Die Müllsammlerin - Gerhard Winkler - E-Book

Die Müllsammlerin E-Book

Gerhard Winkler

4,8

Beschreibung

Anfang fünfzig, geschieden, beliebter Lehrer eines süddeutschen Kleinstadtgymnasiums mit Müdigkeitserscheinungen, dazu eine verheiratete Geliebte, die kaum Zeit hat - war's das oder kommt noch etwas außer dem Alter?, fragt sich der Held dieses Romans. Kurzentschlossen lässt er sich für drei Jahre ohne Bezüge vom Schuldienst beurlauben; schon dieser Entschluss bringt eine neue Dynamik in sein Leben. Ein halbes Jahr später bricht er mit seinem Wohnmobil zu einer mehrmonatigen Reise auf. Die äußere Reise durch die spätsommerlichen Landschaften Frankreichs und Spaniens wird, nicht zuletzt nach einer Meditationswoche in der Auvergne, zunehmend zu einer inneren. Ängste tauchen auf, genauso wie Gestalten und Ereignisse aus seiner Vergangenheit. Muss er das Alte zulassen, um im Jetzt ankommen zu können? Streift Freiheit Verantwortung ab oder macht sie frei, Verantwortung - endlich für sich selbst - übernehmen zu können? Ein nachdenklicher Reiseroman für Menschen, die in die zweite Hälfte ihres Lebens schauen ... und dort noch etwas zu entdecken hoffen.

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Wer viel reist, erfährt vieles.

Einiges davon auch über sich selbst.

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehen.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,

und ich kreise jahrtausendelang;

und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm

oder ein großer Gesang.

RAINER MARIA RILKE 1

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

TEIL 1

»Es gibt keine Chance, wenn du sie nicht nutzt.

Viele wunderbare Dinge werden nie passieren,

wenn du sie nicht selber tust. Darin besteht

das Leben. Fange heute damit an: Hab keine

Angst, dass das Leben einmal zu Ende geht.

Hab eher Angst, dass es nie richtig anfängt.« 2

ICH fange also mit dem Früher an, wenn ich diese Geschichte beginne. Obwohl ich von der Reise, die mich sehr verändert hat, längst zurück bin. Veränderung? Einspruch! Sie hat mich nicht verändert, diese Reise, aber sie hat fast vergessene, vorher kaum noch gelebte Schichten in mir freigelegt; verblasste Erinnerungen erneut mit Farben gefüllt; Traumbilder und Visionen in Realität umgesetzt und Realität in Traumbilder verrückt; ja, sie hat mir Zeit und Raum für mich geschaffen, mich oft glücklich, zeitweise verdammt unglücklich gemacht, diese Reise, und doch so angefüllt, dass ich sie aufschreiben möchte.

Also doch Veränderung?

Von mir aus auch das: aber letztlich nur so, wie es ist, wenn ich morgens aufwache, wenn du aufwachst.

Immer bin ich, wenn ich aufwache, bist du, wenn du aufwachst, der Gleiche und doch ein anderer. Das Wasser im nahen Fluss ist weitergeflossen, die Erde hat sich gedreht; vielleicht liegt scheinbar der gleiche Mensch wie gestern neben dir, vielleicht: und dennoch ist dieser Morgen ein neues Leben, genauer gesagt, der erste Tag vom Rest deines Lebens.

Du kannst ihn gestalten wie den Tag gestern und wie den morgen, du kannst, aber du musst nicht.

Veränderung also nichts anderes, als eine andere, lange nicht mehr oder noch nie benutzte Schublade im eigenen Inneren öffnen? Oder die Schublade langsam öffnen, etwas Kleines dazulegen, vielleicht auch nur das Alte umsortieren, eine neue Rangordnung ausprobieren? Könnte sein, aber so gesehen fühle ich mich doch sehr verändert.

Natürlich brauche ich einen Titel, wenn ich meine Geschichte aufschreiben möchte.

Das ist einfach, denn „Die Müllsammlerin“ schlummert schon lange tief in meinem Kopf und Bauch.

Warum gerade den?, frage ich mich selbst.

Die Antwort soll diese Geschichte geben, die Geschichte meiner Reise …

ALS es zur Pause klingelt, endlich klingelt, atmet er innerlich sichtbar auf. Ich habe es satt, denkt er, als er „Rechtschreibung: das-dass Übungen“ ins Tagebuch der 7c einträgt. Hausaufgaben hat er keine gegeben, viel zu anstrengend, sie in der nächsten Stunde kontrollieren und die zehn Schüler, die sie vergessen, verloren, nicht gemacht haben, bestrafen zu müssen.

Ich bin müde, und ich habe es satt. Er seufzt. „Es“ sind die pubertierenden Kinder eines Kleinstadtgymnasiums, dreizehn, vierzehn Jahre alt, quicklebendig, hormongesteuert, nervig, aufgedreht, wach und für jeden Mist bereit, ganz normale Jugendliche also; jeder und jede für sich wirklich okay, in einer dreißigköpfigen, durcheinander quasselnden Meute jedoch kaum zu ertragen.

Aber ich konnte doch damit die ganzen letzten Jahre umgehen, denkt er. Was ist los, was kaputtgegangen? Wieso verliere ich nach zehn Minuten die Beherrschung und schreie herum, frustriere nach zwanzig Minuten, verliere jeden Humor und sehne nur noch das Ende der Stunde herbei? Ich schaue ja mehr auf die Uhr als die Kids.

Er fühlt sich schwerfällig und alt, als er seine Unterrichtsvorbereitung, von der er nur einen Bruchteil in der Stunde umsetzen konnte, zusammenpackt und den Gang zum Lehrerzimmer entlang schlurft.

Ausgebrannt! Ja, ich bin ausgebrannt, gesteht er sich ein.

Große Pause. Etliche Kolleginnen und Kollegen schimpfen lautstark über ihre Klassen und die letzte Stunde. Die Kinder werden immer schwieriger, unzumutbar dieser Job; das Niveau sinkt ab, Computer und Fernseher haben die Schüler längst im Griff, die Eltern haben allemal den Erziehungsauftrag versäumt, die Frechheiten sind kaum noch zu überbieten … in allen Variationen hört er Gesprächsfetzen dieser Art im langsam sich füllenden Raum. Früher hat er wenigstens innerlich gegen diese verzweifelten Entlastungen und Verdammungen rebelliert. Nein, die Jugend ist nicht dümmer, desinteressierter, gewalttätiger, Medien versklavter geworden, nur wir älter, frustrierter, neidisch auf das unbekümmerte Jungsein, das hat er vertreten und wirklich geglaubt.

Außerdem hat er die Geschichten hinter den Kids gesehen: geschiedene Eltern mit aufreibenden Kämpfen zwischen den früheren Partnern, Alkoholprobleme und häusliche Gewalt, bei den ausländischen Jugendlichen der Crash zwischen den Kulturen. All das hat er in vielen Gesprächen erfahren und gehört, es hat sein Verständnis für die Schüler gestärkt, seine Toleranz bei Konflikten haltbar und sicher gemacht.

Aber jetzt fällt ihm das nicht mehr ein. Am liebsten würde er in den Frustrationskanon einstimmen, er setzt schon dazu an, doch da wird er an die Tür des Lehrerzimmers gerufen. Eine eifrige Schülerin der Oberstufe gibt ihr Handout für das Nachmittagsreferat ab, pünktlich und gut ausgearbeitet, ob er es für alle kopieren könne?

Kann er natürlich … und während die Kopien durchlaufen, wird ihm klar, dass er gerade das Gegenteil von dem erlebt hat, was er noch eine Minute vorher im Lehrerzimmer gehört und gedacht hat. Verlässlichkeit, Pünktlichkeit, Engagement, all das gibt es in dieser Schule, genauso wie das Gegenteil.

Ich muss hier raus, weiß er plötzlich, ich bin ein Großteil meines Problems, nicht die anderen. Ich funktioniere ja fast nur noch, da ist kaum noch Freude und Kraft für meinen Beruf …

Genau dieses Gefühl taucht wieder in ihm auf, als er im Gemeinschaftskundekurs in der letzten Reihe sitzt und dem Referat zuhört. Es ist gut aufgebaut, nicht zu viele, nicht zu wenige Medien, klare Gliederung, gute Beispiele, von der Schülerin mit leicht nervöser, aber stimmiger Lebendigkeit vorgetragen, und auch das Thema „Greenpeace – eine NGO im Umbruch“ stimmt. Selbst der Kurs scheint, dem Nachmittagstermin entsprechend, am Thema interessiert, nur er ist nicht wirklich dabei. Kein Funke an echtem Interesse ist in mir … ich arbeite mein Leben nur noch ab, denkt er plötzlich, zutiefst verzweifelt über die Leere und Hoffnungslosigkeit, die da mitschwingt.

Und auch als sie das „Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland“ anschließend an das Referat vor der Klausur in der nächsten Woche wiederholen und vertiefen, spürt er nicht nur, dass die Schülerinnen und Schüler vor allem wegen der Klausur mitarbeiten, was ja eigentlich verständlich ist, auch er funktioniert nur, weil er halt da ist … und so verrinnen die Minuten seines Lebens, Anfang fünfzig, noch 15 Jahre bis zur Pension, immer im müden Trab weiter … und diese frustrierte Auflehnung begleitet ihn in den frühen Abend und bereitet ihm eine von Zweifeln zermarterte Nacht.

AM nächsten Morgen sitzt er wie gerädert auf seinem Meditationskissen und wieder kommt dieses Gefühl von „Es ist genug!“ in ihm auf. Atme ein und aus, gibt er sich vor, lass es weiterziehen wie Wolken am Himmel … doch das graue Wolkenband bleibt, bis die Uhr nach fünfundzwanzig Minuten piepst.

Ich muss Esther anrufen, denkt er plötzlich, die kennt mich auswendig; mal hören, was die spontan zu meinen Ideen sagt. Zwanzig Jahre waren sie verheiratet, vor vier Jahren die Trennung. Auseinandergelebt irgendwie. Keine wirklichen Gründe, mal abgesehen von einigen Liebschaften auf seiner Seite und einer größeren Verliebtheit auf der ihren. Schmerzhaft, sehr schmerzhaft war es am Anfang trotzdem, aber dann, nach einiger Zeit, sinnvoll. Er hatte die abbezahlte Eigentumswohnung behalten und das Wohnmobil, sie war mit den Bausparverträgen bei ihrem neuen Freund eingezogen. Eine faire Trennung, ohne unnötige Schmerzen und Intrigen, einen Anwalt hatten sie nicht gebraucht. Von einigen Freunden waren sie gar scherzhaft als das Scheidungspaar des Jahrhunderts tituliert worden.

Einige hässliche Szenen hatte es natürlich gegeben, doch als der erste Ärger und die eigentlich eher selbstbezogene Wut verraucht waren, er hatte sowieso bald gemerkt, dass bei ihm im Grunde mehr Angst vor dem Alleinleben als echter Zorn auf Esther im Hintergrund stand, waren sie allmählich wieder alte, vertraute Freunde. Ohne Sex zwar, klar, aber voller Verständnis für das Leben des anderen. Sogar streiten konnten sie noch, wie in ihrer Beziehungszeit, nur dass er schneller zurückzog und seine verletzende Art früher bemerkte. Es ging ja jetzt schließlich auch nicht mehr um ein Machtspiel in der Beziehung, sondern um eine Freundin, der man nicht sinnlos wehtun will …

Wo bin ich nur wieder gelandet?, bemerkt er plötzlich und wiederholt in sich: Ich will Esther anrufen … nur jetzt nicht, denn sie schläft noch, und er muss schauen, dass er in die Schule kommt.

Mit wem kann ich noch über das Ganze reden?, fragt er sich, als er zwischen den spätherbstlich herumwirbelnden Blättern die letzten Stufen zum Schulgebäude hoch läuft. Und da sieht er den Schulleiter, der vom Parkplatz von der anderen Seite kommt.

„Ich würde gerne etwas mit Ihnen besprechen, Herr Löffinger“, hört er sich, selbst überrascht, sagen.

„Mmh, in der fünften habe ich eine Hohlstunde, passt Ihnen das?“

„Ja, prima, da habe ich auch frei.“

„Worum geht’s denn?“, fragt der Direktor leicht neugierig, während sie die letzten Stufen im Gleichschritt nehmen.

„Ich muss hier raus“, entwischt ihm in diesem Moment die Wahrheit, „und ich dachte, Sie wissen vielleicht am besten, welche Wege es gibt.“

Überrascht schaut ihn der Chef von der Seite her an.

„Wer will das nicht“, brummelt er, „gut, wir sehen uns in der fünften Stunde.“

„Was heißt, Sie müssen hier raus?“, empfängt ihn der Schulleiter, als er in sein Zimmer tritt. „Aber setzen Sie sich erst einmal.“

Er erzählt, was seit einiger Zeit in ihm vorgeht und in den letzten Tagen mit Macht in sein Bewusstsein gedrungen ist. Vor allem von den Farben, die ihm häufig abhanden gekommen sind. Grau in grau, die Luft schwer, kaum ein Lächeln im Gesicht; Alltag von vorne bis hinten und das, obwohl er regelmäßig meditiere, sich um Achtsamkeit bemühe, das Hier und Jetzt leben wolle. Diesen letzten Satz fügt er selbstironisch hinzu, ein Eingeständnis seiner momentanen Verlorenheit.

Löffinger grinst. „Kann ich alles verstehen. Ich denke auch daran, früher aufzuhören. Wir werden jedes Jahr älter, die Schüler bleiben immer gleich alt, ist das nicht gemein?“

Der Schulleiter hört sich trotz allem souveräner an als er gerade. Der hat noch den Überblick, spürt er respektvoll.

„Also, passen Sie auf“, fährt Löffinger fort. „Kurzschlussreaktionen bringen da nichts, ganz Aussteigen ist Blödsinn, denn Sie müssten ja den Beamtenstatus aufgeben. Das würde außerdem die Pensionsansprüche extrem verringern. Außerdem sind Sie ein viel zu guter Lehrer, um der Schule endgültig den Rücken zu kehren. Für Sie kommt nur ein Sabbatjahr oder die dreijährige Auszeit ohne Bezüge in Frage.“

Fünf Minuten später steht er mit dem „Handbuch für Lehrer“, einem dicken Wälzer, vor der Tür, inklusive einiger Seitentipps.

Und er ist für diesen Moment glücklich. Er hat intuitiv den richtigen Menschen zur richtigen Zeit gewählt, der hat ihn verstanden, hat ihm Infos an die Hand gegeben und … er hat ihn gelobt. So einfach kann das Leben sein.

ALS er Esther nachmittags erzählt, dass er, zumindest vorübergehend, aussteigen möchte, meint sie nur: „Na endlich!“

„Was heißt ’na endlich’?“, fragt er zurück.

„Na endlich heißt, dass ich glaube, es ist längst Zeit, dass du deinen Hintern hoch kriegst und was für dich machst. Ich meine, nicht nur Geldverdienen und so, sondern etwas, was dich rausholt aus der Routine, deinem starken Immerso, so wunderbar organisiert und diszipliniert es auch immer war. Ich kenne niemanden, der alles so gut wie du hinbekommt und dabei so langweilig leer vor sich hinlebt. Was meinst du eigentlich, warum unsere Beziehung vor die Hunde gegangen ist?“

Was er in den nächsten Minuten hört, ist ernüchternd, erhellend und ein bisschen viel. Eben Esther pur. Er merkt, dass er ein wenig wütend wird, eigentlich ein lebendiges Gefühl, aber plötzlich amüsiert es ihn auch.

Da ist was dran! Er dreht sich wirklich wie ein Leuchtturm im wabernden Nichts auf der Stelle. Sein Leuchtfeuer verliert sich in der Dunkelheit, die Feinabstimmung stimmt nicht mehr. Die kleinen, feinen Momente, die verpasst er regelmäßig in letzter Zeit … ich will wieder den Ruf des Vogels am Morgen hören und nicht die Klassenarbeit der Siebten am Nachmittag korrigieren, denkt er. Ein überstarker Ruf nach Freizeit überrollt ihn plötzlich. Habe alles durchorganisiert, den ganzen Tag minutiös um mich herum verplant, aber wo bleibt der spontane Augenblick, der in mein Leben fällt, einbricht, mich überrascht?

Ich höre ja, und nicht nur in der Schule, überhaupt nicht mehr hin.

EINIGE Wochen später, direkt vor den Winterferien, steht er mit dem ausgefüllten Formular „Beurlaubung ohne Dienstbezüge aus arbeitsmarktpolitischen Gründen“ erneut vor der Tür des Schulleiters.

„Hab ich mir gedacht“, meint der trocken, als er es in der Hand hält.

„Respekt. Es ist Ihnen aber klar, dass Sie in diesen drei Jahren weder Gehalt noch Beihilfe bekommen, das heißt, Sie müssen auch Ihre private Krankenversicherung aufstocken.“

„Alles mehrmals durchgerechnet“, meint er grinsend, „aber das will ich mir wert sein. Sie wissen ja, ich habe keine Kinder und ich habe ordentlich gespart. Außerdem, und das ist der große Vorteil bei der Sache, ist mir mein Job nach den drei Jahren wieder sicher, wenn natürlich auch nicht hier an der Schule.“

„Gut, dann geht das also Ende Januar zur Regierungsbehörde“, erklärt der Direktor.

„Wie Sie wissen, werden Versetzungs- und Beurlaubungsanträge von dort entschieden, nicht von der Schule direkt. Aber meine Unterstützung haben sie natürlich“, und damit unterschreibt Löffinger in der dafür vorgesehenen Ecke.

„Wie sind meine Chancen, dass es vom Oberschulamt durchgewinkt wird, was glauben Sie?“

„Sehr gut, denke ich. Bei Lehrerüberhang werden solche Anträge mit Freude gesehen. Und nachdem wir in diesem Jahr damit rechnen müssen, dass viele Referendare keine Stelle bekommen, was immer schlecht für die Presse der Landesregierung ist, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Ihrem Beurlaubungsantrag schnell zugesagt wird. Außerdem sind Ihre Fächer Deutsch und Gemeinschaftskunde keine Mangelfächer.“

Er nickt zufrieden und gibt dem Schulleiter die Hand, um ihm schöne Weihnachtsferien zu wünschen.

„Ja, ich wünsche Ihnen ebenfalls eine gute und besinnliche Zeit“, dankt ihm Löffinger.

„Was ich übrigens noch sagen wollte. Sie wissen sicher, dass, wenn diese Beurlaubung klappt, damit keine Zusicherung auf den alten Schulort oder gar die alte Schule danach verbunden ist. Sie müssen also damit rechnen, dass Sie nach den drei Jahren einer neuen Schule zugewiesen werden.“

Er nickt.

„Aber“, fährt der Direktor fort, „ich möchte Ihnen sagen, dass wir, wenn es möglich ist, Sie gerne wieder an dieser Schule sehen würden. Melden Sie sich also zum Ablauf der Beurlaubung frühzeitig bei uns, wenn Sie hierher möchten.“

Die beiden Männer drücken sich noch einmal fest die Hand.

DAS letzte Schulhalbjahr vor den Sommerferien vergeht in Windeseile. Schon Ende Februar kommt die Zustimmung zur dreijährigen Beurlaubung vom Regierungspräsidium. Plötzlich geht ihm die Arbeit leichter von der Hand. Die Klassenarbeiten nerven, aber sie korrigieren sich ohne größeren inneren Widerstand. Das anstehende Abitur des Gemeinschaftskundekurses wird mehr Abenteuer als angsterregende Beschwernis, was natürlich auch die Schüler unbewusst merken und so wesentlich entspannter mit ihm zusammenarbeiten können. Die weiter heftig pubertierende Siebte bleibt, wie sie ist, aber nun sieht er mit ruhigerem, weniger persönlich betroffenem oder gar beleidigtem Blick hin.

„Alles verklärt sich ein wenig“, erklärt er den Kollegen und Kolleginnen, die ihn auf die kommende Freiheit ansprechen.

Das Interesse in der Schule an seinem Schritt, der sich allmählich herumspricht, ist groß. Viele fragen ihn nach den Modalitäten dieser Beurlaubung, von der sie überhaupt noch nie etwas gehört haben, wollen wissen, wie er sie finanziert, was seine Pläne sind. Die meisten reagieren positiv und verraten ihm, dass sie auch schon lange von einem freien Jahr träumen.

„Was würdest du machen?“, fragt er neugierig zurück, denn es interessiert ihn jetzt, wo er selbst ins Träumen kommt, wirklich brennend, welche Ideen und Träume die anderen haben.

Einer würde gerne in der Toskana einen Herbst bei der Wein- und Olivenernte in einem biologischen Bauernhof mitarbeiten.

„Ich will schon immer wissen, mit den Händen selbst erfahren, wie der Wein von der Rebe in die Flasche kommt“, meint er. Das fasziniert ihn. So eine klar umrissene Idee findet er gut, seine Pläne sind dagegen noch diffus.

Andere reden von dem Wunsch, ein Buch zu schreiben, eine vor vielen Jahren begonnene Doktorarbeit endlich abzuschließen oder einfach nur Zeit für sich zu haben, ohne Korrektur und Unterrichtsvorbereitung, ohne Zeugniskonvente und Elterngespräche.

Plötzlich erfährt er öfters bereichernde Begegnungen in den Hohlstunden oder der Mittagspause. Viele machen deutlich, wie gut sie es finden, dass er diesen Schritt wagt. Und er spürt auch, dass sie ihn mögen.

Das stärkt ihn ungemein. Zu selten drückt man, das wird ihm deutlich, seine Freundschaft und Sympathie anderen gegenüber aus. Wir verbringen unser Leben wie in einer Ritterrüstung … und öffnen selten genug das Visier. Eingeengte Lebenszeitverschwendung! Was wir alles verpassen, wenn wir uns eingepackt in Metall begegnen, anstatt die Haut des anderen zu berühren.

Was hemmt da? Was lässt uns schweigen, anstatt dass wir ab und zu einfließen lassen, dass wir andere schätzen, mögen, für unser Leben bereichernd finden? Welche Angst haben wir voreinander … oder sind es nur die Überlastungen des Alltags?

Berauscht von seinen neuen Möglichkeiten denkt er über diese Fragen nach und beginnt unwillkürlich, offener seine Zuneigung den Kolleginnen und Kollegen zu zeigen. Und feiert dadurch viele kleine persönliche Abschiede in diesen Monaten.

Natürlich begegnet ihm da und dort eine Spur Neid. Manchmal verpackt in Sätzen wie„Es ist wichtig, die Verantwortung zu tragen und nicht abzugeben“ oder „Du hast halt keine Kinder und kein Haus, da ist das einfach“. An beidem ist was dran, völlig klar.

Manchmal kommt es auch zu kleinen Sticheleien.

„Na, du kannst es wohl kaum noch erwarten, hier wegzukommen!?“

Doch das ist nicht so, stellt er verwundert fest. Er freut sich nicht, „hier“ wegzukommen, im Gegenteil, er spürt eher eine kleine Abschied nehmende Traurigkeit. Aber das Besondere ist, dass vielerlei Gefühle in ihm auftauchen, mehr als in den letzten Monaten, dass er Zwischentöne wahrnimmt, sich selbst sozusagen wieder auf die Spur kommt.

Schließlich beginnt die letzte Runde der Konferenzen, einige Wochen vor dem Ende des Schuljahres; bei den Notenkonferenzen ist er natürlich dabei, aber zu den Treffen, bei denen die Klassendeputate des nächsten Schuljahres diskutiert und abgesegnet werden, wird er nicht eingeladen.

Er hat diese Konferenzen nie besonders gemocht. Doch jetzt ist plötzlich das überraschende Gefühl da: du wirst hier nicht mehr eingeplant, nicht mehr gebraucht.

Wer bin ich eigentlich, wenn ich nicht mehr gebraucht, nicht mehr eingeplant werde?, fragt er sich.

Wer bin ich, wenn ich keine Noten mehr gebe, Bewertungen verteile, keine „Macht“ habe?

Wer war ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren?

DIE Fragen bleiben, doch mittlerweile haben sich grobe Pläne, zumindest für die ersten Monate dieser drei Jahre, herauskristallisiert. Er will allein mit dem Wohnmobil los. Durch Frankreich bis hin zum Atlantik, zum Wandern in die Pyrenäen, im Herbst nach Spanien. Den Atlantik im Süden Frankreichs kennt er, nur dass er diesmal so lange bleiben will, bis es wirklich genug ist. Alles andere ist ihm unbekannt, völlig neu zu betretende Landschaften. Vorfreude und leichte Ängste, die sich vor allem in wirren Träumen zeigen, mischen sich in die letzten Arbeitswochen. Schaffe ich das alleine? Man hört so viel von Überfällen auf Wohnmobile … und wo soll ich überhaupt hin?

Als die Kollegen fragen, was er sich zum Abschied wünscht, fallen ihm nur Wohnmobil- und Reiseführer ein und er kauft selbst noch ordentlich dazu.

Auch das Womo muss auf Reisetauglichkeit überprüft werden. Zwei Wochen Istrien und Österreich in den Pfingstferien, wo er Freunde trifft, die auf einem Campingplatz ein Ferienhäuschen gemietet haben, sind ein erster, gelungener Test nach der neuen Hauptuntersuchung und etlichen kleinen Verbesserungen.

Also kann es losgehen. Entschleunigung ist das Thema, eigentlich das Thema, doch die beiden Monate vor dem letzten Schultag kommen ihm eher vor, als säße er in einem Hochgeschwindigkeitszug.

Allerdings tut ihm der Rhythmuswechsel gut. Bei etlichen Abschiedsabenden im Biergarten, immer im kleinen Kreis – denn er kann große Feste nicht ausstehen, da er sich dort in der Regel verloren vorkommt – oder gar mit einzelnen Freunden, genießt er das Sommerlicht in neuer Frische; die Farben scheinen ihm intensiver und er erlebt viel öfter Glücksmomente als in den vergangenen Jahren.

Ja, er ist sogar kurz davor, sich in eine jüngere Kollegin zu verlieben; zum Glück bremst sein Verstand ihn aus und zieht die Beziehung zurück auf Sparflamme. Das wäre jetzt nicht der richtige Moment, doch was ist überhaupt der richtige Moment wofür?

LANGSAM geht es ans Einkaufen von Grundnahrungsmitteln und die Überlegungen beginnen, was er mitnehmen will. Vor allem aber weiß er, was er nicht dabei haben wird: kein Handy, kein Notebook, keinen Fernseher.

Sowieso wird er von den jüngeren Kollegen und den Oberstufenschülern mehr oder minder liebevoll „Fossil“ oder „Technikdino“ genannt. Er scheut die neuen Medien, benutzt den Computer oder das Internet nur im Ausnahmefall. Und die Begriffe „twittern“, „Facebook“ oder „Blogger“ lässt er sich hin und wieder von seinen Schülern erklären, nur um sie nach einer Woche vergessen zu haben. Ein hoffnungsloser Fall. „Authentisch“ wird er dafür von manchen Oberstufenschülern genannt, „cooler Alt68iger“ titulierte ihn die Zeitschrift des letzten Abiturjahrgangs.

Manchmal fragt er sich selber, ob diese Technikverdrossenheit, nein, es ist eher echtes Desinteresse, nicht sogar eine unbewusste Masche von ihm ist, um sich alternativ interessant zu halten. Dass er kein Handy hat und die Schülerinnen und Schüler nicht über das Internet betreut, wie das für die meisten seiner Kollegen in der Oberstufe längst Normalität ist, schadet ihm nämlich letztendlich nicht in Schülerkreisen. Sie schätzen die Zeit, die er sich sonst für sie nimmt, vor allem wenn schulische oder private Probleme auftauchen. Seine Technikresistenz sehen sie eher als sympathische Macke, jedenfalls bildet er sich das ein. Und die regelmäßigen Diskussionsrunden im Deutsch- oder Gemeinschaftskundeunterricht über das Thema „ Macht das Handy das Leben sicherer?“ erfreuen sich großer Beteiligung.

Anfangs sehen fast alle nur die Vorteile der immerwährenden und durchgängigen Vernetzung mit Freunden, Familie und Geschäftspartnern. Wenn er aber die Frage stellt:„Wie fühlst du dich, wenn du unterwegs bist und hast das Handy vergessen oder der Akku ist leer?“, kommt bei einigen Nachdenklichkeit auf. Wenn er danach erzählt, dass er mittlerweile viele Menschen kennt, die abends nicht mehr das Haus verlassen oder mit dem Auto fahren ohne ihr tragbares Telefon, weil sie sonst Angst hätten, haben viele Schüler Beispiele, die zeigen, wie all diese Kleincomputer befreien, aber auf der anderen Seite ängstigen und verunsichern.

Auch die Gefahr des fast süchtigen Immer-in-Verbindungsein-Müssens und des ständigen Erreichbarseins spricht er an. Das sehen die meisten Kids natürlich anders. Doch in jeder dieser Diskussionen wird heftig gerungen, nachgedacht und ausführlich argumentiert. In vielen Aufsätzen danach hat er bemerkt, wie differenziert sich die Klassen mit dem Thema beschäftigt haben.

Natürlich schafft niemand nach einer solchen Gesprächsrunde sein Handy ab, das war auch gar nicht sein Ziel, aber er merkt, dass einige für Momente größer gedacht und gelernt haben, mehrere Seiten einer Problematik anzuschauen, denn, wie er oft in seinen Klassen sagt: kein Licht ohne Schatten.

Also: außer dem Autoradio und einem Rasierapparat keine Technik dabei auf der Reise. Auch die GPS-Überzeugungsversuche etlicher Bekannter lehnt er freundlich, aber bestimmt ab.

„Ich fahre mit Karte und Reiseführer“, meint er nicht ohne Stolz, zu diesem Zeitpunkt nicht wissend, dass er diese Aussage in den kommenden Monaten manchmal verfluchen wird. Jetzt aber kommt er sich abenteuerlich und cool vor. Nicht mehr, wie früher, mit dem Rucksack durch Brasilien und Indonesien, aber immerhin mit dem Wohnmobil und einem alten Fahrrad hinten auf dem Ständer ohne Schnickschnack durch Südeuropa.

UND plötzlich, drei Wochen vor der geplanten Abfahrt, kommt sein „Geheimnis“ ins Spiel: Rena, seine heimliche Geliebte. So geheim, dass er mit niemandem über sie spricht, selbst nicht in Andeutungen, dass er sie in keine seiner vielen Überlegungen der letzten Monate einbezogen hat, ja, so geheim, dass er sie manchmal für einige Tage selber vergisst. Rena, die für ihn äußerst attraktive Ehefrau eines flüchtigen Bekannten, mit der er ab und zu wunderbare Liebesstunden teilt.

Angefangen hat alles vor mehr als drei Jahren, kurz nach seiner Trennung von Esther. Ziemlich verzweifelt und frustriert hat er damals die eine oder andere Sportart aus seiner Jugendzeit nochmals hervorgekramt, nur um nach dem Volleyballspiel am nächsten Morgen mit schmerzenden Knien die Treppen zur Schule empor zu humpeln oder nach dem übertriebenen Tennismatch drei Tage mit Rückenschmerzen durch die Gänge zu schleichen. Die alten Sportarten waren schnell wieder in Vergessenheit geraten, er hält seitdem Wandern, Dehnübungen und Meditieren für die angemessenere Betätigung in seinem Alter, aber Rena war geblieben.

Er hatte damals seinen Bekannten zum Volleyballtraining abgeholt. Der kam mit einer Frau, die einen Einkaufskorb trug, aus seinem Haus.

Wow, ist die hübsch!, durchfuhr es ihn, als sie ihn lächelnd begrüßte. Der frühlingshaft blühende Kirschbaum hinter ihr unterstützte diesen perfekten Moment, er war verzaubert.

Längeres Schweigen, als er mit ihrem Mann Minuten später im Auto saß.

Dann meinte er: „Du hast eine sehr attraktive Frau, Hannes. Ich kannte sie ja noch gar nicht.“

„Hmm, passt schon. Aber weißt du, nach zwanzig Jahren Ehe ist vieles nur noch Gewohnheit. Man lebt gut eingespielt nebeneinander her, alles funktioniert soweit gut, die großen Hormonsprünge bleiben allerdings aus. Aber das kennst du ja alles“, meint der Mann, der von seiner Trennung weiß.

Hmm, denkt er bekümmert. So wie Hannes seine Frau kaum noch sieht, hat er Esther übersehen. Scheiße!

„Weißt du, unter uns gesagt, die Kicks hole ich mir auf meinen beruflichen Reisen“, fährt der gut aussehende Mann in seine Überlegungen hinein grinsend fort. „Ich will ja nicht angeben, aber ich komme super an bei den Frauen.“

„Und hast du keine Schuldgefühle?“, fragt er, der sich bei jedem außerehelichen Techtelmechtel zunehmend mit Gedanken und Sorgen überhäuft fühlte.

„Nö“, meint Hannes leichthin, „ich nehme meiner Frau da nichts weg. Sie hat eh nicht so viel Lust auf Sex wie ich und wenn ich nach Hause komme, bin ich entspannt und locker drauf. Klar wäre sie eifersüchtig und sauer, wenn sie von meinen Frauengeschichten wüsste. Andererseits nehme ich dadurch den Druck aus unserer Beziehung, verstehst du.“

An diesem Abend vor drei Jahren lag er traurig und nachdenklich in seinem Bett. Überall der gleiche Mist von Gewohnheiten und Abstumpfung, dachte er, und ich mittendrin. Trotzdem ließen ihn Renas Gesicht und ihre schlanke Figur nicht los. Unruhige Nacht.

Zwei Abende später, so will es der Zufall, sieht er sie in der Kneipe, in die es ihn seit seiner Trennung regelmäßig zieht.

„Hallo, du bist die Frau von Hannes, nicht wahr“, begrüßt er sie, „wo ist er denn?“

„Ja, ich bin die Rena“, lacht sie, „und Hannes ist beim Handballtraining der alten Herren, das findet jeden zweiten Freitag statt.“

Später spielen sie im Nebenzimmer Billard miteinander. Die Kugeln rollen ziellos dahin, aber sie haben ungemein Spaß und lachen viel. Zeit und Raum fließen in eins, sie sind überrascht, als Hannes nach seinem Training mit einigen Kumpels zum Bier dazu kommt. Als der Wirt die lockere Truppe spätnachts aus seiner gemütlichen Kneipe vertreibt, hat er Rena viel angeschaut.

„Ich bin ein bisschen verliebt“, trällert er vor sich hin, als er gutgelaunt nach Hause schwankt.

SIE hat ihn auch angeschaut, gesteht sie ihm wenige Wochen später. Hannes ist, wie so oft, auf Geschäftsreise, sie haben sich zufällig, vielleicht aber doch nicht so zufällig wie beim ersten Mal in der Kneipe getroffen, Billard gespielt, ein wenig geflirtet, am Ende hat sie ihn zu Kaffee und Kuchen für den nächsten Nachmittag eingeladen.

Alles ist frühlingshaft verzaubert, innen wie außen, als er durch die Straße zu ihrem Haus läuft. Die Spannung zwischen den beiden wächst mit jedem Schluck Kaffee, bei jedem Bissen des selbstgemachten Kuchens. Wirre Gedanken schießen durch seinen Kopf: das kann ich Hannes nicht antun, was ist hier los, spürt sie das Gleiche wie ich? Doch im Grunde ist ihm alles egal. Er genießt ihre Gegenwart, verwirrt und aufgeregt, sein Herz schlägt, er schaut in ihre Augen, die ihn ebenfalls festhalten.

„Wer ist der junge Mann auf dem Bild?“, fragt er nach einer Weile.

„Unser Sohn“, lächelt sie, „er studiert Betriebswirtschaft, wohnt in Frankfurt.“

„Hätte ich eigentlich gleich sehen können. Er hat die gleichen blonden Locken wie du.“

„Hannes findet die eher altbacken.“

Es klingt eine Spur traurig, sie schaut ihn leicht fragend dabei an.

„Ich finde sie bezaubernd, echt bezaubernd!“

„Jetzt mal nicht übertreiben.“

Sie lacht, aber sie freut sich.

Er wagt es, streichelt kurz sacht über ihr Haar.

„Wirklich bezaubernd.“

Ihm ist heiß, Teenagergefühle im Bauch.

Ein Glas Sekt gibt es anschließend auf dem kleinen Sofa vor dem Kamin. Der brennt zwar nicht, aber sie sitzen dort, weil es gemütlicher ist. Irgendwann hat sie sich in seinen Arm gekuschelt. Lange sitzen sie so, still und nahezu bewegungslos, ein wenig ängstlich, aber warm und aufregend.

Seine Hand streichelt wieder ihr Haar, den Arm, den Saum ihres Pullovers, dort wo er ihre Haut am Hals berührt. Sie atmet schneller, als er sanft über ihr Schlüsselbein streicht.

Verheiratete Frau, verbotene Zone, denkt er, als er vorsichtig zu ihrem Brustansatz wandert. Doch sie dehnt sich ihm eher eine Spur entgegen, als er sanft mit einem Finger ihre Brüste auf dem weichen Pullover umkreist. Sein Penis pocht in der Hose, die Zeit schweigt, sie sprechen nicht mehr. Verwegen ertastet sein Finger ihre Brustwarze, die unter der Kleidung hart geworden ist. Sie stöhnt kurz auf, kuschelt sich mehr in ihn hinein, ihre Hand liegt an seinem Schenkel. Einige Zentimeter nur und sie würde seinen harten Schwanz berühren. Etwas Scheu hat er davor und sehnt es genauso stark herbei. Langsam wandert seine Hand zum Bund ihrer Jogginghose, streichelt ihre Hüfte, den Hüftknochen, nach einiger Zeit mutiger durch den Stoff über ihr Geschlecht. Sie stöhnt jetzt lauter und öffnet ihre Beine ein wenig, damit er die Innenseite ihrer Beine berühren kann. Dabei rutscht ihre Hand auf seinen Penis, er zuckt erregt zusammen. Sie lässt ihre Hand scheinbar still liegen, während er mit leichtem Druck die Mitte zwischen ihren Schenkeln erforscht. Auch sie zuckt jetzt unter seinen Fingern und als er die Stelle berührt, wo er unter der weichen Hose ihre Klitoris vermutet, kommt sie stöhnend nach wenigen Sekunden.

„Weinst du?“, fragt er erschrocken. Sie hat die Beine zusammengezogen, sich in seinem Arm zusammengerollt. Sein Schwanz brennt vor Begierde, aber ihr leichtes Schluchzen hat die Stimmung verändert.

„Ein bisschen“, meint sie, „aber vor allem vor Freude … Weißt du, das war so schön gerade. Ich konnte mich einfach gehen lassen, hab mich total sicher bei dir gefühlt und … geil.“

„Ja, den Eindruck hatte ich auch“, frotzelt er.

Sie knufft ihn mit dem Ellenbogen leicht in seinen Bauch.

„Und warum hast du geweint?“

„Das war alles so entspannend und schön und plötzlich war ich traurig, weil mir das mit Hannes fehlt.“

„Schlaft ihr nicht mehr miteinander?“

„Doch, ab und zu und es ist auch ganz gut. Wir sind uns vertraut, jeder weiß, was der andere braucht. Aber das eben, dieses Überraschende, Neue, Besondere, das ist schon lange weg.“

„War ja auch das erste Mal“, brummt er und hofft, dass dieses erste Mal jetzt noch nicht zu Ende ist, denn er würde lieber weiter schmusen als reden.

„Ja, aber das allein ist es nicht. Es war kein Anspruch an den anderen da, dafür so viel Leichtigkeit. So schön … da kann ich wirklich mehr davon vertragen …“

Sie beginnt ihn zu küssen, drückt sich an ihn, er spürt, wie ihre Hand unauffällig, aber deutlich über sein Geschlecht streichelt …

SO also ist er Renas Geliebter geworden. Sie wissen beide, dass viel von der erotischen Spannung, die auch nach drei Jahren noch zwischen ihnen knistert, von dem Geheimen kommt, dem Verbotenen, den außergewöhnlichen Orten, an denen sie sich treffen und lieben, und den besonderen Situationen, die sie kreieren. Dazu heizen die Pausen zwischen ihrem Zusammensein zusätzlich die Wünsche und Begierden auf, die sie umschwirren, wenn sie sich begegnen.

Sein manchmal aufkeimendes schlechtes Gewissen beruhigt er immer mit dem Gespräch, das Hannes mit ihm damals im Auto geführt hat. Rena dagegen hat keine Schuldgefühle, sagt sie.

„Ich genieße einfach die Zeit mit dir als Geschenk. Hannes kann und will mir das so nicht geben, ich habe aber das Gefühl, mir stehen diese besonderen Augenblicke zu.“

Und ein anderes Mal, nachdem sie sich köstlich auf dem Sofa vor dem Kaminfeuer geliebt haben, meint sie: „Ich will nicht alt werden, ohne das hier zu erleben. Wir leben doch nur einmal, worauf soll ich warten?“

Einen Tag später hängt an seinem Fahrrad, das er hinter der Schule abgestellt hat, ein Zettel.

Es ist wichtiger,

den Tagen Leben

als dem Leben Tagen

hinzuzufügen.

CICELY SAUNDERS

Kein Absender. Er muss grinsen.

Bei ihm zu Hause war Rena allerdings noch nie.

„Nein, das wäre mir irgendwie zu persönlich“, meint sie kategorisch. „Ich will weder in dein Leben einbrechen noch richtig darin ankommen. Außerdem will ich dich als Geliebten, nicht als Partner. Nur nicht zu viele Gewohnheiten …“

Rena fasziniert ihn mit ihrer Freiheit und ihrem Radikalismus in ihrer Liebesbeziehung. Er wäre gerne mehr mit ihr zusammen. Als er einmal vorsichtig auf das Thema Trennung von Hannes kommt, lacht sie nur.

„Bist du verrückt? Hannes und ich haben eine vernünftige, gute Ehe. Er nimmt sich seine Freiheiten auf den Geschäftsreisen, das weiß ich schon. Ich bin schließlich nicht dumm. Und ich nehme mir auch meine Freiheiten auf seinen Geschäftsreisen.“

Sie lacht.

„Aber wenn er nach Hause kommt, hat er ein gemütliches Zuhause und ich auch. Versteh mich nicht falsch. Ich mache mir keine Illusionen, aber Hannes und mir geht es insgesamt gut miteinander. Wir haben unser Zusammenleben sinnvoll geregelt. Ich kenne viele Paare und vor allem Singles, die haben es deutlich schlechter als wir. Außerdem, Hannes verdient ordentlich Geld, er ist großzügig und teilt es gerne mit mir. Schau dich um, was wir uns für einen Luxus leisten können. Meinst du, ich hätte Lust, das alles aufzugeben und noch mal neu anzufangen?“

„Und ich, welche Rolle spiele ich?“, fragt er leicht entrüstet.

„Du, du bist das Sahnehäubchen in meinen Leben, das weiß und genieße ich zutiefst. Aber zusammenleben wollte ich mit dir nicht.“

„Und wieso nicht?“

Allmählich wird er fast sauer.

Rena denkt eine Weile nach.

„Das ist gar nicht leicht zu formulieren. Ich finde, du bist noch nicht richtig orientiert, wo es langgehen soll bei dir. Trotz deiner langjährigen Ehe und der Konstanz in deinem Job wirkst du irgendwie … mmh, ich würde vielleicht ’flüchtig‘ dazu sagen. Genau, flüchtig passt gut. Das Luftige daran liebe ich an dir, das macht unsere Treffen so toll, aber da steckt halt auch das Wort „Flucht“ drin. Ich habe das Gefühl, auf eine Art flüchtest du vor etwas, oft sehr verborgen, aber plötzlich bist du ganz schnell verschwunden. Hannes ist viel langweiliger als du, würde ich mal ins Unreine formulieren, aber eben auf seine Art verlässlicher. Du sprichst auch selbst öfters von Aussteigen, Veränderung, Neuorientierung. Das klingt zwar spannend, aber ich will das, glaube ich, gar nicht. Das hört sich für mich als Dauerthema viel zu gefährlich an. Ich habe das Gefühl, du suchst etwas, oder besser gesagt, etwas in dir sucht etwas. Das ist nicht so mein Ding. Ich suche eigentlich nichts, abgesehen natürlich von einigen zusätzlichen Farbtupfern in meinem Leben, und da gehörst du unbedingt und sehr deutlich dazu. Aber ansonsten will ich lieber meine Ruhe. Ich genieße mein Leben, wie es jetzt ist, so gut ich kann, mit all seinen Hochs und Tiefs … und mit meinen kleinen Fluchten.“

„Hey, das klingt fast, als würdest du mich ausnutzen.“

Rena denkt lange nach.

„Ausnützen, das ist es nicht für mich und das würde ich auch nicht wollen. Ich würde sagen, wir benutzen, nein, besser, wir nutzen uns gegenseitig in dieser Phase unseres Lebens. Wir nutzen uns, um Großartiges für begrenzte Zeit miteinander zu erleben. Wir beschenken uns mit Zärtlichkeit, Sex, außergewöhnlichen Situationen.“

„Und was ist mit Liebe?“

Er ist selbst überrascht, dass er dieses Wort ausspricht.

„Das ist Liebe“, meint Rena überzeugt, „sich im Augenblick freiwillig zu beschenken. Von Herzen.“

Etwas an diesem Gespräch beunruhigt und verunsichert ihn. Sie hört sich viel sicherer und reifer an, als er sich häufig fühlt. Und an der Fluchtgeschichte ist auch was dran, das spürt er genau. Aber darüber will er später nachdenken. Alleine. Jetzt möchte er lieber diese Sicherheit ins Wanken bringen, die Rena ausstrahlt und die ihn ärgert. Wo ist der Haken an ihren Aussagen?

„Und was ist, wenn ich eine neue Beziehung eingehen möchte, in der du keinen Platz mehr hast?“, fragt er schließlich leicht aggressiv.

„Das wäre großer Mist für mich. Aber damit muss ich rechnen und auch mit den Konsequenzen. Das gehört zu unserem Tanz dazu“, meint Rena, plötzlich sehr ernst geworden.

„Aber bis dahin genieße ich, dass es dich gibt und du neben mir liegst“, lächelt sie und streichelt über seinen Rücken.

Rena ist also nicht besonders überrascht, als er ihr, etliche Monate nach diesem Gespräch und anfangs ganz nebenbei, von seinen Auszeitideen erzählt.

„Das passt zu dir“, meint sie nur lapidar.

Als die Ideen konkreter werden und er nicht nur von der Zustimmung des Regierungspräsidiums, sondern gleichzeitig von seinen Reiseplänen mit dem Womo berichtet, wirkt sie nachdenklich.

„Das passt auch und das habe ich befürchtet.“

„Du wirst mich vermissen“, versucht er sie zu necken.

„Werde ich“, nickt sie ernst, „und damit wird wohl unsere Zeit zu Ende gehen.“

„Wieso?“

„Weiß nicht genau, aber ich spüre es.“

Kein gieriger Sex an diesem Nachmittag, kein freies Lachen, nur in sich verlorene Zärtlichkeit. Sie ahnen beide einen Abschied, ohne deutlich zu wissen, wie er aussehen und was er bedeuten wird. Gedankenvoll, ohne viel zu sprechen, verbringen sie die wenigen geschenkten Stunden, nicht ganz nah beieinander, nicht weit voneinander entfernt.

Einige Tage später ein Anruf in der Schule.

„Wahrscheinlich eine Mutter, die einen Sprechstundentermin ausmachen will“, meint die Sekretärin, als sie ihm das Telefon ins Lehrerzimmer bringt.

„Hi, hier ist Rena“, hört er erstaunt, denn sie hatte noch nie in der Schule angerufen.

„Ich habe eine Idee. Ich komme die ersten Tage auf deiner Reise mit. Sag jetzt nichts, bitte. Denk erst darüber nach. Wir reden bei Gelegenheit darüber. Tschüß.“

Völlig durcheinander und überdreht bringt er den Schultag zu Ende. Was heißt: „Ich komme die ersten Tage auf deine Reise mit?“

Anfangs hat er kein Gefühl dazu, ob ihn das freut, eher belastet oder ob er es überhaupt möchte. Und Rücksprache ist nicht möglich, denn ein ungeschriebenes Gesetz in ihrem Geheimnis lautet: keine Anrufe bei ihr zu Hause, wenn Hannes nicht auf Reisen ist, da er sein Büro in der Kellerwohnung hat.

MEHRERE Tage vergehen. Anfangs neugierig und erwartungsvoll, wann Rena sich meldet, fängt er an, sich zu ärgern. Was soll diese ewige Geheimnistuerei?

Abends sitzt er mit einem Kollegen, den er eher als Freund bezeichnen könnte, im Biergarten. Er fragt ihn plötzlich, selbst überrascht, was er von Geheimnissen hält.

„Geheimnisse“, meint der Freund nach einem großen Schluck Bier, „die würden mich total abnerven. Wenn zum Beispiel meine Frau Geheimnisse vor mir hätte, ich würde sofort unsere Beziehung in Frage stellen. Ich glaube, das kommt aus meiner Kindheit. Mein Vater hat mir immer eingebläut, dass man die Wahrheit sagen muss, nicht lügen und keine Geheimnisse haben darf. Es fällt mir schon schwer, damit umzugehen, wenn Schüler mich belügen, obwohl ich zu verstehen versuche, dass die manchmal aus einer Drucksituation heraus fast nicht anders können. Aber ich werde dann schnell sehr sauer und reagiere ab und zu ungerecht. Ich kann nicht anders …“

„Würdest du auch nicht fremdgehen?“, unterbricht er ihn.

„Niemals“, meint er mit Nachdruck, „mein gesamtes Weltbild würde aus den Fugen geraten …“

Er fragt sofort nach.

„Und wenn dich eine Frau so richtig anmacht und durcheinander bringt?“

„Ich weiß, man soll nie Nie sagen, aber ich kann mir das nicht vorstellen bei mir … und ich will es auch nicht. Ich sag dir doch, das ist für mich fast heilig …“

„Und wenn deine Frau …“

„Hey, mach mich nicht nervös“, unterbricht ihn sein Freund, „das kann und will ich nicht denken. Ich krieg jetzt schon einen Hals, wenn ich es mir nur theoretisch vorstelle.“

Spannendes Gespräch. Als er nach drei Bier und einem Sommersalat in der lauen Sommernacht mit dem Fahrrad heim gondelt, wird ihm immer klarer, in was für eine andere, ihm völlig fremde Welt er gerade hinein riechen durfte.

Ich, der Spezialist für Geheimnisse, denkt er.

Er hält am Springbrunnen, der beleuchtet mitten im Städtchen in unregelmäßigen Rhythmen seine Fontänen in die Nacht hinein wirft. Setzt sich auf eine im Dunkel liegende Bank, wo er ungestört ist.

Geheimnisse, die verraten werden, sind keine mehr.

Also zählt er sie auf:

Ich onaniere häufig, obwohl ich über fünfzig bin.

Ich begehre Frauen, nein, ehrlicher, ich könnte Frauen bumsen, ohne mehr von ihnen als ihren hübschen Körper zu kennen.

Ich glaubte lange, dass ich unter eine Brücke gehöre, ein Versager bin. Okay, das ist Vergangenheit, heute glaube ich eher, dass ich mein Leben gut hinbekomme.

Ich kann tierisch neidisch sein, wenn es anderen gut geht, obwohl ich doch gerne verständnisvoll Menschen unterstützen möchte.

Das reicht eigentlich für diesen Abend und Nachhauseweg, denkt er. Aber die innere Geheimnisdiskussion lässt ihn nicht mehr los. Es muss mehr raus und so spuckt er das größte seiner Geheimnisse aus, während hinter ihm die dunkle Nacht lauert.

Ich bin nicht der Sohn meines Vaters!

Er hat es erst Ende dreißig erfahren. Dass er diesem von seiner Mutter und Schwester angstvoll gehüteten Geheimnis überhaupt auf die Spur gekommen ist, war eher Zufall. Mit Esther hatte er darüber gesprochen, ansonsten jedoch, das merkt er, während er nachdenklich auf den romantisch beleuchteten Brunnen schaut, hat er es tief in sich verborgen, als trüge er eine unermessliche Schuld.

Sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen, ist er unbewusst schon als Baby zum Spezialisten für Geheimnisse geworden, denn seine Mutter hat sich regelmäßig mit ihrem Geliebten bei ihnen zu Hause getroffen, wenn sein Vater Nachtdienst hatte. Ganz sicher hat er das atmosphärisch mitbekommen, ohne es allerdings konkret selbst zu wissen.

Gelebt habe ich, wird ihm plötzlich klar, später eigene Geheimnisse. Vor und während meiner Ehe, vor all den Menschen, die mich zu kennen glauben, denen ich mich aber innerlich nicht schenken kann, ja, sogar vor mir selbst, indem ich mir vieles in meinem Leben nicht eingestehen will.

Überraschend fühlt er sich auf seiner dunklen Bank plötzlich sehr erleichtert. Sie ist ein guter Ort, dies alles loszuwerden.

Nein, verflucht, dieser einsame Brunnen kann lediglich ein Anfang sein, ruft er sich zu. Wann soll ich mit meiner Wahrheit beginnen, wenn nicht jetzt, wo bald so viel freie, ungeplante Zeit vor mir liegt? Wenn nicht jetzt, wo ein solch großer Einschnitt in meinem Leben kommt?

Er will es Rena erzählen, der Frau, mit der er einen Teil seines Lebensskripts wiederholt.

AM nächsten Nachmittag, er sitzt in seinem Wohnzimmer, überlegt, wie er Rena erreichen kann, ohne Hannes ans Telefon zu bekommen, und ärgert sich dabei über diese erneute Vertuschungsinszenierung, klingelt das Telefon.

„Ich bin’s, Rena, na, hast du nachgedacht?“

„Hab ich, aber es gibt eine wichtige Sache, die ich vorher mit dir besprechen möchte. Hast du Zeit?“

„Gut, ich kann morgen kurz nach eins an deiner Schule sein. Passt das?“

„Ja, wir könnten ein bisschen raus fahren, für zwei, drei Stunden.“

„Das kann ich einrichten. Ich komme mit dem Auto.“

Als er neben ihr sitzt, schaut sie ihn aufmerksam an.

„Was ist los? Du hast unterschwellig aufgeregt geklungen am Telefon. Ist irgendwas passiert oder kommt dir meine Idee völlig abwegig vor?“

Es gefällt ihm, dass sie sich Sorgen um ihn macht. Die Beziehung, so eigenartig sie ist, stimmt, merkt er. Das hilft ihm anzusprechen, was er sich vorgestern Nacht vorgenommen hat.

„Das mit deinem verrückten Vorschlag finde ich sehr spannend, aber darüber sollten wir später reden“, beginnt er.

„Ich bin nicht der Sohn meines Vaters“, platzt es danach aus ihm heraus, „das ist beziehungsweise war das große Geheimnis in meiner Familie; habe ich dir gegenüber schon mal etwas angedeutet?“

„Nein, du hast überhaupt nicht viel von deiner Familie erzählt. Und was soll das heißen: Du bist nicht der Sohn deines Vaters? Das ist doch paradox! Wie soll das denn gehen?“

Sie sitzen auf einer Decke am Rand einer Wiese unter einer spät blühenden Linde, in der die Bienen summen. Er erzählt und erzählt.

„Das ist kaum zu glauben“, meint Rena nach einer Weile, „und deine Mutter hat das nie jemandem gestanden?“

„Meine Schwester, die sehr viel älter ist als ich, war ihre Mitwisserin und das hat sie als Mädchen sehr belastet, wie sie mir später berichtet hat. Aber sie durfte mir nichts sagen, denn meiner Mutter, die im Grunde eine konservative Frau war, war das alles extrem peinlich. Ich war also, bis es herauskam, völlig ahnungslos. Ich habe nur meine ganze Jugend hindurch gemerkt, nein, besser, ganz weit hinten in mir gefühlt, dass etwas nicht stimmig ist in unserem Familiensystem. Stell dir vor, mehr als zehn Jahre hatte meine Mutter meinen Samenvater, so nenne ich ihn für mich, im Gegensatz zu meinem sozialen Vater, mit dem meine Mutter unglücklich, aber dauerhaft zusammengelebt hat, als Geliebten. Zehn Jahre dieses Geheimnis und erst als ich ungefähr sechs Jahre alt war, hat sie die sexuelle Beziehung beendet mit der Begründung, dass der Bub sonst etwas merken könnte.“

„Und danach, was war mit deinem Samenvater?“

„Er war und blieb der beste Freund unserer Familie. Fast jeden Sonntagvormittag, wenn mein sozialer Vater und ich vom Kirchgang zurückkamen, verbrachte er anderthalb Stunden bei uns, spielte mit mir Karten, brachte mir Schach bei, saß am Küchentisch, während meine Mutter Braten und Knödel kochte und mein anderer Vater ausgiebig seinen Garten inspizierte. Um Punkt zwölf war allerdings das Treffen vorbei, mein sozialer Vater bestand darauf, dass am Sonntag auf die Minute pünktlich gegessen wurde, und der andere musste gehen, heim zu seiner Familie und seinem Sohn.“

„Das hört sich fast an, als hätte dein sozialer Vater euch, wenn auch genau begrenzt, Zeit geschenkt …“

Er muss weinen. Rena sitzt still bei ihm, die Bienen summen über ihnen, es ist ein schrecklicher und guter Augenblick.

„So habe ich das noch nie gesehen“, sagt er nach einer Weile, „aber das könnte sein. Es ist mir viel unklar, wenn ich an diese Zeit denke und mich frage, was in den Personen dieser Sonntagvormittage vorgegangen sein muss. Die muss es doch innerlich zerrissen haben. Klar ist auf jeden Fall, dass es meinen Samenvater zerstört hat. Ich erinnere mich noch genau, dass er in dieser kurzen Zeit jedes Mal einen Liter Weißwein getrunken hat. Er hat den Wein meinen Eltern sogar bezahlt, denn er war viel reicher als wir. Er ist ungefähr zwanzig Jahre später als Alkoholiker gestorben, lag das letzte halbe Jahr seines Lebens im Koma. Das habe ich aber nur am Rande mitbekommen, denn ich habe in dieser Zeit schon als junger Lehrer gearbeitet, 2oo Kilometer entfernt, und Onkel Robert, so habe ich ihn genannt, war längst aus meinem Blickfeld entschwunden. Ich hab ja gar nicht gewusst, dass er mein Vater ist …“

Wieder laufen ihm Tränen über das Gesicht.

„Und das Verrückte ist, mein sozialer Vater ist im gleichen Jahr gestorben“, schluchzt er.

„Ich erspare dir und mir seine Leidensgeschichte der letzten fünfzehn Jahre seines Lebens, will nur so viel sagen, dass er innerlich von Fisteln, die sich nach einer Gallenoperation über viele Jahre hinweg gebildet haben, zerfressen wurde. Auch er hat die meiste Zeit seiner letzten Monate im Koma verbracht.“

„Von Fisteln zerfressen..?“

„Ja, das Ganze war schrecklich. Als ich später die verstrickte Familiengeschichte erfahren habe, ist mir klar geworden, dass auch das Bedeutung hat. Er war oft extrem aggressiv, aber eher passiv aggressiv, ich glaube, er hat seine ganze Wut auf seine Frau und seinen Freund gegen sich selbst gewendet. Natürlich hat er etwas geahnt oder gewusst von der ganzen Geschichte, aber er hat es vor anderen, vielleicht sogar vor sich selbst verborgen, denn schließlich gab es ja mich, die Frucht des Geheimnisses, seinen Sohn, den er geliebt hat“, flüstert er, die Stimme versagt ihm fast, „und den er auf keinen Fall verlieren wollte …“

Völlig erschöpft verbirgt er seinen Kopf in Renas Schoß, kann nicht mehr. Es tut ihm gut, endlich seine Geschichte am Stück zu erzählen. Es kommt ihm vor, als wenn eine alte Narbe, unter der ein Eiterherd glimmt, aufgebrochen worden wäre und dieses Erzählen sie vorsichtig, sehr schmerzhaft reinigt. Es tut gut und weh gleichzeitig, allmählich fühlt er sich leichter …

Er muss eingeschlafen sein.

Als er aufwacht, streichelt Rena sanft über sein Haar, er hört sie leise summen. Langsam dringen die Außengeräusche in sein Bewusstsein: die Autos auf der entfernten Landstraße, Insekten, die in der Wiese und im Baum brummen, Blätter, die sich leicht im Wind bewegen. Die Sonne scheint durch das Dach des Baumes, es ist sommerlich warm, Schatten spielen um sie herum Fangen.

„Ach, war das gerade schön“, seufzt er, „habe ich lange geschlafen?“

„Nein, nur ein paar Minuten“, lächelt Rena.

Ein wenig bleiben sie noch, eingebettet in Stille und Natur.

„Okay, ich muss los“, sagt Rena dann, „du weißt schon …“

Auf dem Weg zum Auto merkt er, dass er ihr gegenüber unsicher ist, geradezu scheu.

„War das jetzt zu viel?“, fragt er vorsichtig.

„Nein“, antwortet sie ernst, „aber ich glaube, ich muss auf mich aufpassen. Du bist mir eben sehr nahe gekommen, weißt du. Deine Geschichte hat mich tief berührt und mitgenommen. Aber das passt nicht ganz zu unserer Beziehung. Du weißt schon: guter Sex und genügend Abstand. Ein wenig durcheinander bin ich auch.“

Plötzlich hat Rena Tränen in den Augen. Sie nehmen sich vor dem Auto in den Arm, halten sich eine Weile ganz fest.

„Und wie war das mit dem Anruf in der Schule“, fragt er leise, „hast du wirklich Zeit und Lust, die ersten Tage auf meiner Reise mitzukommen?“

„Da muss ich jetzt noch mal neu nachdenken und reinfühlen“, meint sie. „Lass mir ein bisschen Zeit.“

Sie reden nicht viel auf der Heimfahrt. Als Rena ihn in der Nähe seiner Wohnung aussteigen lässt, schauen sie sich lange an.

„Danke!“, flüstert er.

„Mmmh“, brummt sie liebevoll und drückt kurz seine Hand, „ich melde mich bald.“

ZWEI Abende danach sitzt er mit drei Kollegen im Biergarten. Es ist verrückt, was ein bevorstehender Abschied alles bewirkt. Viel offener ist ihr Umgang in den letzten Wochen geworden, vertrauter, in den Gesprächen intensiver. Als wenn das näher kommende Auseinandergehen die Chancen vergrößert, dass man sich jetzt begegnet.

Sie diskutieren über Abschied und Neubeginn an diesem Abend unter den riesigen Kastanien, sitzen bei Bier und Wein, lassen es sich gut gehen. Wieder einmal hat er gefragt, was die anderen mit einer langen Auszeit beginnen würden. Und tatsächlich, nach und nach und immer lebendiger legt einer nach dem anderen, begleitet von großem Gelächter und ernsthaftem Zuhören, seine Träume auf den Tisch.

Sven, der vor seinen drei Kindern öfters mit dem Rucksack in Südostasien unterwegs war und sich intensiv mit der buddhistischen Kultur auseinandergesetzt hat, würde am liebsten ein ganzes Jahr dort verbringen.

„Die Jugendlichen in Thailand, von denen viele für einige Monate in ein Kloster gehen, bevor sie eine Ausbildung beginnen, lassen sich zu diesem Neuanfang eine Glatze schneiden“, berichtet er.

„Das ist so Tradition. Alles Weltliche hinter sich lassen, sich äußerlich deutlich verändern, hygienische Vorschriften im Kloster wegen Läusen, was weiß ich, was es genau bedeutet. Aber ich glaube, wenn ich ein Jahr in Asien unterwegs wäre und dabei einige Wochen in einem Kloster verbringen würde, würde ich das auch machen.“

Alle lachen und reden wild durcheinander. Wie wohl der, die oder du mit Glatze aussehen würde?

In ihm ist es ganz still geworden. Der Gedanke hat ihn gepackt. Zwar wird ihm total heiß, wenn er daran denkt, ohne Haare durch die Gegend zu laufen, nackt und bloß, aber er ist fasziniert.

„Hey, ich glaube, das mache ich“, hört er sich sagen.

Alle starren ihn an. Stimmung zwischen Gelächter und nachdenklicher Stille. Ein witziger Gedanke, nur innerlich durchgespielt, könnte gerade Realität geworden sein.

„Weißt du was“, meint Sven, „das könnte bei dir sogar passen. Irgendwie werde ich das Gefühl nämlich nicht los, dass diese ganze Ausstieg-auf-Zeit-Geschichte was ganz Wichtiges für dich hat. Irgendeine tiefere Bedeutung. Frag mich nicht, was genau, aber ich denke das immer wieder in letzter Zeit.“

„Ja, das meine ich auch“, wirft Simone ein, die sonst eher still ist und von der jeder überrascht war, als sie gemeint hatte, sie würde gerne an diesem Abend in den Biergarten mitgehen.

„Du bist viel offener geworden, seitdem dein Antrag durch ist. Fast befreit. Für mich würde ein radikal veränderter Haarschnitt zu deinem Neuanfang passen.“

„Aber Schüler sollen mich so nicht mehr sehen“, meint er nachdenklich, „das wäre mir zu viel.“

„Ich habe eine Idee!“, ruft Sven. „Meine Frau hat vor den Kindern als Friseurin gearbeitet. Für sie wäre es kein Problem, dir eine Glatze zu verpassen. Komm doch, kurz bevor du auf die Reise gehst, bei uns vorbei, vielleicht in den ersten Ferientagen, bevor wir in Urlaub fahren …“

„Ich denke darüber nach“, meint er, aber er weiß schon, dass der Stachel sitzt.

„HALLO, hier ist Rena. Was hältst du von einer sehr netten und hocherotischen Reisebegleitung für die ersten drei, vier Tage?“

Er lacht lauthals am Telefon los.

„So, so, und wie soll das gehen?“

„Hannes ist Anfang August einige Tage weg in Dänemark auf Geschäftsreise und ich habe ihm erzählt, dass ich in dieser Zeit zu meiner Freundin Claudia nach Freiburg fahren möchte. Er findet das gut, weil ich, wie er sagt, nicht zu Hause alleine rumsitzen muss.“

„Und die Freundin in Freiburg, gibt es die wirklich?“

„Klar! Und die könnten wir tatsächlich besuchen. Ich weiß nicht, welche Pläne du bisher gemacht hast, aber ich fände das toll. Claudia ist außerdem schon ewig eingeweiht in unsere Bez … , äh, in unser Spiel. Sie mag Hannes sowieso nicht besonders, findet, er sei ein alter Macho. Und Freiburg liegt doch eh auf deiner Route Richtung Frankreich. Also, was meinst du?“

„Keine Angst mehr vor zu viel Nähe?“, will er noch wissen.

„Dem will ich mich aussetzen“, kommt halb lachend, halb ernst zurück.

„Ich finde die Idee toll, aber ich hab ein wenig Schiss.“

„Ich auch. Ohne Ende. Aber hör zu. Ich will dir etwas vorlesen:

Es gibt keine Chance, wenn du sie nicht nutzt.

Viele wunderbare Dinge werden nie passieren,

wenn du sie nicht selber tust.

Darin besteht das Leben.

Fange heute damit an.

Hab keine Angst, dass das Leben einmal zu Ende geht.

Hab eher Angst, dass es nie richtig anfängt.“

„Puh, das ist heavy! Wo hast du das her?“

„Hängt an meiner Pinnwand, seit ewigen Zeiten. Gerade eben, als ich dich anrufen wollte, ist mein Blick darauf gefallen, und da wusste ich, dass alles gut ist.“

Das ist es, es ist alles gut.

„Du bist wirklich der Hammer, Rena. Ich bin völlig durcheinander, aber ich glaube, eine nette Reisebegleitung, das ist eine Wahnsinnsidee.“

Völlig aufgedreht schenkt er sich nach dem Telefonat erst einmal ein Bier ein. Tatsächlich gibt es kein Halten mehr, seitdem er seinen Auszeitentschluss gefasst hat.

Sein Leben ist so voll und lebendig geworden, seitdem.

Er prostet im Geiste seinem Samenvater zu, danach dem sozialen Vater.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn“, fallen ihm die ersten Zeilen von einem Rilke-Gedicht ein.

„Ja, das will ich“, sagt er laut mit Nachdruck und nimmt einen großen Schluck.

Von der Glatze hat er Rena allerdings vor lauter Aufregung nichts erzählt. Gut, das soll eine Überraschung werden.

DANN ist er tatsächlich da, der letzte Schultag. Er erlebt ihn wie in Trance. Er bekommt zwar die Freundlichkeiten der Kolleginnen und Kollegen mit, erinnert sich allerdings zum Teil erst Wochen später wirklich an all die intensiven Begegnungen. Auch den Abschied von den Klassen, der ihm freundlich und cool vorkommt, nimmt er nur mit einem Teil seines Bewusstseins wahr. Er freut sich über die Geschenke, die Reiseführer, die herzlichen Abschiedsworte, die ihn umschmeicheln, aber zeitweise fühlt er sich wie abgeschnitten. Zu viele Gefühle, denkt er, das kann ich kaum aushalten, auf jeden Fall aber nicht voll an mich heranlassen; das kann ich überhaupt nur verkraften, wenn ich mich innerlich, zumindest teilweise, wegbeame.

Nach dem traditionellen Sommerferienmittagessen, das der Personalrat organisiert, nach vielen Umarmungen und Schulterklopfen, nach einigen Tränen und mehreren Gläsern Wein, überfüllt mit guten Wünschen für die Auszeit und seine Reisen, stößt ihn Sven von der Seite her an.

„Auf, Alter, meine Frau wartet mit dem Rasiermesser auf dich. Sie ist begierig, deinen Schädel freizulegen, und ich bin gespannt, was herauskommt.“