader, © R-studio Korrektorat: KoLibri Lektorat

E-Book-Version 30.11.2022, 15:04:24.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Nell Drury und das Varieté des Todes

Jetzt auch als Hörbuch verfügbar!

Nell Drury und das Varieté des Todes
Amy Myers
ISBN: 978-3-98637-111-1

Ein ungesühnter Mord unter Schauspielern – Nell Drury ermittelt wiederDer 20er Jahre Cosy Crime für Fans von Rhys Bowen

Das Hörbuch wird gesprochen von Angela Neis.
Mehr Infos hier

Anmerkung der Autorin

Die Grafschaft Kent besticht mit bezaubernden alten Anwesen und Herrenhäusern. Wychbourne Court ist eines davon und liegt zwischen den berühmten Herrenhäusern Knole House und Ightham Mote, nicht unweit von Anne Boleyns Schloss Hever Castle. Im Gegensatz zu diesen Bauten ist Wychbourne Court jedoch mit all seinen Bewohnern, Dorfbewohnern und Gästen fiktiv. Das Londoner Gaiety Theatre, von dem in diesem Roman so viel gesprochen wird, ist auch real, so wie auch der Guv’nor. Das Gaiety Theatre hat seine Türen kurz vor dem zweiten Weltkrieg geschlossen. Die Schauspieler, die in diesem Roman dort auftreten, sind genauso fiktiv wie die anderen Charaktere.

Wychbourne Court ist nicht von alleine entstanden, es genoss die enorme Unterstützung meiner Agentin Sara Keane von Keane Kataria und von meinem Verleger Severn House – Kate Lyall Grant und ihrem unvergleichlichen Team, inklusive Sara Porter, Copy-Editor Emma Grundy Haigh und Piers Tilbury, die Nell Drury und das Varieté des Todes und den Vorgänger Nell Drury und der Mörder von Wychbourne Court auf magische Art und Weise zum Leben erweckt haben. Ich bin ihnen allen zutiefst dankbar.

Wychbourne Court

Mitglieder der Ansley-Familie

Lord (Gerald) Ansley, der 8. Marquess Ansley

Lady (Gertrude) Ansley, die Marchioness Ansley

Lord Richard Ansley, einer ihrer drei Söhne

Lady Helen Ansley, ihre ältere Tochter

Lady Sophy Ansley, ihre jüngere Tochter

Lady Clarice Ansley, Schwester von Lord Ansley

Die höhergestellten Bediensteten

Nell Drury, Köchin

Frederick Peters, Butler

Florence Fielding, Hausdame

Mr Briggs, Lord Ansleys Kammerdiener

Jenny Smith, Lady Ansleys Kammerzofe

Gäste, weitere Bewohner und Besucher

Arthur Fontenoy, der ehemalige Geliebte des 7. Marquess

Rex Beringer, Gast

Lady (Katie) Kencroft, Gast

Lord (Charles) Kencroft, Gast

Lynette Reynolds, Gast

Neville Heydock, Gast

Alice Maxwell, Gast

Tobias St John Rocke, Gast

und

Kriminalinspektor Alexander Melbray vom Scotland Yard

Kapitel 1

„Eine Revue!“ Mrs Fielding gab ein verächtliches Schnauben von sich.

Nell hatte Mühe, ein Kichern zu unterdrücken. Die Missbilligung der Hausdame war zu erwarten gewesen, aber als Chefköchin war Nell anderer Auffassung.

„Triefende Törtchen“, feuerte sie zurück. „Wieso sollen sie denn nicht zum Spaß eine Revue aufführen? Die Ansleys toppen die Ziegfeld Revue doch mit Leichtigkeit.“

„Pierrots, also wirklich. Man stelle sich nur Ihre Ladyschaft als Clown verkleidet vor, wie wir sie an der Küste gesehen haben. Das ist einfach falsch.“

„Es ist für einen guten Zweck“, sagte Nell strahlend. Sie wusste, dass Lord Ansley dem Vorschlag seiner Kinder einzig aus dem Grund zugestimmt hatte, dass die Einnahmen an eine Wohltätigkeitsorganisation für Kriegsveteranen gespendet werden würden. Es war 1926 und der Krieg war seit sieben Jahren vorbei, doch wie sollte man das so genau feststellen? Die überlebenden Männer und Frauen waren zwar physisch heimgekehrt, aber viele von ihnen weilten gedanklich noch immer in 1918, kämpften mit psychischen Wunden und physischen Verletzungen und sie alle hatten emotionale Narben, mit denen sie rangen.

Mrs Fielding stand vom Tisch auf und gab damit zu verstehen, dass die Unterhaltung beendet war. „Und außerdem fängt es an zu schneien“, ergänzte sie düster und ignorierte Nells Argument.

Nell sah aus dem Fenster im Zimmer der Butler, welches noch immer liebevoll Pug’s Parlour genannt wurde, wo sich die anderen höhergestellten Bediensteten des stattlichen Herrenhauses Wychbourne Court zu einem kurzen Mittagessen versammelt hatten. Zu Nells Überraschung behielt Mrs Fielding recht. Tatsächlich tanzten vor dem Fenster auf einmal Schneeflocken, die im Küchenhof zu Boden fielen. Es war der erste Schnee in diesem Monat, aber es war noch mehr als genug Zeit dafür, schließlich war es erst Mitte Januar. In einigen Stunden würden die Gäste eintreffen und das widrige Wetter war kein gutes Omen für einen ruhigen Verlauf des Wochenendes, das ihnen bevorstand – und schon gar nicht für die Wychbourne Revue.

„Lassen Sie es sich gesagt sein. Da kommt nichts Gutes bei heraus.“ Mit einem abschließenden Naserümpfen marschierte Mrs Fielding hinaus, wobei sich der altmodische Bombasinstoff ihres Rockes aufbauschte. Der Butler Mr Peters warf Nell einen mitleidigen Blick zu und folgte der Hausdame aus dem Salon. Er hatte keine Wahl jetzt, da seine tendresse zu Mrs Fielding ein offenes Geheimnis war. So blieben nur noch Lord Ansleys Kammerdiener Mr Briggs, da Lady Ansley auf die Ankunft einer neuen Kammerzofe wartete. Mr Briggs war wie zumeist in seine eigene Gedankenwelt vertieft und lächelte besonnen. Seit dem Krieg litt er an einer Bombenneurose und hatte seine eigene Art und Weise, den Alltag zu bestreiten.

Insgeheim hatte auch Nell ihre Zweifel an der Revue, aber sie hatte diese als nichtig abgetan. Als Köchin war es ihre Aufgabe, für den heutigen Abend ein so grandioses Abendessen zu zaubern, dass es den Weg zu der Revue ebnen und am Wochenende alles glatt über die Bühne gehen würde. Beim Willkommensessen würde es Seebarsch an einer Champagnersoße geben, gefolgt von Fasan und dann Apfelkompott mit einer Kirschcreme, sodass alle Gäste, die von Donnerstag bis Sonntag blieben, glücklich gestimmt sein würden. Wieso sollte es denn auch nicht glatt laufen? Draußen der Schnee und drinnen die Wärme und Gemütlichkeit von Wychbourne Court und dazu noch ihre Kochkünste – was wollte man mehr?

Es waren die 1920er-Jahre. Der Krieg war vorüber und trotz der Probleme, die er hinterlassen hatte, entstand um sie herum eine schöne neue Welt, genau wie auch in ihrem Kopf neue Ideen entstanden. Kochen war eine Kunst und die Küche war ihr Atelier. Ihre Aufgabe war es, sicherzustellen, dass die Gerichte, die sie kochte, dem gerecht wurden. Schwere Speisen waren ein Ding der Vergangenheit, genau wie die Vorschriften der Lebensmittelrationierung zu Kriegszeiten. An ihren Platz trat nun der Reiz, in Vergessenheit geratene Düfte und Gewürze wiederzuentdecken und sich den prächtigen exotischen neuen Aromen und Gerichten aus weiter Ferne hinzugeben. Wychbourne Court mit seinen eigenen Kräuter- und Gemüsegärten und dann noch der Obstplantage glich in Nells Augen einem Paradies, in dem sie ihren Traum, ihre eigene Küche zu kreieren, verwirklichen konnte. Fort mit den Zweifeln und den Sorgen. Dieses Wochenende würde alles gut gehen.

Lady Gertrude Ansley hingegen rang noch immer mit ihren Zweifeln. Bis ihre Kinder sie mit der Planänderung der Revue überrumpelt hatten, hatte sie ein Wiedersehen auf Wychbourne Court mit ihren Theaterfreunden vom Gaiety Theatre für eine wunderbare Idee gehalten und auch die recht spontane Aufführung, die im Ballsaal hatte stattfinden sollen. Seit ihrer Hochzeit mit ihrem geliebten Gerald, dem 8. Marquess Ansley, vor mehr als dreißig Jahren, hatte sie nur wenige ihrer Freunde gesehen und noch immer sehnte sie sich manchmal nach den aufregenden alten Zeiten auf der Bühne. Ihre Bühnenkarriere war kurz, aber erfolgreich gewesen, dank ihrer Rolle in The Flower Shop Girl.

„Hast du die alten Postkarten gefunden, Helen?“, fragte sie ihre ältere Tochter nervös. Die Karten ihrer Freunde und ihr waren tausendfach verkauft worden, doch nun stand eine neue Generation auf der Bühne. Die alten Karten auszustellen, würde ihren ehemaligen Freunden und auch ihr selbst Freude bereiten, denn für gewöhnlich waren Erinnerungsstücke an die Zeit am Theater auf den Fliederfarbenen Saal, ihren Salon, beschränkt. Hier konnte sie sich von ihren Aufgaben als Marchioness Ansley erholen und in Erinnerungen schwelgen.

Helen gähnte und nahm eine andere ebenso elegante Pose auf der Chaiselongue ein. Wenn doch nur diese Herrenschnitte aus der Mode gingen, sodass das goldene Haar ihrer Tochter wieder die klassisch hübschen Gesichtszüge umspielte, dachte Gertrude, doch Helen beharrte darauf, à la mode zu sein. „Sie sind alle im großen Saal ausgestellt“, versicherte Helen ihr. „Peters kümmert sich darum und der nervige kleine Herr hilft ihm.“

„Mr Trotter meint es nur gut, Helen“, sagte Gertrude beschwichtigend. „Und außerdem ist deine Tante auf diese Weise beschäftigt.“

Das war eine gehörige Untertreibung. Geralds Schwester Clarice lebte bei ihnen und war stets sehr beschäftigt, wenn es um die Geister von Wychbourne Court ging. Sie hatte sich ihrem Wohlergehen – wie sie es bezeichnete – verschrieben und hatte arrangiert, dass Mr Timothy Trotter, ein bekannter Geisterfotograf, einige Tage auf Wychbourne Court verbrachte. Wie Clarice nun einmal war, hatte sie natürlich vergessen, dies ihr oder den Bediensteten gegenüber zu erwähnen. Gestern musste Peters daher rasch veranlassen, dass eine Dunkelkammer eingerichtet und ausgestattet wurde, wozu ihr Sohn Richard nach Sevenoaks hatte fahren müssen, um Chemikalien, Schälchen und andere merkwürdige Gegenstände zu besorgen. Mr Trotter hatte ihnen nervös versichert, dass er seinen eigenen Vergrößerer mitgebracht hatte und ihnen keine Arbeit machen würde. Dies ließ vermuten, dass das Gegenteil eintreten würde und tatsächlich gab er einfach keine Ruhe.

Gertrude hing wieder ihrer größten Sorge nach. „Hast du auch die Poster und Programme dekoriert?“ Es war ein Jammer, dass ihre jüngere Tochter Sophy bei der örtlichen Labour-Partei so eingebunden war und sie die Aufgaben nicht ihr übertragen konnte. Helen war ein Schatz, aber launenhaft und langweilte sich schnell. Es war die Last, die hübsche Frauen trugen, dachte Gertrude. Sie erhielten zu viel Aufmerksamkeit und konnten vor lauter Glitzer und Glamour den rechten Weg nicht mehr sehen. Wenn Helen doch nur den liebenswürdigen Rex Beringer heiraten würde.

„Erledigt“, antwortete Helen gelangweilt. „Wir haben sie im Frühstückssaal, der Bibliothek und den Gästezimmern verteilt. Hast du denn deine waghalsige Tat schon hinter dich gebracht?“

Gertrude erbleichte bei dem Themenwechsel. „Noch nicht“, sagte sie abwehrend. „Ich dachte, ich erzähle es ihnen beim Dinner.“

„Sag es ihnen nach dem Dinner. Dann hat auch der verkrampfte Hubert Jarrett schon genug Port getrunken.“

Gertrude seufzte. Das Wochenende war ursprünglich bloß als Wiedersehen geplant und bisher hatte sie nicht den Mut zusammennehmen können, ihren Gästen von der Revue zu erzählen, die als lustige Idee zu ihrer eigenen Unterhaltung angefangen hatte, sich aber dann dank Richard zu einer ausgewachsenen Show, die im Dorf Wychbourne im Coach and Horses Inn aufgeführt werden würde, entwickelt hatte. Nun durften auch Dorfbewohner und natürlich auch die Bediensteten Karten für die Revue erstehen. Es war alles für einen guten Zweck, hatte Richard ihnen großspurig versichert, schließlich war es eine wunderbare Tat, den Ertrag zu spenden. Trotz alledem erschauderte Gertrude bei dem Gedanken, was alles schiefgehen könnte. Was, wenn der Unruhestifter Jethro James eine Karte kaufte?

Gertrude klammerte sich an Helens Lösungsvorschlag. „Also gut“, sagte sie zögerlich.

„Ach, Mutter“, warf Helen plötzlich alarmiert ein, „hast du Neville Heydock gesagt, dass Lynette Reynolds anwesend sein wird?“

„Das habe ich nicht“, gab Gertrude zu. Lynette hatte typischerweise zunächst die Einladung abgelehnt, nur um im letzten Moment ihre Meinung zu ändern. Obgleich ihr jetziger Ehemann sie nicht begleiten würde, hatte sie die Einladung doch angenommen.

„Neville Heydock ist immer noch ein heißer Feger, auch wenn er ein Oldie ist.“ Helen kicherte. „Ich kann seinen Gesichtsausdruck kaum erwarten, wenn er sie erblickt.“

Gertrude war zu beschäftigt damit, sich Lynettes Gesichtsausdruck vorzustellen, um Helen zu antworten. Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass das zu Problemen führen könnte. Lynette war immer sehr emotional gewesen und auch wenn sie offensichtlich wieder geheiratet hatte, waren die Zeit der Scheidung von Neville und die Gerüchte, die man sich danach zugeflüstert hatte, so unschön gewesen, dass sie nicht daran zurückdenken wollte.

Konnte sonst noch etwas schiefgehen? Sicherlich nicht. Natürlich war da noch Alice Maxwell. Auf eine gewisse Art und Weise ähnelte sie Hubert Jarrett sehr. Sie nahm ihre Karriere (und das Frauenwahlrecht) äußerst ernst. Gertrude war zu Ohren gekommen, dass sie beide hofften, ihren Status zu erhöhen, so hoffte Hubert, in den Adelsstand erhoben zu werden und Alice darauf, eine Dame des Ordens des Britischen Weltreichs zu werden. In Gertrudes Augen war dies jedoch sehr unwahrscheinlich, wenn man bedachte, wie lange Henry Irving und Ellen Terry auf eine solche Anerkennung gewartet hatten. In ihren Fällen jedoch hatte es Gerüchte über unkonventionelle Lebensstile gegeben, die ihre Chancen verringert und die Anerkennung hinausgezögert hatten. So etwas konnte jedoch gewiss nicht über Hubert oder Alice geflüstert werden, die strenge moralische Prinzipien hatten. Doch was würden sie nur zu ihren Revue-Plänen sagen? Und würden sie überhaupt miteinander reden? Helen hatte ihr die neuesten Gerüchte, dass zwischen den beiden Funkstille herrschte, zu spät zugetragen, um jetzt noch die Gästeliste zu ändern.

Abgesehen von Gerald, konnten nur zwei Personen Gertrude aus ihrer verzweifelten Lage retten. Eine war die unbezahlbare Nell. Sie war eine großartige Chefköchin und würde sichergehen, dass Dinner und Lunch ausgezeichnet sein würden und sie stand ihr als Vertraute stets treu zur Seite, wenn Ärger drohte. Nell würde für sie nach Warnsignalen Ausschau halten.

Ihr zweiter Retter würde ihr Gast Tobias sein. Er würde die Situation schon beruhigen, dachte Gertrude dankbar. Tobias St. John Rocke war im Gaiety Theatre der Trostspender und Geheimniswahrer gewesen, an dessen Schulter sie alle ab und zu geweint hatten. Der Friedensstifter, der Überbringer des gesunden Menschenverstandes würde ihr beistehen.

Auf ruhiger See ist jeder gern Kapitän, so ging das Sprichwort. Eine stürmische See erforderte jedoch, dass man rasch handelte. Nell atmete tief durch. Brutzelnde Bohnen, die Zeiger der Uhr bewegten sich viel zu schnell. Einer ihrer Souschefs war in Tränen aufgelöst, die andere schmollte, Mrs Fielding freute sich hämisch, wohingegen Mrs Squires, Nells Beiköchin, sich nach bestem Bemühen raushielt. Die Küchen- und Spülmädchen schwirrten verängstigt umher und warteten auf Anweisungen, während alle anderen sich flugs Gründe ausdachten, wieso sie gerade nicht in der Küche sein konnten. Nell hatte gerade erfahren, dass das Esskastanienpüree, welches zum Fasan serviert werden sollte, wohl versehentlich weggeworfen worden war. Sie biss die Zähne fest zusammen. Die Schuldigen würde sie später ausmachen können, im Moment brauchte sie jedoch eine Lösung.

„Also dann“, sagte sie kämpferisch, „wippende Windbeutel, worauf wartet ihr denn noch? Röstet und glaciert mehr Esskastanien, aber flott. Benutzt sie als Garnitur. Kocht eine Madeira-Soße zum Fasan. Und jetzt guckt nicht groß wie ein Hummer, der bettelt, nach Hause zu dürfen. Legt los.“

Und sie legten los. Sie sah Michel an, dass er der Übeltäter war, aber sie wusste auch, dass es ein einmaliger Fehler gewesen war. Damit war das Thema gegessen. Ordnung kehrte wieder ein. Küchen waren wie Schnellzüge zu grandiosen Orten. Es brauchte nicht viel, um sie von den Gleisen zu stoßen, aber es war auch nicht zu schwer, sie wieder auf die Gleise zu bringen, wenn man wusste, was man tat. Nach einem glücklichen Jahr als Köchin auf Wychbourne Court und ihrer sechs Jahre langen Ausbildung bei Monsieur Escoffier im Carlton Hotel in London, war Nell sich dessen bewusst. Gelegentlich tauchte ein faules Ei auf, aber das war ganz normal. Nur bitte nicht an diesem Wochenende, hoffte sie.

Als sie die Mandelsuppe (eine Spezialität von Vorspeisenköchin Kitty) inspiziert hatte, sah Nell Mr Peters hereintreten. Was er wohl wollte? Mr Peters war nicht besonders groß gewachsen, strahlte jedoch eine enorme Autorität aus und das, obwohl er kein ausgebildeter Butler war, als er nach Wychbourne kam. Er war der Offiziersbursche von Lord Noel gewesen, dem Sohn der Ansleys, der in der ersten Flandernschlacht gefallen war. Kenelm, ihr ältester Sohn, arbeitete im Ausland für den Kolonialdienst und Richard war mit sechsundzwanzig Jahren der Jüngste.

Mr Peters’ Anliegen erwies sich glücklicherweise als unkompliziert.

„Der Tee darf serviert werden, Mrs Fielding. Der letzte Gast ist im Salon eingetroffen“, verkündete er.

Den Bediensteten, die die Gäste begleiteten, wurden schon ihre Zimmer im Bedienstetenflügel gezeigt. Gott sei Dank waren es bloß drei an der Zahl, dachte Nell. Manchmal konnten sie mehr Mühe machen als die Gäste selbst. Einer von ihnen war der Diener des Diplomaten Lord Kencroft, dann war da eine respekteinflößende Dame namens Doris Paget, die Ankleiderin von Miss Maxwell, und zuletzt noch Mr Heydocks persönlicher Diener Mr Winter, der ein Jeeves war, wie er im Buche stand, und ihm auf Schritt und Tritt folgte, hatte Nell sich sagen lassen. Mrs Fielding zufolge schienen sie alle frohen Mutes.

Nell war froh, dass der Tee in den Zuständigkeitsbereich der Hausdame fiel und nicht in ihren. Mr Peters hatte die Ankündigung wie die Verkündung des Untergangs klingen lassen und Nell hoffte inständig, dass es nicht so war.

„Ist Mr Heydock wirklich hier?“, fragte Kitty gespannt. „Ich würde ihn so gerne sehen.“ Das Highlight des Herbstes war ihr Besuch im Drury Lane Theatre gewesen, wo sie Rose Marie gesehen hatte, eine romantische Operette, die in den kanadischen Rocky Mountains spielte.

„Ich habe ein Bild von Lady Kencroft in der Zeitschrift Illustrated London News gesehen. Lady Sophy hat es mir gezeigt“, sagte eines der Küchenmädchen. „Darauf war sie mit Rudolph Valentino zu sehen. Er dreht gerade einen Film über den Scheich.“ Auch wenn Valentino gut aussehend war, war er nicht Nells Typ, obgleich jede Frau, die Nell kannte, für ihn schwärmte.

„Ich bezweifle, dass Rudolph sie nach Wychbourne begleitet“, sagte Nell knapp. „Du wirst dich mit Neville Heydock begnügen müssen.“ Neville war zumindest unterhaltsam. Er war in vielen Komödien und Musicals aufgetreten und hatte eine beeindruckende Singstimme. So stellte er die meisten Hauptdarsteller in den Schatten, auch wenn er nicht mehr der Jüngste war. Sie hatte ihn im Albion am Strand in London spielen sehen und konnte es kaum erwarten, ihn in Wychbourne wiederzusehen. „Er wird bei der Revue am Samstag auftreten.“

„Vielleicht singt er Rose Marie, I Love You“, sagte Kitty hoffnungsvoll.

„Am Samstag ist mein freier Abend.“ Mrs Squires hatte sich bisher kaum an der Unterhaltung beteiligt. „Ich plane, mit meiner Freundin Ethel hinzugehen.“ Im Gegensatz zu den meisten Bediensteten von Wychbourne Court, die wie Nell im Ostflügel wohnten, lebte Mrs Squires im Dorf.

„Nach der Vorstellung wird ein spätes Dinner serviert“, kommentierte Mrs Fielding bestimmt. „Du wirst also nicht gehen, Kitty“, fügte sie selbstzufrieden hinzu. Da sie jedoch als Küchenbedienstete Nell als Chefköchin unterstanden, konnte sie nicht über Kitty und Michel verfügen, was der Hausdame stets ein Ärgernis war.

„Einige können möglicherweise zu der Aufführung gehen“, warf Nell ein.

„Jedoch nicht diejenigen, die sich ihrer Pflichten bewusst sind, Miss Drury.“

Doch Nell ging ihr nicht in die Falle. Sie war eine ranghohe Chefköchin und Lady Ansley hatte sie gebeten, zur Aufführung zu kommen. Aus einem Grund, der sich Nell entzog, sorgte sich Ihre Ladyschaft, dass etwas schiefgehen könnte – was wiederum Nell Sorgen bereitete. Sie liebte Wychbourne Court und fühlte sich als Teil des Ganzen, was bedeutete, dass sie helfen wollte, wenn es Schwierigkeiten gab. Und hin und wieder gab es die. Es war eigentlich gar keine Überraschung, wenn man bedachte, dass die Ansleys schon vor der Normannischen Eroberung Englands auf Wychbourne Court gelebt hatten. Das ursprüngliche Bauernhaus war längst zu einem prächtigen Herrenhaus aus rotem Backstein geworden, das im achtzehnten Jahrhundert um zwei Flügel erweitert worden war.

Nell konzentrierte sich auf die anstehende Aufgabe: die Vorbereitungen für das Dinner. Der Seebarsch mit Champagnersoße war das Lieblingsgericht des berühmten Carême, dem Koch des Prinzregenten, gewesen und man durfte es nicht aus den Augen lassen. Den Fasan, nun mit einer Madeira-Soße, hatte sie unter Kontrolle, wie auch die Äpfel und die Syllabubs. Syllabub war das Lieblingsdessert von Dr Johnson, erinnerte sich Nell, und es war ein hervorragendes Ass im Ärmel, genau wie ein Ersatzdarsteller. Es kehrte wieder Ordnung ein. Küchen sind wie Rezepte, dachte sie. Man musste nicht jeder kleinsten Anweisung folgen, aber man musste wissen, was man tat.

Sie nahm im Hintergrund die Unterhaltung über die Revue am Samstag unterschwellig wahr, doch Muriel, eine der Küchenhilfen, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, als sie den Fischtopf und Dämpfer hereintrug. Sie war kurz stehen geblieben, um mit einem der Küchenmädchen zu reden und Nell konnte hören, worum es ging.

„Lady Sophy hat gesagt, dass Ihre Ladyschaft und ihre alten Freunde sich als Pierrots verkleiden und tanzen werden“, sagte Muriel.

Nell verdrehte innerlich die Augen. Lady Sophy neigte dazu, zu viel über die Pläne der Familie zu schwatzen, was mit ihren politischen Ansichten zusammenhing, dass die Familie und Bediensteten in ihren Augen eine große glückliche Familie sein sollten. Und das waren sie auf eine Weise, doch es bedeutete nicht, dass jedes Mitglied wollte, dass alle über alles Bescheid wussten, oder dass manche Mitglieder niemanden einstellen konnten, um ihre Wünsche zu erfüllen. Darüber hinaus würden Lady Ansleys Sorgen sicherlich nicht dadurch schrumpfen, dass die Revue hier diskutiert wurde.

Nell wusste haargenau, dass es Lord Richards Idee gewesen war, die Revue im Coach and Horses Inn zu veranstalten und dass Lady Ansley eine Heidenangst davor hatte, wie ihre Gäste auf die Neuigkeiten reagieren würden. Auch wenn die meisten von ihnen noch auf der Bühne standen, würden sie ihre Meinungen dazu haben, ob es ratsam war, bei einer Revue aufzutreten, jetzt wo die Bühne ins Coach and Horses Inn verlegt worden war. Die Gäste gingen noch von einer spontanen Revue im Ballsaal von Wychbourne Court mit einem vergnügten Publikum des Freundeskreises unter sich aus, aber für die Förmlicheren von ihnen mochte es eine ganz andere Situation sein, dass die Familie Karten in einer Gaststätte verkaufte. Lord Richard, Lady Helen und Lady Sophy hatten mit besten Absichten gehandelt, aber manchmal führten diese auf direktem Weg ins Desaster.

Hier vereint waren die Menschen, die sie gekannt und lieb gewonnen hatte, dachte Gertrude und sah sich am Tisch nun etwas beruhigter um. Es waren natürlich noch weitere Gäste anwesend. Clarice kümmerte sich um Mr Trotter, der etwas überfordert wirkte, so nervös, wie er vom einen zum anderen der versammelten Mannschaft blickte. Rex Beringer hatte wie so häufig nur Augen für Helen, die sich wie Richard und Sophy von ihrer besten Seite zeigte. Gertrude hatte sich gesorgt, dass sie zu schnell in Diskussionen über die Revue eintauchen würden, aber stattdessen und scheinbar mit echtem Interesse fragten ihre Kinder die Gäste vom Gaiety Theatre über ihre Erinnerungen an die Zeiten dort aus.

Sieben Gäste aus ihrer Gaiety-Zeit waren anwesend. Manche hatte sie seit ihrer Zeit auf der Bühne nicht mehr gesehen und andere hatte sie vor zehn Jahren bei der Beerdigung von George Edwardes, der als Guv’nor bekannt gewesen war, getroffen. Edwardes war lange Zeit der Leiter der Gaiety und Daly’s Theatres gewesen, sodass man seinen Namen für immer mit den Gaiety Girls in Verbindung bringen würde, mit denen er Musik, Humor und Dramatik vereint hatte.

Früher hatte sie der gutherzigen, lieben Katie mit den braunen Ringellöckchen ihr Herz ausgeschüttet, die dramatische und impulsive Lynette hatte sie in schweren Stunden aufgeheitert und Constance mit den ernsten dunklen Augen hatte ihre Weisheiten mit ihr geteilt, Alice hatte stets eine Mission und wagte es sogar gelegentlich, sich dem Guv’nor zu widersetzen.

Sie alle waren dem attraktiven Neville Heydock mit seinem unvergleichlichen Stil und seiner faszinierenden Tenorstimme verfallen. Er war außerdem auch sehr nett, erinnerte sie sich. Kein Wunder, dass Lynette bis über beide Ohren in ihn verliebt war. Gertrude hatte jedoch seinen Gesichtsausdruck bemerkt, als er sie hier erblickte. Lynette hatte es zu Gertrudes Erleichterung nur amüsant gefunden. Hubert, Constances Ehemann, wirkte so nobel und trostlos, wie seine grandiosen Übertragungen tragischer und dramatischer Prosa und Dichtkunst es verlangten. Und doch hatte sie ihn als eher mürrischen jungen Neuling im Chor in Erinnerung, der sich nicht traute, den Mund aufzumachen und nur mit Glück überhaupt ein Solo bekam.

Gertrudes Blick fiel dann auf Tobias, ihren einstigen Fels in der Brandung, dem sie dankbar war. Hier war er nun, genauso füllig und fröhlich wie früher, so wie sie sich an den Friedensstifter erinnerte. Er hatte sich der Aufgabe angenommen, Constance zu unterhalten und er hatte sie sogar zum Lachen gebracht, was für ihre ruhige, stille Art untypisch war. Tobias hatte immer Charakterrollen gespielt und war berühmt für den alten Onkel in Waltzing in Summer, den Bauern in The Count of Rosenbourg und den fröhlichen Bäcker in The Flower Shop Girl.

Sie sahen alle noch genauso aus, wenngleich etwas grauer, ein bisschen molliger und ein wenig ernster. Sowohl der Tee als auch der Empfang im großen Saal vor dem Dinner waren gut über die Bühne gegangen. Katie, mit ihrem Ehemann Charles, dem Diplomaten Lord Kencroft, war so strahlend und quirlig, wie Gertrude sich an sie erinnerte. Neville schien sich angeregt mit Lynette zu unterhalten und Constances selbstgefälliger Ehemann Hubert redete sogar mit seiner Erzfeindin Alice Maxwell, die genau wie Tobias nie geheiratet hatte. Alice war immer so ernst und ihrer Karriere verschrieben gewesen und wie Hubert auch war sie von der musikalischen Komödie zum Drama gewechselt.

Gertrude entspannte sich allmählich. Worum hatte sie sich so gesorgt? Ihre Zeit am Gaiety Theatre war natürlich nicht immer nur rosig gewesen, es hatte düstere Phasen gegeben, aber das war nun alles Vergangenheit. Als die Herren ihren Port serviert bekommen hatten und sich wieder zu den Damen im Salon gesellten, musste sie bloß noch beiläufig erwähnen, wo die Revue stattfinden würde. Ja, wahrlich war alles so gut verlaufen und Nells Speisen hatten wie erhofft dazu beigetragen. Der Fasan mit der besonderen Soße war hervorragend gewesen.

Doch dann hörte Gertrude das lästige Wort, das sie erst später in den Raum hatte werfen wollen.

„Eine Revue“, merkte Lynette an. „Was für eine grandiose Idee, Gertrude.“

Gertrude bemühte sich, zu lächeln. „Es war Richards Idee. Seine Schwestern und er sind ganz erpicht darauf, in meine Fußstapfen zu treten – zumindest behaupten sie das – und wollen dieses Wochenende unser eigenes Theater auf die Beine stellen. Erinnert ihr euch …?“

„Was genau wird dabei von uns erwartet“, unterbrach Hubert sie, der entweder nicht hörte, was sie sagte, oder sich nicht darum scherte. Er beäugte sein Syllabub, als wäre es ein erbitterter Feind, dachte sie, als Panik in ihr aufstieg.

Sie sah, wie die arme Constance erstarrte. Wie konnte sie ihn geheiratet haben? Sie war so lieb und er so arrogant. Gertrude gab ihr Bestes. „Richard hat den Großteil der Revue geplant und es soll Sketche und Lieder geben, außerdem haben er und meine Töchter sich eine äußerst amüsante Pantomime-Einlage ausgedacht. Er hofft, dass ihr Lust habt, eure besonderen Talente in die Revue einzubringen und natürlich würde er sich geehrt fühlen, wenn du eine deiner meisterhaften Darbietungen vortragen würdest, Hubert.“

„Einen Monolog?“, fragte Hubert, als hätte ihn noch nie jemand um solch einen Gefallen gebeten. „Vielleicht Sein oder Nichtsein?“

„Wundervoll“, sagte Gertrude schwach und fragte sich, wie viele der Dorfbewohner wohl die Feinheiten von Hamlets Monolog zu schätzen wussten.

Als ihr Rivale so viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, versteifte sich Alice Maxwell und mischte sich rasch in die Diskussion ein. „Also ich habe vor, Yasmins Rede aus Hassan von Flecker und dann meine berühmte Interpretation von Medea zu präsentieren.“

„Ausgezeichnet!“ Gertrude versuchte, so dankbar sie konnte zu klingen, als wäre ein altgriechisches poetisches Drama über rachsüchtige Frauen, die ihre eigenen Kinder umbringen, genau, worauf sie gehofft hatte.

Tobias musste ihre Bestürzung bemerkt haben und entpuppte sich prompt als der Friedensstifter, an den sie sich noch so gut erinnerte. „Ich mache, was immer du möchtest, Gertrude. Das weißt du ja. Immer dem Direktor gehorchen, oder wie war das? Schließlich sind wir alle Freunde.“

„Kaum Freunde, mein Liebster“, murmelte Lynette. „Aber eine Revue und Pantomime klingen angemessen für das Publikum im Coach and Horses Inn. Sie werden es lieben.“

Schockiert hielt Gertrude den Atem an. Nicht jetzt. Oh, bitte, nicht jetzt.

„Was für ein Publikum? Ich nahm an, es ist bloß eine Aufführung hier im Ballsaal“, rief Hubert aufgebracht.

„Herrje, hast du es denn nicht erklärt, meine liebe Gertrude?“, fragte Lynette unschuldig. „Wir führen die Revue in einer Gaststätte im Dorf auf, Hubert. Wird das nicht großartig, ihr Lieben?“

Stille machte sich breit. „Eine Gaststätte?“ Hubert sah sie bestürzt an. Gertrude erzitterte. Was nun? Was sollte sie sagen? Gerald war normalerweise zur Stelle, um zu helfen, aber hier war er machtlos. Doch Hilfe eilte schon. Es war nicht Gerald, auch nicht Tobias, sondern – überraschenderweise – Peters.

„Ihre Ladyschaft, der Kaffee wird nun im Salon serviert“, verkündete er schlicht.

Gertrude klammerte sich an die unerwartete Rettung. Sie hatte ihm bisher kein derartiges Signal gegeben, aber sie war ihm zutiefst dankbar. Sie erhob sich. „Meine Damen, sollen wir uns in den Salon begeben?“

Nell hatte sich im Servierzimmer etwas außer Sicht zurückgezogen und entspannte sich einen Moment lang, während die Damen in den Salon hinübergingen, der an der hinteren Seite von Wychbourne Court gelegen war. Mr Peters hatte nur widerwillig das gängige Protokoll gebrochen, welches verlangte, dass er wartete, bis Ihre Ladyschaft ihm das Signal gab, aber Nell hatte es geschafft, ihn zu überzeugen, dass nun der richtige Moment war. Wenn die Herren sich nach dem Port wieder zu den Damen im Salon gesellten, würde Mr Jarrett mit etwas Glück seine Sorgen um den Veranstaltungsort der Revue bereits vergessen haben. Sie beobachtete die Damen, die in ihren Abendkleidern mit den langen Schleppen den Raum verließen. Lady Helens elegantes blaues Chiffonkleid war vorne gewagte hoch ausgeschnitten, auch wenn es hinten wie üblich bis zum Boden reichte. Lady Clarice schien es zu widerstreben, sich von Mr Trotter zu trennen, aber Mr Rocke schien sich um ihn zu kümmern. Lady Sophy hatte es wieder einmal geschafft, an der Tür des Servierraums vorbeizukommen und stieß diese auf.

„Gut gemacht, Nell“, flüsterte sie ernst, dann eilte sie ihrer Schwester hinterher. Da sie deutlich kleiner und kräftiger gebaut war als Lady Helen, hatte sich Lady Sophy damit abgefunden, das Rampenlicht ihrer Schwester zu überlassen und es kümmerte sie nicht im Geringsten. Nell sehnte sich danach, ihnen zu folgen und im Salon Mäuschen zu spielen, denn es schien sich Ärger anzukündigen. Lady Ansley hatte während des Dinners sehr verstimmt ausgesehen und vielleicht konnte Nell etwas für sie tun. Konnte sie den Kaffee vielleicht einfach selbst servieren? Wieso denn nicht? Sie war in ihrem schwarzen Chiffonkleid angemessen gekleidet und so würde sie auch als Mäuschen nicht weiter auffallen. Wenn sie hören könnte, was sich zutat, würde sie besser sagen können, ob die Sorgen Ihrer Ladyschaft gerechtfertigt waren.

Der Kaffee half tatsächlich, dachte Gertrude dankbar, als die Herren schließlich durch die Türen des Speisesaals kamen. Die Damen waren bereits von ihrem kurzen Rückzug nach oben zurückgekehrt und der Portwein hatte seinen Teil für die Herren getan. Sogar Mr Trotter hatte ein Lächeln auf den Lippen und Gerald sah nicht im Geringsten besorgt aus. Mr Trotter war zwischen Tobias und Gerald hereingekommen, der seine Unsicherheit sicherlich bemerkt hatte. Lord Ansleys Rücksichtnahme auf solche Dinge bewegte Gertrude stets.

„Welch Verlockung uns hier erwartet“, erklärte Tobias, „da bin ich froh, auf das zweite Glas Portwein verzichtet zu haben. Der 1912 ist wahrhaft hervorragend, Gerald.“

„Du hast ihn hinreichend bewundert, Toby“, sagte Neville leichthin.

„Es wäre langsam wieder an der Zeit für einen so guten Jahrgang“, merkte Gerald an und Gertrude entspannte sich allmählich. Es war Verlass auf Gerald, bedrohliche Wolken zu verjagen.

Doch sie hatte sich zu früh entspannt. „Diese Idee in einer Schankwirtschaft aufzutreten, Gertrude“, setzte Hubert an.

Sie nahm alle Kraft zusammen. „Eine Gaststätte“, sagte sie mit Nachdruck. „Sie haben dort einen wunderbaren Saal, der für förmliche Untersuchungen und Ratssitzungen genutzt wird.“

„Dennoch nehme ich an, dass die Revue für alle Gäste offen sein soll?“

„Die Einnahmen aus dem Kartenverkauf werden an eine Wohltätigkeitsorganisation für Kriegsveteranen gespendet“, erklärte Gerald freundlich.

Doch vergeblich. „Ich bevorzuge es, sie auf andere Weise zu unterstützen“, sagte Hubert steif. „Ich fühle mich dabei nicht wohl. Meine Kunst raubt mir all meine Kraft. Sie verlangt eine angemessene Bühne und Publikum, das meine Arbeit zu schätzen weiß. Ich trete nicht in Schankwirtschaften auf.“

„Shakespeare hat es getan“, entgegnete Alice.

„Das hat er tatsächlich“, strahlte Tobias, der Gertrude zu Hilfe kam. „Ich habe vor, Sir Toby Belch am Samstag zu spielen, komm, Hubert, es ist eine Ehre, in Wychbourne aufzutreten.“

Gertrudes Hoffnung verflog erneut, denn Hubert sprach weiter, als hätte Tobias kein Wort gesagt. „Wie ich Constance verstehe“, tönte er hochtrabend, „gibt es Pläne, uns als Pierrots zu verkleiden. Das kann ich nicht akzeptieren. Ich habe meine Standards und ich bin weder gewillt, in einem Clownskostüm herumzutänzeln, noch erlaube ich es meiner Frau, das weiße Rüschenkleid zu tragen, das meinem Verständnis nach demselben Zweck dienen soll.“

„Aber, Hubert …“, flehte Constance.

„Genug.“ Er hob die Hand.

„Du bist immer schon ein großspuriger Langweiler gewesen“, sagte Neville freundschaftlich. „Ein Clown auf deine eigene Weise.“

„Wählen Sie Ihre Worte mit Bedacht, Mr Heydock“, sagte Hubert aufbrausend. „Wir sprechen in Anwesenheit von Damen, sonst würde ich auf Ihren Kommentar nachdrücklicher antworten.“

Einen Moment lang war es totenstill, dann folgte ein Aufruhr, als jeder versuchte, etwas zu sagen – dann die Stimme zu erheben – und das alle auf einmal. Der Lärm wurde so laut, dass Gertrude es nicht mehr aushielt. Sie hätte alles gegeben, um diesem Albtraum ein Ende zu bereiten. Nicht einmal Nell, die sie an der Tür sah, konnte sie trösten. Es gab nichts, was Nell für sie tun konnte, oder überhaupt jemand tun konnte.

Das Thema musste schleunigst gewechselt werden. Das Treffen hatte ein erfreuliches Wiedersehen sein sollen, trauerte Gertrude. Sie hatten so schöne Zeiten zusammen erlebt, oder etwa nicht? Wechsle das Thema, wechsle schnell das Thema. Eine Erinnerung kam ihr in den Sinn, eine unglückliche. Sie war dreißig Jahre verschwiegen worden, welchen Schaden konnte sie jetzt schon noch anrichten?

Als sie noch darüber nachdachte, hörte sie ihre Stimme schon verzweifelt die Frage stellen, die sie nie gewagt hatte, auszusprechen.

„Was genau ist Mary Ann widerfahren?“

Kapitel 2

Tobias rettete sie aus der angespannten Stille, die ihrer Frage folgte. Gertrude blickte in entsetzte, ja, gar verängstigte Gesichter, die sich auf Tobias richteten.

„Nun, Gertrude, wir werden nie die ganze Geschichte erfahren“, sagte er düster. „Natürlich kanntest du Mary Ann nicht selbst, weil sie uns verlassen hatte, bevor du sie in The Flower Shop Girl ersetzt hast. Das Leben am Theater ist so schnelllebig, dass wir viel hinter uns lassen, ohne es zu bemerken. Was für eine wunderbare Gelegenheit du kreiert hast, damit wir die Möglichkeit haben, uns alle wiederzusehen. Sag, Gertrude, wirst du in der Revue am Samstag Song of My Heart singen? Und werden wir das Vergnügen haben, dich als schöne Prinzessin in Richards Pantomime zu sehen?“

„Ich trete die Rolle an Helen ab, aber ich danke dir, Tobias.“ Sie meinte es aufrichtig. Tränen der Erleichterung stiegen ihr in die Augen und Tobias lenkte die Aufmerksamkeit von ihr und wechselte das Thema, um das Tabuthema Mary Ann Darling hinter ihnen zu lassen. Es stimmte, dass keiner es wirklich als Tabu erklärt hatte, aber Gertrude hatte immer den Eindruck gehabt, als sie 1893 im Gaiety Theatre als junge strebsame Schauspielerin anfing. Das Bild von Mary Ann, das mit den Postkarten im großen Saal auslag, musste es ihr ins Gedächtnis gerufen haben.

Nun bemühte sie sich, nach außen keinerlei Gefühlszeichen zu zeigen – nicht einmal, als sie vergeblich auf Geralds übliches unterstützendes Nicken hoffte. Er sah weder sie noch Constance an, neben der er saß. Es schien, als wäre sogar er Teil der Geschichte, von der sie ausgeschlossen war. Nein, das war abstrus. Schließlich schienen weder Mr Trotter noch ihre Kinder zu spüren, dass das Thema Mary Ann ein gefährliches Terrain war. Der schreckliche Moment war vorüber. Oder etwa nicht?

Sie merkte, dass Katie sie ängstlich beobachtete. „Du musst Song of My Heart am Samstag singen, Gertrude“, sagte ihre Freundin warmherzig. „Das ist eine wunderbare Idee, stimmt ihr mir nicht zu?“

Einstimmig pflichteten sie ihr bei und das reichte, um Gertrude zu überzeugen, dass es tatsächlich eine Geschichte gab, die sie nicht kannte und mit der viele der Anwesenden gut vertraut waren.

Jedoch nicht alle. Gertrude rutschte das Herz in die Hose, als Mr Trotter sich ausgerechnet jetzt zu Wort meldete.

„Wer ist diese Mary Ann, die Sie erwähnten?“, fragte er wissbegierig.

Glücklicherweise war erneut Tobias zur Stelle. „Mary Ann Darling war eine liebe Freundin, die uns viel zu früh verlassen hat.“

Doch Mr Trotter ließ sich nicht beirren. „Ich glaube, ich habe den Namen schon einmal gehört. Gab es nicht ein vermisstes Mädchen mit ebendiesem Namen?“

Er ließ sich auch nicht von den ausbleibenden Antworten aus der Ruhe bringen und fügte hinzu: „In den Neunzigern war ich im Alter von zehn Jahren ganz versessen in Sherlock Holmes und habe die Suche nach ihr aufmerksam mitverfolgt. Ich wurde selbst ein bisschen zum Detektiv und war überzeugt, dass sie ermordet worden war und nur ich den Fall lösen könne.“ Er lachte nervös auf und hörte abrupt auf, als niemand mit ihm lachte.

„Ermordet, Mr Trotter?“, wiederholte Gertrude schockiert und sah aus dem Augenwinkel, dass nicht nur Peters sondern auch Nell umhereilten und allen Gästen Kaffee anboten. Nie war sie dankbarer, sie zu sehen. Peters hatte ein unheimliches Händchen dafür, den richtigen Moment auszumachen, um sich einzuschalten. Trotz alledem konnte den Abend nichts mehr retten.

Vielleicht lag sie jedoch falsch, denn Tobias durchbrach das Schweigen und antwortete: „Große Güte, Mr Trotter. Welch Melodrama. Ich vermute, dass Mary Ann sich vor jemandem fürchtete und daher wurde die Möglichkeit eines Mordes in Betracht gezogen, aber darüber ging es nicht hinaus.“ Er sah sich am Tisch um, doch niemand sprach.

Zuletzt führte Charles Kencroft an: „Suizid stand auch zum damaligen Zeitpunkt im Raum, aber es schien unwahrscheinlich, außer es geschah nach einer Auseinandersetzung mit einem Liebhaber. Wir wussten nichts über ihr Privatleben, aber es gab keine Anzeichen, dass sie verlobt war.“

„Ich las in der Zeitung, dass ein oder zwei Jahre später ein Körper im Fluss gefunden und identifiziert wurde“, sagte Tobias. „Die Todesursache war nicht bekannt und bis dahin war das öffentliche Interesse ohnehin abgeebbt. Ich sah die arme Mary Ann zuletzt, als sie das Theater verließ und zu Romano’s fuhr. Welch einen Spaß sie dort gehabt haben und wie traurig, was dann folgte.“

Gertrude spürte die Situation wieder aus dem Ruder laufen und erneut machte sich Schweigen breit, sodass sie die Tränen zurückhalten musste. Alice sah niedergeschlagen aus, Constance verstimmt und Katie bestürzt, ja, selbst Lynette war zum Schweigen gebracht worden. Auch Charles Kencroft blieb still. Gertrude kannte ihn nur flüchtig. Er war wie Gerald einer der Stage-Door-Johnnys des Gaiety Theatres gewesen, schon bevor sie Teil der Besetzung in The Flower Shop Girl wurde, und später hatte er Katie geheiratet.

Geschickt nahm Tobias den Faden wieder auf. „Sollen wir nicht über die geplanten Torheiten der Aufführung am Samstag reden? Unterhaltungen über betrübende vergangene Torheiten können vertagt werden, besonders da nicht alle Anwesenden Mary Ann kannten. So weit zurückliegende Erinnerungen können unzuverlässig sein, warum sollten wir solch eine Geschichte jetzt herauskramen? Schlafende Hunde, meine Lieben, schlafende Hunde.“

Die Unterhaltung entwickelte sich danach schnell in eine andere Richtung und Gertrude sah, wie ihre Gäste sich allmählich entspannten. Sie zitterte noch immer, hauptsächlich jedoch, weil Gerald geschwiegen hatte. Schließlich musste er Mary Ann gekannt haben.

Für gewöhnlich genoss Nell diese kostbaren Momente im Kochtopf, wie sie die kleine Kammer, die dem Chefkoch zustand, liebevoll nannte und wo sie Rezepte und Essenspläne studierte und ihren Dienstplan ausarbeitete. Hier beflügelte der Traum, ihre ganz eigene Küche zu kreieren, bei der routinemäßigen Schreibarbeit. Es war mehr als nur ein Traum. Sie wollte ihre Ideen in die Tat umsetzen. In ihrer Küche würden alle fünf Sinne eine Rolle spielen und dank Wychbourne konnte sie darein eintauchen, wann immer sie wollte. Sehen, zum Beispiel: Sie musste nur durch die Gärten von Mr Fairweather schlendern, um Obst und Gemüse im Überfluss zu sehen. Riechen: Nichts war vergleichbar mit den Düften, die aus einer gut geführten Küche kamen. Hören: Die um die Blüten summenden Bienen oder die klappernden Töpfe bedeuteten, dass ein Gericht bereitet wurde. Tasten: der weiche Flaum des ersten Pfirsichs der Saison. Und zuletzt Schmecken: der Inbegriff des Genusses, der die Sinne vereinte.

Normalerweise bot ihr der Kochtopf ausreichend Spielraum, um ihre Pläne umzusetzen. Doch nicht an diesem Freitagmorgen, als die Ereignisse des vorherigen Abends ihr noch durch den Kopf gingen. Auf den ersten Blick hatten die Gäste wie eine faszinierende Gruppe Schauspielerinnen und Schauspieler gewirkt. Alice Maxwells große, imposante Statur kam Nell von ihren Bühnenvorführungen bekannt vor, wie auch der wichtigtuerische Hubert Jarrett und natürlich Neville Heydock. Sie hatte sogar Tobias St. John Rocke einmal gesehen, ein kleiner, plumper Mann mit huschendem Blick. Die impulsive Lynette Reynolds war ihr fremd und sie war ihr misstrauisch gegenüber, ganz im Gegensatz zu der ruhigen Constance Jarrett. Doch dann hatte sich der angenehme Abend in etwas ganz anderes verwandelt. Nell hatte es wenig ausgemacht, aber der Effekt, den es auf Lady Ansley hatte, war ihr nicht entgangen.

Das Klopfen an der Tür unterbrach sie, als sie gerade The Gentle Art of Cookery von Mrs Leyel aufgeschlagen hatte. Rosenwasser? Hatte sie welches? Nell machte eine gedankliche Notiz, darüber mit Mr Fairweather zu sprechen, wenn es Sommer wurde.

„Meine liebe Nell, bitte verzeihen Sie meine Störung zu solch einer geschäftigen Zeit.“ Arthur Fontenoy zog den Hut, als er zur Tür hereintrat.

„Es ist mir immer eine Freude, Arthur.“ Das meinte Nell auch so. Rasch räumte sie einen Stapel Kochbücher vom einzigen weiteren Stuhl in der Kammer.

Der adrette Mr Fontenoy, oder Arthur, wie er von ihr genannt werden wollte, war nun in seinen Siebzigern und war der liebe Freund von Lord Ansleys verstorbenem Vater gewesen, dem siebten Marquess. Er lebte auf dem Anwesen im Wychbourne Court Cottage. Leider war dies nahe dem Dower House gelegen, wo Lord Ansleys Mutter noch immer herrschte. In Nells Augen war es unwahrscheinlich, dass die Witwe und Arthur Freunde gewesen waren, auch ohne die Verschlimmerung durch das Testament von Geralds Vater, welches demjenigen, der den anderen überlebte, ein stattliches Erbe vermachte. Während Arthur beeindruckend gutmütig gegenüber Lady Enid war, wie die Witwe wünschte, angesprochen zu werden, brachte sie ihm diese Höflichkeit nicht entgegen.

„Clarice berichtete mir von Peters’ Auftritt gestern Abend zu so passendem Moment und es überrascht mich nicht, Nell“, fing Arthur an. „Auch nicht Ihre im Salon. Sie haben ein bemerkenswertes Talent, solche Momente zu erspüren. Clarice erzählte mir jedoch, dass Gertrude noch immer sehr bestürzt ist.“

Nell wurde es schwer ums Herz. Das war also der Grund, wieso Lady Ansley sie noch nicht gerufen hatte, um mit ihr das Menü zu besprechen. „Liegt es am Coach and Horses Inn oder der möglicherweise ermordeten Dame?“

„Vorwiegend Letzteres, vermute ich. Meines Wissens nach kannte Gertrude Mary Ann nicht, aber die meisten der Gäste scheinen sie gekannt zu haben. Es gibt häufig Geschichten über Menschen, die sich auf mysteriöse Weise in Luft aufgelöst haben und meist gibt es eine einfache Erklärung. Manchmal tut sich jedoch keine solche Erklärung auf, wie im Falle Mary Ann. Obwohl später eine Leiche identifiziert wurde, fasziniert die Geschichte ihres Verschwindens die Leute noch immer. Dass das Wort ‚Mord‘ gestern trotz Mr Rockes vergeblichen Bemühungen, den Gedanken zu vertreiben, gefallen ist, war beunruhigend. Es ist mit Sicherheit der Grund, aus dem Gertrude besorgt ist.“

„Obwohl sie diese Mary Ann Darling nicht kannte? Kannten Sie sie, Arthur?“

„Ich habe sie getroffen und erinnere mich, sie Anfang der Neunzigerjahre auf der Bühne gesehen zu haben. Sie war entzückend – nicht, dass ich eine persönliche Vorliebe für junge Damen oder Damen im Allgemeinen hege. Aber sie war nichtdestotrotz hübsch und strahlte Charme und Bescheidenheit aus. Sie hatte eine gewisse Unschuld – oder zumindest erschien es ihrem Publikum so –, die nach dem Hang zur Klugheit und Scharfsinn am Varietétheater äußerst erfrischend war.“

„Ich bin erst 1896 geboren, aber ich schätze, ich habe alte Postkarten mit ihrem Portrait im großen Saal gesehen“, sagte Nell und durchkämmte ihre Erinnerungen. „Was glauben Sie, ist ihr widerfahren? Ist sie ermordet worden? Dem zufolge, was ich gestern gehört habe, scheint es Zweifel daran zu geben.“

„Da kann ich mir wie Shakespeare keinen Reim draus machen. Ich kenne die Geschichte nur bis zu Mary Anns Verschwinden. Jedoch weiß ich auch, dass Miss Darling viele Verehrer hatte und mindestens einen unliebsamen Verehrer, der sie in Briefen bedrohte, ihr umherfolgte und sie am Bühneneingang belästigte. Eines Abends verschwand sie nach der Aufführung von The Flower Shop Girl.“

„Das müssen Sie mir genauer erklären, Arthur. Sie hat sich in Luft aufgelöst?“

„Nach der Aufführung, wenn ich mich recht erinnere. Sie aß im berühmten Restaurant Romano’s mit jemandem, dessen Identität nie geklärt wurde, nahm dann eine Droschke, statt im Wagen ihres Begleiters nach Hause zu fahren. Als der Kutscher vor dem Haus hielt, war die Droschke leer.“

„Und er hat nichts gehört?“ Das klang kurios. Wie konnte er nichts mitbekommen haben?

„Soweit ich weiß, nicht. Der Körper wurde erst sehr viel später gefunden und es war schwer nachzuvollziehen, was passiert war, sodass die Droschke plötzlich leer war. Man sprang nicht einfach so im Abendkleid während der Fahrt von einem pferdegezogenen Wagen. Mary Ann hatte jedoch vor jemandem Angst gehabt, habe ich mir sagen lassen, und das Gerücht kursierte, dass sie entweder entführt oder umgebracht worden war.“

„Mord ist also nicht ausgeschlossen.“ Nell fing an zu zittern. „Sie sagten, dass sie Drohbriefe erhalten hatte und dass die Themse nicht weit vom Restaurant und dem Gaiety Theatre fließt. Dort wurden viele Frauen gefunden, die ertrunken sind.“ Sie überlegte einen Moment lang. „War die Droschke eines dieser alten Growler?“

„Das kann ich nicht sicher sagen. Ich verstehe jedoch Ihren Gedanken. Es ist unwahrscheinlich, dass es ein Hansom Cab war, denn selbst in der Dunkelheit wäre es doch schwer, auszusteigen, ohne dass der hinter einem stehende Kutscher es bemerkt. Außerdem hätte die Kutsche sehr langsam fahren müssen. Der Öffentlichkeit zufolge ist sie einfach verschwunden. Die Details der Kutschfahrt wurden damals nicht preisgegeben. Ich kenne die Informationen, die ich Ihnen genannt habe, nur – und das gestehe ich Ihnen im strengsten Vertrauen – weil Lord Ansleys Vater, mein lieber Hugo, der verstarb, kurz bevor Gerald seine Gertrude kennenlernte, vom Interesse seines Sohnes am Gaiety Theatre erfahren hatte. Hugo wollte die Gründe für Geralds Faszination mit dem Theater erforschen und aus bekannten Gründen, die Gerald damals jedoch nicht bekannt waren, konnte ich das Theater häufig besuchen. Ich galt als eine zuverlässige schützende Begleitung junger Damen, daher dinierte ich regelmäßig im Restaurant Romano’s und lernte Mr Edwardes selbst kennen.“

„Glauben Sie, dass jemand vom Theater von Mary Anns Besuch im Restaurant und von der Droschke gewusst hat?“

„Zweifelsohne, ja. Jeder von Mr Edwardes bis zum Bühnenarbeiter. Außerdem muss das Restaurant voller Gaiety Girls gewesen sein, die sie losfahren haben sehen müssen und wussten, wer ihr Begleiter war. Natürlich muss es der Portier auch gewusst haben. In der Theaterwelt sprach sich alles schnell herum.“ Er schwieg kurz. „Woraus wir schließen müssen, dass auch einige der derzeitigen Gäste auf Wychbourne Court es gewusst haben müssen. Obgleich ich an dem Abend, an dem Mary Ann verschwand, nicht im Theater war, erschienen mir ihre Reaktionen auf ihr Verschwinden in den darauffolgenden Tagen ein wenig herabgespielt, wo sie doch so eine prominente Rolle in der Besetzung einnahm.“

„Vielleicht war es bloß die Unbeholfenheit der Situation und die Aufregung hatte sich bereits gelegt“, sagte Nell hoffnungsvoll.

„Ich hoffe es. Wir werden alles zu seiner Zeit erfahren, schließlich finden am Nachmittag die Proben für die Revue im Ballsaal statt und die Aufführung selbst im Coach and Horses Inn – natürlich nur wenn der Schnee es zulässt.“

Nell war nur einmal kurz am Morgen in den Küchengarten hinausgeeilt und hatte die Schneedecke gesehen und auch wie die Flocken sanft und unaufhaltsam zu Boden fielen.

Das könnte sich schwierig gestalten, dachte sie. Wychbourne war ein großes Herrenhaus, aber wenn die Gesellschaft eingeschneit wurde, konnte dies in einem angespannten Verhältnis resultieren. Im Gegensatz zu Weihnachtspudding half es bei alten Geheimnissen nicht unbedingt, einfach nur kräftig zu rühren, bis ein gleichmäßiger Teig entstand.

„Ich sollte Ihnen mitteilen, dass noch weitere Freuden für den heutigen Abend geplant sind, Nell.“

„Ich habe das ungute Gefühl, dass ich keine Freude daran haben werde“, sagte Nell nichts Gutes ahnend, als sie Arthurs verschmitzten Blick sah.

„Oh, kommen Sie, wer könnte da Nein sagen? Der werte Mr Trotter hat seine professionellen Dienste – mit der begeisterten Zustimmung von Lady Clarice – zu unserem Vergnügen angeboten und er wird nach dem Dinner eine Sitzung halten, bei der er die Gäste mit den Geistern, die uns mit ihrer Anwesenheit beehren, fotografisch festhalten wird. Ich höre, er ist für solche Porträts bekannt. Er wird die Fotografien morgen in der provisorisch eingerichteten Dunkelkammer entwickeln und falls die Geister keine Einwände äußern, wird er sie mit seinem Vergrößerungsapparat drucken und für uns noch am Wochenende ausstellen.“

Nell lachte. „Kauderwelsch quasselnde Kaulquappen, Arthur, also wirklich! Man muss es Clarice anrechnen, dass sie sich nicht entmutigen lässt. Ist Mr Trotter wahrhaftig ein Medium?“

„Es scheint zumindest so. Im Gegensatz zu Mr William Hope, den Harry Price kürzlich bekanntlich entlarvt hat, gibt es keine Ermittlungen gegen Mr Trotter durch den Verein zur Erforschung parapsychologischer Phänomene, die Society for Psychical Research.“

„Wieso erzählen Sie mir davon, Arthur?“, fragte sie misstrauisch.

„Ich hoffe, Lady Clarice sieht nicht vor, mich in dieses Spektakel einzubeziehen.“

„Meines Wissens nicht. Aber ich wollte Sie darüber unterrichten, sollte sich die – nennen wir es – wachsende Anspannung nicht durch Ihre exzellente Küche beruhigen.“

Als Lady Ansley sie später in ihren Salon kommen ließ, sah Nell ihr deutlich an, wie mitgenommen sie war. Nell hatte sich insbesondere mit dem Dinner-Menü große Mühe gegeben: Jakobsmuscheln nach französischer Art mit Speck, Petersilie und Weißwein, gefolgt von Aylesbury-Ente und Boodles’ Orange Fool zum Dessert, was trotz des komischen Namens ein Favorit der Familie war. Keine schlechte Wahl in solchen Umständen, dachte sie.

„Ich bin froh, dass es heute ein so besonderes Dinner gibt, Nell“, sagte Lady Ansley und legte das Menü zur Seite. Nell vermutete, dass sie es nicht einmal gelesen hatte. „Unsere Freunde werden nach der Probe am Nachmittag erschöpft sein.“ Nell sah, dass sie Mühe hatte, zu lächeln. „Danach wird zum Tanz gebeten. Das wird alle aufmuntern.“ Lady Ansley sah plötzlich bestürzt aus. „Dieser Vorschlag, die Geister zu fotografieren. Wie fürchterlich unpassend. Mr Trotter scheint erpicht darauf, dass unsere Gäste in den Räumen fotografiert werden, in denen die Wychbourne-Geister spuken, wie mir Clarice versichert. Ich bin nicht sicher, wieso sich unsere Gäste mit unseren Geistern verbunden fühlen sollten, aber Clarice scheint zu hoffen, dass sie die Ahnen der Gäste oder andere umherirrende Geister anlocken. Ich sollte sichergehen, dass unsere Gäste sich nicht gezwungen sehen, teilzunehmen, doch welch andere Unterhaltung kann ich ihnen bieten? Mr James hat am Morgen selbstverständlich die Jagd abgesagt, da der Schnee zu stark fällt. Zumindest Gerald ist erfreut über den Ausfall, denn er kann die Jagd nicht ausstehen, aber die Herren hatten fest damit gerechnet. Was können wir ihnen sonst vorschlagen? Kartenspiele? Brettspiele? Versteckspielen?“

„Vielleicht besser nicht. Die Hausmädchen und Zimmermädchen werden noch bei der Arbeit sein.“ Nell stellte sich Mrs Fieldings Gesicht vor, wenn ihre geliebte Routine von versteckspielenden Gästen unterbrochen würde. „Wieso bauen Sie keinen Schneemann oder veranstalten eine Schneeballschlacht?“

Was sie als halbherzigen Scherz vorschlug, wurde von Lady Ansley dankend aufgegriffen.

„Welch ein Spaß. Das würde allen Freude bereiten.“ Doch dann machte sie ein langes Gesicht. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie Hubert Jarrett oder Alice Maxwell im Schnee spielen, so gerne ich auch Hubert einen großen Schneeball direkt ins Gesicht werfen würde. Nell, ich weiß, Sie haben am Nachmittag die Hände voll mit den Vorbereitungen für unser Dinner, aber ich wäre Ihnen äußerst dankbar, wenn sie den Nachmittagstee beaufsichtigen würden. Er wird im Ballsaal stattfinden, da wir mitten in den Proben sein werden. Ich bin sicher, Mrs Fielding wird es schätzen, wenn Sie anwesend sind.“

Das würde Mrs Fielding mit Sicherheit nicht, aber sie würde sich damit arrangieren müssen, dachte Nell und strukturierte gedanklich rasch ihren Zeitplan um. „Natürlich.“ Sie zögerte und fragte sich, ob sie etwas sagen sollte oder besser nicht. „Sorgt Ihr euch um die Revue, Lady Ansley?“, fragte sie schließlich.

Lady Ansley zog eine Grimasse. „Ja“, gab sie zu. „Unsere drei Musketiere, wie Gerald unsere angeblich erwachsenen Kinder gerne nennt, versuchen, die Revue zu einem Erfolg zu machen – sogar Helen gibt sich große Mühe. Richard treibt seine Schwester mit seinem typisch stürmischen Charakter in den Wahnsinn und Helen folgt ihm gehorsam. Sophy, die für gewöhnlich diejenige mit dem gesunden Menschenverstand ist, hat sich aus der Planung zurückgezogen, weil sie anderweitig beschäftigt ist, aber nun zeigt sie mehr Interesse. Ich hoffe, der Schnee verhindert, dass sie für die Labour-Partei Flaggen schwenkt und stattdessen hinter den Kulissen hilft. Natürlich ist auch noch Rex über das Wochenende hier – so ein feiner junger Mann.“

Nell stimmte ihr zu. Rex Beringer vergötterte Helen, die ihn kaum eines Blickes würdigte, weshalb er häufig Sophy zur Seite stand. Ihr war in der Tat schon einige Male der Gedanke gekommen, dass Rex und Sophy eine weitaus bessere Partie abgäben als Rex und Helen.

„Nichtsdestotrotz“, sprach Lady Ansley weiter, „fürchte ich …“

„Was genau, Lady Ansley?“, hakte Nell nach.

„Ich weiß es nicht, Nell. Wenn ich es nur wüsste.“