Tellos Sohn - Gerhard Winkler - E-Book

Tellos Sohn E-Book

Gerhard Winkler

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Beschreibung

Das Leben von Tello, einem bekannten Rockgitarristen, der die 60 überschritten hat, gerät aus den Fugen, als er einen anonymen Brief erhält: »Dein Sohn wird heute zwei Jahre alt. Bitte keinen Kontakt aufnehmen.« Dieser kurze Text zwingt den kinderlosen Musiker dazu, sein bisheriges Dasein radikal in Frage zu stellen. Was bedeutet ein Kind für ihn? Wie wird seine Frau reagieren, wenn sie von seinen One-Night-Stands erfährt? Warum schreibt die Mutter diesen Brief? Doch vor allem: Soll das Kind erfahren, wer sein biologischer Vater ist? Gerhard Winklers zweiter Roman erzählt amüsant und gleichzeitig ernst von der Wahrheit und Wirklichkeit des Lebens.

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Seitenzahl: 272

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Wende dich nicht ab. Halte den Blick auf die wunde Stelle gerichtet, denn dort tritt das Licht ein.

Rumi (1207-1273)

Alle Welt sehnt sich nach Freiheit, und doch ist jedes Geschöpf in seine Ketten verliebt; das ist der Urwiderspruch, der unentwirrbare Knoten unserer Natur

Sri Aurobindo (1872-1950)

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel: Tello

Zweites Kapitel: Susanne

Drittes Kapitel: Anja

Viertes Kapitel: Tello

Fünftes Kapitel: Rolf

Sechstes Kapitel: Anja

Siebtes Kapitel: Tello

Achtes Kapitel: Josha

Nachwort und Danksagung

ERSTES KAPITEL

TELLO

„MAMI, MAMI, schau mal!“

Der kleine Junge tapst zu seiner Mutter und gibt ihr mit erhobenem Arm ein Blatt Papier.

„Oh, du hast einen Brief geschrieben, wie die Mami.“

„Bief“, ruft er.

Er denkt nach.

„Papi Bief“, sagt er, sehr wichtig.

„Du willst Papi einen Brief schreiben?“

„Papi Arbeit!“, ruft er mit Nachdruck.

„Ja, Papi ist bei der Arbeit“, meint Mami. „Aber weißt du was. Mal doch ein Bild. Und wenn Papi heute Abend nach Hause kommt, schenkst du ihm dein Bild.“

„Bild!“, sagt der Junge, „Papi Arbeit…Papi nach Hause, Papi Bild.“

Seine Mutter streichelt ihm über den Kopf. Sie lächelt.

TOM TELLMANN; Spitzname Tello. Nicht Othello, wie einst der Wellensittich meiner Frau, obwohl sie auch mir gegenüber ab und zu verzweifelt ausruft „Oh, Tello!“, sondern einfach Tello.

Bekannt geworden bin ich durch die Band, mit der ich seit vierzig Jahren als Gitarrist durch die Welt tingele.

Erfolgreich übrigens; hervorragend verkaufte Alben, Tourneen überall in der Welt. Obwohl – allmählich wird es ruhiger um uns, seitdem wir die Neunundfünfzig überschritten haben. Eine magische Zahl, die Sechzig; seitdem nenne ich mein genaues Alter nicht mehr. Bleibe Ende fünfzig, seit nahezu drei Jahren. Mit sechzig wird man als alt abgestempelt und als sinnlich-sexueller Mensch nicht wahrgenommen, hat mir eine Freundin erzählt. Wer will das schon!? Nur noch Opa oder weise sein? Nicht ich! Also: Ende fünfzig.

Eigentlich ist es cool, mein Leben. Jede Menge Auftritte und Reisen, genug Geld, eine große Altbauwohnung mit hohen Decken in einer angesagten Gegend von Nürnberg. Dazu Anja, seit fünfzehn Jahren meine Partnerin. Etliche Jahre jünger als ich, prima gehalten dank Yoga, fast vegetarischer Ernährung und täglichen ausgedehnten Spaziergängen mit dem Hund.

In einer Scheune im Nürnberger Land steht unser Wohnmobil; wir fahren, wann und wohin wir wollen, wenn nicht gerade Auftritte anstehen. Eltern gestorben, keine Kinder.

Easy, oder? Stellt sich die Frage, warum ich heute zum ersten Mal im Vorzimmer eines Psychotherapeuten sitze. Eben ist ein Mann aus dem Besprechungsraum gekommen, hat schüchtern in meine Richtung gegrüßt, weg war er. Habe nur vorsichtig hingelinst, wäre mir peinlich, hier von jemandem erkannt zu werden.

TELLO SITZT draußen. Hat vor zwei Wochen angerufen und dringend um ein Gespräch gebeten. Er muss über sechzig sein mittlerweile. Früher waren meine Frau und ich auf jedem Konzert, das seine Band in der Gegend hatte. In den letzten Jahren ist es ruhiger um ihn und vor allem bei uns geworden, seitdem ich über vierzig bin.

Wusste überhaupt nicht, wie Tello mit bürgerlichem Namen heißt.

Was ihn wohl hertreibt, den Mann, den hier jeder kennt und der sich trotzdem anscheinend aus Skandalen rausgehalten hat? Denn die Klatschspalten hat er nie gefüllt, höchstens die Kulturseite …

SCHWEIGEPFLICHT. Deshalb sitze ich hier. Worüber ich sprechen möchte, nein, muss, das möchte ich niemandem erzählen, der es weitergeben könnte. Etliche haben mir von diesem Herrn Heyhäuser vorgeschwärmt. Einfühlsam, überraschend, mit einfallsreichen Ideen und Experimenten habe er sie unterstützt und zu neuen Einsichten verholfen; keine starre Analyse mit Couch, wie man sich das so vorstellt, wenig einmischend, mitfühlend. Empathisch, wie es so schön heißt.

Egal. Ich muss mit jemandem reden, sonst drehe ich durch. Schlafe schlecht, seitdem vor zwei Monaten dieser anonyme Brief angekommen ist; bin verwirrt, spiele unkonzentriert, selbst den anderen ist es aufgefallen, bin sinnlos unfreundlich zu Anja. Ich will ja deswegen nicht gleich eine Therapie machen, das habe ich Heyhäuser am Telefon gesagt, aber aussprechen muss ich mich, raus muss es.

Hätte theoretisch auch ein Pfarrer sein können; bin allerdings vor dreißig Jahren aus der Kirche ausgetreten. Telefonseelsorger ging nicht, zu unpersönlich; ich will ein Gesicht vor mir haben. Ein Glück, dass Heyhäuser relativ schnell Zeit hatte für ein „Vorgespräch“, wie er es am Telefon nannte. Ich müsste mit einer mindestens halbjährigen Wartezeit für einen Therapieplatz rechnen, er sei ausgebucht. Therapie, nee, nicht ich, mein Herz erleichtern, reden will ich …

„WAS FÜHRT Sie zu mir, Herr … äh … Tellmann?“, beginnt der Therapeut. Ich merke, er hätte mich fast Tello genannt; muss trotz meiner miesen Lage grinsen.

„Was kann ich für Sie tun? Oder brauchen Sie zuerst Informationen, mit welcher Methode ich arbeite?“

„Nein. Ich habe genug Gutes über Sie gehört … ich benötige keine Therapie, aber ich muss Ihnen etwas erzählen, das …“, bricht es aus mir heraus.

Ich will es nicht, doch ein kurzes, trockenes Schluchzen schüttelt mich und unterbricht meinen Redefluss.

„… mich anscheinend sehr verwirrt hat“, bringe ich schließlich heraus.

Als der Typ gegenüber meint: „Scheint Sie ziemlich mitgenommen zu haben …“, laufen mir plötzlich die Tränen über die Backen.

„Das kenne ich nicht“, schnaube ich schnäuzend nach einer Weile. „Ich heule sonst nur, wenn ich ein paar Bier getrunken habe und in megaromantischer Stimmung bin … und das ist nicht so häufig der Fall, … das mit der megaromantischen Stimmung, meine ich“, versuche ich unter Tränen lächelnd einen dummen Scherz, um auf Augenhöhe zu kommen.

„Mmmh“, brummt es neutral vom anderen Sessel.

Scheiße, er fällt nicht auf meinen Gag mit dem Bier rein; gut, der will es wissen, wirklich wissen, was mit mir los ist.

„Also“, es ist für mich plötzlich unendlich schwer auszusprechen, warum ich da bin; schamvolle Verwirrung trocknet meine Kehle, hindert mich am Reden.

„Ich bring’s nicht raus, ich glaub’s selbst nicht … so kenne ich mich echt nicht“, verzweifelt äuge ich rüber.

„Scheint ein großes Ding zu sein“, antwortet der Therapeut trocken.

Das hilft mir.

„Ja, ist es. Weil …“, ich drücke mit Kraft die Luft aus meinen Lungen, „ich bin Vater geworden.“

„Mein Glückwunsch!“, lächelt der zufriedene Arsch im Sessel gegenüber.

„Ja, wenn es so einfach wäre“, presche ich vor, denn ich habe endlich meinen Faden gefunden, „das Kind ist nicht von meiner Frau.“

Und damit bricht es aus mir heraus. Ich erzähle offen, dass ich dann und wann, in früheren Jahren öfter, nach unseren Auftritten einen One-Night-Stand hatte.

„Klischee hin oder her, wir Musiker sind eine begehrte Ware … und ich war nicht schwer zu kriegen, wenn ich ehrlich bin. Wissen Sie“, meine ich entschuldigend, „es wurde nie was Ernstes. Ich stehe zu meiner Frau, aber ich war empfänglich, vor allem unter Alkoholeinfluss“, grinse ich, „für die Schönheit und die Sinnlichkeit anderer Frauen. Sie verstehen sicher, was ich meine.“

„Mmmh …“

Was will er mit diesem Brummen ausdrücken? Verständnis oder Kritik?

„Zugegeben, ich hatte Schuldgefühle hinterher … die hab ich mit dem Lustvollen des Geschehens ausgeglichen … ging nach ein paar Tagen Null auf Null auf …“

„Und jetzt sind Sie Vater geworden!?“, unterbricht mich der Therapeut.

„Ja, das ist der Punkt!“

„Und was wollen Sie in diesem Zusammenhang von mir?“

„Darüber reden, erzählen, was sich in mir aufgestaut hat“, rufe ich aufgeregt. „Endlich alles rauslassen!“

„Da haben wir ein Problem“, antwortet Heyhäuser gelassen. „Ich habe Ihnen ja am Telefon gesagt, ich bin für Monate ausgebucht. Wenn Sie ‚alles rauslassen‘ wollen, ist das eine Therapie, und … der nächste regelmäßige wöchentliche Platz wird möglicherweise erst in einem Jahr frei.“

EIN MONAT ist vergangen, seitdem ich bei Heyhäuser war. Es hat mir gut getan, mit ihm zu sprechen, diese eine Begegnung hat den Druck in mir gemildert. Weg ist er nicht. Gemildert. Wir haben vereinbart, dass er alle vier, fünf Wochen eine Stunde für mich reserviert, wenn es eben möglich ist oder ein Patient kurzfristig ausfällt. Habe eventuell einen Prominentenbonus. Andererseits bin ich zeitlich ziemlich flexibel.

„Hausaufgaben“ hat er mir vorgeschlagen für die Zeit dazwischen. Ich schreibe seitdem eine Art wildes Tagebuch; was in mir tobt, schmiere ich da rein…es erleichtert mich. Komisch, ziemlich oft taucht mein Vater auf, obwohl der seit über dreißig Jahren tot ist.

Fast so oft wie mein Sohn, über den schreibe ich natürlich ausführlicher.

Außerdem hat Heyhäuser mir Dehnungs- und Achtsamkeitsübungen empfohlen. Habe mich in der Volkshochschule zu „Qigong und bildlose Meditation“ angemeldet. Die Kursleiterin gefällt mir in ihrer gelassenen Art; ihre Anweisungen sind ruhig und klar, es fehlt, zum Glück, jede Art missionarischer Überzeugungseifer. So was kann ich nicht ab. Nee, nicht ich!

Jedenfalls sitze ich seitdem jeden Tag eine Viertelstunde still auf einem Stuhl, die Hände ineinander gelegt, die Daumen berühren sich, und zähle Atemzüge. Gedanken soll ich wie Wolken am Himmel ziehen lassen, meinte die Kursleiterin. Fällt mir schwer, sehr schwer. Bleibe ständig bei den verrücktesten Sachen hängen, egal. Die Übung passt mir, ich habe sie bisher keinen Tag ausgelassen.

Anja ist überrascht von meinem Verhalten und den neuen Ideen. Von dem Psychotherapeuten weiß sie nichts, niemand weiß davon; das mit der Meditation gefällt ihr, glaube ich. Sie grinst, aber respektvoll, wenn ich mich zu meinen „Übungen“ zurückziehe. Als Yogalehrerin kennt sie sich aus, ich hatte mich früher von dem Kram, den andere Spiritualität nennen, zurückgehalten.

Freue mich auf das Gespräch mit Heyhäuser morgen. Vorher einen Cappuccino in meinem Lieblingscafé, wo mich jeder kennt und trotzdem oder genau deswegen in Ruhe lässt …

GLEICH ERSCHEINT Tello, Herr Tellmann, natürlich. Bin gespannt, was sich bei ihm getan hat. Ist eine außergewöhnliche Situation. Wird in seinem siebten Jahrzehnt von einer ungeplanten Vaterschaft überrascht, ohne dass er Kontakt zu dem Kind hat oder haben darf. Klar bringt ihn das aus dem Gleichgewicht, zumal er sensibler wirkt, als ich ihn mir von der Bühne her vorgestellt habe.

Ich freue mich auf ihn. Ist eine spezielle Erfahrung, ein eigenes Jugendidol vor sich sitzen zu haben, Teile aus seinem Leben zu erfahren …

„WIE GEHT es Ihnen, Herr Tellmann?“

„Besser! Der Druck ist milder, nicht weg. Tagebuchschreiben hilft mir, stilles Sitzen genauso; hätte nie gedacht, aber es macht mir sogar Spaß. Meistens jedenfalls. Habe früher geglaubt, das sei nur langweilig, wenn meine Frau auf einem Meditationswochenende war. Aber – ich will keine Zeit verlieren. Ich hab Ihnen noch nicht berichtet, wie ich es erfahren habe.“

„Stimmt.“

„Ich habe einen anonymen Brief bekommen. Die Nachricht lautete:

‚Dein Sohn feiert heute seinen zweiten Geburtstag.

Bitte keinen Kontakt zu mir aufnehmen.‘

Keine Unterschrift, keine Adresse, kein Garnichts; irgendwo in Nürnberg abgesendet, das konnte ich am Stempel herausfinden …“

„Mmmh.“

„Was mich am meisten an der Sache irritiert hat, ist die Widersprüchlichkeit. Zuerst konfrontiert mich die Frau mit dieser Hammernachricht und im nächsten Atemzug fordert sie Kontaktvermeidung.“

„Haben Sie eine Idee, was dahinter stecken könnte?“

„Wahrscheinlich hat sie Angst, will ihre Ehe nicht aufs Spiel setzen, irgendetwas in der Art. Anfangs habe ich einen Erpressungsversuch vermutet; nachdem zwei Monate nichts Neues eingetroffen ist, scheint mir das abwegig. Völlig unklar ist mir, warum sie mich informiert hat, wenn sie keinen Kontakt will. Kapiere ich nicht!“

Schweigen.

„Sind Sie denn sicher, dass die Geschichte stimmt und nicht nur ein übler Scherz von jemandem ist, der aus irgendeinem Grund verärgert über Sie ist?“

„Bin ich nicht! An einen Scherz glaube ich trotzdem nicht. Ich habe über die Zeit, in der es passiert sein muss, nachgedacht. Es kann nur eine Frau sein. Ich erinnere mich nicht an ihren Namen, nur an ihr Aussehen. So häufig nutze ich außerdem die Gelegenheiten nicht; früher war das öfter der Fall, obwohl – Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich nach wie vor mit eindeutigen Angebote nach den Auftritten konfrontiert werde.“

Mir ist warm, ich schwitze, vielleicht erröte ich sogar eine Spur.

„Doch, kann ich mir vorstellen. Also, Sie meinen, es kommt nur eine Person in Frage?“

„Ich habe nachgerechnet. Vor zwei Monaten kam der Brief, dazu zwei Jahre und die Schwangerschaft. Es muss ein Konzert in Erlangen gewesen sein; es war in den letzten drei Jahren das einzige Abenteuer, auf das ich eingegangen bin. Man wird“, Mann, ist das unangenehm, „ja auch älter. Außerdem ist der Kick nicht mehr so da und letztlich, selbst wenn es sich nicht so für Sie anhört, steh ich wirklich auf meine Frau.“

Ich bin fix und fertig. Extrem peinlich! Ich habe nie mit meinen Affären angegeben, den Deckel der Verschwiegenheit darauf gehalten…und nun beichte ich einem wildfremden Mann.

Selbst wenn ich mein Gegenüber mag und ihm überraschenderweise trotz der kurzen Zeit, die ich ihn kenne, ziemlich vertraue, das geht weit. Aber es gibt kein Zurück. Nur nach vorne, wohin der Weg auch führen mag.

„Weiß Ihre Frau von Ihren Affären?“, holt mich Heyhäuser abrupt aus meinen Gedanken.

„Nein, natürlich nicht, ich hoffe nicht … oh Gott, ist das bescheuert!“, stottere ich. „Lassen wir Anja eine Weile aus dem Spiel, sonst wird das Durcheinander zu groß. Zuerst möchte ich meine Gedanken zu der Geschichte loswerden.“

Der Therapeut nickt; ich weiß, er wird seine Frage nicht vergessen …

ICH ÜBERLEGE in den nächsten Wochen hin und her. Anja und die Kumpel in der Band empfinden mich zeitweise als komplett abwesend; kann ich nachvollziehen.

Die Unsicherheit bleibt. Stimmt das mit dem Kind überhaupt?

„Dein Sohn feiert heute seinen zweiten Geburtstag.“

Warum hat die Frau so lange gewartet? Warum schreibt sie gerade jetzt? Will sie mit dieser Aussage nicht doch Kontakt aufnehmen? Quatsch, natürlich ist es eine Kontaktaufnahme! Sonst hätte sie schweigen können und es hätte nie jemand davon erfahren. Warum also?

Manchmal wäre mir am liebsten, sie hätte nie geschrieben. Vorher hatte ich eine lässige Zeit, jedenfalls in meiner Erinnerung, nun leide ich wie ein Hund. Hätte sie mich besser in Ruhe gelassen!

„Bitte keinen Kontakt zu mir aufnehmen.“

Klingt unlogisch, ver-rückt mit Bindestrich. Sie nimmt Kontakt auf, ich soll keinen Kontakt aufnehmen. Erst die Info, sofort danach die Verweigerung. Was soll das?

Der Psychotherapeut hat mir eine Frage mitgegeben. Warum mir das Ganze überhaupt wichtig sei.

Stimmt! Warum steigere ich mich so hinein, dass ich jede Nacht aufwache? Vergiss die Story einfach! Wenn es nicht stimmt, war es nur ein übler Scherz, wenn es stimmt und sie keinen Kontakt will, okay. Das Kind muss nie von mir erfahren, der dumme Brief gerät bei ihr und bei mir in Vergessenheit.

Vielleicht ist sie alleinerziehend, steckt in Geldnot?

Glaub ich nicht, dann hätte sie den Brief anders formuliert, etwas angedeutet oder gewollt.

Also, warum vergesse ich die Geschichte nicht einfach?

Mmh, erstens weil sie über mich hinausreicht. Mir ist klar geworden, was meine Abenteuer für Anja, ach was, für uns beide und unsere Beziehung mitschwingen lassen…aber, in dieses Feld will ich nicht hinein … noch nicht. Zu gefährlich! Obwohl ich weiß, ich muss mich irgendwann outen.

Muss! Ob ich will oder nicht!

Der zweite Grund haut mich definitiv vom Sockel.

ICH HABE EINEN SOHN!!

Jedes Mal durchkribbelt es aufgeregt meinen Oberkörper, wenn ich das emotional zulasse. Eine Gänsehaut jagt die andere, wenn dieses Wissen mich überfällt. Ein Wirrwarr im Bauch zerzaust mich, ich verliere mein klares Denken; es strudelt mich in eine Tiefe, von der ich nichts in mir wusste …

Was ruft mich auf, zwingt mich geradezu, ständig daran zu denken, egal, ob es stimmt oder nicht …?

„WEIßT DU was, Tello, du wirkst abwesend in letzter Zeit und, mmhh … traurig. Ist was? So zurückgezogen kenne ich dich nicht. Was ist los?“

Anja sitzt mir gegenüber am Frühstückstisch. Ich schaue an ihr vorbei. Hinter ihr belebt ein eingebautes Bücherregal, mit bunten Koch- und Pflanzenbüchern unterschiedlicher Größen, die Wand. Es hat mir immer gefallen, jetzt rettet es mich durch den ersten Schock nach der Frage. Ich versuche mich auf die Farben und die Titel zu konzentrieren, doch sie verschwimmen vor meinen Augen. Was soll ich tun?

Natürlich hat Anja Recht. Ich bin abwesend, ziehe mich schweigend in mein Zimmer zum Tagebuchschreiben zurück, hänge abends mit Bier vor dem Fernseher, obwohl mich überhaupt nicht interessiert, was ich mir reinziehe.

Sogar die Kumpels der Band haben es gemerkt. Ich bin ausgewichen, habe von Winterschlaf und Frühjahrsmüdigkeit gefaselt; überzeugend klang das selbst für mich nicht. Wir haben es vorläufig dabei belassen, aber klar werden sie nachhaken, schließlich haben wir einen Ruf und dadurch einen zu verlieren.

Am Morgen, als ich mit dem Hund kurz Gassi gegangen bin, hat mich eine ältere Frau, die an ihrem Zaun lehnte, angesprochen.

„Frühling“, hat sie gelächelt und auf den winzigen Vorgarten hinter sich gedeutet, „ist, wenn dreißig Gänseblümchen auf einem Quadratmeter wachsen.“

Warum fällt mir das gerade ein? Und warum treibt es mir Tränen in die Augen?

„Mensch, Tello“, reißt mich Anja aus meinen Gedanken, „ich weiß nicht, was mit dir los ist. Verspätete Midlifecrisis oder eine Spätwinterdepression? Erzähl mir einfach, was in dir vorgeht. Wir gehören doch zusammen, ich mach mir wirklich Gedanken um dich …“

Anja weint.

Erzähl mir, was los ist. Wenn das so einfach wäre! Mir dreht sich der Magen um, wenn ich daran denke, wie Anja reagieren wird, wenn sie mein Geständnis hört. Langsam begreife ich die Tragweite meines jahrelangen Verhaltens. Habe es freudvoll verdrängt, erst der Brief hat es hervorgerissen.

Wie gerne würde ich meine Sorgen und Hoffnungen teilen, meine innerliche Aufregung, meine manchmal abgrundtiefe Verlorenheit. Ja, Anja hat Recht. Ich bin abwesend … und ich bin traurig.

Was das Blödeste ist: Ich kann den wahren Grund nicht aussprechen, jedenfalls noch nicht. Muss es mit mir alleine ausmachen, unterbrochen von einer Stunde im Monat.

Aufschreiben ist hilfreich, wie eine Reise ins Unbekannte meiner Gefühle. Aber mir fehlt das Gegenüber. Der Austausch, Hirn und Herz im Gespräch, von mir aus auch der Streit …

„Jetzt schweigst du wieder!“

Anja wischt sich Tränen von der Backe.

„Ich mache mir Sorgen. Willst du mehr spielen, fehlen dir der Trubel und das Feiern nach den Auftritten? Haben wir uns im letzten Jahr zu sehr zurückgezogen? Ich kann es nachvollziehen, wenn du raus in die Öffentlichkeit und powern willst …“

„Mmhh, das Gegenteil ist der Fall“, kann ich endlich einhaken. „Ich merke selbst, ich verhalte mich komisch. Aber es ist so, dass ich eher aus der Band raus will als rein. Da ist was vorbei.“

Ich zögere. Nein, noch nicht. Noch kann ich nicht beichten.

„Was meinst du, wollen wir das Wohnmobil dieses Jahr früher frühlingsklar machen und ab Mitte April für zwei Monate ans Mittelmeer fahren?“, lenke ich ab. „Ich will nicht zurück ins Alte, das Gewimmel um die Band bedeutet mir kaum noch etwas. Die Jungs haben es gemerkt, ich glaube, heimlich suchen sie eh einen neuen Leadgitarristen. Es ist, als wenn was Neues aus mir raus will, so ne Art Geburt.“

„Wow, große Worte!“, lächelt Anja, die sich wohl gefangen hat, nachdem ich endlich reden konnte. „So ne Art Geburt. Na, da bin ich gerne dabei.“

Für einen Moment muss ich grinsen. Ob sie das genauso sagen würde, wenn sie wüsste, worum es tatsächlich geht?

„Wechseljahre“, meint Anja trocken, „du weißt, auch Männer leiden darunter. Wo ich endlich fast durch bin, scheinst du dran zu sein. Aber“, setzt sie fort, „die Idee mit der Reise gefällt mir. Ich habe sogar einen Vorschlag. Petra und Jochen waren letztes Jahr mit dem Wohnmobil in Kroatien und Montenegro unterwegs. Wir könnten sie besuchen, kochen, Bilder anschauen, die haben sicher jede Menge Tipps für uns.“

Anjas Begeisterung steckt mich an. Ein Kraftschub, wie lange nicht.

„Ja, gut! Ruf sie gleich an. Ich besorge einen Reiseführer von Kroatien …“

„Und ich putze den Winterdreck aus dem Womo. Muss es nicht dieses Jahr zum TÜV?“

„Nicht vor Juli, kein Problem.“

Ich spüre, wie uns Pläne schmieden zusammenschweißt.

„Wir packen das, Tello!“, meint Anja leichthin, aber überzeugt.

Ich drücke die Tränen, die in mir aufsteigen, mit Mühe zurück. Nicke …

ICH MERKE, wie mir Paula näher kommt. Sie war eher Anjas Hund gewesen in den letzten elf Jahren. Ich war ja meistens auf Tournee oder in Proberäumen, nahezu die Hälfte des Jahres. Anja war mit ihr als junger Hündin in der Welpenschule und später im Agilitytraining, sorgte für die Impfungen und die Tierarztbesuche. Bürstet Paula mit Freude und Hingabe, wäscht fluchend ihr welliges blondes Fell, wenn sie sich in Schafskötteln gewälzt hat. Sie liebt die gemütliche Retrieverhündin.

Ich habe Paula – innerlich – von mir ferngehalten. Nicht ich, das war, wie so oft, meine Devise. Hund waschen, nein danke, Gassi gehen war okay. Doch wehe, wenn sie einer Katze hinterhergejagt ist … dann wurde ich fuchsteufelswild. Nur nicht auffallen, nur nicht zu viel Verantwortung; Nähe in sparsamen Dosen, Abstand von enger Bindung oder gar Liebe. Wie ich das anscheinend mein ganzes Leben gehalten habe.

Ob ich so auch mit Anja in unserer Beziehung umgegangen bin? Darüber muss ich mit Heyhäuser sprechen.

Keine Angst vor Sex, aber riesige Vorsicht vor Nähe oder Liebe, was immer das sein mag, war mein Credo. Sozusagen Flucht in die körperliche Umarmung bei innerem Abstand.

Und nun wallt zunehmend Zärtlichkeit zu unserer Hündin in mir auf. Seit Wochen drehe ich morgens eine große Runde mit Paula in den Wiesen an der Pegnitz. Gut für die Gesundheit, gut gegen den Bierbauch, rede ich mir ein.

Aber es ist mehr!

Sicher war es schon vorher mehr und ich habe es mir nur nicht zugestanden. Seit ich mit meinem möglichen Vatersein beschäftigt bin, wird es mir warm in der Brust, eng und weit zugleich; ich bin gerührt und berührt, wenn Paula mir in die Augen schaut.

Um mich herum schallt das frühlingshafte Zizipeh der Meisen und das eindringliche Piepsen der Buchfinken im Gebüsch, während ich beobachte, wie Paula gemächlich zum Fluss hinunterschlendert und mit ihrer großen Zunge Wasser schlabbert.

Ob mein Sohn über diese Wiesen mit seiner Mutter spaziert und, wie ich, die Krokusse, die grün-weißen Schneeglöckchen und die zarten blauen Sterne entdeckt, deren Namen ich nicht kenne? Nicht auszuhalten!

Manchmal wirft Paula, die altersgemäß gemütlich neben mir trabt, einen kurzen, wissenden Blick zu mir hoch.

Bemerke ich erst jetzt, wie viel Vertrauen und Nähe von diesen braunen Augen zu meinen fließen? Habe ich das versäumt, mein Leben lang? Nicht sehen wollen oder können?

Ich weiß wohl, wie ich meine Tage und vor allem die Nächte früher gefüllt habe; womit habe ich mein Herz gefüllt in dieser Zeit?

MEINE TRÄNEN fließen, als ich all dies und einiges mehr dem Therapeuten erzählt habe. Fühle mich wie ein kleiner Junge unter seinen freundlichen Augen, wie ein Bub, der sein Herz einst verschlossen und den Schlüssel tief in sich versteckt hat.

„Mein Sohn ist zweieinhalb … und ich bin nicht dabei! Bei ihm. Darf nicht dabei sein …“, schluchze ich.

„Scheiße, das tut weh; scheißweh! Ich hab so einen Schmerz da drin … können Sie das verstehen?“

Der Mann gegenüber nickt leicht, ich kriege es durch meinen Schleier mit. Ach, wenn ich nur so einen Vater gehabt hätte … Schluchzer, meine Nase läuft … der Mann steht auf, kommt zu mir rüber, gibt mir ein Papiertaschentuch…kniet neben meinem Sessel … ich klettere runter, rutsche in seine Arme, weine und weine, kuschele mich ganz, ganz fest an ihn.

Irgendwann merke ich, wie der Therapeut sanft über meine Haare streicht. Ich schaue ihm unsicher, aber irgendwie glücklich in die Augen.

„Na, zurück!?“, lächelt er mich an.

Ich nicke. Sein Hemdkragen ist nass von meinen Tränen. Peinlich? Nein, gerade nicht, es ist einfach so.

Heyhäuser steht auf, setzt sich in seinen Sessel.

Wir schweigen eine Weile, ein ruhiges, vertrauensvolles Schweigen.

„Die Stunde ist bald zu Ende“, meint der Therapeut weich. „Ein paar Minuten haben wir noch, es ist gut, wenn Ihr erwachsener Teil ganz langsam die Führung übernimmt.“

Ich nicke.

„Sorgen Sie für sich in den nächsten Stunden“, fährt er fort. „Sie sind tief in alte Zeiten eingetaucht. Wir nennen das ‚in die Stromschnellen gehen‘. Ist intensiv und oft heilsam. Es kann einen ziemlich erschöpfen.“

Spüre ich.

„Vor allem sollten Sie nicht sofort Auto fahren. Lassen Sie sich Zeit für den Übergang.“

Werde mir alle Zeit der Welt lassen. Alles so weich und warm.

„Machen Sie sich bitte auch klar, andere Menschen wissen nicht, was Sie erlebt haben. Die anderen sind im normalen Alltagsmodus und könnten Ihre Stimmung nicht nachvollziehen. Nicht jeder wird begreifen, was Sie erlebt haben.“

Klar. Ich muss ja selbst erst begreifen, was ich eben erlebt habe. Eigentlich unvorstellbar.

Ich putze meine Nase und äuge zu dem Therapeuten hinüber. Er sitzt lächelnd in seinem Sessel, nickt mir freundlich zu.

Plötzlich muss ich lachen. Heyhäuser lacht mit.

„Ich bin dankbar, dass es Sie gibt und ich Sie kennenlernen durfte“, sage ich leise.

„Ganz meinerseits“, grinst er.

Die Welt draußen strahlt, als ich mich von Heyhäuser nach einer spontanen Umarmung verabschiedet habe. Der Himmel blitzeblau mit weißgrauen Federwölkchen, das alte rote Backsteinhaus gegenüber der Praxis nickt mir grüßend zu, die geparkten Autos in der Straße wirken überaus zufrieden.

Ich bin hellwach und gleichzeitig erschöpft. Sehe ein Bistro an der Ecke, das ich bisher nie bemerkt hatte. „Iss was!“, heißt es und es hat völlig Recht.

Eine unglaublich hübsche Bedienung bringt mir nach kurzer Zeit die Weißwürste mit einer Semmel, die ich zu meiner eigenen Überraschung bestellt habe. Und ein Weißbier; ich, der es gewöhnlich vermeidet, vor dem Abend Alkohol zu trinken.

Der süße Senf und die Wurst zergehen auf meiner Zunge. Ein Schluck Hefeweizen dazu, ein Genuss. So intensiv!

„Um Ihren Hals hängt ein Schild, darauf steht ‚Frisch gestrichen!‘. Denken Sie daran“, hat der Therapeut zum Abschied gesagt.

Ja, so fühle ich mich: „FRISCH GESTRICHEN!“

DIE EUPHORIE weicht weitgehenden Überlegungen in den nächsten Tagen. Es gibt einiges zu ändern: Geheimnisse sind aus der Welt zu schaffen, Verschwiegenes ist hervorzuholen, Verschüttetes, auch Neues drängt nach vorne und will zugelassen werden.

Über das Wann und Wie und die Geschwindigkeit bin ich mir nicht im Klaren, vor allem nicht, welche Reaktionen ich zu erwarten habe. Ob ich meinen Sohn je kennenlernen werde, liegt nicht in meiner Entscheidung, merke ich. Aber ob ich eine neue Ordnung ins letzte Viertel meines Daseins bringen kann, das liegt mit in meiner Entscheidung.

All das muss nicht gleich sein, nur soll es nicht verdrängt werden. Das Abenteuer beginnt heute; das Abenteuer ‚Leben‘ startet in meinem dreiundsechzigsten Jahr … Schluss mit Ende fünfzig!

ANJA HAT zwischenzeitlich ihr Faible für Rhabarber entdeckt. Er sprießt wild und üppig in einer Ecke des großen Geländes von Petra und Jochen.

„Ich will einen Garten“, hat Anja nach dem gelungenen Abend mit Bildern, Tipps und köstlichem Essen wieder einmal genörgelt. „Raus aus dem Stadtmief, ich möchte auf dem Land mit den Füßen auf dem Erdboden alt werden und nicht im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses!“

Ich habe genickt, obwohl ich mir das eher nicht vorstellen kann. ,Nicht ich‘, habe ich mir gedacht, aber manchmal ist nicken und schweigen besser als widersprechen.

Jedenfalls hat Petra uns etliche der rotgrünen Stangen mitgegeben. Anjas Rhabarberkuchen mit Sahne schmeckt köstlich, ihr Rhabarberkompott ist ein Genuss, das Rhabarberchutney, eine Kreation, die ihre Schwester bei einem zweitägigen Besuch beigesteuert hat, rundet geschmackvoll süß-säuerlich jedes Gemüse ab.

Es macht mir Spaß, dass Anja Spaß hat. Zwar lauert das Ungewisse in meinem Hintergrund, trotzdem genieße ich diesen Frühling wie selten. Beobachte bei meinen Spaziergängen mit Paula, wie die gelben Forsythien blühen und andere Büsche kurz davor sind, vorsichtig grüne Blättchen hervorzudrängen. Freue mich an den bunten Farben in den Vorgärten, meine, nie so unterschiedliche Vogelstimmen gehört zu haben.

Zweimal wöchentlich treffe ich die Jungs im Übungsraum, wir fetzen, was das Zeug hält; manchmal meine ich, ich lasse mich an der Gitarre freier als früher. Die anderen bestätigen das, drängen plötzlich auf neue Songs, sehen uns in einer produktiven Phase, im silbernen Aufwind. Ein neues Album steht im Raum.

Ich hebe bei diesen Diskussionen in der Kneipe lässig mein Bier, winke lächelnd ab. Wir als Rentnerband mit weißgrauen Resthaaren sollten unsere Grenzen respektieren, meine ich. Einen ordentlich bezahlten Gig dann und wann in Erinnerung an die wilden Zeiten, mehr brauche zumindest ich nicht.

Als die Gespräche und Ideen konkreter werden, ist mein Entschluss gefasst.

„Startet ohne mich durch, wenn es euch juckt. Für mich ist es okay, wenn ihr einen neuen Gitarristen sucht.“

Der Tumult ist groß, der Abend lang. Schließlich stellt sich beim vierten Bier heraus, dass die anderen seit längerem so ein Statement erwartet hatten.

„Du hast dich geändert“, murmelt Ralf, unser Schlagzeuger, und zieht eine sorgenvolle Miene. „Irgendetwas geht in dir oder um dich herum vor … ich kann nicht einschätzen, ob ich das gut finde.“

Wir einigen uns auf eine kleine, feine Abschlusstournee in Süddeutschland um die Jahreswende. Für diese letzten Konzerte soll mit meinem Abschied geworben werden. Danach, im nächsten Jahr, könnten sich die Jungs in verjüngter Formation neu aufstellen, schlägt unser Manager vor.

Ich bin absolut einverstanden. Mein Weg führt eher zur Akustikgitarre am Lagerfeuer als in die Konzertsäle. Eine Welt in mir stirbt langsam und versinkt, die andere allerdings gleicht meistens einer unerforschte Landkarte.

Ziemlich betrunken torkeln wir zur U-Bahn. Plötzlich nehmen wir uns an den Schultern, bilden einen Kreis und grölen den Song, der uns bekannt gemacht hat. Dann, bevor uns die Polizei wegen Ruhestörung einbuchtet, klatschen wir ab. Weg sind sie, die Freunde. Für einige Sekunden war die Zeit zurückgedreht, jetzt nimmt die Gegenwart Geschwindigkeit auf.

MEINE HAUT ist dünn wie kostbare Seide, manchmal. Wenn Anjas Rhabarberkuchen gelbrot auf dem Tisch glänzt, die weiße Sahne frisch geschlagen daneben steht, der schwarze Kaffee in der Presskanne glücklich gluckst, schwebe ich zwischen Spießertum und Tränen.

Ich schlucke sie, aber damit vermeide ich unweigerlich das klärende Gespräch, die Auseinandersetzung, die Wahrheit und Wirklichkeit meines Seins. Schlucke die Wahrheit, die auf mich zukommt, wenn ich Anja reinen Wein einschenken werde.

Ich will, doch ich kann nicht. Schuldgefühle, die ich früher wegschieben konnte, überspülen mich unvermittelt, vermischt mit Angst, es gibt eine Katastrophe, sobald ich anfangen werde zu beichten. Unsere Beziehung, die ich lange nebenher laufen ließ, erscheint mir wie ein funkelnder Edelstein, der zerbersten könnte. Nicht spritzig wie Champagner, eher tief wie dunkelblaues Meer.

Als wir miteinander schlafen, gewinnt unser an sich vertrautes Zusammensein eine schmerzhafte, vergängliche, kostbare Dimension für mich. Alles scheint gleichzeitig gewonnen und verloren, während ich in ihr ruhe oder mich sanft bewege. Heimat und Verstoßenwerden – unwiderruflich verknüpft, nur noch nicht ans Tageslicht gezerrt.

Nach der Liebe, die wir uns, möglicherweise altersgemäß, ich weiß es nicht, denn in unserem Bekanntenkreis spricht niemand mehr über Sex, einmal die Woche gönnen, schlummern wir entspannt nebeneinander ein. Im Halbschlaf habe ich plötzlich meinen Sohn im Arm. Er kuschelt sich weich in meine Achselhöhle, still, warm, vertraut. Ich erschrecke, als ich kurze Zeit später aufwache und da nichts ist.

‚Nicht ich!‘, war und ist mein Leitspruch. Mittlerweile hat dieser Rückzug von Verantwortung mich eingeholt, überholt. Ver-antwort-ung! Habe ich versäumt, eine Antwort auf den Ruf des Seins zu geben? Habe ich mir selbst mit meinem ‚Nicht ich!‘ mein volles Leben missgönnt?

DAS WOHNMOBIL ist gepackt. Anja hat es mit Ökovorräten ausgestattet, ich mit Wasser und Bier. Übermorgen Heyhi, wie ich ihn mittlerweile in mir nenne, treffen, dann beginnt die Reise durch die Alpen in den Südosten Europas, für die es kein festgelegtes Ende gibt. Die Jungs wissen Bescheid, Termine für die Abschiedstournee sind festgelegt, der Kartenvorverkauf beginnt Anfang Mai. Während wir weg sind, probieren sie es mit verschiedenen Gitarristen, einer wird mein Nachfolger werden.

„In den letzten Monaten, genaugenommen seit dem Brief, ist mein Leben völlig auf den Kopf gestellt worden“, beginne ich die Sitzung.

„Oder vom Kopf auf die Füße!?“, grinst mein Gegenüber.

„Ja, das ist das exaktere Bild. Allerdings scheint mir der Boden unter den Füßen wackelig … und manchmal extrem heiß. Und, um im Bild zu bleiben, ab und zu drückt es ich mich nieder wie ein elender Erdwurm …“

„Mmmh“, brummt Heyhäuser.

„… vor allem, weil bisher nichts Konkretes passiert ist. Ich habe weder Anja die Wahrheit gebeichtet noch irgendetwas über meinen Sohn erfahren. Und ich weiß nicht, wie ich in diesen verflixten Geschichten verfahren soll.“

„Klingt ‚verfahren‘, wie Sie gerade selbst sagten.“

„Ist verfahren. Obwohl ich wie in einem Intercity sitze und die Welt an mir vorbeirauscht, komme ich andererseits keinen Schritt voran.“

Ich schweige nachdenklich.

„Oft sind Ereignisse lediglich der Auslöser, nicht die Ursache“, platzt der Therapeut trocken in die Pause hinein.

Das muss ich erst klar kriegen.

„Sie meinen, die Sache mit dem Kind könnte eventuell nicht die eigentliche Ursache für meine Krise, meinen Wandel oder wie immer ich es nennen soll sein?“

„Zumindest war sie der Auslöser dafür; denn seitdem setzen Sie sich intensiv damit auseinander, wie Sie das letzte Drittel Ihres Lebens gestalten wollen.“

„Eher Viertel.“

„Von mir aus auch Viertel. Aber, ich will es mal derb formulieren“, fährt der Therapeut fort, „das mit dem Kind hätte Ihnen doch am Arsch vorbeigehen können. Warum deswegen irgendetwas ändern?“

Ich bin baff.

„Stimmt“, meine ich, nachdem ich mich gefasst habe, „ich hätte ja denken können: Was soll’s, wünsche dir alles Gute, Winzling, und ab damit.“

„Genau! Das meine ich mit Auslöser.“