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Ein kraftvolles Buch über ein Mädchen, das lernen muss, in einer Welt zurechtzukommen, die um sie herum verschwindet: «Einen besseren Debütroman kann man sich kaum vorstellen.» (Paolo Giordano) Livia hat liebevolle Eltern, eine beste Freundin, und sie rennt schneller als der Wind: Sie ist die Schnellste. Eines Tages erfährt sie, dass ihr Leben bald von Dunkelheit umgeben sein wird. Bei Livia wird eine Augenkrankheit diagnostiziert, die zum Verlust des Sehvermögens führt. Sie erfährt davon in einem Alter, in dem sie nur so sein will wie die anderen, Sportwettkämpfe gewinnen, auf Partys gehen, gesehen werden. Wenn Erwachsenwerden heißt, Schwächen zu akzeptieren, dann ist das Spiel für Livia ein wenig härter als für die anderen. Was bedeutet es, die Kontrolle zu verlieren und sich mit der eigenen Beeinträchtigung abzufinden? Ist es möglich, die eigenen Grenzen zu akzeptieren, wenn alles in einem danach drängt, sie zu überschreiten? Livia wird diese neue Zukunft akzeptieren müssen. Sie wird lernen, zu leben, ohne die Welt um sich herum zu sehen, sich im Dunkeln zu bewegen und auf Geräusche zu vertrauen. Vor allem wird sie sich ihren Ängsten stellen müssen. Ein flirrender Roman, eine intensive Lektüre, die davon erzählt, dass nichts jemals verloren ist.
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Seitenzahl: 281
Greta Olivo
Roman
Livia hat liebevolle Eltern, eine beste Freundin, und sie rennt schneller als der Wind: Sie ist die Schnellste. Eines Tages erfährt sie, dass ihr Leben bald von Dunkelheit umgeben sein wird. Bei Livia wird eine Augenkrankheit diagnostiziert, die zum Verlust des Sehvermögens führt. Sie erfährt davon in einem Alter, in dem sie nur so sein will wie die anderen, Sportwettkämpfe gewinnen, auf Partys gehen, gesehen werden.
Wenn Erwachsenwerden bedeutet, Schwächen zu akzeptieren, dann ist das Spiel für Livia ein wenig härter als für die anderen. Was bedeutet es, die Kontrolle zu verlieren und sich mit der eigenen Beeinträchtigung abzufinden? Ist es möglich, die eigenen Grenzen zu akzeptieren, wenn alles in einem danach drängt, sie zu überschreiten?
Livia wird diese neue Zukunft akzeptieren müssen. Sie wird lernen zu leben, ohne die Welt um sich herum zu sehen, sich im Dunkeln zu bewegen und auf Geräusche zu vertrauen. Vor allem wird sie sich ihren Ängsten stellen müssen.
Greta Olivos Roman ist ein intensives Zeugnis, das davon erzählt, dass nichts jemals verloren ist.
Greta Olivo wurde 1993 in Rom geboren. Sie studierte kreatives Schreiben an der berühmten Scuola Holden in Turin. «Die Nacht der Schildkröten» ist ihr erster Roman. Er wurde mit dem Premio Flaiano ausgezeichnet. Greta Olivo lebt in Rom.
Verena von Koskull,Jahrgang 1970, studierte Italienisch und Englisch für Übersetzer sowie Kunstgeschichte. 2020 erhielt sie den Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis. 2022 war sie Stipendiatin der Casa di Goethe in Rom.
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «Spilli» bei Giulio Einaudi editore s.p.a., Torino.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Spilli», Greta Olivo Copyright © 2023 by Giulio Einaudi editore s.p.a., Torino
Published by special arrangement with Greta Olivo in conjunction with her duly appointed agent Raffaella Lops and the co-agent MalaTesta Literary Agency.
Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo del Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.
Die Übersetzung dieses Buches wurde durch einen Übersetzungszuschuss des Italienischen Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit ermöglicht.
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Clare Elsaesser
ISBN 978-3-644-02074-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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für meinen Bruder
[…] und verlor einen ihrer Flipflops,
und wir mussten den Weg nochmal im Dunkeln zurückgehen, und ich denke, das ist wohl der Sinn des Lebens.
MIRIAM TOEWS, Das gläserne Klavier
Als Erste bemerkte es meine Mutter. Eines Morgens hatte sie mich hochgehoben und war mit mir ans Fenster unserer Dachwohnung getreten.
«Da.» Sie deutete auf die andere Straßenseite. «Was steht da?»
«Es hat ihr niemand beigebracht», sagte sie zu der Nachbarin, zum Tabakhändler, zu ihren Freundinnen, die zum Tee kamen. «Sie kann schon lesen, das ist eine Naturbegabung.»
Willkürlich schlug sie eine Zeitschrift auf dem Esstisch auf und ermunterte mich mit einem Lächeln: «Sag mir doch mal, was hier steht.» Und ich begann zu lesen, mit aufs Papier gedrücktem Finger, der unterhalb der Buchstaben entlangfuhr, langsam zuerst, dann kam ich allmählich in Fahrt und stolperte nur noch bei den schwierigsten Wörtern.
Ich las alles vor, was mir unterkam, Markennamen von Kleidungsstücken, von Haushaltsgeräten, die Titel auf den Buchrücken.
«Auf dem Plakat», hatte meine Mutter gefragt, «was steht da?»
Es war Wahlkampf, die Stadt war mit Wahlplakaten gepflastert.
«Weiß nicht.»
«Wie, das weißt du nicht.» Sie hatte mein Gewicht von einem Arm auf den anderen verlagert und sich noch weiter aus dem Fenster gebeugt. «Das neben dem Kurzwarenladen. Weniger Steu… weniger Steuern …, na los.»
«Ich weiß es nicht. Ich kann das Plakat nicht sehen.»
Ich wurde ins Krankenhaus San Carlo di Nancy an der Aurelia gebracht, in dem es eine angesehene Abteilung für Kinderaugenheilkunde gab.
Nach der Untersuchung teilte der Arzt meinen Eltern mit, er habe bei mir eine frühe Kurzsichtigkeit diagnostiziert und ich würde bald eine Brille tragen müssen, womöglich schon ab dem kommenden Jahr, mit Eintritt in die Grundschule.
«Genau wie dein Großvater», befand meine Mutter, als wir die Klinik verließen, und hielt mich fest an der Hand.
Mein Großvater war nach fünfzig Jahren hochgradiger Myopie erblindet, so nennt man Kurzsichtigkeit ab sechs Dioptrien.
(–4 Dioptrien)
Ohne die Augen von der Windschutzscheibe zu lösen, sagte mein Vater: «Hör mal.»
Er räusperte sich und kramte in seiner Jeans nach einem Taschentuch, die andere Hand fest am Lenkrad unseres alten grünen Citroëns. Morgens hatte er immer Halsweh und glasige Augen, gegen Mittag legte sich das. Meine Mutter sagte, das sei bei ihm schon immer so gewesen, schon als Kind.
«Lass es am Anfang lieber langsam angehen, versuch einfach, ein mittleres Tempo zu halten.» Er schnäuzte in das Taschentuch und öffnete das Fenster einen Spalt. «Kümmere dich nicht um die anderen, lass dich überholen.»
Von der Straße wehte ein miefiger Luftschwall herein, der mir auf den Magen schlug. Zum Frühstück hatte ich einen halben Keks gegessen und eine Tasse Tee getrunken, auf Druck meiner Mutter. Wo nimmst du sonst die Energie her. Jedes Mal, wenn das Auto bremste und wieder anfuhr, schwappte die Flüssigkeit in meiner Bauchhöhle vor und zurück. Ich schloss die Augen und presste den Kopf gegen das Fenster.
«Wenn du so weit wegrückst, fällt er raus», beschwerte sich Morena und stöpselte mir den Kopfhörer wieder ins rechte Ohr. Ich hätte gern neben ihr gesessen, um gemeinsam Walkman zu hören, aber als ich die hintere Tür aufgemacht hatte, hatte mein Vater gesagt, «ich bin doch kein Taxifahrer». Also klemmte sie ganz dicht an meiner Rückenlehne, und wir hörten das Album von Blue, das sie wahnsinnig toll fand, und ich fand es auch ganz gut.
«Spar dir deinen Atem gut auf», fuhr mein Vater fort. «Dann, wenn du siehst, dass die anderen nachlassen, beschleunigst du.»
«Bei welcher Runde?», fragte ich.
«Bei welcher Runde was?»
«Wann soll ich beschleunigen?»
«Na ja, sagen wir … bei der dritten. Bei der dritten ziehst du das Tempo an und hältst es bis zum Schluss.»
Mein Vater kannte etliche Lauftricks, weil mein Onkel Paolo als junger Mann Leichtathletik-Meister von Latium gewesen war. Irgendwann hatte er die Lust verloren und bei den Carabinieri angefangen, aber mein Vater hatte genug Wettläufe miterlebt, um zu wissen, worauf es ankam.
An jenem Morgen fuhren wir zu einem Wettlauf in Formello. Über Formello wusste ich, dass die Fußballmannschaft Lazio dort trainierte. Für uns, die weitab vom Stadtzentrum wohnten, lag es nur eine halbe Autostunde entfernt.
Ein paar Tage vorher waren wir extra zu dem Anlass in einem zweigeschossigen Sportgeschäft gewesen. Ich hatte mir ein Paar neue Turnschuhe ausgesucht, weiß und gelb, weil die alten ein Loch in der Spitze hatten. Ich hatte sie zusammen mit dem Trainingsanzug, dem Trikot und einem dünnen Sweatshirt in die Sporttasche gesteckt, die jetzt zu meinen Füßen lag.
Eine weitere von Onkel Paolo übernommene Regel lautete, sich nicht zu Hause, sondern erst kurz vor dem Start umzuziehen.
«Aus den Augenwinkeln», fuhr mein Vater fort, «behältst du deine Gegnerinnen im Blick. Du musst sie auf dem Schirm haben, aber dreh dich nicht zu ihnen um. Beweg nur die Augen, nicht den Kopf.»
Nach einer Rechtskurve und einer holperigen Straße, die an Golfplätzen vorbeiführte, hielten wir auf einer staubigen Freifläche. Dort standen bereits mehrere Autos und eine Gruppe Mädchen mit Schirmmützen, darunter Marzia und Ludovica. Wieder einmal hatte der Trainer nur uns ausgewählt.
Ich nahm den Ohrstöpsel heraus, ließ ihn ins Leere baumeln und stieg aus dem Auto.
Ludovica winkte mir zu: «Ich bin total aufgeregt, ihr nicht?»
«Beruhig dich mal, Ludoví», antwortete Marzia und band sich das Haar zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen.
«Ja, ein bisschen aufgeregt bin ich schon.» Ich spürte, wie sich die Wogen in meinem Magen legten.
«Mir wird gleich schlecht», sagte Ludovica. Sie knabberte an den Fingernägeln, bis fast nichts mehr davon übrig war, und fing an, sich die Nagelhäutchen abzuzupfen.
«Da bist du ja, noch gar nicht fertig?» Marco drückte mir eine gelbe Kappe auf den Kopf. Darauf stand: «Mittelstreckenlauf Formello, 2006». «Zieh dir den Trainingsanzug an, mach flott.»
«Ich habe meine Sachen im Auto vergessen.» Ich wollte gerade kehrtmachen, als mein Vater schon auf uns zukam, den Bauchbeutel um die Taille, und mir mit verlegenem Lächeln die Sporttasche hinhielt. Er hatte weder Marco noch Marzia und Ludovica je getroffen. Wenn er mich zum Stadio dei Marmi brachte, blieb er im Auto und las, und wenn ich nach dem Training zurückkam, saß er noch genauso da, die Zeitung auf dem Lenkrad und mit gerunzelter Stirn.
«Die brauchst du wohl», sagte er und hängte mir die Tasche über die Schulter.
«Sie sind der Vater? Freut mich.» Marco drückte ihm die Hand, und sie fingen an, über die Hitze zu reden und darüber, in welch miserablem Zustand die Laufbahn von Formello sei, eine wahre Schande.
«Denen geht es nur um Lazio, außer Fußball juckt die nichts.»
Marcos Hand war braun gebrannt, genau wie sein ganzer Körper, denn er wohnte in Ostia und war ständig am Meer.
«Oh, Laura De Sanctis ist auch da», sagte Ludovica und spähte über ihre Schulter.
«Wo denn?» Marzia drehte sich zu den anderen Mädchen um, die miteinander plauderten und Gatorade tranken.
«Was meint ihr, wie viele sind wir insgesamt?»
«Pff, mit uns laufen vielleicht noch sechs», antwortete ich.
«Du gewinnst eh», sagte Marzia und drückte meinen Arm.
«Livia!» Ich hörte Schritte hinter mir und drehte mich um. Morena rannte auf uns zu, den Walkman noch in der Hand, die Ohrstöpsel schlugen gegen ihre Beine. Sie humpelte leicht, denn die Mutter hatte ihr weiße Sandalen mit geflochtenen Riemen angezogen, die an ihrer Ferse scheuerten. Sie trug ein giftgrünes Tüllkleid. Der kräuselige Stoff spannte über ihrer Brust, die sich zu wölben begann. Als sie bei uns war, sah ich, dass ihr Schweiß auf der Oberlippe stand.
«Ciao», sagte sie lächelnd zu Marzia und Ludovica. «Ich wollte euch viel Glück wünschen», sie beugte sich zu mir, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken. «Vergiss nicht, das Band dranzumachen», flüsterte sie mir ins Ohr. Das kommt von meiner Mutter, dachte ich. Sie mussten sich hinter meinem Rücken abgesprochen haben. Ich rückte von ihr ab und tat so, als hätte ich nichts gehört.
Der Sportplatz war räudig, mit gelben Rasenflecken hier und da. Es gab keine Ränge aus weißem, porösem Marmor wie im Stadion, sondern von der Sonne ausgebleichte Sitze, auf denen sich bereits die ersten Zuschauer eingefunden hatten.
Die Frauenumkleide, ein flacher Fertigbau, roch nach Deo und etwas anderem, das ich nicht zu benennen vermochte, vielleicht Eisen oder Blut. Als wir eintraten, drehte sich ein älteres Mädchen zu uns um, wandte sich wieder dem Spiegel zu und fuhr fort, sich Zöpfe zu flechten.
Ich stellte die Tasche auf eine Holzbank, zog die Sandalen aus und steckte sie in eine Tüte, die ich von zu Hause mitgebracht hatte. Ich fragte Marzia, wie viel Zeit wir noch hätten. «Fünf Minuten», antwortete sie mit einem Blick auf ihre Flik-Flak-Uhr.
Als ich mich umgezogen hatte, streckte ich die Beine aus und begutachtete meine Schuhe. Dann öffnete ich die kleine Außentasche des Sportsacks und zog das Band heraus. Es bestand aus einer schmalen Kordel, meine Mutter hatte sie aus dem Bund einer ihrer alten Hosen gezogen, die sie nur zu Hause trug.
Sie hatte an meinem Nacken Maß genommen, um zu wissen, wie viel Kordel sie abschneiden musste, und dann zwei Schlingen in die Enden geknotet. So sitzt sie genau richtig, hatte sie gesagt und die Brillenbügel hineingeschoben. Mit zunehmender Kurzsichtigkeit waren die Brillengläser von Monat zu Monat immer dicker geworden, hineingepresst in das Gestell, das sie kaum mehr zu fassen vermochte. Wenn ich sie trug, hatte mein Gesicht nichts Hübsches mehr.
«Das will ich nicht», hatte ich zu meiner Mutter gesagt, als sie mich das Band hatte ausprobieren lassen. «Aber du sollst es doch nur zum Laufen tragen», hatte sie gesagt. «Ich will es gar nicht.» Ich war weggegangen und hatte es auf dem Küchentisch liegen lassen. Niemand hatte mehr davon gesprochen, aber das Band war auf der Kommode im Eingangsflur wieder aufgetaucht, in der kleinen Schale, in der wir die Hausschlüssel aufbewahrten. Dieses Stück Kordel symbolisierte für meine Mutter den Versuch, einen irreparablen Riss zu flicken, ein Leck mit bloßen Händen zu stopfen. Lange Zeit dachte ich, sie sei blöd und mache sich etwas vor.
«Die ist gar nicht so schnell, die hat nur zwei Meter lange Beine.» Marzia kam aus dem Bad und wandte sich an Ludovica.
«Angeblich trainiert sie jeden Tag, also echt jeden Nachmittag oder so», entgegnete Ludovica. «Willst du?» Aus einem Fläschchen drückte sie mir einen Klecks Sonnencreme in die Handfläche. Ich verrieb die dicke, duftende Creme auf Stirn und Wangen, auch ein bisschen auf den Armen.
«Jedenfalls hasse ich sie, ich schwöre», fuhr Marzia fort und steckte sich den Pony mit einer schwarzen Haarklammer zurück.
Ludovica schnaubte. «Hast dich ganz schön eingeschossen auf diese Laura De Sanctis.»
«Wenn die uns auch immer schief anglotzt, stimmt’s, Livia?» Im Spiegel warf Marzia mir einen Zustimmung heischenden Blick zu.
«Ja … stimmt, ab und zu scheint sie uns echt schief anzuglotzen», sagte ich.
Ich steckte das Band wieder in den Sportsack und schloss die Tasche. Das Mädchen mit den Zöpfen war gegangen, in der Umkleide waren nur noch wir drei.
«Lasst uns gehen, höchste Zeit», sagte Ludovica.
Ich folgte ihnen aus der Umkleide, die Schwüle hüllte uns ein und machte jeden Schritt schwer. Es war, als wanderte man im Nebel.
Wir gingen zu Marco auf das grüne Rasenstück in der Platzmitte. Er gab uns Trikots, die zur Kappe passten, und breitete die Arme aus.
«Na los, alle zu mir.» Wir ahmten seine Bewegungen nach, inzwischen kannten wir sie auswendig. Zuerst den rechten Arm über den Kopf, Ellenbogen nach oben, mit der linken Hand dagegendrücken. Dann das Gleiche mit dem anderen Arm.
Sich auf den Boden setzen und nach vorn beugen, bis der Oberkörper die Schenkel berührt. Die Hand um den Fuß legen, möglichst weit nach vorne strecken. Die gespannten Sehnen spüren. Das Gleiche mit dem anderen Bein.
Marco machte uns ein Zeichen, aufzustehen: «Laufen auf der Stelle.»
Ludovicas Wangen waren gerötet, ihre Lippen halb geöffnet, sie atmete durch die Nase aus, auf der eine weiße Schliere Sonnencreme zurückgeblieben war.
Marzias delfinförmiger Kettenanhänger hüpfte immer schneller auf und ab, schlug gegen die eine Schulter, dann gegen die andere. Um uns herum drehten die anderen Mädchen Proberunden um den Platz, manche lachten laut.
Irgendwo auf den Rängen saßen mein Vater und Morena. Wer weiß, ob sie mich sehen, mich unter all den gelben Trikots ausmachen konnten. Vielleicht hatte Morena ihr Fernglas dabei, mit dem sie die Vögel im kleinen Garten unseres Wohnhauses beobachtete. Hätte sie es dabei, würde sie mich sehen können, und auch, dass mir die Brille auf die verschwitzte Nasenspitze gerutscht war. Morena war die Einzige, die von dem Band wusste, ich benutzte es nur, wenn wir zusammen spielten, vor ihr schämte ich mich nicht. Beim Training hatte ich es noch nie getragen. Deswegen drosselte ich, sobald ich merkte, dass die Brille zu rutschen begann und herunterzufallen drohte, die Geschwindigkeit.
Das Stimmengewirr auf den Rängen schwoll an. Ich kniff die Augen zusammen und suchte die Sitze nach einem giftgrünen Kleid ab. Ich wollte wissen, wo ich hinsehen musste, sobald der Lauf vorbei war.
«Da ist sie», sagte Marzia. Laura De Sanctis’ Beine waren wirklich lang und kräftig, wie zwei Lebewesen ragten sie aus den kurzen Turnhosen. Sie drehte ein paar Runden um den Platz, und wenn sie an uns vorbeizog, bewegte sich die Luft.
Marco trat zu Marzia und zog ihr sacht am Zopf. «Marziè, nicht immer auf die anderen gucken, denk an dich.»
«Ist gut», antwortete sie und kickte nach einem Erdklumpen.
«Also, Mädchen, ihr wisst Bescheid. Bleibt konzentriert. Seht euch an, wie ruhig Livia ist», fuhr Marco fort. «Stimmt’s, Liviè? Sehr gut, immer einen kühlen Kopf bewahren.»
«Ja, Coach», antwortete Ludovica und knabberte an ihrem heruntergekauten Daumennagel. Marco ging zu einem Mann, der auf einem Hocker saß und etwas auf einen Notizblock schrieb, und wir trotteten hinterher.
«Ja, Coach», äffte Marzia leise und verzog den Mund. «Kannst du ihn nicht Trainer nennen wie wir alle?» Ludovica blickte kurz von ihren malträtierten Fingern auf, sagte aber nichts. Sie setzte sich auf ein Mäuerchen unterhalb der Ränge in den Schatten. Ich gesellte mich zu ihr, schlug die Beine übereinander und versuchte, den Rücken gerade zu halten. Jedes Mal, wenn ich mit der Nase fast die Tischkante berührte, wies meine Mutter mich zurecht. «Sitz nicht so krumm da», sagte sie dann, «reck die Schultern.»
Der Hürdenlauf hatte angefangen, ich konnte die Rufe der Eltern hören, eine Frau mit raspelkurzen Haaren brüllte vom Spielfeldrand: «Lauf, Silvia! Kurze Schritte, kurze Schritte!»
Meine Schuhe drückten. Ich band sie auf und schnürte einen lockereren Knoten.
Ich fragte Ludovica, ob sie Wasser dabeihabe, sie verneinte. Jemand tippte mir auf die Schulter. «Wenn du was trinken willst, hier.»
Laura De Sanctis hielt mir ihre Trinkflasche hin. Obwohl wir uns seit mindestens drei Jahren bei den Wettläufen begegneten, war es das erste Mal, dass sie mich ansprach.
«Danke», sagte ich. Lächelnd sah sie mir beim Trinken zu und setzte dann die Flasche gierig an ihre Lippen. Sie stieß einen zufriedenen Laut aus, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und sagte: «Also laufen wir heute zusammen.»
«Ja. Nach denen sind wir dran, stimmt’s?», fragte ich, obwohl ich es bereits wusste.
«Ja, nach denen sind wir dran.» Laura De Sanctis hatte lange Pferdewimpern und durchdringende, kluge Augen, die mich eine Sekunde lang musterten. «Ich gehe zu meinem Trainer», sagte sie noch, «wir sehen uns nachher.»
«Was wollte die denn?», fragte Ludovica.
Ich zuckte die Achseln. «Nichts, sie hat mir Wasser gegeben.»
«Sobald Marzia das spitzkriegt, hast du keine ruhige Minute mehr.»
«Ich muss aufs Klo.»
Sie starrte mich ungläubig an. «Wie, aufs Klo? Die sind fertig!» Sie deutete auf die Hürdenläuferinnen, das Mädchen namens Silvia hatte gewonnen, und die Frau mit den kurzen Haaren umarmte sie glücklich.
«Nur eine Sekunde.»
Ludovica wischte sich die Finger am Trikot ab. «Hättest du das nicht eher machen können?»
«Alle hierher», rief Marco von der Laufbahn und klatschte in die Hände. Seine Stimme schien von weit her zu kommen.
«Sag ihm, ich bin gleich zurück.» Ich hastete davon. Zog an Marco vorbei, der die letzten Ratschläge vor dem Start erteilte.
«Wo will Livia denn hin?», hörte ich ihn fragen. Ich bekam die Antwort nicht mehr mit, war schon außer Hörweite, auf dem Weg zur Umkleide.
Ich stieß die Tür auf und rannte zur Tasche, das Herz pochte in meiner Brust, in den Ohren.
Schau nach vorn, sagte ich mir, um mich zu beruhigen, die Stimme meines Vaters im Kopf. Lass die anderen vorbeiziehen. Aus dem Augenwinkel behältst du deine Gegnerinnen im Blick. Dann, in der dritten Runde, beschleunigst du.
Ich zog das Band heraus und stürzte zur Laufbahn zurück. Fummelte es auf dem Weg zu Marco und den anderen auf die Brillenbügel, erst über den einen, dann über den anderen. Und siehe da: Plötzlich saß die Brille an ihrem Platz, fest und stramm auf der Nase.
«Entschuldigt», keuchte ich, als ich bei ihnen war.
«Aufs Klo geht man, bevor man auf den Platz kommt», blaffte Marco. Marzias Blick war auf mich geheftet.
«Was ist das denn?», fragte Ludovica.
«Nichts», antwortete ich und griff mir in den Nacken.
«Livia, hier ist deine Bahn.» Marco deutete auf die Nummer drei und wünschte mir Glück.
Rechts von mir war Ludovica, links Laura De Sanctis, die mir zulächelte und in Position ging.
Auf der eins und sechs, ganz außen, starteten zwei Mädchen, die ich nicht kannte.
«Auf die Plätze», sagte der Starter.
Linkes Bein nach vorn, das rechte nach hinten. Die Finger fest auf der orangefarbenen Bahn.
«Fertig.»
Niemand tat einen Mucks, ich sah eine Ameise, die langsam zwischen meinen Fingern hindurchkrabbelte.
Dann der Schuss, die Beine, die losschnellten, ehe ich darüber nachdenken konnte.
Das Geräusch meiner Schritte auf dem Boden übertönte die Rufe von den Rängen. Automatisch ging mein Zeigefinger zur Nase, um die Brille hochzuschieben, doch das war nicht nötig. Die Brille saß fest an ihrem Platz, hüpfte nicht bei jedem Schritt.
Aber irgendetwas stimmte nicht. Ich hatte nur meinen keuchenden Atem in den Ohren, ich hörte die Schritte der anderen nicht.
Jemand schrie: «Los, Laura! Gib Stoff!» Laura war hinter mir, und ebenso Marzia, Ludovica und die anderen beiden Mädchen.
Ich machte etwas falsch. Man muss seine Kräfte einteilen, langsamer laufen, nicht sofort alles geben.
Nicht so schnell, sagte ich zu mir, nicht so schnell, sonst verpatzt du es.
Ich versuchte, kürzere Schritte zu machen, zwang mich, den Schwung meiner Arme zu drosseln, doch es gelang mir nicht. Ich beendete die erste Runde und war in Führung. Dann die zweite, noch immer in Führung. Ich kniff die Augen zusammen, um sie vor der Sonne zu schützen, die inzwischen hoch am Himmel stand und gnadenlos herunterbrannte. Zum Glück hatte ich Sonnencreme genommen, und auch das Band. Noch nie war ich so geschmeidig gelaufen, ohne Angst, plötzlich die Brille zu verlieren. Sogar die Laufbahn erschien anders als sonst, klarer und weiter. Aber ich sollte vielleicht langsamer werden, dachte ich.
Ich war mir sicher, dass mein Vater in genau diesem Moment zu jemandem sagte, zu Morena vielleicht oder zu einer Mutter, die neben ihm saß, ich würde einen Fehler machen, so solle man nicht laufen.
Das Haar schlug mir in den Nacken, ich hatte es offen gelassen, es war zu kurz, um es zusammenzubinden. Mein Mund stieß die Luft aus und sog sie wieder ein, einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, und dann, an einer Stelle unten links, machte sich ein Anflug von Seitenstechen bemerkbar. Das war nichts Neues, um dagegen anzugehen, musste ich langsamer atmen. Schnelle Füße, langer Atem, und das Seitenstechen verschwand. Ich stellte fest, dass ich unter dem dumpfen Schmerz, verborgen an einem tieferen Punkt, noch Atem hatte, und Schnelligkeit. Ich stieß mich mit den Füßen ab, bis ich Marco sah, der mir seine schüttelnde Faust entgegenreckte, rot im Gesicht, und schrie: «Pass auf, linke Seite, pass auf, linke Seite!» Ich stieß mich noch stärker ab und setzte den Fuß hinter die Ziellinie.
Ich habe gewonnen, dachte ich. Ich wandte den Blick nach links, um Laura als Zweite einlaufen zu sehen. Ich wollte ihren Gesichtsausdruck erhaschen, ihre Miene lesen, und dann verlor ich das Gleichgewicht. Ich dachte: Ich falle.
Ich fiel nach vorn. Schlug heftig auf die rote Erde, mir blieb die Luft weg vor Schmerz. Ein entsetzliches Brennen an Knien und Händen. Die Brille flog samt Band davon, landete ein paar Schritte entfernt, zu weit weg, um danach zu greifen.
«Alles in Ordnung?», fragte Marco. Ich versuchte mich hochzurappeln, aber mein Bein tat weh, aus einer Wunde am Knie sickerte Blut, das violett aussah. Auch meine Hände waren aufgeschürft, mein Kinn tat weh. «Scheiße, lass mal sehen.» Marco musterte mich prüfend. «Da braucht’s Betadine, kannst du laufen? Ihr bleibt hier.» Ludovica und Marzia waren noch ganz außer Atem herbeigerannt.
Ich klammerte mich an seine Schulter, und als einer der Kampfrichter herüberkam, begann Marco, auf ihn einzuschimpfen, die Laufbahn sei nicht ordentlich präpariert worden, man fliege schließlich nicht einfach so hin, aus heiterem Himmel. Überall lägen Steinchen herum, wetterte er, die hätten dort nichts zu suchen, es sei eine Schande.
«Hier bricht man sich ja den Hals», sagte er, «ihr seid wohl nicht ganz bei Trost!»
In der Krankenstation musste ich mir das Gesicht waschen, dann tupften sie mir eine dunkle Flüssigkeit auf die Wunden. Ich bekam einen goldenen Pokal und eine Medaille mit meinem eingravierten Namen überreicht. Ich legte sie auf den Rücksitz und stieg mithilfe meines Vaters ins Auto.
«Wir saßen direkt an deiner Bahn», sagte Morena. «Ich habe dir mindestens zehnmal zugewinkt, hast du mich gesehen?»
Ich antwortete nicht, schloss die Augen und tat die ganze Rückfahrt so, als würde ich schlafen.
«Glück für dich», sagte meine Mutter, während sie einen sauberen Lappen in die Schale mit heißem Salzwasser tauchte, «Glück für dich, dass du dich mit den Händen abgefangen hast. Da hätte sonst was passieren können statt nur die paar Kratzer. Wärst du auf dem Gesicht gelandet, hättest du dir sämtliche Zähne ausgeschlagen.»
Als sie den Lappen auf die Wunde drückte, stockte mir der Atem. Das Wasser war kochend heiß und brannte so sehr, dass ich schreien wollte, und ich schrie.
Ungerührt nahm sie die Wunde in Augenschein. «Hier machen wir besser weder einen Verband noch ein Pflaster drauf. Da muss Luft ran, sonst bildet sich Eiter.»
Mit einer zuvor desinfizierten Pinzette entfernte sie Reste von Erde und Dreck.
«Aufhören», jammerte ich jedes Mal, wenn sie einen Krümel herauszog.
«Hände weg», antwortete sie unerbittlich, «und halt das Bein still. Beim nächsten Mal passt du vielleicht besser auf, wo du hintrittst.»
Sie hatte uns nicht nach Formello begleitet, mein Bruder war noch zu klein, er hätte einen Sonnenstich bekommen. Sie meinte, es sei Wahnsinn, uns im Sommer laufen zu lassen. «Und du musst dich immer eincremen bei der Hitze, hörst du, sonst bekommst du noch Leberflecke wie ich.»
Sie schob das T-Shirt zur Seite und zeigte auf die roten Leberflecke auf ihren Schultern und zwischen den Brüsten. Ich mochte diese Flecke irrsinnig gern. Es erschien mir unglaublich, dass sie nicht mit ihnen zur Welt gekommen war, dass es sie bis zu ihren ersten Besuchen am Meer nicht gegeben hatte.
«Jetzt lass uns die Hände ansehen.» Behutsam nahm sie meine Hände und wrang das Wasser zuerst über der einen, dann über der anderen Handfläche aus. Das Brennen war unerträglich.
«Ich kann nicht mehr, lass mich.» Ich wand mich los, doch sie griff abermals meine Handgelenke. «Wenn du stillhältst, sind wir schneller fertig.»
Die Tränen sammelten sich unter meinem Kinn, Rotz lief mir aus der Nase. Als meine Mutter fertig war, wusch sie mir das Gesicht und küsste mich auf den Kopf. Sie machte alles sauber und wusch sich die Hände.
Mein Vater schaute gerade eine Fernsehsendung über die österreichischen Alpen, ich kuschelte mich neben ihn aufs Sofa, bis meine Mutter uns zum Essen rief.
Am Tisch teilte mein Vater die Lasagne in sechs gleich große Stücke, tat mir eines auf und sagte: «Für die Siegerin das größte Stück.» Die Lasagne war an den Rändern leicht angebrannt, ich zerteilte sie mit der Gabel, und der aufsteigende Dampf ließ meine Brille beschlagen.
«Pusten», sagte meine Mutter. Mit dem Besteck zerkleinerte sie die Portion meines Bruders, der ein Stück Brot in seiner kleinen Faust hielt und darauf herumnuckelte. Ich blies auf die knusprige Kruste, die ich mir bis zum Schluss aufhob, und trennte sie von dem weicheren Teil.
«Und?», fragte meine Mutter. Ihr Blick wanderte zwischen mir und meinem Vater hin und her. «Wie ist es gelaufen?»
«Sie war spitze», antwortete er. Er steckte sich die Gabel in den Mund und verzog das Gesicht.
«Ich habe doch gesagt, es ist heiß, du bist schlimmer als ein Kind.» Sie goss Wasser in sein Glas und forderte ihn auf zu trinken, doch er hob verneinend den Zeigefinger, saß sekundenlang reglos da, mit geschlossenen Augen, schluckte schließlich, hustete, und als er wieder sprechen konnte, sagte er, ich hätte keinen seiner Ratschläge befolgt und nach dem eigenen Kopf gehandelt.
«Wie immer», bemerkte meine Mutter.
«Aber diesmal war das genau richtig. Sie ist als Erste gestartet und als Erste ins Ziel gekommen. Du hättest sie sehen sollen, die anderen konnten nicht mithalten, stimmt’s, Liviè?» Er zwinkerte mir zu. Ich legte den Finger an die Kruste der Lasagne, um zu sehen, ob sie noch heiß war, und schnitt ein Stück ab. Sie war innen nicht ganz durch und kochend heiß.
«Also genau wie Onkel Paolo», bemerkte meine Mutter. Sie wischte meinem Bruder den Mund ab, der ein empörtes Jaulen von sich gab, die Stirn runzelte und die Unterlippe vorschob.
«Besser als Onkel Paolo», berichtigte mein Vater. «Klar, wir müssen noch ein bisschen … sagen wir, ein bisschen an der Haltung arbeiten.»
Meine Mutter lachte in sich hinein, die schlaffe Haut unter ihrem Kinn zitterte. Sie versuchte, meinem Bruder das Brot aus der Hand zu nehmen, doch er ließ nicht locker. «Wie damals, als sie laufen gelernt hat, weißt du noch, Maurí? Die Füße auf zehn nach zehn, so.» Sie legte die Gabel beiseite, hielt die Handgelenke aneinander und mimte mit ausgestellten Händen zwei Uhrzeiger. «Du bist eine Ente, mein Entchen.» Sie lehnte sich über den Tisch, erwischte mein Gesicht mit einem Kuss und verschmierte sich dabei den Lippenstift, den sie täglich trug, rosarot mit Glitzer.
Mit dem Handrücken wischte ich mir über die Wange. «Es stimmt nicht, dass die anderen nicht mithalten konnten», sagte ich. «Eine hätte mich fast überholt.»
Mein Vater blickte von seinem Teller auf. «Na schön, hat sie aber nicht, oder? Nur das zählt. Jeder fällt mal hin.»
«Ich habe dich noch nie hinfallen sehen.»
«Du siehst mich ja auch nicht dauernd», antwortete er.
Ich nahm noch einen Bissen Lasagne. Sie klebte zwischen den Zähnen, wenig Fleisch und keine Béchamelsauce, nur ein paar Klümpchen geschmolzener Käse, die man zwischen den Nudelschichten suchen musste wie Goldkrumen.
«Tun die Hände noch weh? Kannst du essen oder brauchst du Hilfe?», fragte meine Mutter unvermittelt und beugte sich zu mir.
«Geht schon.» Ich nahm ihr die Gabel wieder aus der Hand, entsetzt bei der Vorstellung, sie könnte mich ebenfalls füttern.
«Sie tun schon noch weh», gab ich zu und blickte auf meine aufgeschürften Handflächen, das hindurchschimmernde rosige Fleisch. «Aber nicht sehr.»
«Na schön, aber heute Abend müssen wir die Wunden noch mal verarzten, ohne Theater.» Sie kniff mich mit zwei Fingern in die Nase. Dann deutete sie auf den Kühlschrank. «Maurí, hol doch mal die Cola, dann verschwindet dieser Flunsch vielleicht.»
«Zu Befehl», antwortete mein Vater. Er stand auf, schritt feierlich zur Kühlschranktür, holte die wer weiß wie lange schon angebrochene Plastikflasche Cola heraus, die inzwischen völlig lasch, aber noch trinkbar war, und hielt sie wie etwas Zerbrechliches, Kostbares in den Händen.
Eine der wenigen mütterlichen Vorschriften lautete, dass Coca-Cola nur gemischt mit Wasser und nur sonntags getrunken werden durfte. Das galt nicht nur für mich, die ich noch ein Kind war und mich nicht an kohlesäurehaltige Getränke gewöhnen sollte, sondern auch für meinen Vater.
Er goss mir Cola ins Glas, mischte sie mit Wasser und schenkte sich ebenfalls ein.
Ich trank alles in einem Zug, es schmeckte nach Hubba Bubba und Karamell. Die klebrige Flüssigkeit rann die Kehle hinab, spülte sie frei und beseitigte das lästige Kratzen, das ich die ganze Heimfahrt über gespürt hatte. Offenbar hatte ich beim Sturz ein bisschen Staub geschluckt.
«Erst letzte Woche bin ich vor der Apotheke ausgerutscht», sagte mein Vater. «Einfach so, aus heiterem Himmel, ich glaube, alle haben es gesehen. Ich bin einfach wieder aufgestanden, habe einen Witz gemacht und bin weitergegangen.» Er bückte sich, um das matschige Stück Brot aufzuheben, das mein Bruder auf den Boden geworfen hatte. Ich sah, wie sich die Muskeln seiner Schenkel unter dem Hosenstoff spannten. Mein Vater und ich und auch Onkel Paolo hatten ähnliche Beine. Spindelschlanke Waden, lange Oberschenkel.
«Vielleicht bist du gar nicht ausgerutscht, Papa», sagte ich. «Vielleicht ist dir das Gleiche passiert wie mir.»
Er war gerade dabei, die leeren Teller zu stapeln und in die Spüle zu stellen. Wir hatten eine Spülmaschine, aber er spülte lieber mit der Hand, auch weil die Teller, die wir benutzten, wertvoll waren. Sie stammten aus dem Geschäft an der Piazza Mazzini, in dem meine Mutter arbeitete, ein beengtes Lädchen für Geschenkartikel. Sie arbeitete erst seit Kurzem dort, deshalb wurde sie manchmal in letzter Sekunde angerufen, um für jemanden einzuspringen. Darüber, und auch über die Tatsache, dass sie den Parkplatz jeden Tag aus eigener Tasche zahlen musste, beklagte sie sich manchmal, aber im Grunde mochte sie die Arbeit.
Einmal war Raffaella Carrà hereingekommen, und in echt war sie viel hässlicher als im Fernsehen.
«Wieso, was ist dir denn passiert?», fragte mein Vater, ohne sich umzudrehen, die Schultern jedoch gerader, angespannter.
«Livia, du bist echt eine Nervensäge», platzte es aus meiner Mutter heraus. «Jeder stolpert mal im Leben.» Sie nahm meinem Bruder das Lätzchen ab, versuchte sein unterdrücktes Wimmern zu beruhigen, das dem Weinen vorausging. «Geh lieber runter und hol Morena, ich habe Eistee gemacht.»
Kaum war sie in meinem Zimmer, zog sich Morena Schuhe und Socken aus und sagte, sie wolle einen Tanz einstudieren. «Den führen wir dann unseren Eltern vor», sagte sie.
In einem anderen Moment hätte ich Nein gesagt, bloß nicht, das war stinklangweilig. Doch ich wusste, dass ich auf dem Sportplatz nicht nett zu ihr gewesen war, also sagte ich nichts.
Morena war völlig unmusikalisch, aber während wir mit nackten Füßen auf dem Teppich tanzten, zwei Schritte nach rechts und zwei nach links, die Hände auf den Hüften, mit wild kreisendem Becken, Te amo mi corazón, increíble es la vida contigo