Mord als Vorspeise - Amy Myers - E-Book

Mord als Vorspeise E-Book

Amy Myers

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Verein zur Verehrung literarischer Genies versammelt sich dieses Mal im englischen Badeort Broadstairs, um drei Tage lang seinem Genius des Jahres - Charles Dickens - zu huldigen, der hier häufig seine Ferien verbrachte. Nur ein exzellentes Festbankett, zubereitet von Meisterkoch Auguste Didier, konnte den Prince of Wales dazu bewegen, das Opfer der Ehrenpräsidentschaft über diese Zusammenkunft auf sich zu nehmen. Das Festbankett wird ein Erfolg, aber bei der anschließenden Lesung aus "Oliver Twist" sinkt der Vorleser mitten in der Mordszene tot zu Boden. Vergiftet ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 434

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über Amy Myers

Amy Myers wurde 1938 in Kent geboren. Sie studierte an der Reading University englische Literatur, arbeitete als Verlagslektorin und war bis 1988 Direktorin eines Londoner Verlages. Seit 1989 ist sie freischaffende Schriftstellerin. Sie ist mit einem Amerikaner verheiratet und wohnt in Kent. Amy Myers schreibt auch unter dem Namen Harriet Hudson und Laura Daniels.

In ihren ersten Ehejahren arbeitete ihr Mann in Paris, und sie pendelte zwischen London und der französischen Hauptstadt hin und her. Neben vielen anderen Dingen mußte sie nun lernen, sich auf französischen Märkten und den Speisekarten französischer Restaurants zurechtzufinden. Dabei kam ihr die Idee, einen französischen Meisterkoch zum Helden eines klassischen englischen Krimis zu machen: Auguste Didier war geboren. Alle Kriminalromane von Amy Myers erscheinen im Aufbau Taschenbuch Verlag.

Irmhild und Otto Brandstädter, Jahrgang 1933 bzw. 1927, haben Anglistik an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert, waren im Sprachunterricht bzw. im Verlagswesen und kulturpolitischen Bereich tätig. Sie übertrugen Werke von Sean O’Casey, Jack London, John Hersey, Masuji Ibuse, Louisa May Alcott, Charles M. Doughty, John Keane, Joseph Caldwell sowie Historio-Krimis von Amy Myers, Ingrid Parker und Peter Tremayne ins Deutsche.

Informationen zum Buch

Der Verein zur Verehrung literarischer Genies versammelt sich dieses Mal im englischen Badeort Broadstairs, um drei Tage lang seinem Genius des Jahres – Charles Dickens – zu huldigen, der hier häufig seine Ferien verbrachte. Nur ein exzellentes Festbankett, zubereitet von Meisterkoch Auguste Didier, konnte den Prince of Wales dazu bewegen, das Opfer der Ehrenpräsidentschaft über diese Zusammenkunft auf sich zu nehmen. Das Festbankett wird ein Erfolg, aber bei der anschließenden Lesung aus »Oliver Twist« sinkt der Vorleser mitten in der Mordszene tot zu Boden. Vergiftet. War etwa die Vorspeise schuld?

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Amy Myers

Mord als Vorspeise

Aus dem Englischen von Irmhild und Otto Brandstädter

Inhaltsübersicht

Über Amy Myers

Informationen zum Buch

Newsletter

Vorbemerkung der Verfasserin

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Impressum

Für meine Mutter und im Gedenken an meinen Vater, auf dessen Bücherbord ich meine erste Bekanntschaft

mit Mr. Dickens machte

Vorbemerkung der Verfasserin

Broadstairs ist heute ein ebenso reizender Ort wie damals, als Auguste Didier dort weilte, und das Royal Albion Hotel mit seinen Erinnerungen an Dickens gedeiht weiterhin in der Albion Street. Die Leute jedoch, die in diesem Roman dort zu Gast sind, habe ich frei erfunden, ebenso das Imperial Hotel.

Für ihre Unterstützung möchte ich Mr. Peter Roger (Royal Albion Hotel) und Mr. Alan Robinson danken, sowie den Mitarbeitern der Stadtbibliotheken von Lenham, Broadstairs und Margate. Von den gedruckten Quellen war mir Cedric Dickens’ Buch »Dining with Dickens« (Bei Dickens zu Tisch) besonders dienlich. Mein Dank gilt ferner meiner Mutter, die mich hinsichtlich der viktorianischen Mode beriet; meinem Agenten Dot Lumley und meiner Verlagslektorin Jane Morpeth, die mir beide ständig Mut gemacht und mir vielfach geholfen haben.

1. Kapitel

»Wer hat denn das verbrochen?« stöhnte Auguste Didier. Mit gesenkten Köpfen standen seine sechs Adlaten da, während er verzweifelt die verschnörkelte Silberplatte betrachtete und die Kreation, die darauf ruhte.

»In fünf Minuten, mes amis« fuhr er grimmig fort, denn von den Beschuldigten machte keiner Anstalten, etwas einzugestehen, vielleicht auch, weil alle sechs nichts Tadelnswertes erkennen konnten, »wird der Prince of Wales hier dinieren – und da soll ihm diese Abscheulichkeit vorgesetzt werden?« Er wies verächtlich auf das Geflügel, das mit Foie gras und Perigord-Trüffeln gefüllt war. »Le Maître Escoffier kreierte Poularde Derby eigens für Seine Königliche Hoheit, und Sie machen diese Schöpfung einfach zuschanden. Daß Schüler der Auguste-Didier-Schule für Kochkunst eines solchen Mißgriffs überhaupt fähig sind!«

»Was stimmt denn daran nicht, Mr. Didier?« erkundigte sich James Pegg unbeirrt. Pegg war ein Engländer um die dreißig, etwas langsam im Denken. Er traute sich mehr als die anderen und fand nichts dabei, eine Poularde Derby ein Huhn mit Lebern gestopft zu nennen.

Auguste starrte ihn an. »Das Aspik«, erwiderte er nur, verblüfft, daß man das nicht auf den ersten Blick sah.

»Oh, das war ich, Mr. Didier«, kam es fröhlich von Alice Fenwick.

»Sie, Mademoiselle Fenwick?« Auguste verschlug es die Sprache. Wenn sonst bei keinem aus der Gruppe, bei ihr erwartete er Sinn fürs Detail. Sie hatte die Gabe der Perfektion wie selten jemand, vielleicht war sie ihr als Tochter eines Offiziers gewissermaßen schon in die Wiege gelegt, jedenfalls erklärte es sich Auguste so. Aber schließlich unterläuft auch dem Gewissenhaftesten mal ein Fehler, selbst er, Auguste Didier, hatte schon größere Sünden begangen, zum Beispiel dem Pudding in der englischen Küche nicht die gebührende Aufmerksamkeit gezollt. »Dieses grauenvolle Etwas entstammt Ihrer Hand? Das ist doch kein Aspik. Es hat nicht die geringste Ähnlichkeit damit.« Er betrachtete finster ihr etwas knochiges Gesicht. Sie mußte sich wohl der Schwere ihres Vergehens bewußt sein. Ja, sicher, im tiefsten Herzen war sie unglücklich. Er wurde weicher, mitfühlender.

»Es ist ja nur eine Garnierung, Maître«, ließ Algernon Peckham von oben herab hören.

Das Wörtchen »nur« war nicht angebracht im Umgang mit Meistern der hohen Kochkunst, schon gar nicht bei Auguste Didier.»Nur eine Garnierung«, knirschte er durch die Zähne. »Nur das Wichtigste des ganzen Gerichts, nur die Girlande, die verkündet, hier kommt des Ebers Kopf, nur die Kerzen, die das Festgelage des Monsieur de La Reynière eröffnen, nur der bedeutsame Vorbote aller Genüsse, die noch kommen. Sage mir, wie das Aspik ist, und ich sage dir, wie das ganze Gericht ist«, donnerte er. »Fleischaspik, Mademoiselle Fenwick, darf in seiner Konsistenz den Löffelrücken nur eben überziehen. Das Ergebnis darf nicht hin- und herschwabbeln wie Monsieur Peggs blanc-manger; es muß zart und schmiegsam sein wie der Arm einer Frau«, verkündete er, kratzte vorsichtig und geschwind die anstößigen Aspikklümpchen ab und kaschierte die Stellen mit Croutons und Foie gras. »Beherzigen Sie das, mes amis.« Ein letzter Madeira-Trüffel vollendete das Werk. »Voilà. Das wär’s. So kann sich die création unseres Maître Escoffier sehen lassen.« Auguste gab den beiden Dienern ein Zeichen; die standen in ihrer hellblauen Livree parat; daß Emma Pryde, die überschwengliche Besitzerin von Gwynnes Hotel, heute nicht da war, bekümmerte sie nicht.

Die gute Emma. Er hatte es ihr einfach nicht abschlagen können, für diesen Abend die Küche zu übernehmen, ging es doch um das Galadiner zu Ehren des Prince of Wales. Sie selbst war unpäßlich, konnte sich mit ihren Windpocken nicht sehen lassen.

Gwynnees Hotel in der Jermyn Street hatte einerseits den Ruf, ein bißchen frivol zu sein, andererseits gestand man ihm Solidität zu, mit einem gewissen Etwas. Der Besuch des Prince of Wales unterstrich letzteres. Denn bei dieser Gelegenheit würde Seine Königliche Hoheit nicht wie in früheren Tagen mit der Dame seiner Wahl diskret in einem Séparée speisen, sondern sich an öffentlicher Tafel zeigen, und sogar mit den höchst ehrenwerten Mitgliedern der Gesellschaft zur Verehrung literarischer Genies. Nur ein erstklassiges Dinner hatte den Prince of Wales bewegen können, ein solches Zeremoniell über sich ergehen zu lassen, war er doch für dieses Jahr 1899 Präsident der Gesellschaft. Und diese Garantie bot Emma auf Ansuchen (und bei generöser Zahlung) der auf literarische Genies Erpichten. Aber Emma war Opfer ihrer Pusteln geworden und konnte nicht wie sonst in der Küche ihr autoritäres Regime führen. So hatte Auguste sich bereit gefunden, die Situation zu retten, wenn auch unter einer Bedingung: er würde die sechs Eleven seiner Kochkunstschule mitbringen; mit fremdem Personal könne er nicht arbeiten. In schöner Einfalt hatte er bei sich gedacht, das würde ihm Lorbeeren einbringen und seinen Schülern praktischen Gewinn.

Doch nun packte ihn Verzweiflung. Hatte er sich das gut überlegt? Um den Verein zur Verehrung literarischer Genies ging es ihm weniger, wohl aber um den Prince of Wales. Der erste Gang war vorüber – die Suppe, sole à la Batelière, die Rebhuhnpastete und die anderen Vorspeisen. Sein Blick glitt über die leeren Schüsseln, die man herausbrachte, und ihm wurde leichter ums Herz. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung. Mit dem Pragmatismus eines wahren Künstlers verdrängte Auguste das soeben aufgetragene Huhn und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die nun fällige Absegnung der entremets, der süßen und der herzhaften.

Trotzdem war er nicht ganz bei der Sache. Er hatte versagt im Leben, zumindest schien es ihm so. Gestern, am 24. Juli 1899, hatte er Geburtstag gehabt, seinen vierzigsten, und wie hatte er ihn verbracht? Allein, wie ein Versager. Nun ja, was seine Figur betraf, so war er noch schlank; auch seine dunklen Augen verfehlten nicht ihre Wirkung, wie damals, als er in den Küchengefilden von Stockbery Towers regierte. Und das war auch klar, viele beneideten ihn um seine Karriere. Dennoch mußte er sich jetzt der Tatsache stellen, daß es ihm, dem Meisterkoch, in sechs Monaten nicht gelungen war, seinen Schülern beizubringen, wie man ein glasklares Aspik herstellte. Und daß dabei gerade Alice versagte, ausgerechnet sie! Gelatine aus der Tüte. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, daß sie dazu fähig wäre. Wie sollte aber auch ein trauerndes Herz sich zu den Höhen der Kochkunst aufschwingen? Tatjana – nein, an seine schwarzhaarige russische Prinzessin mit den dunklen Augen durfte er nicht denken. Für einen quälenden Moment war sie ihm zum Greifen nahe gewesen, nur um dann für immer davonzuflattern. Oder Natalia – es durchzuckte ihn. Nein, er mußte sich seiner Kunst widmen, einzig und allein ihr. Nie wieder sollte ein Weib sein Gemüt beschweren – genauso wenig Tütengelatine in seinem Vorratsschrank Platz finden.

Sein finsteres Gesicht alarmierte seine Untertanen.

»Es ist doch alles in Ordnung, ja?« erkundigte sich Heinrich Freimüller beflissen. Er war der Älteste in der Klasse, Anfang fünfzig, und fühlte sich oft als Beschützer des kleinen Häufleins.

Auguste warf einen Blick auf die entremets: Langustensalat, timbale de macaroni à la Mazarin – schrecklich, die Schwierigkeiten, die gerade damit entstanden waren. Vergeblich hatte er Emma zu überzeugen versucht, daß Seine Königliche Hoheit solche stärkereichen Speisen nicht mochte. Emma hatte nur ihr Lächeln aufgesetzt, mit dem sie einen rasend machen konnte, und erklärt, sie wisse in jeder Hinsicht, was der Prince of Wales mag und was nicht. Dem konnte er nichts entgegensetzen.

Dann gab es Charlotte Romanow heute abend – nicht einfach Charlotte Russe wie sonst, sondern sein eigenes spezielles Rezept (mit Wodka) zu Ehren seines Patrons, des Großfürsten Igor von Rußland, dem Auguste zu verdanken hatte, daß er von seinen Verpflichtungen im Plums Club entbunden worden war, wenn auch mit Bedauern, um in einem Haus in der Curzon Street die Auguste-Didier-Schule für Kochkunst zu eröffnen. Es war ein seltener Anfall von Großmut gewesen, und selbst den hatte Auguste nicht, wie er glaubte, Igor zu verdanken, sondern Natalia Kallinkowa, die tanzend und nicht ganz ohne Schuldgefühl aus seinem Leben entschwunden war. Im Grunde genommen nichts weiter als eine Dankesgeste für erwiesene Hilfe bei den unseligen Vorkommnissen, in die der Großfürst in der vorangegangenen Saison in Cannes verstrickt war.

Und schließlich gab es noch eine pièce montée, die das königliche Wappen darstellte, Baiser und Zuckerwatte, ein Meisterwerk des Konditorgewerbes.

»Vielen Dank, Miss Dawson«, kommentierte Auguste anerkennend. Eigenartig, daß solche exotischen Köstlichkeiten der Hand einer Miss Emily Dawson entsprangen, einer ehemaligen Gouvernante, Ende zwanzig. Wo in ihrem früheren trostlosen Dasein, als sie sich um die Kinder anderer Leute kümmerte, hatte sie sich diese Kunstfertigkeit aneignen können, um diesen Traum von Dessert zu erschaffen? Bei der einfachen Kost in Kinderstuben jedenfalls nicht. Aber ihre Augen verrieten eine Sehnsucht nach Höherem, vielleicht hatte sie sich deshalb für seine Schule entschieden.

»Monsieur Soyer war der Meinung«, gab Algernon Peckham zu bedenken, »man solle nie versuchen, Gäste mit Speisen zu beeindrucken, die komplizierte Gebilde aus der Natur oder Kunst darstellen.«

Auguste strafte ihn mit einem Blick eindeutigen Mißfallens. »Danke, Monsieur Peckham«, schoß er zurück. »Man hatte Monsieur Soyer allerdings auch nicht gebeten, dem Prince of Wales ein Festmahl zu bereiten, der damals zu seinem Glück noch in den Windeln lag.«

Peckhams Hang, die Sprüche von Alexis Soyer zu zitieren, war Auguste ein ständiger Pfahl im Fleische und ging ihm weit mehr auf die Nerven als dessen wichtigtuerische Art, wenn er vor den anderen mit Auguste über die französische Küche diskutierte; er nahm sich das heraus, weil er kurz vor Beginn des Kurses ganze zwei Wochen in Frankreich verbracht hatte. Auguste fragte sich oft, warum es ihm widerfahren mußte, ausgerechnet in seiner Klasse einen Alexis-Soyer-Jünger zu haben, was heißt Jünger, einen geradezu fanatischen Anhänger. Was auch immer Auguste verkündete, alle seine Äußerungen wurden an den Lehrsätzen Soyers gemessen, obwohl der schon über vierzig Jahre tot war. Alexis Soyer, Chefkoch des Reform Club, Ernährer der Armen, Erfinder der Suppenküchen für die von der Hungersnot geplagten Iren, der Mann, der für das leibliche Wohl von Reichen und Armen gleichermaßen sorgte, Retter der Krim, Erfinder der Sparöfen, Schöpfer der Köstlichkeiten auf dem Gastronomie-Symposium der Nationen im Gore House verfolgte Auguste auf Schritt und Tritt. Mit seinem eigenen Meister, Auguste Escoffier, bei dem er in Cannes in die Lehre gegangen war, verband ihn eine herzliche Freundschaft, aber Soyer, der den Vorteil nutzte, tot und somit unsterblich zu sein, machte sich hämisch an ihn heran und verdüsterte seine Tage. Ihn wieder auferstanden zu sehen in einem dreisten, großspurigen jungen Mann wie Algernon Peckham, war nun wirklich das letzte. Er gab sich große Mühe, Nachsicht zu üben, sagte sich immer wieder, daß Peckham erst dreiundzwanzig war, aber Nachsicht konnte einen hart ankommen, wenn ein hochstrebender Soyer insgeheim jedes seiner Gerichte bekrittelte.

Die Schule existierte jetzt sechs Monate, und er konnte sich mit seinen ersten sechs Schülern glücklich schätzen. Alle mit einem hohen Niveau, eine Mischung aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft, alle hatten sich dem hehren Gewerbe der Zubereitung von Speisen verschrieben und arbeiteten gut zusammen. Vier Männer, Heinrich Freimüller von der deutschen Botschaft, James Pegg, der große, stämmige Sohn eines Tierarztes, der ehrgeizige Algernon Peckham, ängstlich darauf bedacht, seine Herkunft zu vertuschen – er war Sohn eines Fleischermeisters, und das sah jeder, sobald er nur ein Filetstück aufschnitt –, und Lord Alfred Wittisham, Emma Prydes liebenswürdiger und irgendwie nichtssagender Protégé, der nur auf ihr Drängen hin zu Auguste gekommen war. Er verkündete völlig entwaffnend, da für ihn offensichtlich nichts anderes in Frage käme, hätte Emma gemeint, vielleicht würde aus ihm einmal ein guter Koch. Zu seiner eigenen Verwunderung und auch der der anderen, machte er sich wirklich ausgesprochen gut.

Dann gehörten noch zwei Frauen zur Gruppe, Alice Fenwick (die entschlossen war, eine neue Emma Pryde und obendrein Lady Wittisham zu werden), und Emily Dawson. Beide waren ungefähr gleichaltrig, auch wenn man es von ihrem Äußeren her nicht vermutete. Die neunundzwanzigjährige Alice, mit hellen Augen, hübsch und immer guter Dinge, bildete einen eigenartigen Gegensatz zur ruhigen Emily, die immer nur dann lebhaft wurde, wenn sie über eines der Hausmittel aus dem schier unerschöpflichen Vorrat ihrer Großmutter redete.

Eine bunte Mischung und, wie er zugeben mußte, auch eine wenig aufregende. Aber viele Rezepte wirkten auf den ersten Blick nicht anders. Die Kunst der Meisterkochs war gefragt, um aus uninteressanten Zutaten ein erregendes Ganzes zu schaffen. Doch hier hatte ihm das noch nicht gelingen wollen. Er seufzte. Ja, er brauchte Urlaub, wollte er hier nicht auch versagen.

»Nein«, schrie Heinrich Freimüller auf. »Was machen Sie da, Fräulein?« Seine gewohnte Fröhlichkeit war wie weggeblasen, als er sich umdrehte und sah, wie Emily Dawson sein Dessert mit einem klebrigen Etwas von Sahne verunzierte. »Auf meine Nesselrode-Pastete kommt keine Sahne!« protestierte er.

»Nichts geht über einen hübschen Tupfer Schlagsahne«, erklärte Emily mit seltener Bestimmtheit. »Die Verzierung der Nachspeisen ist mein Bereich, da redet mir keiner rein.«

»Das ist doch keine Verzierung. Das ist die reinste Schändung. Die Pastete ist hin. Carême hat keine Sahne in seinem Rezept vorgeschrieben, Francatelli auch nicht, nicht einmal Ihre Miss Acton. Nein, aber eine Miss Emily Dawson besteht auf Sahne.« Seine Stimme überschlug sich in seinem hilflosen Jammer, und er hämmerte wütend auf den Tisch.

Emily brach in Tränen aus und ließ den Spritzbeutel auf die Canapés de Prince de Galles fallen, und schon waren lauter Sahnekügelchen auf den Anchovis und den Gürkchen.

»Meine Kanapees«, brauste Algernon Peckham auf und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Das kommt davon, wenn man Kindermädchen in die Küche läßt«, herrschte er Emily an.

»In diesem Ton spricht man nicht mit Damen«, mischte sich Lord Wittisham schockiert ein und reichte Emily ein blütenweißes Taschentuch.

»So was kann nur der Sohn eines Metzgers sagen«, entfuhr es der schluchzenden und sonst so schüchternen Emily.

Algernon lief rot an bei diesem doppelten Angriff auf seine Herkunft und wollte zurückschlagen, aber Augustes frenetisches »Les anges« bremste ihn; der Verzweiflungsschrei war kein Flehen um himmlischen Beistand, sondern Reaktion auf einen brenzligen Geruch. Alfred Wittisham ließ Emily stehen und stürzte zum Herd, wobei er mit Alice Fenwick und James Pegg zusammenstieß, die ihn beide verehrten. Letzterer fungierte als eine Art Schutzbulldogge seiner Lordschaft, der ihn sich rein zufällig untertan gemacht hatte. Im guten Glauben, daß James Pegg seine Abende mit Vorliebe in vornehmen Clubs verbrachte, hatte er ihn einmal zu Plums zum Essen eingeladen. Von da an war es James’ erklärtes Ziel, seine Lordschaft vor den Zudringlichkeiten einer Alice Fenwick zu bewahren, ob aus Eifersucht, weil Alice seinen Antrag schnöde zurückgewiesen hatte, oder ob aus rein altruistischem Verlangen, seine Lordschaft vor dem Ehestand zu bewahren, war nicht klar. Wie auch immer, das Ganze entbehrte jeder Grundlage, denn Lord Wittisham, dem derlei Bemühungen von Alices Seite überhaupt nicht aufgefallen waren, hegte eigene Heiratspläne, von denen keiner aus der Gruppe eine Ahnung hatte.

Schweigend betrachteten die sechs Schüler der Auguste-Didier-Schule für Kochkunst die drei verdorbenen entremets; ihr Meister stand neben ihnen, die Schmach ließ ihn keine Worte finden. Doch das Gebot der Stunde trieb ihn zum Handeln, und Auguste verzierte die Nesselrode-Pastete geschickt mit marrons glacés, kaschierte so die weißen Flecken, die nach dem Abheben der Sahne noch zu sehen waren, schob die Sahne auf den Kanapees zu Gebilden zusammen, die als plötzliche Eingebung des Meisterkochs gelten mochten, und vertraute eine neue Serie Engelsrollen der Bratpfanne an.

»Ein Koch«, erklärte er mit Nachdruck, »muß sich in jeder Lage zu helfen wissen.«

Der unmittelbare Schaden war behoben, aber Augustes Sorgen wollten sich nicht zerstreuen. Sechs Monate lang hatten sie in scheinbar bester Freundschaft zusammengewirkt, und plötzlich schien alles in die Brüche zu gehen. Wahrscheinlich brauchten sie alle Urlaub. Und der stand ja Gott sei Dank unmittelbar bevor.

Er war auf die Idee gekommen, mit seiner Klasse zwei Wochen Fischkochferien zu machen. Es war Juli, und da konnte man gut Arbeit und Urlaub miteinander verbinden. Sie würden dort hinfahren, wo es alle Engländer im Sommer hinzog: an die Küste. Sicher würden alle ihren Spaß haben. In dem Sinne, wie es die Engländer verstanden, war er noch nie an der See gewesen, und er freute sich darauf, die vielgepriesenen Vergnügungen auszukosten. Für Franzosen war es ein befremdlicher Gedanke, in exzentrischer Garderobe zu flanieren, sich Marionettenspiele anzusehen, wenn man das ebenso gut im Jardin des Tuileries haben konnte; noch alberner schien es, in unförmige glitschige Badekarren zu klettern, in denen man sich umzog und unkleidsame, scheußliche Sachen überstreifte und sich von großen Pferden ins Wasser ziehen ließ. Warum konnte man solche Badekuren nicht mit einigem Komfort in einem Kurort im Inland machen, wo man respektable Mahlzeiten genießen und sich mit dem Gedanken beruhigen konnte, davon herrührende Nebenwirkungen am nächsten Tag bei der Kur zu vertreiben?

Trotz alledem, Auguste Didier wollte nichts auslassen und alles mitmachen, wollte selbst ausprobieren, was es mit einem Badeort an der See auf sich hatte. Außerdem fiel noch der freie Montag, ein Bankfeiertag, in die Zeit ihres Aufenthalts dort. In all seinen Jahren in England hatte er zwar schon viele Bankfeiertage erlebt, aber der gute Egbert hatte gemeint, die könne er vergessen im Vergleich zu dem, was sich an solchen Tagen in einem Badeort an der See abspielte. Nun gut, er würde ja sehen. Und noch etwas kam dazu: sie bekämen den Fisch für ihre Kochkünste frisch aus dem Meer, sie würden ihn direkt vom Fischer oder beim Fischhändler auf dem Markt kaufen. Allein das mußte ein Vergnügen sein. Keine schlaffe, unfrische, traurige Ware wie so oft in London. Nicht ständig geräucherter Fisch, wie sonst überall in den Städten. Sondern frischer Seefisch, frische Krabben …

»Mr. Auguste«, wurde er plötzlich in seinen Tagträumen unterbrochen, »wie wirkt der Prince of Wales auf einen, wenn man ihm zum ersten Mal begegnet?«

»Wie eine Flunder«, erwiderte Auguste gedankenverloren.

Ein Blick in Alices verdutztes Gesicht brachte ihn auf den Boden der Realität zurück. Schamröte stieg ihm ins Gesicht. Man hatte ihn ertappt, er war in der Küche und mit den Gedanken woanders. Wie oft hatte er seine Schüler wegen dieses gräßlichen Vergehens gerügt. Sogleich wandte er seine Aufmerksamkeit wieder voll und ganz dem allein Wesentlichen zu: dem Menü. Broadstairs mußte warten.

Interessante Note, dieses Sahnehäubchen. Einige Etagen höher widmete sich der Prince of Wales mit Hingabe den Kanapees, die seinen Namen trugen. Er ließ sich das nicht anmerken, hatte er sich doch lange genug in der Kunst geübt, nach außen hin höfliche Aufmerksamkeit zu mimen und sich insgeheim mit ergötzlicheren Dingen zu beschäftigen. Einmal allerdings blieb er mit seinen Gedanken kurz beim eigentlichen Thema des Abends hängen. Warum, in aller Welt, hatte er es geschehen lassen, daß man ihn dieses Jahr zum Ehrenpräsidenten machte? Und ausgerechnet bei diesen Verehrern literarischer Genies. Wer denkt denn schon groß an Verpflichtungen, wenn man einen Brief diktiert mit dem üblichen, fühle mich sehr geehrt und so weiter. Und ehe man sich’s versieht, sitzt man in der Patsche. Keineswegs nur Poularde Derby. Weit gefehlt. Nichts als Ungelegenheiten bringt einem das ein. Goodwood ist nicht mehr zu vernünftiger Zeit zu erreichen, und dabei fängt morgen die Regatta an. Und dann muß man sich von Cowes geradezu losreißen und sich die Begängnisse im Royal Yacht Club entgehen lassen, denn soviel steht fest, für die »Britannia« wird es eine siegreiche Woche werden. Alles wegen eines dämlichen Dinners mit diesen Literaturschwärmern. Und dann noch Dickens. Und ausgerechnet Broadstairs, ein Ort, den er immer mit Mama verband, weil die ständig davon schwärmte, wieviel Spaß sie dort gehabt hätte, als sie jung war. Spaß! Nirgendwo konnte man da eine hübsche Runde Bakkarat spielen. Gott sei Dank ging es ja bald nach Marienbad. Allerdings Engelsrollen würde es in Marienbad nicht geben. Zumindest nicht solche wie die hier. Er konzentrierte sich wieder auf das Essen. Bei dem Poularde Derby mußte er an frühere Zeiten und Monte Carlo denken. Er seufzte. Da war nicht dran zu rütteln, er kam in die Jahre. Ging auf die sechzig zu. Monte Carlo war passé. Aber les poulardes wenigstens blieben. Alles, was recht ist, der Koch hier war famos.

Er schauderte bei dem Gedanken, was man in Broadstairs auf den Tisch bringen würde. Sein Blick wanderte über die Tischrunde. Diese sechs Vorstandsmitglieder des Vereins zur Verehrung literarischer Genies stärkten keineswegs sein Vertrauen in ihre Fähigkeit, eine akzeptable Suppe Brown Windsor zu servieren, geschweige denn Poularde Derby. Bei dem heutigen Menü mußte Emma ihre Hand im Spiele gehabt haben. Toller Bursche, den sie da angeheuert hatte. Doch diese sechs hier! Das junge Weib hatte vielleicht was zu bieten, schon möglich; aber der Laffe da, hatte einfach die Stirn, ein kurzes Smokingjackett zu tragen. Wo, zum Teufel, war er denn? In Amerika? In all diesen Vereinen galt noch immer, daß die alten Herren den Ton angaben. Das war korrekt und wie es sich gehörte, es sei denn, es tangierte Albert Edwards leibliches Wohl.

»Der Abend wird Ihnen ganz gewiß gefallen, Königliche Hoheit«, flötete ein gräßlich aussehendes Frauenzimmer. Irgendwann hatte er schon mal mit ihrem Mann zu tun gehabt, der arme Teufel. Muß irgendwo in der City gewesen sein. »Besonders die Lesungen nach dem Bankett. Wie schade, daß Sie nicht schon nachmittags zum Rundgang durch Broadstairs da sein können, wenn wir die Stätten aufsuchen, wo er wandelte und sein Haupt bettete.« Sie senkte die Stimme ehrfurchtsvoll bei dem Gedanken an den Helden des Jahres. »Broadstairs war für ihn nur ›unser englisches Seebad‹. Und wie er es liebte. Sie würden es genauso empfinden. Es wäre zu schön, wenn Sie die ganze Woche mit dabei sein könnten!« Vor Begeisterung geriet ihre Stimme in eine höhere Tonlage; der Prince of Wales aber machte sich eine hastige Notiz, daß abgesichert werden mußte, daß Mama ihn am Sonntag zum Lunch nach Osborne einlud und seine Yacht »Osborne« (wenn diese Namensgebung nicht sinnfällig war!) unbedingt erst nach der für die Nachmittagstortur festgesetzten Zeit einlief.

»Wirklich schade«, pflichtete er ihr seufzend bei. »Ein höchst verdienstvoller Schriftsteller, Ihr Mr. Dickens.«

»Mein Geschmack ist mehr Thackeray«, warf ein rundlicher Herr ein, der trotz seiner geäußerten Vorliebe der Leibesfülle nach eher Mr. Pickwick glich.

Um ein Haar hätte Albert Edward sich einen Schnitzer geleistet. Er war noch immer mit den Gedanken bei der köstlichen Speisenfolge Auguste Didiers und wollte sich gerade dafür interessieren, wessen Küchenchef Mr. Thackeray wohl sei, als sich der Vorsitzende der Gesellschaft, Sir Thomas Throgmorton, einmischte und ihn vor dem Fauxpas rettete.

»Was mich betrifft«, erklärte Sir Thomas schwülstig, «so halte ich Mr. Dickens für einen Genius, dem keiner das Wasser reichen kann. Stellen Sie sich eine Reihe Lesungen von Thackeray vor.« Der Prince of Wales konnte das nicht. »Vergleichen Sie das mit der ganzen Palette eines Dickens, angefangen mit dem unsterblichen Pickwick bis hin zu der düsteren Majestät von ›Bleak House‹. Von den Stimmungen eines Scrooge bis zu der grimmen Pracht von ›Oliver Twist‹. Ich selbst werde«, er hüstelte verlegen, »nach dem Bankett aus diesem dramatischen Werk lesen.« Unterdrücktes Schnauben von »Mr. Pickwick«, wie der Kronprinz bei sich den glühenden Verfechter Thackerays getauft hatte.

»Sie sind immer großartig«, flüsterte das weibliche Geschöpf von vorhin, wenn auch mit leicht sarkastischem Unterton, wie es dem Prinzen schien. Er wurde munter. Ein bißchen Zank auf dem Hühnerhof belebte mitunter solche Begebenheiten. »Es war nämlich die Lesung aus ›Oliver Twist‹«, säuselte sie dem Prinzen zu, »die zu seinem Tod geführt haben soll.«

»Zu wessen Tod?« fragte der Prinz verdutzt.

»Zum Tod unseres verehrten Genies«, erklärte sie. »Seine Ärzte hatten ihm abgeraten, die Anstrengung des Vorlesens würde zu viel für ihn sein, aber er bestand darauf. Sein Publikum ging ihm über alles.« Mit einem Spitzentaschentuch wischte sie sich eine Träne ab. In ihre Erläuterungen drang ein Schnarchen aus einer Ecke. Der Prince of Wales strafte den Verursacher mit einem frostigen Blick, als der aus seinem friedvollen Refugium auftauchte. Albert Edward reagierte empfindlich auf gesellschaftliches Fehlverhalten in seiner Gegenwart, auch wenn es um ältere Herren ging.

»Ich werde aus ›David Copperfield‹ lesen«, fuhr das Weibsbild unerbittlich fort, »und zwar die Agnes Wickfield.«

In einem seltenen Anflug von Phantasie schien es dem Prince of Wales, die Rolle der literaturbeflissenen Dame aus den »Pickwickiern« passe besser zu ihr, aber seine höflich gespielte Zustimmung verriet auch nicht einen Augenblick, was er dachte.

»Und was werden Sie darbieten?« Sein Blick wanderte entspannt zu dem harmlos wirkenden weiblichen Wesen ihm gegenüber, und selbstgefällig tönte es aus ihr: »Ich werde den Tod der kleinen Nell lesen.«

»Die ergreifende Szene aus dem ›Raritätenladen‹. Sie werden sich erinnern, Sir, die amerikanischen Leser strömten jedesmal in Scharen zum Anlegeplatz, wenn das Schiff aus England mit der neuesten Fortsetzung festmachte, waren sie doch begierig zu erfahren, ob das tapfere Geschöpf noch am Leben war oder nicht«, ergänzte der junge Mann.

Albert Edward blickte ihn scharf an. Parodierte er etwa jemanden? Möglicherweise ja, denn Sir Thomas klang deutlich gereizt, als er rasch erwiderte: »Jedoch starb sie eines natürlichen Todes. Ganz anders meine Nancy, die den ruchlosen Händen des Bill Sikes zum Opfer fiel.«

Diese literarische Konversation war nicht zu ertragen. Ein Schatten des Unmuts huschte über das Gesicht des Prince of Wales, und im gleichen Moment setzte Sir Thomas noch eins drauf: »In Broadstairs, Sir, werden Sie von einem Mord erfahren, von einem höchst schnöden, zu Herzen gehenden Mord.«

Auguste lehnte sich erleichtert zurück. Es war überstanden. Er und seine Schüler setzten sich an Gwynnes größten Tisch in der Küche, um nun selbst Abendbrot zu essen, ehe sie das Gefilde räumten und Emmas Leuten die weniger ersprießliche Aufgabe des Abwaschens überließen. Normalerweise bestand Auguste darauf, daß das ebenfalls von seinen Schülern erledigt wurde und legte auch selbst mit Hand an, aber heute abend war das etwas anderes. Sie waren gastierende Künstler. Jeder seiner Mitstreiter befaßte sich nun damit, stillschweigend zu prüfen, wie gelungen die Gerichte der anderen waren. Bunt zusammengewürfelt wie der Trupp war, so erkannten sie doch einhellig – und Auguste betrachtete das in aller Bescheidenheit als sein Verdienst –, das hohe Niveau der Cuisine an, die sie bei Auguste Didier und keinem anderen erlernen konnten. Die merkwürdigsten Typen hatte die Kochkunst zusammengeschweißt. Wer hätte je gedacht, daß der so nichtssagende, der Oberschicht angehörende Lord Wittisham sich eines sturen und ganz und gar nicht aristokratischen James Pegg annehmen würde? Konnte sich hinter Peggs langsamen Bewegungen nicht durchaus etliche Intelligenz verbergen, fragte sich Auguste. Aber er wurde abrupt aus derlei Betrachtungen gerissen, denn die Tür flog krachend auf, und sieben aufgeschreckte Augenpaare richteten sich auf den Eindringling.

»Ach, nur Monsieur Sid«, stellte Auguste beruhigt fest.

»Verzeihung, Mr. Didier«. Sid, oder Mr. Sidney Hands, um ihn bei vollem Namen zu nennen, für diesen Abend in die Livree von Gwynnes Hotel gekleidet, war Augustes Faktotum in der Curzon Street, ein Bursche von neunzehn Jahren aus Stepney. An sich war er quicklebendig und wuselte einem immer überall zwischen den Beinen herum, aber heute abend hatte er ausdrücklich an der Tür der Suite Posten beziehen müssen, im Grunde genommen, um darüber Bericht zu erstatten, wie die Gesellschaft auf die ihr vorgesetzten Köstlichkeiten reagierte.

»Einer von ihnen hat gesagt, ich sei wie Sam Waller, Mr. Didier«, verkündete Sid aufgeräumt. »Wer ist das? Lewis Waller kenn ich.«

»Weller, Sid, nicht Waller. Und Mr. Sam Weller hat nichts mit dem bedeutenden, populären Schauspieler zu tun. Der kommt bei Dickens vor.«

»Dickens.« Sid ging ein Seifensieder auf. »Genau über den haben die da oben geredet. Über so’n Bankett, das sie veranstalten wollen. Das ist’n Schriftsteller, stimmt’s? Hab mal ‘n Stück von dem in ‘ner Bude auf’m Rummel gesehen. ›Die wahre Geschichte von Oliver Twist‹. War nicht furchtbar lang – vielleicht zwanzig Minuten. Zum Schluß war nur noch ich da, und ich war auch nur da, weil ich mit …«

»Hör auf mit deinen romantischen Enthüllungen, Sid«, sagte Auguste streng, wohl wissend, warum solche Jahrmarktsbuden so populär waren. »Erzähl uns lieber, was für Kommentare es zum Essen gegeben hat.«

Aber Sid ließ sich nicht beirren. »Sie haben von einem Mord geredet, den es geben wird, Mr. Didier!«

Mord! Auguste achtete nicht auf seine aufgestörten Mannen, die Sid mit Fragen bestürmten. Das Wort Mord bemächtigte sich seiner wie ein Schreckgespenst. Oft genug hatte er in seinem Leben mit Mord zu tun gehabt. Auf Stockbery Towers, im Galaxy Theater, in Plums Club; selbst bis in seine Heimatstadt Cannes hatte ihn Mord verfolgt. Und wie die Sache dort ausgegangen war! Eisern versuchte er das Unbehagen zu unterdrücken, das ihm bei dem Gedanken an Tatjana überkam; er hatte sie für immer verloren. Zugegeben, all die Mordfälle hatten ihm die aufrichtige Freundschaft von Inspektor Egbert Rose von Scotland Yard und seiner Frau eingebracht, der liebenswerten Edith, aber der Preis dafür war ungemein hoch gewesen.

»Was mag wohl in einem vorgehen, der einen Mord verübt?« murmelte Algernon und löffelte vornehm seine Suppe.

»Sie täten mir einen großen Gefallen, Mr. Peckham«, erregte sich Auguste, »wenn Sie sich dieses abscheulichen Worts enthalten könnten, solange Sie sich an meiner Consommé à la Prince de Galles delektieren.«

»Sie haben schon manchen Mord mit aufgedeckt, Mr. Didier, nicht wahr?« Alice schaute bewundernd zu ihm hinüber. »Ich habe im ›Harmsworth Magazine‹ über Sie gelesen. Man nennt sie den neuen Auguste Dupin.«

»Ja«, erwiderte Auguste kurz angebunden. Nicht der bedeutende Koch war er, nein, lediglich ein kleiner kümmerlicher Detektiv. Nicht mal einer mit eigenem Namen, nicht mehr als »ein neuer Dupin«. Dafür rühmte man ihn. Es gab Zeiten, da gefiel er sich in dieser Rolle; es stimmte schon, sein Spürsinn war beachtlich, aber jetzt wollte er nichts davon hören.

»Sie müssen ungemein scharfsinnig sein«, sagte Emily schüchtern.

»Non«,erwiderte Auguste, dennoch geschmeichelt. »Na ja, vielleicht ein bißchen, es ist wie kochen, wissen Sie. Man hat die Zutaten, die Beweise. Man fügt sie zusammen, mischt sie und hat die Lösung – voilà, fertig ist das Gericht. Es ist eine Frage des logischen Schlußfolgerns, dazu eine Prise vom Genie eines Detektivs oder Kochs. Ich bin ein Meisterkoch detektivischer Enthüllungen«, rundete er seine Ausführungen hochtrabend ab.

»Sie sind ein Juwel, Mr. Didier«, pflichtete Sid fröhlich bei. »Seine Durchlaucht da oben fand das Hühnchendings gut«, fügte er hinzu, denn er entsann sich schließlich seiner eigentlichen Aufgabe an diesem Abend. »Nehme mal an, das ist es, was er Ihnen sagen will.«

»Wann?« fragte Auguste verwirrt.

»Na jetzt. Er wollte Sie sprechen. Vielleicht weil er dachte, es war …«, rief er Auguste noch nach, der wie wild aus der Küche raste und Flüche ausstieß, die nichts Gutes für Sid verhießen.

Der Prince of Wales, bereits in Hut und Mantel und mit Spazierstock bewaffnet, war im Begriff zu gehen. Er betrat gerade das Foyer, als Auguste angestürzt kam und an der Tür stoppte.

»Sie sind also der Koch?« Albert Edward hielt inne. Schade, daß seine Pünktlichkeit weniger gut als seine Kochkunst war. Trotzdem: »Großartiges Essen, großartiges Souper. Diese Poularde …« Der Prince of Wales führte den Satz nicht zu Ende. Er zog die Brauen zusammen. »Wo habe ich Sie schon mal gesehen?«

»In Cannes, Königliche Hoheit. Im – hm – Cricket-Pavillon«, murmelte Auguste wie sich entschuldigend.

Die königlichen Brauen zuckten nach oben. Albert Edward hatte kein Verlangen, an den überaus unseligen Vorfall erinnert zu werden.

Ihre Blicke trafen sich in dem unausgesprochenen Übereinkommen, das Thema beiseite zu lassen.

»Sie leiten eine Kochschule, wie ich von Mrs. Pryde hörte.«

»Ja, Sir.«

»Keinen Urlaub in Frankreich, dies Jahr, wie?«

»Nein, Sir. Wir wollen für vierzehn Tage an die See, wollen Urlaub und Unterweisung im Zubereiten von Fischgerichten miteinander verbinden. Nach Broadstairs.«

Königliche Hoheit blickten gedankenverloren auf Auguste Didier. »Soso, Broadstairs.«

Inspektor Egbert Rose von Scotland Yard saß in seiner kleinen Amtsstube, deren Fenster den Blick zum Themse-Ufer freigab, und ging einen Stapel Akten durch. Er war guter Dinge. Juli war nicht der Monat, um in seinen vier Wänden zu sitzen und zu arbeiten. Im Juli sollte man Ferien machen und den blauen Himmel genießen. Das würde er in drei Tagen tun. Bis dahin hatte er die angenehme Aufgabe, all diese angestaubten Vorgänge Twitch zu übergeben, Sergeant Albert Stitch, um bei seinem korrekten Titel und Namen zu bleiben. Sollte er sich doch seine Sporen damit verdienen, auf die er ständig aus war. Rose grinste hämisch.

Er freute sich auf die vierzehn Tage Urlaub in Ramsgate und war noch fröhlicher, seit er wußte, daß Auguste im benachbarten Broadstairs sein würde. Edith hatte Zimmer nehmen und sogar selbst kochen wollen, aber dagegen hatte sich Rose verwahrt. Er wollte nicht, daß irgendeine Wirtin für ihn kochte und schon gar nicht, daß Edith das Kochen übernahm. Allein das war schon ein Stück Urlaub, Ediths Küche zu entrinnen. Außerdem verspürte er Lust, Augustes Kochkünste zu genießen – ein Segen, daß Urlaub für Auguste nicht bedeutete, Küche und Herd zu ignorieren.

Twitch betrat das Büro, tat ungemein wichtig. Als ob er einer Operette von Gilbert und Sullivan entsprungen sei, fand Rose und betrachtete amüsiert seinen Untergebenen. Ein Jammer, daß er in manchen Dingen unersetzlich war, sonst hätte er ihn schon aus seiner Abteilung gekantet, rascher als einen Falschspieler von den Stufen des Athenaeums.

»Würden Sie mir jetzt die Akten übergeben, Sir?« Er konnte seinen Eifer nicht verbergen, rieb sich immer die Nase.

Rose blickte auf die Schriftstücke, die Twitch beflissen in seine Obhut nehmen wollte: ein Bericht der Sicherheitspolizei über den vermeintlichen Aufbau eines Spionageringes der deutschen Marine, jüngste Liste mit pikanten Namen gesuchter Verbrecher für die Pariser Sûreté. Großes Vertrauen setzte er in Inspektor Chesnais gerade nicht. Ob der nicht wieder Opfer und Verdachtsperson verwechselte? Es war schon bemerkenswert, daß der Diebstahl eines Kolliers, das einmal Madame de Pompadour gehört hatte, vom Schloß des Comte de la Ferté (Dieb angeblich Engländer) für wichtiger gehalten wurde als der unlängst geschehene mysteriöse Tod von William Hugget, einem Zirkusdarsteller (man vermutete, einer seiner Kollegen, allesamt britische Staatsangehörige, hätte ihn umgebracht). Auf jeden Fall hatte der Vorgang Priorität vor dem Tod des dreißigjährigen Joseph Smith, Reitknecht in Bordeaux, man nahm an, seine Frau habe ihn ermordet (beide vermutlich Engländer), oder vor dem eindeutigen Mord, vermutlich Raubüberfall, verübt an drei jungen Damen durch Unbekannt in der Bretagne (auch hier verdächtigte man einen Engländer), oder auch dem Mord an einem Küchenchef in Grenoble, verübt von einem seiner Lehrlinge (von denen zwei Engländer waren). Auf diese drei letztgenannten Fälle hatte sich inzwischen ebenso viel Staub gelegt, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne, wie auf seine eigenen »Mord- und Totschlag-Akten«. Diebstahl von Madame Pompadours Halsschmuck, du meine Güte. Mit Einbrüchen wollte er nichts mehr zu tun haben. Der letzte hatte ihn nach Cannes geführt und zu einem Haufen von Problemen. Ein delikater Spionagefall war ihm lieber oder ein hübscher Mord, dem konnte man wenigstens auf der Spur bleiben.

»Hier, Stitch, bitteschön – und viel Spaß damit. Wenn ich zurückkomme«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken, »möchte ich Ergebnisse sehen.« Ergebnisse? Er selbst war seit Monaten kein Stückchen mit den Vorgängen vorangekommen, Stitch wußte das genauso gut wie er.

Und doch glühte sein Gesicht vor Eifer. »Ich werd’s Ihnen beweisen«, sagte er selbstgefällig, »ja, beweisen.« Bescheidenheit war nicht gerade seine Stärke.

Rose verließ die Firma aller Sorgen ledig, ein Mann, der im Begriff war, Untersuchungen und Pflichten hinter sich zu lassen, ein Mann, der in Kürze nach Ramsgate fahren würde.

Nach außen hin wahrte das Haus in der Curzon Street seine Eleganz. Innen aber war das gesamte Keller- und Erdgeschoß zu Küchen umfunktioniert. Das Erdgeschoß nutzte Auguste für den Unterricht, und im Souterrain konnten sich die Kochschüler üben. Der erste Stock beherbergte eine Bibliothek, und hier hielt Auguste seinen Schülern Vorträge zur Theorie der Kochkunst. Das übrige Haus war seine Domäne, nicht zu vergleichen mit seinem früheren Logis in der King Street. Gelegentlich blieb eine seiner Studentinnen auch über Nacht, sogar Alice, die sich stets arge Zurückhaltung auferlegte – nicht gerade ein Kompliment für seine männlichen Reize.

An diesem Mittwochmorgen beherrschte die sogenannte Isle of Thanet mit ihren vielgepriesenen Seebädern das Geschehen in der Curzon Street und auch in Scotland Yard. Jeden Moment mußte die Firma Carter Patterson läuten, um das vorauszuschickende Gepäck abzuholen. Im Fenster hing schon seit geraumer Zeit die Mitteilung zur Schließung, das erste für jedermann sichtbare Zeichen dafür, daß die Urlaubszeit begann. Das meiste Gepäck der Kochschüler, und natürlich auch das von Auguste, stand zum Abholen bereit im Flur. Selbst Sids bescheidene Habe war pünktlich zur Stelle. Unter Augustes beflissener Aufsicht waren wesentliche Teile der Küchenausstattung liebevoll verpackt worden. Natürlich würde man vieles in dem Haus vorfinden, das sie in Broadstairs gemietet hatten, doch konnte er nicht erwarten, daß ein gemietetes Haus genügend Eisschränke, Wasserbad-Maries, Röstsalamander und Schwenksiebe hatte. Aber all das wollte organisiert sein! Und da dachten seine Schüler sogar, er verlange zuviel Schulgeld. Dem war nicht so. Selbst wenn, bei Kunst darf man nicht auf den Preis sehen.

»Wo ist das Ausschälmesser?« rief er.

»Keine Sorge, Mr. Didier, ich hab’s mit«, beruhigte ihn Alice.

»Mademoiselle Fenwick, der Mann muß sich glücklich schätzen, der Sie zur Frau bekommt«, sagte Auguste mit Inbrunst.

Ihm entging nicht, daß Alice leicht errötete, als sie zu Alfred Wittisham hinüberblickte. Er wünschte ihr alles Gute, hegte aber insgeheim seine Zweifel, ob Alfred überhaupt etwas mitbekommen hatte. Hatte er nicht außerdem seine Lordschaft neulich erst im Savoy mit einer jungen Dame speisen sehen? Eine durchaus gewichtige junge Dame, von Person und Konstitution her, neben der Alice in ihrem schlichten Popeline-Alltagskleid wohl kaum eine Chance hatte. Er war bei Maître Escoffier gewesen und hatte Alfred und dessen Begleitung in eine Unterhaltung vertieft vorgefunden – falls überhaupt davon die Rede sein konnte, daß Alfred sich je in etwas vertiefte.

Der dumpfe Ton des Türklopfers dröhnte durchs Haus. »Das ist der vielgepriesene Mr. Carter Patterson«, rief Auguste erleichtert aus; er war es leid, über Kartons und Gepäckstücke zu klettern.

Aber kein Spediteur Patterson begrüßte Sid. Draußen war eine Kutsche vorgefahren, nicht allzu prunkvoll, aber doch unmißverständlich mit dem Wappen des Prince of Wales geschmückt.

Auf den Stufen stand ein förmlich gekleideter Herr in schwarzem Frack und dunkelgrauer Hose und überreichte Sid ein Schreiben. Auguste, der Sid rasch gefolgt war, nahm es ihm hastig ab.

»Ich bin gehalten zu warten«, erklärte der Besucher, trat ins Haus und war bemüht, das Gepäck zu übersehen, das neun Zehntel der Diele einnahm.

»Sie sind offensichtlich nicht Spediteur Patterson«, vergewisserte sich Auguste unnötigerweise.

Der andere zog die Augenbrauen noch. »Nein, nicht daß ich wüßte. Ich bin …«

Aber Auguste brauchte keine weitere Erklärung; er hatte das königliche Wappen auf dem Siegel des Briefes erkannt, und ein seltsames, bleiernes Gefühl überkam ihn. Er riß den Umschlag auf, tat dies ohne den gebührenden Respekt vor dem cremefarbenen Büttenpapier, handgeschöpft in der Maidstone-Mühle.

Sieben Augenpaare waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet, alles drängte sich in der engen Diele. Die Nachricht von der Kutsche hatte ihre Runde gemacht.

»Es sieht so aus«, verkündete Auguste langsam und blickte schließlich seine Schüler an, »als würde …«

»Ihre Antwort, Mr. Didier«, unterbrach ihn der Sendbote höflich, aber entschieden. »Ich darf doch wohl Seiner Königlichen Hoheit melden, daß Sie einverstanden sind?«

Auguste nickte zustimmend, und die Tür fiel hinter dem Abgesandten ins Schloß. »Es sieht so aus«, hob Auguste erneut an, und in seiner Stimme schwang böse Vorahnung mit, »als würden unsere Fischferien eine Unterbrechung erfahren. Seine Königliche Hoheit befi…, bittet darum, daß wir Sonnabend in einer Woche für die Gesellschaft zur Verehrung literarischer Genies das Bankett ausrichten. Vermutlich ist es das Ereignis, von dem du sie hast reden hören, Sid, und das findet in Broadstairs statt.«

»Der Mord, Mr. Didier, meinen Sie den?« fragte Sid begierig.

»Nein«, wehrte Auguste hastig ab. »Die große Festivität zu Ehren von Dickens. Ich soll mich mit dem Vorsitzenden des Vereins treffen, Sir Thomas Throgmorton, und mit ihm das Menü absprechen.« Er lächelte mühsam. Ein sorgloser Urlaub an der Küste, wie er ihn sich vorgestellt hatte, würde das nicht werden. »Wie dem auch sei«, fuhr er melodramatisch fort, »das werde ich Sir Thomas jedenfalls sagen: wenn ich, Auguste Didier, einen Teil meines Urlaubs für dieses Bankett opfere, für das ich verantwortlich sein soll, dann darf mir kein anderer hineinpfuschen. Wir, mes amis, werden alles allein machen. Wir kaufen ein, wir bereiten vor, wir räumen ab, zumindest am Tisch des Prince of Wales. Nur so und nicht anders gehen wir sicher, daß es in Broadstairs zu keinen Katastrophen kommt; es sei denn«, fügte er grimmig hinzu, »Sie vergessen sich wie gestern abend.«

Wie zuversichtlich sich Auguste auch gab, es nützte ihm wenig; die düstere Stimmung wollte nicht von ihm weichen, auch nicht, als die Fuhrleute dagewesen und ihm nun ein Problem von der Seele war. Warum mußte dieses verfluchte Bankett auch ausgerechnet in Broadstairs stattfinden! Normalerweise würde eine Wortverbindung wie »verfluchtes Bankett« nie über Augustes Lippen kommen, aber im Augenblick war der Gedanke an Urlaub viel verlockender als ein Bankett. Sein letzter Versuch, Urlaub zu machen, hatte mit einer Katastrophe geendet. Zwar würde diesmal gewiß kein Mord geschehen, trotz Sids Unkereien – wer weiß, was der gehört hatte – aber trotzdem, für an die sechzig Leute, wie er überschlug, kochen zu müssen, war nicht die vergnüglichste Art, ein Urlaubswochenende zu verbringen.

Für den Prince of Wales würde er es aber tun. Wunder würde er vollbringen, egal, was man zu speisen wünschte. Nicht, daß er sich für Dickens begeisterte. In seiner Jugend hatte er sich durch einige seiner Romane gequält, und das nur, weil seine englische Mutter eine glühende Dickens-Verehrerin war. Inmitten der grünen Gefilde der Provence, die Düfte von Grasse in der Nase, hatten die Schilderungen der Elendsviertel von London wenig Eindruck auf ihn gemacht; zudem waren die Sätze zu lang und für einen, der mit der englischen Sprache zu kämpfen hatte, entschieden zu umständlich. Der große Mr. Dickens war in Augustes Wertschätzung ganz weit unten gelandet, und es hatte Jahre gedauert, ehe er wieder etwas von ihm las, und selbst dazu war er nur animiert worden, weil er eine Bühnenbearbeitung von »Nicholas Nickleby« gesehen hatte. Jetzt las er die Romane durchaus gern. Trotzdem, diesen Hang der Engländer, für alles einen Club zu gründen, konnte er nicht verstehen. Einen Verein, bloß um Literatur zu würdigen? Würden achtbare Pariser eine Gesellschaft gründen, um Flaubert zu würdigen und durchs Land reisen, nur um an einem Ort zu speisen, den er gemocht hatte? Warum dann nicht gleich in Paris essen?

War ja auch nebensächlich. Das hier war eben die englische Manier, sich zu vergnügen, wie die Ausflüge an die See. Das Dinner war nur ein kurzes Zwischenspiel. Nur ein Dinner mußte bereitet werden, und dann konnte man den Rest des Urlaubs genießen, mit dem Geruch von frischem Fisch schon früh am Morgen. Er roch förmlich die Fischmärkte von Paris und die der Fischer von Cannes. Der Geruch der See. Ihm wurde wohler zumute. Strohhut und Blazer lagen auf dem Bett, schon zurechtgelegt fürs Handgepäck. Er nahm den Strohhut, warf ihn hoch, fing ihn wieder auf und vollführte einen kleinen Freudentanz mit ihm. Allen Sorgen entrinnen und dem Alltagstrott. Es ging an die Küste, ans Meer.

2. Kapitel

Die edle Gesellschaft der Literatenverehrer gab es seit fast fünfundzwanzig Jahren. Ins Leben gerufen wurde sie von einigen wenigen Herren, die darüber aufgebracht waren, daß man ihnen die Mitgliedschaft im Literarischen Club verwehrt hatte. Für sie stand fest, daß damit die stolzen Traditionen von Dr. Johnsons Club ausgehöhlt wurden. Die Gesellschaft setzte sich das bescheidene Ziel bei den Massen, oder zumindest den Massen, die sich den Mitgliedsbeitrag leisten konnten, tieferes Verständnis für die Werke der literarischen Genies Großbritanniens zu wecken, wobei man gelegentlich auch die Leistungen weniger begnadeter Nationen zu würdigen gedachte. Doch der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert: die Schwärmer mußten feststellen, daß es wesentlich schwieriger war, ihren Idealen treu zu bleiben, als sie angenommen hatten; zudem verfügen Literaturliebhaber bekanntlich nicht über eben sonderliche organisatorische Fähigkeiten, und der Vorstand selbst blieb nicht unbeschadet von Streit und unterschwelligen Spannungen. Auch wenn die Rankünen nicht unbedingt offen ausgetragen wurden, waren sie deshalb nicht weniger bösartig als seinerzeit, da man David Garrick mit der schwarzen Wahlkugel brutal aus Johnsons Club ausschloß. Nur die Gegenwart des Prince of Wales hatte die leidenschaftlichen Gemüter des derzeitigen Vorstands abkühlen können, und man war sich beim Dinner in Gwynn’s Hotel nicht an die Kehle gegangen. Sechs gehörten zum Gremium, eine unselige Zahl, wollte man etwas bewirken, aber die Begründer der Gesellschaft waren gar nicht auf die Idee gekommen, daß zwischen kultivierten Menschen ein Streit ausbrechen könnte, der sich nicht gütlich beilegen ließ.

Die monatlichen Zusammenkünfte in der St.George’s Hall oder im Savoy Hotel dienten den ursprünglichen Zielen der Gesellschaft, doch von den Sitzungen des Vorstands, die in einer privaten Suite nebenan in Gwynnes Hotel stattfanden, konnte man das nicht sagen. Gelegentlich, besonders seit Mrs.Langham und Mr. Michaels dazu gehörten, wurde Übereinstimmung auch ohne verbales Blutvergießen erzielt. Aber das war allen klar, die Sitzung, zu der die sechs Mitglieder jetzt unterwegs waren, würde keine dieser rühmlichen Ausnahmen sein.

Jedes Jahr wählte der Vorstand einen Dichter zum Genius des Jahres. Zwölf Monate lang studierten dann die Mitglieder die Werke des großen Verehrten (manchmal war es auch eine Verehrte), lauschten Kapazitäten, die das Werk diskutierten, oder Schauspielern, die es deklamierten, und waren redlich bemüht, alle möglichen Würdenträger dafür zu gewinnen, dem Auserwählten Statuen und Monographien zu widmen, Büsten und Gedenkstücke aus Porzellan, und vor allen Dingen Gebäude und Stätten für die Nachwelt zu erhalten, die der Vergötterte gekannt und beschrieben hatte.

Den Höhepunkt des Jahres bildete die Woche des Genius. Dann warf sich die Gesellschaft mit ihrer geballten Mitgliederschar auf sein Refugium, auf seine Lieblingsplätze, die der Genius entweder selbst oder in der imaginären Welt seiner Buchseiten durchstreift hatte, um jedes seiner Worte besser nachempfinden zu können und um zu gewährleisten, daß seine Heimstatt und andere von ihm beschriebene Lokalitäten mit der ihnen gebührenden Ehrfurcht gepflegt wurden.

Anfänglich war die Wahl des Genius des Jahres noch sakrosankt gewesen; inzwischen aber schlichen sich bedauerlicherweise unlautere Überlegungen bei seiner Ernennung ein. Bevor ihm die Zustimmung der Gesellschaft zuteil wurde, mußte man sorgfältig erwägen, ob er auch vernünftig genug gewesen war, in einem Ort gewohnt oder ihn in seinem Werk beschrieben zu haben, der sich als Schauplatz für die Woche des Genius eignete. Einmal hatte ein übereifriges Komitee Daniel Defoe auserkoren und damit die Gesellschaft vor die Wahl gestellt, die Festwoche in Stoke Newington zu verbringen oder auf einer unbekannten verlassenen Insel oder gar kreuz und quer durch das gesamte großbritannische Inselreich zu hasten. Im Jahr darauf hatte sich ein mehr praktisch orientierter Vorstand eilfertig für Lord Byron entschieden, der ein verlockenderes Reiseprogramm bis ins Ausland versprach.

Dergleichen Probleme bereitete ein Mr. Charles Dickens dankenswerterweise nicht. Nach einigem Hin und Her, ob nicht doch Rochester der passendere Schauplatz für die Woche des Genius wäre, fiel das Votum einhellig zugunsten Broadstairs aus; diesen und keinen anderen Ort würde man beglücken, abgesehen von einem Tagesausflug nach Rochester. Dieses abgelegene Städtchen war nicht so überlaufen wie Ramsgate, auch nicht so vergnügungssüchtig wie Margate und würde einen ausgezeichneten Treffpunkt abgeben; insgeheim beglückwünschten die Vorstandsmitglieder Dickens zu seiner trefflichen Seebad-Wahl. Zugegeben, er hatte den Badeort schon lange vor seinem Hinscheiden nicht mehr aufgesucht, fand, daß die zunehmende Besucherzahl die Idylle beeinträchtigte, und klagte über den Krach, den umherziehende Straßenmusikanten unter seinem Fenster machten, aber vierzig Jahre später waren die Menschen an derlei Ärgernisse längst gewöhnt.

Das alles überlagernde Problem des Komitees an diesem Abend hatte nichts mit Dickens zu tun. Es bestand die Gefahr, daß es die Gesellschaft spaltete, wenn nicht gar vollends zerstörte. Schuld an allem war der Auserwählte für das kommende Jahr – Mr. William Shakespesare. Ihn hatte man zum eindeutigen Genius für das bedeutsame Jahr 1900 auserkoren, für das erste Jahr im neuen Jahrhundert (obwohl in der Presse über diese Zählweise ein heftiger Streit entbrannt war). Das Jahr der Gesellschaft begann genau an Shakespeares Geburtstag, am 23. April, am Tag des Heiligen Georg. Mit diesem Datum endete die vierjährige Herrschaft des Vorsitzenden, Sir Thomas Throgmorton würde zurücktreten und ein neuer Vorsitzender die Verantwortung für die Feierlichkeiten des Tages übernehmen.

Oder doch nicht?

»Zum Gwynnes, Hobbs.«

Sir Thomas Throgmorton hatte mit Unbehagen den wie immer staubigen Fahrdamm entlanggeblickt, der infolge des heißen trockenen Wetters nur noch schlimmer aussah, und seinen Wagen herangewinkt. Es waren sicher nicht mehr als zehn Minuten Fußweg von seinem Haus in Mayfair zum Hotel, aber bei einer so überaus wichtigen Versammlung mußte er einen untadeligen Eindruck machen, sowohl vom äußeren Erscheinungsbild her als auch in seinem Auftreten. Die Hälfte des Vorstands hatte er auf seiner Seite (sich selbst mitgerechnet). Er runzelte die Stirn. Ob es doch ein Fehler war, sich mit Gwendolen anzulegen? Wie konnte er wissen, was für Illusionen dieses törichte Frauenzimmer hegte? Ihm war nichts anderes übriggeblieben, er hatte so und nicht anders handeln müssen. Beddington würde mit Sicherheit zu ihm halten. Schließlich hatte er das Recht auf seiner Seite, redete sich Throgmorton ein. Seine jahrelange Erfahrung als einer der Direktoren einer internationalen Bank hatte ihn gelehrt, wieviel das bedeutete. Zwar gab es einen Schwachpunkt in seiner Beweisführung, aber wenn er Glück hatte, würde der keinem auffallen. Wenn man nur selbstsicher genug auftrat, sich wenigstens den Anschein gab, merkte niemand etwas. Auch das hatte er im Bankgeschäft gelernt. Vielleicht würde sogar Angelina begreifen, daß er recht hatte, wenn er ihr seine Auffassung noch einmal darlegte. Daß ausgerechnet sie anderer Meinung war, blieb ihm unbegreiflich. Wenn sie erst einmal verheiratet waren, würde er es ihr sanft, aber entschieden zu verstehen geben.