Mord in der Music Hall - Amy Myers - E-Book

Mord in der Music Hall E-Book

Amy Myers

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Beschreibung

Chefkoch Auguste Didier, der nach seiner Heirat in adlige Kreise keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen darf, hat endlich einen Job auf Zeit: Eine Woche lang ist er vorgeblich Koch in dem heruntergekommenen Gasthaus, das zur Old King Cole Music Hall gehört. Eigentlich soll er hier den gefeierten Varieté-Künstler Will Lamb beschützen. Auguste hält Lambs Ängste, umgebraucht zu werden, für reichlich überspannt, basieren sie doch nur auf einem ominösen Traum - da stirbt der Künstler vor seinen Augen bei seiner berühmten Schwert-Nummer ... 

Eine neue Aufgabe für den charmanten Koch und Detektiv.

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Über Amy Myers

Amy Myers wurde 1938 in Kent geboren. Sie studierte an der Reading University englische Literatur, arbeitete als Verlagslektorin und war bis 1988 Direktorin eines Londoner Verlages. Seit 1989 ist sie freischaffende Schriftstellerin. Sie ist mit einem Amerikaner verheiratet und wohnt in Kent. Amy Myers schreibt auch unter dem Namen Harriet Hudson und Laura Daniels.

In ihren ersten Ehejahren arbeitete ihr Mann in Paris, und sie pendelte zwischen London und der französischen Hauptstadt hin und her. Neben vielen anderen Dingen mußte sie nun lernen, sich auf französischen Märkten und den Speisekarten französischer Restaurants zurechtzufinden. Dabei kam ihr die Idee, einen französischen Meisterkoch zum Helden eines klassischen englischen Krimis zu machen: Auguste Didier war geboren. Alle Kriminalromane von Amy Myers erscheinen im Aufbau Taschenbuch Verlag.

Irmhild und Otto Brandstädter, Jahrgang 1933 bzw. 1927, haben Anglistik an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert, waren im Sprachunterricht bzw. im Verlagswesen und kulturpolitischen Bereich tätig. Sie übertrugen Werke von Sean O’Casey, Jack London, John Hersey, Masuji Ibuse, Louisa May Alcott, Charles M. Doughty, John Keane, Joseph Caldwell sowie Historio-Krimis von Amy Myers, Ingrid Parker und Peter Tremayne ins Deutsche.

Informationen zum Buch

Chefkoch Auguste Didier, der nach seiner Heirat in adlige Kreise keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen darf, hat endlich einen Job auf Zeit: Eine Woche lang ist er vorgeblich Koch in dem heruntergekommenen Gasthaus, das zur Old King Cole Music Hall gehört. Eigentlich soll er hier den gefeierten Varieté-Künstler Will Lamb beschützen. Auguste hält Lambs Ängste, umgebraucht zu werden, für reichlich überspannt, basieren sie doch nur auf einem ominösen Traum – da stirbt der Künstler vor seinen Augen bei seiner berühmten Schwert-Nummer.

Eine neue Aufgabe für den charmanten Koch und Detektiv.

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Amy Myers

Mord in der Music Hall

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Irmhild und Otto Brandstädter

Inhaltsübersicht

Über Amy Myers

Informationen zum Buch

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Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Epilog

Impressum

Prolog

Der Regenschirm nützte wenig. Hauptinspektor Rose troff das Wasser vom Kragen seines Ulsters. Der böige Wind trieb den Regen immer wieder aus anderer Richtung durch das Hafengelände, peitschte ihn Rose ins Gesicht und ließ ihn die Dinge nur verschwommen erkennen. Fröhlich war ihm nicht zumute.

»Den Dampfer haben wir verpaßt, Sir – das können wir vergessen.« Nicht die Spur eines Lächelns in Inspektor Greys Gesicht, die verriet, ob er sich über die Zweideutigkeit seiner Bemerkung im klaren war. Rose sah Grey teilnahmslos an.

»Sie haben den Dampfer verpaßt, Grey«, erwiderte er schroff. »Sie haben gesagt, die Lisboa legt um sechs Uhr ab. Es ist jetzt sechs, und sie hat schon vor zwei Stunden losgemacht.« Der Nordkai der London Docks war weiß Gott nicht der Ort, um einen Sonnabend zu verbringen, schon gar nicht einen häßlichen nassen Septembernachmittag. Er dachte an Edith, die jetzt in Highbury in aller Gemütlichkeit warme Butterfladen verspeiste und Kümmelkuchen, und verglich ihr Los mit dem seinigen.

»Mußte mit der Flut auslaufen, Sir.«

Grey keuchte verzweifelt wie eine in die Ecke getriebene Ratte. »In zwei Wochen macht die Lisboa wieder hier fest.«

»Kommt hier wieder fröhlich angetuckert, und der Kapitän hat das Beutegut immer noch unter den Arm geklemmt, wie? Kann eins der Schnellboote sie noch einholen?«

Grey schüttelte den Kopf. »Die ist schon außerhalb der territorialen Gewässer. Das wäre Piraterie. Es sei denn, Sie sind der Meinung, ein Piratenakt könnte mit Fug und Recht …« Er sprach nicht weiter, denn der Schirm seines Gesprächspartners zuckte unmißverständlich.

»Gern tät ich zu Augenklappe und Säbel greifen, aber angebracht wär’s nicht, den Portugiesen auf die Zehen zu treten, oder? Mit diesem Kreuz hat es genug Theater gegeben. Wenn herauskommt, daß es aus Windsor Castle gestohlen wurde, ist noch mal die Hölle los. Was wird Seine Majestät sagen, wenn die Polizei von Stepney und Scotland Yard sich aufführt wie die Operetten-Piraten von Penzance?«

»In Stepney haben wir Wichtigeres zu tun als uns den Kopf zu zerbrechen, in welcher Verlegenheit Seine Majestät gerade steckt.«

Rose konnte ihn nur beneiden. Es war kein Vergnügen,an einem Sonnabend zur Mittagszeit zu einem ungehaltenen Monarchen zitiert zu werden, der einem befahl, ein abhandengekommenes Zeugnis der Vergangenheit von unermeßlichem Wert aufzuspüren, ehe man es außer Landes schaffte. Wenn letzteres gelänge, hatte ihm Seine Majestät mitgeteilt, zöge das nicht nur den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Englands ältestem Verbündeten nach sich, sondern mit ziemlicher Sicherheit auch seinen eigenen Verzicht auf den Thron, und das gerade ein Jahr nach seiner Krönung. Von Harwich bis Plymouth waren alle Polizeieinheiten an der Küste und in den Häfen mit Beschreibungen der beiden Täter in Alarmbereitschaft versetzt worden. Die Hafenpolizei hatte Order, auf der Themse, dem wahrscheinlichsten Schlupfloch, jedes Schiff, das in Verdacht stand, in Richtung Portugal zu segeln, so lange zurückzuhalten, bis die Sache bereinigt war. Dann war überraschend um halb vier die Sonderabteilung mit dem Namen des Dampfers gekommen, die Lisboa. Nur schwamm die Lisboa jetzt schon auf hoher See, stampfte heimwärts und hatte allem Anschein nach das Kreuz von Prinz Heinrich dem Seefahrer an Bord. Und was die Presse aus der Geschichte machen würde, wollte sich Rose lieber gar nicht erst ausmalen. Einige Blätter hatten sich bereits mehr oder weniger feinfühlig dahingehend ausgelassen, daß das Kreuz eigentlich ohnehin nach Portugal gehöre, andere hatten das Ende der Monarchie vorausgesagt, wenn es dort lande. Nun mußte er Seiner Britannischen Majestät König Edward VII. vom Scheitern seiner Mission berichten, und man brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie diese Unterredung enden würde. Der Traum von warmen Butterfladen schwand genauso dahin wie der von einem Schloß in Spanien – oder Portugal.

Überall um sie herum ragten die häßlichen hohen Lagerhäuser der London Docks empor, gegen die der Regen peitschte. Die Kräne standen still, lauerten mit ihren dunklen Armen drohend über der Beute. Vor ihnen lagen Schiffe aus fremden Häfen vertäut; die Besatzungen hatten Landgang; Gestalten hasteten im Zwielicht zu den Vergnügungen, die ein Samstagabend bot; Pubs, Gin-Paläste und weniger respektable Häuser harrten ihrer. Wenigstens gehörte es nicht mehr zu Roses Aufgaben, bei den Krawallen, die danach immer ausbrachen, aufzuräumen. Als er noch blutiger Anfänger bei der Truppe war, hatte man ihm die Docks als Revier zugeschoben, ganz zu schweigen von der St. George’s Street in der Gegend. Die war vielleicht inzwischen zuträglicher, als er sie in Erinnerung hatte, aber ganz in der Nähe gab es immer noch etliche der schlimmsten Slums von London.

»Sir.« Aus dem Düster tauchte neben Grey ein durchnäßter Konstabler der Hafenpolizei auf. Zwei erschrockene Augen starrten sie unter seinem Helm hervor an, einerseits erleichtert, zwei ranghöhere Polizeibeamte vor sich zu haben, andererseits beunruhigt, daß keiner davon zu seinem Revier gehörte.

»Was gibt es, Constable?« herrschte ihn Grey gereizt an.

»Eine Leiche, Sir. In der Nightingale Lane. Muß erst ein oder zwei Stunden da liegen. Zuviel vom Affen gelutscht, denk ich mal.«

»Von welchem Affen?«

»Hafenjargon, Sir. Mit ’nem Röhrchen Portwein aus dem Spundloch vom Faß abzapfen. Starkes Zeug.«

»Dann ist der Kerl stockbesoffen, Mann«, fauchte Grey.

Der Konstabler blieb bei seiner Feststellung. »Tot, Sir.«

»Nightingale Lane, sagen Sie?« Roses Aufmerksamkeit galt plötzlich nicht mehr der entschwundenen Lisboa; seine Gedanken waren in die siebziger Jahre zurückgeschnellt, fort von diesem Herbst 1902. Nightingale Lane hatte sich also nicht gewandelt. Kein Wunder eigentlich. Die mußte man völlig abfackeln und einen Rosengarten drauf anlegen, um was Anständiges draus zu machen – und selbst dann würden die Rosen noch nach Kloake stinken. »Will ich mir ansehen.«

»Das ist nicht nötig …«, fing Grey an.

»Gehen wir.« Der Tonfall war eindeutig, er würde sich nicht abhalten lassen, und wenn es nur darum ging, Grey zu zeigen, wer das Sagen hatte.

Sie folgten dem Konstabler durch das Labyrinth von Lagerhäusern an der Westseite der Docks, bei jedem Schritt schmatzte der aufgeweichte Straßendreck unter ihren Sohlen, verschafften sich Zugang durch einen zugesperrten Torweg in die enge, sich windende Gasse, die sicher mehr Morde als so manche Hauptstraße in London gesehen hatte. Rose hatte nicht den Eindruck, daß sich hier inzwischen irgend etwas verändert hatte. Hier war es egal, ob es regnete oder nicht, es war immer düster; zwischen der hohen Mauer vom St. Katherine’s Dock auf der einen Seite und den sich aufreckenden Lagerhäusern der London Docks auf der anderen hatte die Sonne keine Chance. Die engen Kurven und Windungen boten sich für Tätlichkeiten geradezu an. Pfützen glänzten im Schein der Taschenlampe, als der Polizist in einen schmalen Gang zwischen zwei Hafengebäuden leuchtete. Und dann erkannten sie im schummrigen Licht die undeutlichen Umrisse eines Körpers, halb verdeckt hinter einem fauligen Abfallberg, der eine hoffnungslos überfüllte Zinktonne schon fast unter sich begraben hatte. Einen Augenblick lang schwiegen alle drei, der prasselnde Regen war das einzige Geräusch in der Stille.

»Einer von den Gelegenheitsarbeitern«, sagte Grey angewidert, hob den Leichnam mit dem Fuß an und ließ ihn wieder zurücksinken.

»Nicht einer aus den Kneipen hier in der Gegend, Sir, die kenn ich alle.«

Grey betrachtete den Konstabler mißmutig. Unbekannte machten mehr Ärger. »Solche wie der laufen bei uns als Gelegenheitsarbeiter herum«, erklärte er Rose laut. »Die hängen in den Kneipen rum, hoffen auf den einen oder anderen Job, schaffen was zu den Docks oder holen was von da, je nachdem; und wenn nichts für sie abfällt, nehmen sie’s auch nicht tragisch.«

Rose wußte sehr wohl, was ein Gelegenheitsarbeiter war, aber Greys Art, die Sache abzutun, mißfiel ihm. Auch diese Leute waren Menschen, hatten einen Namen, selbst wenn nur sie wußten, wie sie hießen. »Fällt Ihnen gar nichts auf? Sonderbar, was?« Er hockte sich neben den Leichnam und drehte ihn um.

Wieder Schweigen. »Jedenfalls nicht in dieser Gegend.«

»Der wurde erstochen. Mit einem Messer. Kaum Blut, weil das Messer noch steckt, tief drin.«

Der junge Polizist wurde rot, und als Rose das sah, fügte er freundlich hinzu: »Es war völlig richtig, daß Sie die Leiche nicht angerührt haben, und ohne sie umzudrehen, konnte man es nicht sehen.«

Der junge Bursche strahlte vor Dankbarkeit über das ganze Gesicht. »Das hier hab ich gefunden, Sir, es lag neben seiner Hand in einer Pfütze. Hab’s sicherheitshalber an mich genommen.«

Rose besah sich das kleine Stück geschliffenes dunkelrotes Glas eingehend. »Muß nicht unbedingt was bedeuten, kann aber genauso gut ein Granat sein.«

»Also ein Dieb!« Grey war ungeduldig, wollte fort. »Oder ein Hehler. Ich nehm’s an mich. Ist wertvoll, nicht?«

»Für sich genommen nicht«, erwiderte Rose mechanisch. Ihm ging die Unterredung vom Vormittag durch den Kopf.

»Könnten Sie das Kreuz beschreiben, Majestät?«

»Aus Silber und Elfenbein, mit Edelsteinen besetzt.«

»Welcher Art Edelsteine, Sir?«

»Hauptsächlich Granat«, hatte der König prompt erwidert.

»Ich nehme es nach Scotland Yard mit.« Rose kritzelte eine Empfangsbestätigung. Wahrscheinlich war es bloßer Zufall, aber es konnte auch just das Estragon in der Sauce sein. Auguste hatte einmal das Bild benutzt, als er von einem eigentlich ganz unbedeutenden Detail sprach. Die Gerüche in diesem schmalen Durchgang hier waren allerdings weit entfernt von denen in Augustes Küche. Gerüche von Moder und Tod, die nicht mal ein Dauerregen fortspülen konnte. Auch das waren Gerüche, die ihn nicht losließen, aber er schätzte sie ganz und gar nicht.

1. Kapitel

»Ist das ein Dolch, was ich da vor mir sehe?«

Der kleine Mann hielt inne, sah verdutzt ins Publikum. »Ich frage Sie, und Sie werden meinen, er konnte sehr wohl sehen, daß es ein Dolch war. ›Den Griff mir zugekehrt.‹ Na, ist das Dichtung? Nein, es ist – », er suchte angestrengt nach dem richtigen Wort – »ein Polizeibericht.«

Der tanzende Dolch hüpfte an seinem unsichtbaren Draht umher, während Will Lamb akrobatische Versuche machte, ihn zu greifen; immer wieder zuckte der Dolch zurück, wenn er glaubte, ihn erwischen zu können, und so hetzte er mit zunehmender Verzweiflung über die Bühne. »Komm schon, laß dich fangen«, flehte er ihn an, aber vergebens. Wieder wandte er sich ans Publikum. »Na gut, wenn’s seine Alte wäre, könnte ich’s ja verstehen, aber bei einem Dolch? Da frag ich, wer würde schon einen Dolch packen wollen. So’n garstiges, unfreundliches Ding. Nein, wenn Sie mich fragen«, und er schüttelte traurig den Kopf, »dieser Shakespeare da hat was in den falschen Hals gekriegt.«

Auguste Didier war mit dem literarischen Kontext vertraut, aber selbst wenn er die Anspielungen nicht verstanden hätte, die Posse war großartig, man wurde mitgerissen. Er schüttete sich aus vor Lachen in seiner kleinen Loge hinten im ersten Rang des Empire Theatre.

Lambs ängstliche Augen hatten den verwirrten Ausdruck des Jedermann, der sich mit einer Welt lebloser Objekte konfrontiert sieht, denen er nicht gewachsen ist. »Geradezu gefährlich, kann ich nur sagen.«

»Gräßlich, einfach schrecklich«, rief jemand leutselig aus dem Parkett zurück.

Alles bog sich vor Lachen, als Lamb sich beunruhigt umschaute, einen letzten, verzweifelt beschwörenden Blick ins Publikum warf und sich dann erneut auf seine immer wieder zurückweichende Beute stürzte, prompt stolperte, der Länge nach hinschlug und auf den Dolch fiel, der sich diesmal herabgelassen hatte, auf dem Boden zu verharren, mit der Spitze nach oben.

»Er ist großartig!« rief Auguste seiner Begleiterin zu. »Er ist ein zweiter Grimaldi, ein richtiger Clown.«

»Und obendrein ein netter Mensch.« Gwendolen, Lady Westland, vormals in den Music Halls bekannt als Rasanter Schürzenjäger und bis zu ihrer Eheschließung der Star der Varietés, ließ die Bemerkung eher beiläufig fallen. Auguste sah zu ihr hinüber, er registrierte etwas Befremdliches in ihrem Ton, auch wenn sie ebenso herzhaft lachte wie er. Konnte es sein, daß ihr nicht nur an seiner Gesellschaft lag, als sie ihn in letzter Minute einlud, sie heute abend zu begleiten? Gab es da noch einen anderen Grund? Aber vielleicht verlangte ihn nur danach, daß sich ein bißchen was Außergewöhnliches tat, und er sah Gespenster. Mit seiner Heirat war er in die vornehme Gesellschaft katapultiert worden, und das brachte einen eingeengten Lebensstil mit sich. Seine Tatjana war bisher findiger als er gewesen, sich Fluchtwege zu erschließen. Sie hatte ihre Fahrschule für Damen, während er über seinem zehnbändigen Werk »Dinieren mit Didier« saß, und das war nicht gerade Balsam für seine Rastlosigkeit.

Der Trupp grell und leicht bekleideter Pierrots, der den ersten Teil des Programms beendete, wurde mit höflichem, nicht gerade stürmischem Applaus bedacht. Nach dem sie zum letzten Mal den Refrain zu Lambs Couplet »Und da sagt’ ich zum Barden…« gesungen hatten, zogen die Clowns ab.

Als Auguste Lady Westland durch den berüchtigten Wandelgang zur exklusiven Sektbar geleitete, konnte er sich nicht verkneifen, mit leiser Wehmut nach rechts und links zu gukken, wo lockende Paradiesvögel aufgeputzt nach Kundschaft für den späteren Abend Ausschau hielten. Er ging mit sich ins Gericht. Schließlich war er ein glücklich verheirateter Mann. Doch rasch wischte er den Anflug von Schuldgefühl mit dem Gedanken zur Seite, daß das Aroma einer Suppe schätzen und sie essen noch längst nicht dasselbe ist.

Mit wogendem Hinterteil schwebte ihm seine Begleiterin, in rote Atlasseide gehüllt, voran. Der Anblick der Flasche Veuve Cliquot, die auf dem Tisch stand, heiterte ihn vollends auf. Beim zweiten Glas wagte er, seinen Argwohn zu artikulieren.

»Es ist in der Tat ein Vergnügen, hier sein zu dürfen, Lady Westland …«

»Aber Sie möchten wissen, was Ihnen die Ehre verschafft, stimmt’s?« schnitt ihm Gwendolen fröhlich das Wort ab.

Er nickte erleichtert. Schließlich kannte er sie so gut wie gar nicht. Er war ihr nur einmal begegnet und selbst da auch nur halb, gewissermaßen. Er war zu Tatjanas Automobil-Fahrschule gegangen (ein vornehmer Titel, der diskret die Tankstelle unterschlug, zu der eine gut ausgerüstete Reparaturwerkstatt gehörte, alles auf einem Gelände), wo seine Frau in scheußlichen Pluderhosen unter einem Auto lag, neben ihr jemand in ähnlicher Aufmachung. Seine Frau war dann zum Vorschein gekommen, während Lady Westland vorrangig im Verborgenen geblieben war, weil man bei der Reparatur offensichtlich an einem kritischen Punkt steckte. Lady Westland war jetzt in den Fünfzigern und hatte sich vor über zwanzig Jahren von der Varietébühne zurückgezogen. In ihrer Rolle als Rasanter Schürzenjäger hatte sie mit ihren Männerparodien und ihrer Gabe zur Komik Ende der siebziger und in den achtziger Jahren die Music Halls im Sturm erobert. Auguste vermutete, daß die komische Seite ihres Lebens ernsthaft ins Hintertreffen geraten war und daß sie sie in ihrer gegenwärtigen Rolle als rasante Gattin eines Peers vermißte.

»Die liebe Tatjana hat mich gebeten, Sie während ihrer Abwesenheit ein wenig zu unterhalten.«

»Und was für eine Bewandtnis hat es mit der Einladung noch?« fragte er höflich.

»Nettie Turner hat einen Job für Sie.«

Selbstverständlich hatte Auguste Nettie Turner schon auf der Bühne gesehen – man konnte es kaum vermeiden. Sie war der Liebling auf den Bühnen der leichten Muse im East und West End gleichermaßen, und er erinnerte sich gehört zu haben, daß Lady Westland sie entdeckt und ihr Talent gefördert hatte. Sie gewann mit den Jahren an Wärme und Vitalität und war jetzt weit über die vierzig. Aber wie vergänglich waren die Illusionen der Bühne! Sie begaben sich nach der Vorstellung in ihre Garderobe, und das Bild, das sich Auguste bot, war das einer abgespannten Frau, das Gesicht keinesfalls nur voller Lachfalten. Der Raum war mit Plüsch und Erinnerungsstücken vollgestopft wie ein Wohnzimmer. Wo war die betörende Person geblieben, die eben noch dreieinhalbtausend Leute in ihren Bann gezogen hatte, sie geneckt, mit ihnen gelacht, sie begeistert hatte? Die Anspielungen, die Bewegungen, die ihre Lieder begleitet hatten, waren sorgfältig auf das Publikum abgestimmt gewesen, als sie ihre ganze Persönlichkeit über die Rampe brachte. Auguste kannte sie aus weniger vornehmen Varietés. Für ihn war diese Begegnung wie ein Treffen mit Sarah Bernhardt, nur daß Nettie enttäuschend normal aussah. Ihre Aufmachung als Marktweib war jetzt einem ziemlich eintönigen cremefarbenen Abendkleid aus Seide gewichen, das die Blässe ihrer gerade erst abgeschminkten Haut betonte. Aber als Nettie sie anlächelte, kam wieder Leben in ihr Gesicht, in die Augen kehrte die Wärme zurück, und Auguste erkannte, daß die Stärke ihrer Ausstrahlungskraft nur kurz nachgelassen hatte, keinesfalls aber verschwunden war. »Gwennie, meine Liebe, wie geht’s deinem Goldstück? Hält er dich immer noch an der Sklavenkette?«

»Randolph geht’s gut, danke, Nettie.« Gwendolen ging auf die kleine Stichelei nicht weiter ein. »Darf ich dich mit Mr. Auguste Didier bekannt machen?«

Einen Augenblick lang hatte Auguste den Eindruck, mit äußerst scharfen Blicken gemustert zu werden; er fühlte sich an sein erstes Zusammentreffen mit Egbert Rose erinnert. Doch das gab sich, als sie in völlig natürlichem Ton meinte: »Die Vorstellung hat Ihnen doch hoffentlich gefallen, Mr. Didier?«

»Wie sollte sie nicht, wo Sie obenan auf dem Programm stehen!«

»Will und ich.«

»Ist er da? Hat er auf uns gewartet?« erkundigte sich Gwendolen.

»Wir spielen im Empire, Gwennie, nicht auf fünf Bühnen hintereinander an einem Abend. Natürlich ist er hier. Kennen Sie Will, Mr. Didier?«

»Nein, aber ich würde ihn sehr gern kennenlernen. Er ist ein großartiger Künstler.«

»Viele nette Leute gibt es nicht in den Music Halls«, erklärte Nettie trocken. »Die meisten von uns sind am Anfang ihrer Karriere ganz nett, aber je höher sie klettern, desto mehr ist es damit vorbei. Will ist die Ausnahme. Der ist immer für andere da, was er mit der einen Hand einnimmt, gibt er mit der anderen wieder aus. Er ist wirklich ein Schatz. Fast alle von uns sind auf eine ganze Truppe von Agenten, Autoren, Werbefachleuten, Verlegern angewiesen, die uns aufbauen. Will nicht, er hat einen Agenten, der sich um seine geschäftlichen Belange kümmert, aber den Rest macht er allein. Er schreibt seine Sachen selbst, die Lieder, die Zwischentexte, praktisch alles für den ganzen Auftritt. Sein Kopf ist voller Musik. Er ist ständig am Schreiben; und wenn er’s dann nicht selbst braucht, gibt er’s anderen. Zum Beispiel mein Lied von dem Esel, das ich heute abend gesungen habe.« Sie zwinkerte, wiegte sich andeutungsweise hin und her, und schon platzte es aus ihr heraus:

»Jeder streichelt mich, jeder tätschelt mich,

ach, gib mir doch ’ne Möhre, ich bitt dich, tu’s!«

Auguste wurde rot, und sie prustete los, als sie das sah. »So mach ich’s, wenn ich im East End spiele. Vorhin in der Vorstellung sind Sie doch aber nicht rot geworden, oder?«

Er lachte. »Nein.«

»Nur gut«, sagte Nettie erleichtert. »Nur gut, wenn Sie sich an unsere Art gewöhnen.«

»Warum?« Auguste schwante etwas.

»Sie werden Wills Privatdetektiv sein.«

Zuerst glaubte Auguste, er hätte nicht recht gehört, aber so, wie ihn beide, Nettie und Gwendolen, fixierten, fürchtete er zu Recht, daß dem nicht so war. »Ich kann zwar im Aufdecken von Verbrechen etlichen Erfolg verbuchen«, begann er wacker, »aber …«

Nettie ging munter drüber hinweg. »Schon mal was vom Old King Cole gehört?«

Auguste kramte in seinem Gedächtnis, dann dämmerte es. Egbert Rose hatte einmal so etwas erwähnt, war nicht gerade schmeichelhaft. »Eine Music Hall im East End?« fragte er vorsichtig.

»Richtig. St. George’s Street, Wapping, weiter unten, gleich neben den Docks. Will und ich hatten beide unsere ersten Auftritte dort. Der Besitzer ist ein alter Schurke, sieht an jeder Ecke einen von der Polizei, und das ist kein Wunder. Percy Jowitt heißt er. Diesmal geht’s ihm richtig an den Kragen. Er hat angefragt, ob wir für eine Woche wieder bei ihm auftreten würden, es würde ihm ein bißchen länger das Armenhaus ersparen. Will ist eine gutmütige Seele; er geht wirklich zu weit diesmal, wenn Sie mich fragen. Er hat zugesagt.«

»Ausgesprochen nett von ihm«, bestätigte Auguste.

»In diesem Falle vielleicht nicht pure Nettigkeit. Da gab es noch ein gewisses Etwas in der Waagschale zugunsten von Percy Jowitt – und zwar in Person der Mariella Gomez. Er schickte besagte Dame, um das schmutzige Geschäft für ihn zu erledigen. Eine englische Schönheit, kastanienbraunes Haar, mit einem portugiesischen Jongleur verheiratet.«

»Ist sie auch Unterhaltungskünstlerin?«

Gwendolen blickte zu Nettie und lachte los. »Entzückende kleine Hündchen mit Halskrausen rutschen eine Rinne hinunter in einen Wassertank.«

»Komm, Gwennie, du bist nicht fair«, Nettie schüttete sich aus vor Lachen. »Sie ist eine ernstzunehmende Sängerin.« Sie schlüpfte in ihre Bühnenhaltung zurück und piepste spöttisch:

»Was macht nur eine Seejungfrau,

wenn sie nun mal ’nen Schwanz hat?«

»Die wird schon eine Lösung finden«, prustete Gwendolen.

»Solange es nicht mit Will ist«, Nettie wurde wieder sachlich. »Er war mal verrückt nach ihr, damals im Old King Cole, das ist zehn Jahre her. Da stellte er noch nichts dar, war noch ein Mr. Unbekannt, und deshalb nahm sie sich Miguel. In gewisser Hinsicht mag sie die richtige Wahl getroffen haben« – sie tauschte einen vielsagenden Blick mit Gwendolen –, »aber nicht in der Frage, um die es Marielle vorrangig geht. Geld.«

»Und deswegen braucht er ein Kindermädchen?« Auguste war entgeistert.

»Nein.« Nettie wurde sofort wieder sachlich. »Er ist von der fixen Idee besessen, jemand will ihn ermorden.«

Will Lambs Garderobe war das völlige Gegenteil zu Netties, ein schmuckloses Arbeitszimmer, nirgends persönlicher Zierat. Und doch wirkte der Raum nicht leer, jedenfalls nicht, wenn Will drin war, eine Persönlichkeit für sich und ein Energiebündel. Er saß vorm Spiegel, wischte die letzte Schminke von den Augenbrauen und erweckte selbst bei dieser prosaischen Arbeit den Eindruck eines sprungbereiten Balls, der bei der geringsten Berührung hochschnellen und wieder in Aktion sein würde.

Nettie segelte hinein und kam sofort zur Sache. »Will, hier ist dein Privatdetektiv.«

Will sprang hoch, ging schnurstracks auf Auguste zu und schüttelte ihm heftig die Hand. »Das ist großartig von Ihnen, Mr. Didier, wirklich sehr freundlich.« Er strahlte über das ganze Gesicht.

»Ich habe versucht klarzustellen, Mr. Lamb, daß ich Koch bin«, wehrte Auguste ab. »Zwar bin ich im Aufspüren von Verbrechen nicht ganz unerfahren, habe aber doch den Eindruck, daß ich nicht der rechte Mann bin, um Sie zu schützen.«

Die beiden Frauen wechselten einen Blick, und Gwendolen kicherte. »Kochen können Sie dort, soviel Sie wollen«, erklärte Nettie fröhlich. »Das haben wir schon geklärt.«

Augustes Panik wich vorsichtigem Interesse.

»Kochen?«

»Im Old King Cole bietet man in der Bar auch Speisen an – nicht bloß Getränke. Hat sich zu einer bekannten Lokalität in der Umgebung gemausert«, ließ sie leichthin fallen. »Ein Koch wird gesucht, und Will braucht jemand zu seinem persönlichen Schutz.«

Auguste sah sie argwöhnisch an. »Und wie soll ich beides zusammen bewerkstelligen?«

»Natürlich gibt’s noch anderes Personal, hat Percy gesagt. Ich bringe Will zum Theater, Sie schlüpfen hinter die Bühne und lassen ihn nicht aus dem Auge. Können sich ja die Auftritte ansehen. Das meiste taugt nichts. Percy kann das Gängige auf der Speisekarte bieten, also nicht nur Würstchen und Kartoffelbrei.«

Will wirkte irritiert. »Harry?« murmelte er nur.

»Ja.« Nettie war nicht zu überhören. »Harry Pickles. Mein Mann, auch wenn’s keiner vermutet; wir sehen uns kaum. Toll, daß du dran gedacht hast. Ehemann Nummer drei«, klärte sie Auguste auf. »Ich hab ihn vorgewarnt; wenn er nicht sauber bleibt, ist er aus dem Rennen, dann kann Will Nummer vier spielen.«

»Ich wüßte nicht, was ich lieber täte, Nettie«, meinte Will kühn.

»Mach dir keinen Kopf, Alterchen. Ich mag dich viel zu sehr, als daß ich dir das wünschte.«

Auguste spürte einen Gran Betroffenheit hinter dem prahlerischen Gehabe. Es war allgemein bekannt. Nettie war in keiner ihrer Ehen glücklich geworden. »Mr. Lamb, haben Sie irgendeinen Grund zu der Annahme, daß man Sie umbringen will?« fragte Auguste jetzt entschieden und kam damit auf den Kern der Sache zurück.

Will war deutlich bange zumute. »Hab’s geträumt«, rechtfertigte er sich.

»Träume sagen nicht die Wahrheit«, entgegnete Auguste erleichtert.

»Bei Will schon«, gab Nettie beklommen zu bedenken.

Erst jetzt fiel Auguste ein, daß Will wiederholt einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte und gar nicht so robust war, wie er schien. Trotzdem, einem bloßen Traum durfte man nicht zuviel Bedeutung beimessen. Will schützend zur Seite zu stehen dürfte keine allzu aufwendige Aufgabe werden, und der zeitweilige Job als Koch könnte sogar spannend sein. Ob Tatjana mit der ganzen Sache einverstanden sein würde, blieb fraglich, geschweige denn Seine Majestät. Aber schließlich würden beide nichts davon erfahren, beschwichtigte er sich selbst.

»Er hat von Bill Terriss geträumt. Der war ein Freund von ihm«, erläuterte Nettie düster.

Auguste verstand sofort: Der Mord an dem bekannten Schauspieler William Terriss vor ein paar Jahren am Bühneneingang des Adelphi; irgendein Verrückter von den Statisten bildete sich ein, daß Terriss seinen Aufstieg zum Hauptdarsteller vereitelt hatte. Theaterwelt und Publikum waren gleichermaßen erschüttert. Welcher vernünftig denkende Mensch hätte Terriss umbringen wollen – oder Will Lamb?

Als könnte Nettie seine Gedanken lesen, bekräftigte sie: »Ich hab ihm gesagt, es ist einfach lächerlich, stimmt’s, Will?«

»Nein.« Will Lambs große Augen waren voller Trauer, als er sie alle ansah. »An dem Tag, als Bill starb, hatte mir seine Zweitbesetzung am Vormittag erzählt, er hätte die Nacht zuvor geträumt, wie Bill auf der Treppe lag, von Leuten umringt, unter ihnen die Hauptdarstellerin, seine Partnerin, und dann wäre er gestorben. Und am gleichen Abend wiederholte sich quasi sein Traum, bloß da war’s Wirklichkeit. Träume können sehr wohl Vorwarnungen sein.«

Schon möglich, dachte Auguste, aber selbst wenn man sie als solche erkennt, wie soll man sich verhalten? Laut und vernehmlich aber sagte er: »Dann gehen Sie bitte nicht nach Wapping. Lassen Sie Miss Turner allein auftreten.«

Verständnislos starrte ihn Will an. »Unmöglich. Ich muß dorthin. Ich muß einfach. Verstehen Sie das nicht?«

»Nein, Will«, bekannte Nettie offen. »Wenn es nur wegen des Frauenzimmers ist, dann mach einen anderen Treffpunkt aus, Mann!«

»Das geht nicht, Nettie«, erwiderte Will ruhig. »Ich hab’s versprochen, weißt du. Du verstehst das nicht. Wir …« Er sprach nicht weiter, aber sein Gesicht war erregt, ähnlich einem Kind beim Weihnachtsstück, das aufgeregt verfolgt, wie sich der Vorhang hebt.

»Sind diese Träume Ihr einziger Anhaltspunkt?« fragte Auguste bestimmt, durch die plötzliche Erregung neugierig geworden. Ein Kind, ein Kind, das ein Geheimnis hat.

Will schüttelte traurig den Kopf. »Nein.«

»Was ist denn noch passiert?« Auguste war nicht mehr ganz so gehobener Stimmung.

»Da kommen immer solche Warnungen.« Will fummelte in seiner Manteltasche herum und fischte ein zusammengeknülltes Stück Papier heraus. Aus irgendwas Gedrucktem waren Buchstaben herausgeschnitten und aufgeklebt. Die Botschaft war unmißverständlich.

»Laß die Finger vom Old King Cole.« Unterzeichnet war es mit »Der Rabe«.

»Diese Woche habe ich jeden Tag eine bekommen«, bekannte Will bedrückt.

»Und wann hatten Sie den Traum?« fragte Auguste.

»Dienstag, oder war es Mittwoch? Doch, es muß Mittwoch gewesen sein, wegen des süßsauren Eis. Am Dienstagabend speise ich immer Kaviar oder auch Austern, jedenfalls würde mir mein Koch nie süßsaure Eier und Austern offerieren; es muß also Mittwoch gewesen sein«, gab Will strahlend zur Auskunft.

»Ich verstehe.« Auguste meinte, was er sagte. »Die Zettel könnten den Traum ausgelöst haben.«

»Sie meinen, Bill hätte die Briefchen geschrieben?« Will war perplex.

»Nein, Sie haben den Mord an Bill mit der Morddrohung und Ihrer Person in Zusammenhang gebracht.«

»Aber er war heute abend hier.«

»Wer?«

»Bill.«

Auguste blickte zu Nettie hinüber, und sie kam ihm zu Hilfe.

»Will, alter Kumpel, du hast ein Bier über den Durst getrunken.«

»Nein, nein. Er war hier. Ihr habt ihn gehört, ihr müßt ihn einfach gehört haben.« Will sah beschwörend von einem zum anderen. »Ich hab gehört, wie er rief: ›Gräßlich, schrecklich!‹ Genau das hat er gerufen. Genau das hat der arme Bill ein paar Tage vorher zu seiner Frau gesagt, ehe er ermordet wurde. Er hat zu ihr davon gesprochen, daß man ihn mit einem Messer umbringen würde. Und so war es dann auch.«

»Aber das ist doch ein rein zufälliges Zusammentreffen der Dinge«, redete ihm Auguste beruhigend zu.

»Und die Briefe?« fragte Will verängstigt; er hätte sich gerne eines besseren belehren lassen.

»Warnung von einem Freund«, versuchte es Gwendolen beherzt. »Sollen dich daran erinnern, daß Percy ein durchtriebener Bursche ist. Oder kommen von jemandem, der eifersüchtig ist.«

»Unterzeichnet mit ›Der Rabe‹?« fragte Auguste. Wenn es Grund zur Besorgnis gab, mußte Will auf der Hut sein. Ihm wider besseres Wissen Sicherheit vorgaukeln durfte man nicht.

Will ergriff Augustes Hand und schüttelte sie erneut kräftig. »Ich mag Sie, Mr. Didier«, versicherte er ihm und meinte es ganz ernst.

»›Selbst der Rab‹ ist heiser‹«, zitierte Auguste mehr für sich selbst, als drei Augenpaare sich entgeistert auf ihn richteten. »Aus Macbeth«, erklärte er erschrocken. »Es ist nur eine Anspielung auf Ihren Auftritt.«

»Sie haben wörtlich zitiert, wie konnten Sie nur!« Nettie klang barsch.

»Ich weiß, Sie sind Franzose, Mr. Didier«, mischte sich Gwendolen besänftigend ein. »Sie können nicht wissen, daß es bei uns den Aberglauben gibt, daß es Unglück bringt, wenn man im Theater hinter der Bühne aus diesem Stück zitiert oder auch nur den Titel erwähnt.«

»Nichts für ungut, Mr. Didier«, meinte Will fröhlich. »Man macht den bösen Fluch zunichte, wenn man das Zitat gleich darauf rückwärts sagt. Resieh tsi bar red tsbles. Blödes Kauderwelsch. Kein Wunder, daß der arme Vogel durcheinanderkommt. Und wenn wir schon davon reden …« Er schnatterte munter drauflos, ließ Auguste Zeit, sich von seinem Schrekken zu erholen, und griff schließlich zu seinem Theaterdolch mit der einziehbaren Klinge. »Sehen Sie, ich bin bewaffnet, und da Sie sich nun einverstanden erklärt haben, mein Privatdetektiv und Koch zu sein, kommt kein Mordstahl an mich heran.«

Hatte er sich einverstanden erklärt? Auguste konnte sich nicht erinnern, etwas in dieser Richtung gesagt zu haben. Er reagierte trotzdem mit einem Lachen. In jedem Fall ließ sich aus der Sache etwas machen. Was würde er kochen können? Wie würde er eine völlig neue und aufgeschlossene Klientel für die Gaumenfreuden an Speisen à la Didier erwärmen können? Er würde ihnen zu nie geahnten Genüssen verhelfen. Er würde es Alexis Soyer gleichtun, der seine Rezepte für reich und arm zubereitet und niedergeschrieben hatte. Möglicherweise eröffnete sich ihm ein völlig neuer Abschnitt seiner Cuisine. Schon wahr, nach seiner Heirat im vergangenen Jahr hatte ihm Seine Majestät untersagt, das Kochen gewerblich zu betreiben; aber das hier ließe sich als eine Art Caritas ausgeben, und selbst wenn nicht, es war ziemlich unwahrscheinlich, daß Buckingham Palace etwas von seinen Abenteuern in Wapping zu Ohren kommen würde. Schon ergriff ihn Erregung. Tatjana würde frühestens in zehn Tagen von ihrem Straßenrennen aus Frankreich zurückkommen, und die Langeweile der zehn Tage ohne sie hätte auf diese Weise ein Ende. Er könnte kochen.

Es stimmte zwar, er würde auch ein Auge darauf haben müssen, daß niemand Will Lamb umbrachte, aber das dürfte, wie er sich einredete, nicht weiter kompliziert werden. Irgendwie klangen diese Warnzettel nicht ernsthaft nach Mord. Im Gegenteil, man konnte fast meinen, Will hätte sie selbst erfunden, um seine Träume glaubhafter zu machen in dem merkwürdigen Zustand, in dem.er sich befand. Die Fortbildungskurse für Arbeiter waren zwar eine gute Sache, aber es war doch recht unwahrscheinlich, daß jemand vom Old King Cole ein Zitat von Shakespeare parat hatte. Bei seinem optimistischen Herangehen ignorierte Auguste zwei Tatsachen. Erstens basierten die meisten Lieder und Zwischentexte, die Will sang und sprach, auf Shakespeare, und insofern hatten die Zeilen durchaus ihre Relevanz. Und zweitens war der Name St. George’s Street, wo Old King Cole lag, vielleicht zwanzig, dreißig Jahre alt. Davor hatte die Straße anders geheißen – Ratcliffe Highway – und war wegen häufiger Mordfälle berüchtigt.

Unbeirrt bahnte sich eine in der Gegend unbekannte Person in Jackett und Mütze aus derbem Stoff ihren Weg durch Obst- und Gemüsestände in der Whitehorse Street; sie war mit der London-Blackwall-Bahn gekommen und von der Endstation in die Commercial Road eingebogen. Egbert Rose pfiff nachdenklich vor sich hin, während er Richtung St. Dunstan Kirche und Stepney Green stapfte. Als er sich vergewissert hatte, daß ihm keine neugierigen Blicke folgten, verschwand er nach rechts in ein Gewirr enger Straßen, Gassen und Höfe. Einige davon waren in Mr. Booths Karte der Armenviertel von London dunkelblau oder schwarz markiert. Es war eine Karte von 1889, aber er fand, daß die Farben auch heute nach dreizehn Jahren noch ihre Berechtigung hatten, während er immer tiefer in das unüberschaubare Elendsquartier eintauchte. Viel dreckiger konnte es einem kaum gehen, in manchen dieser Bruchbuden hausten ganze Familien in einem einzigen muffigen Zimmer.

Er überquerte die Eastfield Street, zog an den niedrigen Häusern vorbei, wo eins dem anderen glich, und zwang sich, nicht hinzusehen, in welchen Unrat er gerade trat. Er mußte sich unbekümmert geben und stur geradeaus blicken. Die Umwelt nahm sehr wohl von ihm Notiz, Kinder, die im Rinnstein spielten, Frauen, die in den Türen standen und ihn argwöhnisch beäugten. Fremde fielen auf und wurden auch nicht gleich vergessen. Unwillkürlich hielt er den Griff seines schäbigen Koffers, die Rechtfertigung für sein Auftauchen in dieser Gegend, fester umklammert. Für kurze Zeit verschwand er in einem der Seitengänge, und als er wieder auftauchte, sah man ihn rasch den Weg, den er gekommen war, zurückgehen und in einen der kleinen Innenhöfe einbiegen, die überall von der Straße abzweigten. Er hatte sein Ziel erreicht.

»Morgen, Ma«, rief er laut. Die Luft war unerträglich feucht und heiß, Dampfschwaden quollen unten aus einer Tür. Gleich darauf kam aus eben dieser Tür Ma Bisley gewatschelt, das breite, strahlende Gesicht, der geschürzte Rock umrahmt von wallendem Waschküchendunst.

»Wie kann man nur Montagvormittag kommen, wo der Waschkessel in Gang ist. Muß schließlich von was leben«, ranzte sie ihn freundlich an.

Er schüttelte unmißverständlich den Kopf. »Steht zuviel auf dem Spiel, Ma, kann keine Rücksicht auf große Wäsche nehmen.« Um ihn herum, fein säuberlich geordnet, mit Auftragszetteln versehene Bündel, die Mangel, Waschbretter, Bügeleisen, alles, was zu ihrem Broterwerb gehörte. Zu dem einen Teil des Broterwerbs, um es genauer zu sagen; der andere Teil bestand darin, für ihn mit Hilfe eines Trupps von Kundschaftern, die sich nach strikt vorgegebenen Richtlinien bewegten, Informationen heranzuschaffen.

»Worum geht’s diesmal?«

»Weiß noch nicht recht, Ma. Kann ’ne Seifenblase sein, vielleicht aber auch ein dicker Hund.«

Seine Majestät hatte die ungute Nachricht vom Verschwinden der Lisboa geradezu mit philosophischem Gleichmut hingenommen. Es hatte Rose nicht den Kopf gekostet, nicht einmal seinen Job, was er eigentlich erwartet hatte. Man würde den britischen Botschafter in Portugal informieren, man würde den portugiesischen Botschafter in Großbritannien informieren, man würde – das kam schon weniger enthusiastisch – die britische Öffentlichkeit informieren, daß das Kreuz spurlos verschwunden sei und daß es äußerst unwahrscheinlich wäre, daß die portugiesische königliche Familie auch nur im entferntesten etwas damit zu tun hatte. Der Diebstahl aus Windsor Castle sei von angeblichen Vertretern der portugiesischen Regierung begangen worden, zweifelsohne von verkleideten Anarchisten. Man hätte dem Personal seine Mißbilligung ausgesprochen, weil es nicht die Legitimationspapiere kontrolliert hatte, ebenso der hauptstädtischen Polizei, weil sie die Schurken nicht gefaßt hatte.

Rose hatte innerlich geschäumt und mit gebotener Zurückhaltung geäußert, die Staatsschutzabteilung würde vermutlich Wert darauf legen, einbezogen zu werden, wenn es sich bei den Tätern um Anarchisten handele. Das hatte ihm einen strafenden Blick eingebracht und den Leitsatz: »Politik ist Politik, und Eigentum ist Eigentum.« In seiner Erleichterung, daß es ihn nicht seine Stellung gekostet hatte, hatte er erst am Sonntag den Braten gerochen – und es war diesmal nicht Ediths angebranntes Roastbeef. Er hatte sogar auf sein abendliches Glas Bier im Queen’s Arms verzichtet, um der Spur nachzugehen. »Gibt’s was Neues über die Leiche?« schrie er dem unglücklichen Grey am Telefon zu.

»Ja, Sir. Wie gesagt, ein Gelegenheitsarbeiter, Jack Knight hieß der Kerl, lungerte in den Three Tars im Limehouse-Viertel herum, war auf Arbeit längst nicht so scharf wie auf seine Halben Porter. Eintritt des Todes zwischen drei und vier.«

»Und das ziemlich weit weg von der Gegend, wo er sonst rumhing, stimmt’s?«

»So einer wie der nimmt, was sich bietet.«

Rose wußte Bescheid, Männer wie der hingen in den Pubs herum und warteten darauf, daß die Arbeit zu ihnen käme, sie waren nie ernsthaft auf Arbeitssuche, anders als diejenigen, die die Sache energischer angingen und täglich die Tore zu den Docks stürmten in der Hoffnung, für ein paar Stunden Arbeit zu finden. Sie holten und schleppten Waren, legale oder illegale, zu den Schiffen, stellten keine Fragen. Das war der Grund, warum die meisten »sicher« waren. Doch diesen hatte man um die Ecke gebracht, und das ganz schön weit ab vom Schuß.

Als könne Grey Gedanken lesen, teilte er mit: »Wir haben die Pubs rings um Nightingale Lane überprüft, falls Sie glauben, er war in eine Schlägerei verwickelt, nachdem er seine Knete ausgegeben hatte.«

»Einträglicher Job, Juwelen befördern«, sagte Rose nachdenklich. »Muß ihm ein schönes Stück Geld eingebracht haben.«

»Vielleicht war’s Tante Maisies Verlobungsring, oder er lief als Hehler für Onkel Sam. Wir gehen dem nach.«

»Familie?«

»So einer wie der hat keine.«

»Die kommen nicht einfach aus dem Nichts. Er sah nicht so aus, als würde er nachts draußen schlafen; irgendwohin muß er sein müdes Haupt gebettet haben. Und wenn’s nur Medland Hall war.« Er mußte an das Obdachlosenasyl denken und an die langen tristen Schlangen, die sich jeden Abend dort bildeten, Menschen, die hoffnungsvoll und doch hoffnungslos darauf warteten, daß um sieben Uhr aufgemacht wurde.

»Angehörige haben sich nicht gemeldet. Ich kann nicht die Zeit meiner Leute sinnlos vertun. Er hat etwa um halb drei einen Auftrag bekommen, ich hab Zeugen. Einer kann sich erinnern, daß er eine Pastete gekauft hat zum Mitnehmen. Hilft das weiter? Wenn Sie den Namen seines Lehrers vom Waisenhaus brauchen, lassen Sie es mich wissen.«

Falls Grey das sarkastisch gemeint hatte, wurde er enttäuscht. Rose dankte ihm herzlich und hing den Hörer ein. Er war’s zufrieden. Er witterte immer noch etwas, nur war ihm der Fisch erst einmal entglitten.

»Hab ’ne Leiche in der Nightingale Lane, Ma«, sagte er jetzt.

»Was treibt ’n honorigen Hauptinspektor von Scotland Yard in so’ne Ecken wie Nightingale Lane?«

»Ein Schiff, die Lisboa, ist Sonnabend ausgelaufen. Ein silbernes Kreuz mit Edelsteinen, gehörte Prinz Heinrich dem Seefahrer. Sagt Ihnen das was?«

»Nicht die Bohne.«

Ma konnte nicht lesen, Debatten in den Zeitungen, in der besseren Gesellschaft oder unter der Intelligenz gingen an ihr vorbei, so hoch die Wellen auch schlugen. Fragte man sie nach Jimmy Longtooth und ob er immer noch seine alten Tricks draufhatte oder ob ein neuer Charlie Peace oder eine Kate Webster in ihrer Umgebung aufgetaucht waren, dann war sie bestens im Bilde, als wäre sie Mycroft Holmes in Person.

»Sonnabend früh ist das Kreuz aus Windsor Castle gestohlen worden, und ich bekam einen Hinweis, es würde mit der Lisboa fortsegeln. Die Lisboa lief aber zwei Stunden früher aus, noch ehe ich am Pier war. Und in Nightingale Lane gab es einen Toten.«

»Eklige Geschichte. Dreckig wie die langen Unterhosen von so ’nem Dockhandlanger.«

»Haben die so was überhaupt an?«

»Selten.«

Er verstand, was sie meinte, und überlegte. Dann schüttelte er den Kopf. »Nur weil der König mit drinhängt, heißt das noch lange nicht, daß ich Unrat rieche inmitten schönster Rosen, Ma. Bei der Leiche lag ein kleiner Granat.«

Sie sah ihn scharf an. »Sie glauben, man hat ihm das Kreuz geklaut?«

»Ja. Warum sollte man ihn töten, wenn er das Kreuz schon übergeben hatte?«

»Damit er nicht reden kann.«

»Aber warum gibt man ihm dann erst den Auftrag? Er kam von Limehouse, also hat sich jemand der Sache angenommen. Da stimmt was nicht, Ma. Können Sie nicht mal rumhorchen. Es eilt.«

»Auf der Nachmittagsrunde. Na, dann reichen Sie mal Ihre Wäsche rüber. Punkt sieben haben Sie sie zurück.«

Der zerbeulte Koffer wurde säuberlich mit einem Auftragszettel versehen und wanderte zu den anderen, noch schäbigeren Packen.

Rose schaute in seinem Büro, das den Blick auf den Fluß unten freigab, aus dem Fenster. Eigentlich hätte er die Amtsstube Twitch überlassen müssen, nach seiner Beförderung hätte ihm der leichter zugängliche Raum im ersten Stock zugestanden. Aber er hatte nicht umziehen wollen. Besser erreichbar zu sein, war nicht, woran ihm lag. Wenn Leute ihn brauchten, würden sie den Weg zu ihm finden, und wenn es sie störte, die paar Stufen zu ihm hochzusteigen, sollten sie es bleiben lassen und mit ihren Problemen allein zu Rande kommen. Eine einfache Überlegung, aber sie hatte den gewünschten Effekt, und er behielt seine Aussicht auf die Themse. Das tat seinem Gemüt gut. Die Themse floß durch die Stadt und dann hinaus in die offene See. Den Fluß störte es wenig, ob er am House of Lords oder an den Kais von Limehouse vorbeifloß; er trug seine Leichen und seine Geheimnisse so oder so mit sich.

Der einzige Haken an seiner Entscheidung, das Büro hier oben beizubehalten, war der, daß Twitch großmütig befunden hatte, es ihm gleichzutun; auch er lehnte es ab, in ein anderes Zimmer zu ziehen, wozu ihn seine Beförderung zum Inspektor berechtigt hätte. So hatte er immer noch sein Domizil direkt nebenan, der seinem Herrn treu ergebene Terrier, der darauf wartet, daß man ihm einen Knochen zuwirft. Zu seiner eigenen Überraschung hatte Rose diese Treue irgendwie gerührt. Aber er unterdrückte jegliche innere Bewegung und stellte tagsüber seine übliche bissige Gereiztheit zur Schau.

Inspektor Stitch (Twitch war der Name für ihn, den Rose nicht nur still für sich benutzte) hatte eine positive Seite – er lieferte, was man von ihm verlangte. Nicht wie Grey, der die Sachen auf dem Fluß davonschippern ließ.

»Sie haben nach mir gerufen, Sir?« Stitch stand immer noch unter dem Eindruck, er sei Rose zu Dank verpflichtet, weil der sich nicht seiner Beförderung in den Weg gestellt hatte. Unrecht hatte er damit nicht. Besser, man kennt den Teufel, mit dem man es zu tun hat, war Roses Leitsatz.

»Ja. Ist der Sektionsbefund von der Leiche in den Docks schon da?«

»Ja, Sir, hab ihn gerade gelesen.«

»Bringen Sie ihn mir, mein Bester.«

Twitch errötete angesichts so ungewohnter Freundlichkeit, verschwand und tauchte mit einer Behendigkeit wieder auf wie der Teufel im Kasperletheater. Rose überflog den kurzen Bericht. »Ende dreißig, Eintritt des Todes zwischen drei und vier, wie Grey gesagt hat.« Ungemein hilfreich. Das hieß, er hatte sein Päckchen abgeliefert oder auch nicht. »Reste unverdauten Essens …«

»Was interessiert Sie besonders an dem Fall, Sir?«

»Vermutlich gar nichts, bloß – Seine Majestät ist da gewissermaßen drin verwickelt.«

»Wenn der Mensch von Limehouse zu den London Docks gelaufen ist, um ein Päckchen abzuliefern, warum, in aller Welt, liegt dann die Leiche in der Nightingale Lane?« fragte Stitch feierlich.

»Vielleicht war er darauf aus, sich seinen Hinrichtungsplatz selbst auszusuchen«, erwiderte Rose sarkastisch.

»Kann aber auch sein, daß er sein Päckchen dort übergeben hat, Sir. Wenn es eine geheime Mission war, wollte er es wahrscheinlich gar nicht auf dem Schiff machen.«

»Bei einem Treff also, oder was? Manchmal wachsen Sie über sich hinaus, Stitch.«

»Ich weiß, Sir«, murmelte Stitch verwirrt. »Und dann«, er war jetzt in seinem Eifer nicht zu bremsen, »hat ihn der Kapitän oder der Kontaktmann vom Schiff per Instruktion umgebracht.«

Rose sah ihn an. »Tja, warum nicht«, grunzte er. »Oder man hat ihn auf dem Weg zum Schiff umgebracht und das Kreuz gestohlen. Und bei dem Handgemenge ist ein Granat herausgefallen.«

»Aber warum Nightingale Lane? Von Limehouse aus gesehen ist das am anderen Ende der Docks.«

»Vielleicht ist er mit dem Zug gekommen, Stitch«, gab Rose nachsichtig zu bedenken.

Twitch sank in sich zusammen, und mitleidig fügte Rose hinzu: »Wenn das Kreuz gestohlen wurde, noch ehe es die Lisboa erreichte, ist es noch im Lande.«

»Wieso, Sir?«

Rose starrte ihn an. »Weil …« Er hielt inne. »Wir verlieren uns, Stitch. Wir müssen zum Kern der Dinge zurück. Falls es sich um einen eindeutigen Diebstahl handelt, warum sollte man ein Kreuz stehlen, das von Material und Gestaltung her nicht viel wert ist? Gerade das ist das Besondere an dem Fall.«

»Ihre Wäsche aus Stepney, Sir.« Ein Sergeant, der vorwurfsvoll nach Luft rang, war hereingekommen und brachte den Koffer.

Roses Augen leuchteten auf. »Haben Sie den Boten bezahlt?«

»Ja, Sir. Sechs Shilling.«

Rose zählte gelassen das Geld hin; Stitch verfolgte den Vorgang sprachlos. Er nahm sich vor, dem Chief später die Wäscherei Pestlethwaite in Clapham zu empfehlen, die es viel billiger machen würde.

Aber der Chief hatte seine Eigenarten, ihn störte es sicher nicht mal, wenn es sich um eine chinesische Wäscherei handelte. Wenn er seine Martha dabei ertappen würde, daß sie seine Wäsche von irgendwelchen Chinesen waschen ließe, sie würde die ganze Wäsche noch mal machen müssen. Er versuchte, sich Martha als mit Egbert Rose verheiratet vorzustellen, und es schauderte ihn – ihretwegen. Aber Gott sei Dank hatte sie ja ihn, Alfred Stitch.

Sobald Twitch gegangen war, inspizierte Rose den Koffer. Er fand darin das nämliche Paar Socken, das er abgeliefert hatte, jetzt frisch gewaschen, dazu eine weitere Dienstleistung. In einem der Strümpfe steckte ein Stück Papier, das er neugierig herauszog. Es war eine Programmvorschau für eine Music Hall, für das Old King Cole. Er ging sie rasch durch: Nettie Turner mit dem Eselslied, Will Lamb spielt Macbeth, Pickles singt … Alle im Old King Cole.

Er mußte lächeln, weil ihn die Erinnerung überkam. Es handelte sich um eine der Music Halls, die früher einmal zu seinem Revier gehörten. Er griff zum Telefonhörer, sprach laut, aber liebenswürdig mit dem Fräulein vom Amt. Kurz darauf hatte er den nörgligen Grey dran. »Schön, daß ich Sie erreiche, Grey«, hub Rose in aller Verbindlichkeit an, »Sie erinnern sich doch an das Schiff, das leider vorzeitig ausgelaufen ist. Wir müssen da noch ein paar Erkundigungen einziehen. Sie haben doch nichts dagegen?«

Hatte Grey natürlich nicht, die Sache ging ihn ja zum Glück kaum etwas an.

Das Old King Cole war nicht mit dem Empire zu vergleichen. Entgeistert schaute sich Auguste seine neue, Gott sei Dank nur vorübergehende Wirkungsstätte an. Und das sogenannte Restaurant erst war alles andere als ein Carlton Escoffiers. Er versuchte sich einzureden, daß er dankbar dafür sein sollte, daß er hier kochen durfte, doch auf den ersten Blick schienen die Bedingungen eine Zumutung. Er war vom Tower bis zum Theater zu Fuß gegangen, wollte sich mit der Umgebung vertraut machen. Er konnte sich glücklich schätzen, überhaupt angekommen zu sein. Vierschrötige Banditen waren zwar nicht über ihn hergefallen, und die Stadtverwaltung hatte alles Erdenkliche getan, um das Straßenbild zu verbessern. Aber die hohen Speicher am Hafen rechter Hand, die wenig einladenden Läden und Kneipen, die übelriechenden Gassen erweckten den Eindruck, als hätten alle Bemühungen lediglich bewirkt, den Abschaum der Gesellschaft von der Hauptstraße zu schaffen und mit Gewalt im Abseits zu halten; dort lauerte er auf den passenden Moment, sich auf den Ahnungslosen zu stürzen. Auf so einen wie Auguste Didier. Vor den Pubs drückten sich Matrosen und Schauerleute herum, beobachteten ihn. Er war froh, die Music Hall ungeschoren erreicht zu haben.

Das Old King Cole, unweit der Kirche St. George’s-in-the-East, war einmal ein einfaches Wirtshaus gewesen, eine am Wege liegende Absteige vor den Toren Shadwells, nicht besser und nicht schlechter als andere Kneipen. Im 19. Jahrhundert hatte man den Einfall gehabt, das in Verruf geratene Ansehen des Ratcliffe Highway aufzupolieren und auch die Straße umzubenennen. Ein ehrgeiziger Wirt nutzte die Gunst der Stunde und versah den alten, anrüchigen Bierschuppen mit einem Anbau, um eine Music Hall daraus zu machen. Er ließ eine reichlich überladene Varietébühne für das gehobene Publikum entstehen, wie er in der Reklame behauptete, mit Logenrang, Galerie, bequemem Gestühl und gepflegter Atmosphäre. Nur vergaß er bei seinem Werben um höherstehende Kreise seine Stammkunden. Die blieben genau dieselben, die der Gastwirtschaft den Stempel aufgedrückt hatten. Als der Stadtrat von London mit neuen Vorschriften das Anbieten von Speisen und Getränken im Zuschauerraum erst einschränkte und schließlich untersagte, gab der Wirt das Ringen um Respektabilität auf. Der neue Besitzer, Percy Jowitt, zeigte ebenfalls Ehrgeiz und machte aus der langen Bar im Parterre einen Grillroom, der bald zu einem gewöhnlichen Speiselokal verkam. Aber langsam anziehende Preise bewirkten nach und nach eine gewisse Änderung des Publikums. Angesehene Bürger konnten jetzt ihre Frauen und sogar ihre Töchter ins Old King Cole ausführen. Jowitt schwelgte in Zufriedenheit, wenn auch nicht lange. Frauen und Töchter, mußte er feststellen, tranken selten so viel wie ihre männlichen Begleiter. Über kurz oder lang sah er sich in einem ständigen Kampf, einerseits sich solch großartige Gäste, die er dem Old King Cole zuführte, zu erhalten und andererseits seine Stammkundschaft zu überzeugen, dem nicht jünger werdenden Darstellertrupp treu zu bleiben, den er sich mit einem halben Dutzend ähnlicher Etablissements im Umkreis von drei Meilen teilte. Jowitt war jetzt in den Sechzigern, ein lebhafter, dunkelhaariger, rühriger Mann, immer hin- und hergerissen zwischen der düsteren Realität und seinem Optimimus hinsichtlich zukünftiger Möglichkeiten.

Auguste stand in der Tür und betrachtete die verräucherte, übelriechende Hölle, die er sich in seinen kühnen Träumen als Paradies vorgestellt hatte. Er gab sich einen Ruck. Wenn so ein mittelmäßiger Koch wie Alexis Soyer in den vornehmsten Hotels kochen konnte, dann würde er, Auguste Didier, doch wohl aus dieser Höhle wenigstens annähernd eine Stätte machen können, wo es sich essen ließ. Der Geruch von Speiseresten und schmutzigen Tellern schlug ihm entgegen und wurde durchdringender, je näher er an die Theke kam.

»Gekocht wird vorrangig unten, wo die Bratroste und Herde sind«, bedeutete ihm Jowitt aufmunternd. »Hier oben halten wir nur warm, und die Kartoffeltöpfe sind draußen.«

Was er sagte, ging praktisch an Auguste vorbei, denn er beäugte gerade ein übelriechendes warmes Gericht.

»Frikadellen in Senfsoße«, erläuterte Jowitt stolz.

»Wie bitte?«

»Angebot des Tages für den Montag. Muß abends, wenn’s hier voll wird, nur aufgewärmt werden. Heiß einen Penny, kalt nur drei Farthing. Abends bieten wir dann die ganze Palette: Hering, Knackwurst, Erbspüree, Rosinenpudding, Labskaus …«

Auguste spitzte die Ohren, ganz sachte schienen seine guten Geister, die ihn allesamt verlassen hatten, zurückzukehren. Labskaus? Woran sollten sich die Gäste laben? Er hatte noch nie von diesem Gericht gehört. Hatte es was mit Fisch zu tun? Mit Hummer vielleicht? Da wäre er in seinem Element, Hummer mit Pilzen und Rahmsoße, Hummersalat …

»Und Aal«, hörte er Jowitt sagen.

»Matelote à la Parisienne?«

»Was für ’n Ding?«

»In der Kasserolle zubereitet, mit Weißwein, Austern, Langustenbutter und einer Spur Muskatnuß.«

Percy hielt das für einen Scherz, reagierte brav mit schallendem Gelächter und setzte noch eins drauf: »Im Schlafrock oder in Aspik?«

Auguste starrte ihn verwirrt an.

Jowitt beachtete das nicht weiter. »Meistens nehmen es alle halb und halb.«

Auguste durchforschte sein gesamtes kulinarisches Wissen, aber wieder wußte er nichts mit dem eben Genannten anzufangen. »Ist das eine hiesige Bezeichnung für ein Fischgericht?« fragte er unsicher.

Percy blickte verständnislos drein. »Fisch und Kartoffeln, halbe, halbe.« Er fragte sich im stillen, ob dieser Koch sich in seinem Gewerbe überhaupt auskannte.

»A la lyonnaise?« Auguste sprach nicht weiter, stille Verzweiflung packte ihn. Sie kamen nicht auf einen Nenner. Er war auf sich gestellt. »Ich kann nicht alles selbst machen, kochen und gleichzeitig bedienen«, erklärte er entschieden. »Und auch noch Getränke ausschenken.«

»Natürlich nicht, mein Lieber«, pflichtete ihm Percy hastig bei; er war froh, daß er davon etwas verstand. »Das erwarte ich gar nicht. Selbstverständlich steht Ihnen Personal zur Verfügung. Wir haben da das Mädchen.«

»Welches Mädchen?«

»Das Küchenmädchen eben.«

»Und wie heißt sie?«

»Ist mir entfallen. Aber bestimmt hat sie ’n Namen«, meinte Percy entschuldigend und strich sich das merkwürdig schwarze Haar glatt. »Und um die Getränke kümmert sich der alte Jacob. Da haben Sie gar nichts mit zu tun.«

»Sie dürfen nicht vergessen, daß ich auch noch eine andere Aufgabe hier habe«, fuhr Auguste fort; Percys Worte hatten ihn nicht recht überzeugen können.

»Ich weiß, uns die Polizei vom Halse halten. Finde ich prima von Ihnen.«

»Quoi?« entfuhr es ihm. Höfliche Formulierungen waren hier nicht am Platz.

»Als Nettie mir Ihre Dienste anbot, war ich ihr wirklich dankbar, mein Lieber. Die denken, sie können mir diesmal an den Kragen.«

»Aber …«, Auguste verstummte. Es lohnte nicht. Er hatte eine Riesenwut auf Frauen, weniger wegen ihrer Verschlagenheit als vielmehr wegen ihrer unbekümmerten Nichtbeachtung von Details … daß sie zum Beispiel die, die es am meisten anging, nicht ins Bild setzten, was eigentlich los war.

»Darf ich fragen, ob Sie gegenwärtig mit mehr als einem Gerichtsvollzieher rechnen?«

»Mit denen rechnet man nicht«, erklärte Percy, und das war durchaus einleuchtend. »Wenn die kämen, wenn man mit ihnen rechnet, würde man sich ja wohl vorher verdünnisieren und seinen Kram wegschaffen, oder?«

Auguste hatte sich nie in der unglücklichen Lage befunden, die Feststellung auf ihre Wahrheit hin zu überprüfen, wenngleich er in seinen Lehrjahren einmal nahe daran war. Die Logik in Jowitts Argumentation war jedenfalls eindeutig. Wie auch immer, man schien von ihm zu erwarten, daß er für Unmengen von Gästen kochte, das nie enden wollende Bedürfnis nach Bier stillen half, dafür sorgte, daß die Schuldeneintreiber Mr. Jowitt in Ruhe ließen und daß er obendrein Will Lamb ständig beschattete, um einen möglichen heimtückischen Mord zu verhindern. Zum Glück blieb er nur eine Woche hier.

»Soll Ihnen helfen.«

»Je m’excuse?« Verschreckt sah Auguste nach unten, versuchte die Quelle des undeutlichen Gepiepses auszumachchen.

Etwa in Brusthöhe offenbarte sich ihm die dreckigste weiße Mütze, die ihm je vorgekommen war; die war über langes, zerzaustes, fettiges Haar gestülpt, darunter ein Besenstiel, beziehungsweise bei genauerem Hinsehen ein Mädchen, so mager, wie er noch keins gesehen hatte. Unter den zu kurzen Röcken steckten dünne, bloße Knöchel in Schuhen, die die Maulsperre hatten. Über das Kattunkleid war eine schmuddlige Schürze gebunden. Die wäre nicht nötig gewesen, denn das Kleid war ohnehin schmutzig genug. Zutraulich reckte sich ihm ein Gesicht entgegen, das sich zu einem breiten Grinsen verzog und Zahnlücken freigab.

»Ich bin Lizzie.«

»Sind Sie die Serviererin, Miss Eliza?« fragte er matt.

»Nee, Ihre Köchin.«