Die Nacht schweigt - Sobo Swobodnik - E-Book

Die Nacht schweigt E-Book

Sobo Swobodnik

3,8

Beschreibung

Eine junge Wiener Studentin recherchiert im Burgenland den Mord an fast 200 jüdischen Zwangsarbeitern kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Rechnitz ist ein Ort mit einem dunklen Fleck in der Geschichte. Als die Studentin spurlos verschwindet, wird dem Ermittler Hài klar: Einige Verbindungen von damals scheinen noch intakt. Und selbst über 70 Jahre nach dem Massenmord hat jemand ein Interesse daran, dass die Geheimnisse der Vergangenheit verborgen bleiben.

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Sobo Swobodnik

Die Nacht schweigt

Kriminalroman

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Lucky18 / Wikimedia Commons

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kreuzstadl_Rechnitz.jpg

ISBN 978-3-8392-5038-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Kapitel

»Warum kuckst du mich immer an?«

»Ich kucke deine Füße an.«

»Und wieso?«

»Die gehen immer mit dir rum, ganz von selber.«

Das Schweigen, Ingmar Bergmann

ES

Es ist der 24. März 1945. Es ist früh morgens, neblig und regnerisch. Ein leichter Wind weht aus Richtung Osten.

Bald ist wieder Nacht. Bald sind sie tot. Für sie ist es immer dunkel. Auch wenn tagsüber die Sonne scheint. Der Himmel ist blau, erscheint aber in ihren Augen schwarz. Wie die Hölle auf Erden. Der Anfang vom Ende.

Es ist ein Heer von Ausgehungerten, Verlausten, Kranken und Schwachen, das sich unter Schlägen und Stiefeltritten voranschleppt. Wenn einer stürzt, wird er noch mehr getreten, angeschrien, beschimpft, bis er für immer liegen bleibt, wieder aufsteht oder von den anderen weitergeschleift wird. Dem Ende entgegen. Sie frieren. Sie humpeln, keuchen und schleppen sich mit schmerzverzerrten Gesichtern weiter. Der ganze Körper juckt. Flöhe, Läuse. Sie kratzen sich, immer wieder, immer heftiger, bis die Haut zerreißt und Blut hindurchsickert. Das Schlimmste ist die Ausweglosigkeit. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen, gibt es kaum mehr Hoffnung. Mit jedem Schritt kommen sie dem Ende näher.

Jetzt kann sie eigentlich nur noch die Rote Armee retten, die gerüchteweise immer näher rückt. Anscheinend steht sie nicht weit von hier entfernt an der Donau. Um die Kämpfe noch länger hinauszuzögern, die bevorstehende Niederlage doch noch abzuwenden, lassen die Nazis an der Ostfront Wälle bauen. Von ihnen, den jüdischen Zwangsarbeitern aus Ungarn. Hohe Wälle aus Dreck, damit die russischen Panzer nicht durchkommen. Hier am äußersten Zipfel Österreichs, an der Grenze zu Ungarn, im Burgenland, wo Hunde und Katzen sich zerfleischen, statt sich gute Nacht zu sagen. Oder der Situation und der Zeit entsprechend: Verreck doch!

DU

Du bist dir nicht sicher, aber du glaubst, dass du tot bist.

Im ersten Moment.

Im zweiten weißt du, dass Tote nicht denken. Nicht atmen. Du atmest. Ein, aus, immer wieder. Zwar nur schwach, aber immerhin. Jetzt wie zur Demonstration, als müsstest du dich selbst von deinem Überleben überzeugen. Du pustest die Luft aus dir heraus, immer wieder mit gepressten Stößen. Du bist erschöpft, mit wackelnden Knien, zitterst wie im Ziel nach einem Marathonlauf. Unsicher, ob du erleichtert oder eher enttäuschst sein sollst. Jetzt erst merkst du, dass es stark riecht. Zuerst hast du dich selbst in Verdacht. Bis dir klar ist, dass nicht du es bist, die so stinkt. Es riecht modrig um dich herum, feucht, faulig, als befändest du dich in einem Keller. In einem dunklen Erdloch. In einem Grab. Deinem Grab.

Alles um dich herum ist schwarz. Du zwinkerst, siehst nichts. Reißt die Augen auf, siehst noch immer nichts. Du hältst deine Hand dicht vor die Augen und kannst sie doch nicht erkennen. Du kannst nichts erkennen. Du hast keine Ahnung, wo du bist. Geschweige denn, wie du hierher kamst. Du versuchst dich zu erinnern. Immer wieder. Es gelingt dir einfach nicht. Du kannst dich an gar nichts erinnern. In diesem Moment zumindest nicht.

Du schläfst erschöpft ein, wachst wieder auf. Alles ist unverändert. Erneut bist du unsicher, ob du noch lebst oder bereits tot bist.

Tote frieren nicht. Du frierst. Du hast Durst. Hunger. Dein Kopf schmerzt. Es ist ein Pochen hinter der Stirn, im Kopf, das sich wie ein engmaschiges Netz über den gesamten Schädel spannt und am Nacken als spitzer Schmerz endet. Du greifst dir an den Kopf und spürst eine verschorfte Wunde an der Stirn. Du hast keine Ahnung, woher sie stammt. Von einem Schlag? Einem Sturz? Du kannst dir das alles nicht erklären. Dein Gedächtnis scheint dir abhandengekommen zu sein. Womöglich durch den Schlag? Den Sturz? Erinnerung ist nur mehr ein Wort ohne Bedeutung. Auf das du dich nicht mehr verlassen kannst. Worauf kann ich mich denn überhaupt noch verlassen?, denkst du und weißt es nicht. Weißt nichts. Gar nichts. Nur dein Name bleibt dir.

Du sprichst ihn leise vor dich hin. Immer wieder deinen eigenen Namen, als wolltest du dich selbst vergewissern, dass du du bist. Als wärst du davon überzeugt, mit deinem Namen käme nicht nur die Erinnerung, sondern auch Zuversicht zurück.

Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda. Linda.

Du redest dich selbst in den Schlaf. Du schläfst ein, wachst wieder auf. Alles ist unverändert.

Alles ist schwarz.

Du tastest mit deinen Händen an den Wänden entlang. Sie sind kalt, porös, feucht. Es fühlt sich nach grobem Stein an. Nach Fels. An einer Wand spürst du Fugen und gleichmäßige, viereckige Steine, die auf- und aneinander gemauert sind. Es sind Backsteine. Darum herum ertastest du einen Rahmen aus Metall. Du musst nicht lange nachdenken, um zu wissen, dass es der Rahmen einer Tür ist, die einstmals vermutlich nach draußen führte und jetzt zugemauert ist. Deine Aussichtslosigkeit wird dir mit einem Schlag bewusst. Du bist eingemauert! Bei lebendigem Leibe!

Du schreist. Du schreist so lange, bis deine Stimme sich überschlägt, schließlich versagt.

Dann ist alles wieder ruhig. Nur dein Atem ist noch zu hören. Ein Kratzen ist von nun an in deinem Hals.

Solange ich atme, lebe ich, denkst du, kauerst an der zugemauerten Tür und weißt:

Es ist erst der Anfang. Der Anfang von deinem Ende.

ICH

»Ist es so, wie es scheint?«, höre ich eine Stimme in meinem Rücken, knarrend wie eine alte Schranktür. »Oder scheint alles anders.«

»He, Schlitzauge, du!«

Ich erschrecke, fühle mich angesprochen, traue mich aber nicht umzudrehen.

»Schlitzauge!«

Es ist Jahrzehnte her, dass Derartiges hinter mir hergerufen wurde. Schlitzauge, Fidschi, Chinaböller, gelbe Scheiße – damals auf dem Schulhof im Schwäbischen von den rückständigen schwäbischen Kindern, für die alles, was anders aussah als sie selbst, nicht nur irritierend, sondern völlig plemplem war. Dabei konnten diese Stuttgarter Rotzaffen in ihrer geistigen Beschränktheit einfach nicht unterscheiden, ob jemandes Vorfahren aus China oder Vietnam stammten. Für sie waren Schlitzaugen definitiv gelbe Scheiße. Dabei bin ich nur zur Hälfte vietnamesischer Abstammung. Alles andere ist deutsch. Das war diesen schwachsinnigen Idioten egal. Die Welt ist gemein und Kinder sind gnadenlose Monster. Deshalb werde ich nie welche haben. Wenn es nach mir ginge, bräuchte niemand welche. Das Argument meiner Mutter, dann würde die Menschheit bald aussterben, kontere ich in schöner Regelmäßigkeit mit: Umso besser! Rassistische Kinder sind die verlängerten Waffen ihrer noch rassistischeren Eltern, für die ich immer das –

»Schlitzauge!«

Die Stimme kommt näher, ohne weiterzusprechen. Die knarrende Tür scheint leise aufzugehen. Ich beschleunige meinen Schritt, habe nur noch einen Gedanken im Kopf: Nichts wie weg von hier! Zurück bleibt ein Lachen wie Donner aus einer griechischen Tragödie in einer Inszenierung an einem schwäbischen Provinztheater. Ich hetze durch einen schummrigen Wald, hinter dessen Baumstämmen immer wieder Gesichter wie aufgequollene Schießscheiben oder Karnevalsmasken aus Pappe auftauchen. Und wieder verschwinden. Gesichter, deren Physiognomie nicht zu erkennen ist, dunkle Flächen vor einem dunklen Hintergrund. Schwarz in Schwarz. Bedrohlich. Obwohl sie schweigen, habe ich das Gefühl, sie wollen mir etwas sagen. Dass nicht nur ich, sondern der ganze Wald, mehr noch, die ganze Welt längst Bescheid weiß. Spießrutenlauf, kommt mir in den Sinn. Slalom ohne Ski im Sommer bei Nacht. Und dann: Zu viele Gedanken vermindern die Konzentration. Zu viel Nachdenken lenkt ab. Du bist nicht mehr bei der Sache!, höre ich mich sagen. Welche Sache?, denke ich. Wie zur Bestätigung streift mich ein Baum. Oder ich ihn? Noch einer. Ich strauchle, stolpere, als hätte mir jemand ein Bein gestellt. Ein weiterer Baumstamm stellt sich mir aus dem verdammten Nichts heraus in den Weg. Verflucht! Ein Schrei. Ein Aufprall. Ich knalle gegen einen Stamm, gegen ein Gesicht, eine Maske und –

»… über weitere Anschlusszüge geben wir Ihnen rechtzeitig Bescheid.«

Ich bin wach. Offene Augen, ein Blick, Erleichterung.

Wald. Wiesen. Weizenfelder. Sonnenblumen. Deutschland. Vorbeiziehend, leicht verschwommen vor den Fenstern. Sommer. Sonne. Ein bayerischer Himmel wie ein Versprechen. Die Wolken scheinen von einer ungekannten Reinheit, die mich stutzen lässt, aber nicht rührt. Dabei fällt mir auf, dass mich gar nichts rührt. Berührt. Ich bin nicht zu Empathie fähig. Mitunter gefühllos. Das behauptet meine Mutter seit Kindheitstagen an.

Sie: »Mitleid, Mitgefühl, Herzlichkeit sind doch Fremdwörter für dich.« Dabei schaut sie, als wären es für sie nicht nur Fremdwörter, sondern eine unbekannte Sprache.

Ich: »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«

Der Blick zur Scheibe hinaus beruhigt mich. Ich sitze im Zugrestaurant auf dem Weg nach Österreich. Wien. Mir ist nicht genau klar, was ich da soll. Ein Auftrag, den ich unter keinen Umständen annehmen wollte, und trotzdem habe ich es getan. Worüber ich mich im Nachhinein noch immer ärgere. Wie blöd muss man sein, etwas zu tun, was man keinesfalls tun will. Oder wie abhängig. Es gibt wunde Punkte in einer Biografie, an denen getroffen alle Vorsätze wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Solch ein wunder Punkt ist der Anlass für meine Reise. Natürlich hätte ich sagen können: Was geht mich euer beschissenes Leben an? Ich habe mit meinem eigenen beschissenen Leben genug zu tun. Viel zu viel zu tun. Aber das ist ein Irrtum. Wenn die Familie ins Spiel kommt, ist man nicht mehr nur für sich selbst verantwortlich. Meine Mutter ist Familie. Meine Mutter ist sogar Großfamilie. Sie fordert herrisch ihr Recht. Schon immer. Bis heute gelingt es mir nicht, mich dagegen zu wehren. In Gegenwart meiner Mutter werde ich zum kleinen Kind, bin ich noch immer das in die Windeln scheißende Baby. Jämmerlich!

»Darf ich?«

Ich erschrecke. Vor mir ein fremdes Gesicht. Eine Frau mit blondierten Haaren, die mich erwartungsvoll ansieht, als wäre sie im Auftrag meiner Mutter unterwegs. Sie lächelt. Ohne eine Reaktion abzuwarten, setzt sie sich mir gegenüber an den Tisch. Ich blicke sie an wie ein Orakel. Als wüsste sie alles über mich, als könnte sie all meine Fragen beantworten. Sie lächelt unverändert, nickt. Sie ist bestimmt 20 Jahre älter als ich. Attraktiv, gepflegt, teure Garderobe. In einen Geruch nach Weihrauch und Patchouli gehüllt, der mich an heilige Messen und Jugendsünden denken lässt. An irgendjemanden erinnert sie mich, ohne dass es mir einfallen will an wen. Ich blicke erneut zum Fenster hinaus. Plattling. Der Grenzübertritt naht.

»Fahren Sie auch nach Wien?«

Es ist eine Stimme, die gar nicht zu dieser Frau passen will. Sie ist zu jung für ihr Alter.

»Und Sie?«, frage ich.

»Sie waren schon länger nicht mehr unter Menschen, nicht wahr?«

»Wenn Mönche keine Menschen sind, dann haben Sie recht.«

Sie grinst und fixiert mich wie ein Insekt, um das sie gleich ihre lange Zunge wickelt.

»Sie meinen in Gesellschaft, draußen in der Welt, da wo schwachsinnige Kinder und erwachsene Monster sich gerne an armen Seelen mit asiatischen Gesichtszügen vergreifen, was?« Es hört sich für mich selbst wie auswendig gelernt an. Und in einer Welt voll alter, zu stark geschminkter Schachteln, würde ich am liebsten hinzufügen. Lasse es dann doch. Womöglich aus Angst, die Alte könnte es meiner Mutter petzen. Gleichzeitig hoffe ich, sie mit dieser brüsken Rede und einem dazu passenden Gesicht abzuschütteln. Doch sie lächelt erneut, signalisiert Zustimmung und nickt.

»Das merkt man.«

»Woran?«

»Wie Sie schauen.«

»Wie schaue ich denn?«

»Wie jemand, der sich fürchtet. Wie jemand, der aus dem Fenster blickt und dabei Angst hat, mit dem Fahrtwind fortgerissen zu werden.«

Ich klopfe gegen die Scheibe. »Dabei ist das Fenster nicht einmal auf.«

»Verzeihen Sie, aber ich möchte Sie nicht belästigen.« Komisch, denke ich, dass alle immer behaupten, einen eigentlich nicht belästigen zu wollen, und es dabei unentwegt tun.

»Trinken Sie ein Glas mit mir? Ich vermute mal, Sie trinken normalerweise nicht. Aber um sich an das raue Klima da draußen, an die schwachsinnigen Kinder und die Monster zu gewöhnen, muss man sich präparieren. Auch an die alten, zu stark geschminkten Schachteln, nicht wahr?« Jetzt klopft sie an die Scheibe. »Hierfür wäre ein Schluck vielleicht ratsam.«

Ich fühle mich ertappt.

Sie winkt den Kellner zu sich und bestellt zwei Gläser Rotwein, ohne überhaupt meine Zustimmung abzuwarten.

»Und Sie?«, frage ich.

»Was ich?«

»Wovor haben Sie Angst?«

Sie lächelt wieder. Gebleichte, ebenmäßige Zähne sind zu sehen, die mit ihren blondierten Haaren auffällig gut korrespondieren. »Vorm Fliegen! Vor schwarzen Katzen, vor der Zukunft, vor meinem Mann. Vor Wien.« Dann mit verändertem Tonfall, fast beschwingt: »Sehe ich aus, als hätte ich Angst?«

»Sie haben recht.« Ich versuche, sie zu irritieren. »Das Zurückkommen ist oft schwerer als das Weggehen.«

Sie beugt sich mir über den Tisch hinweg entgegen und sagt: »Sie wissen, wie Sie auf Frauen wirken, nicht wahr?«

»Auch wenn diese 20 Jahre älter sind?«

»Auch dann. Wenn ich wüsste, ob Sie Geld interessiert, würde ich Ihnen ein Geschäft vorschlagen.«

»Wenn ich nicht ahnen würde, dass Sie jeden über den Tisch ziehen, würde ich sogar annehmen.«

»Sie lügen«, kommt trocken von ihr.

»Und Sie sagen nicht die Wahrheit.«

»Womöglich verstehen wir uns deswegen so gut.«

»Sie glauben also, wir verstehen uns, was?«

»Ich glaube gar nichts. Höchstens, dass Sie ein erstaunlicher junger Mann sind, dessen Mutter nicht das einzige Problem ist.«

Ich wusste es! Ich wusste es, dass sie irgendetwas mit meiner Mutter zu tun haben muss. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, und schweige. Sie macht den Eindruck, als würde sie die kurzzeitige Stille genießen. Sie kommt mir wie eine allwissende Lehrerin vor, die mit einem ihrer dummdreisten Schüler ein schäbiges Spiel spielt. Das stört mich. Das stört mich extrem an ihr.

»Ist das Zufall oder Absicht?«, unterbreche ich mein Schweigen und sehe sie dabei herausfordernd an. Mein Blick wandert zwischen ihren Augen, dem Mund und dem Dekolleté hin und her und gibt ihr zu verstehen: Ihr Geld interessiert mich nicht, aber mit Ihrem Körper kann ich trotzdem etwas anfangen.

»Es gibt keine Zufälle«, sagt sie, wie man sagt, du bist schuld. »Wie lange bleiben Sie in Wien?«

»Weiß nicht. Bis ich fertig bin.«

»Womit?«

»Wenn ich das wüsste.«

»Klingt interessant.«

»Oder gefährlich, wie Sie wollen.«

»Was wollen Sie?« Jetzt habe ich das Gefühl, dass ihr Blick an mir entlang wandert wie an einem toten Stück Fleisch.

»Lebt Ihre Mutter eigentlich noch?«, frage ich.

»Nein.«

»Dann können Sie das nicht verstehen.«

»Ich habe einen herrischen Mann.«

»Das ist etwas anderes.«

»Das glauben Sie.«

»Von Ihrem Mann können Sie sich trennen, sich scheiden lassen.«

»Ja, natürlich.« Ein bitteres Lachen kommt aus ihrem Mund. »Und Sie können Ihre Mutter … wie soll ich sagen … entsorgen?« Sie scheint nicht ganz zufrieden mit dieser Formulierung.

»Sie kennen meine Mutter nicht.«

»Und Sie meinen Mann nicht.«

»Prost!«

Sie hebt ihr Glas und stößt es so heftig an meines, dass es unangenehm klirrt. »Ich mag Sie.«

»Soll ich ehrlich sein?« Wieder wandert mein Blick zwischen Augen, Mund und Dekolleté, und ich lege eine völlig überflüssige, nach Bedeutung gierende Pause ein. »Ich Sie nicht.«

Sie lacht, als würde sie mich von nun an noch mehr mögen.

Anschließend sehen wir gemeinsam lange aus dem Fenster. Die vorbeiziehende Landschaft bietet Halt. Ich bilde mir ein, sie seufzen zu hören.

»Sie entschuldigen mich?« Ich stehe auf und gehe durch das Bordrestaurant in Richtung Toilette. Der Wein wirkt. Ich spüre, wie sich meine Beine anders anfühlen. Leichter, weicher, auch weniger trittsicher. Ich stoße gegen einen Tisch im Restaurant, entschuldige mich halbherzig und setze meinen Gang fort. Dabei werde ich immer wieder gegen die Scheiben und die Zugabteile gedrückt. Ich bin froh, als ich endlich die Toilette erreiche.

Mir ist schlecht, schwindlig. Beim Blick in den Spiegel muss ich an meinen Vater denken. Ich habe Ähnlichkeit mit ihm auf dem Sterbebett.

Ich setze mich auf den zugeklappten Klodeckel und kotze mir vor die Füße. Es geht ganz schnell. So schnell, dass es mir nicht mehr möglich ist aufzustehen, den Deckel hochzuheben und in die Schüssel zu speien. Danach fühle ich mich sofort besser. Ich spüle mir mit Wasser den Mund aus, wische ihn mit den nach Kompost riechenden Papierhandtüchern ab, wobei die Hälfte zu Boden fällt, und versuche anschließend, der Toilette zu entkommen. Was gar nicht so einfach ist, da mich der Zug immer wieder gegen die Wände schleudert. Endlich auf dem Zuggang angekommen gehorchen mir meine Beine besser, trotzdem habe ich noch immer das Gefühl, irgendetwas ist anders mit mir. Im Bordrestaurant zurück beschleicht mich der Eindruck, der Kellner habe sich bereits Sorgen gemacht, er sieht mich mit einem fragenden Blick an. Womöglich liegt es an meiner Gesichtsfarbe. Die Frau am Tisch wirkt weniger besorgt als belustigt.

»Alles in Ordnung?«, fragt sie grinsend, als wäre sie über die vergangenen Minuten bestens unterrichtet.

»Soll das ein Witz sein?« Ich versuche erst gar nicht, ihr etwas vorzuspielen. »Was war im Wein?« Am liebsten würde ich ihr das Grinsen aus dem Gesicht schlagen.

Sie winkt dem Kellner zu, der daraufhin nochmals zwei Gläser Rotwein an unseren Tisch bringt. Zuerst nimmt die Frau einen Schluck aus ihrem Glas, dann aus meinem. Ein Lippenstiftrest bleibt wie ein Geschenk zurück.

»Prost.« Ich greife nach ihrem Glas und ärgere mich über meine Paranoia.

Ich erwarte ihren Fuß an meinem Bein unterm Tisch. Als der ausbleibt, blicke ich wieder aus dem Fenster. Kurze Zeit später schließt sie sich mir an. Dieses gemeinsame Gesehene schafft Vertrautheit. Häuser, nichts als Häuser, eine Stadt. Erneut glaube ich, sie seufzen zu hören.

»Wir erreichen jetzt in Kürze unseren Endbahnhof Wien West. Der Zug endet hier. Wir bitten, alle Fahrgäste auszusteigen. Wir bedanken uns für Ihre Reise mit der ÖBB und wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt.«

»Wenn Sie es sich noch mal überlegen sollten, wegen des Geschäfts, ich warte.«

»Wo finde ich Sie?«

»Das herauszufinden wird jemandem wie Ihnen allemal gelingen, nicht wahr?«

»Womöglich.«

Es ist seltsam, aber ich habe das Gefühl, dass ich in ihrer Gegenwart alles sagen kann, nichts verheimlichen muss. Vielleicht weil es überhaupt nicht wichtig ist.

»Ja, vielleicht.«

Sie greift nach meiner Hand.

»Was könnte diese schöne Hand alles Schönes anrichten.«

»Und Hässliches.«

Sie führt meine Hand an ihren Mund und berührt mit ihren Lippen ganz leicht meine Finger.

Anschließend tippt sie mit ihren Fingern an meine Stirn.

»Wo haben Sie eigentlich die kleine Schramme her?«

Von einer Schramme ist mir nichts bekannt. Ohne sich zu verabschieden, steht sie auf und verschwindet. An meiner Stirn befindet sich tatsächlich ein kleiner verkrusteter Riss, als hätte ich den Kopf gegen die Scheibe geschlagen.

Auch ich steige aus, als Letzter. Der Bahnsteig lichtet sich, die Menschen zerstreuen sich wie aufgebrachtes Wild. Zurück bleibt ein Mann in einem dunklen Anzug und einem Pappschild vor der Brust. Auf dem Schild steht in wackeligen Großbuchstaben: HAI. Der Akzent auf dem A fehlt.

Als ich den Mann sehe, weiß ich, er trifft genau den Geschmack meiner Mutter. Eigentlich hätte ich sofort umkehren müssen. Aber noch ehe ich reagieren kann, bin ich schon in die Fänge des Rechtsanwalts Dr. Wittlich gelangt und seiner servilen Bestimmtheit ausgeliefert.

»Habe die Ehre!«

DU

Du hast keine Zukunft. Du weißt, dass du eingemauert in diesem verfluchten schwarzen Kellerloch keine Zukunft hast. Nur die Vergangenheit bleibt, um zu überleben. Die Erinnerung. Du musst dich erinnern, um nicht zu sterben. Solange du dich erinnerst, stirbst du nicht, denkst du. Du versuchst dich zu erinnern. Es fällt dir schwer. Warum kannst du dich nicht an früher erinnern?, denkst du. Deine Erinnerung reicht nicht weit zurück. Ein, zwei Wochen höchstens. Und auch nur, wenn du dich darauf konzentrierst. Wenn es dir gelingt, die Dunkelheit, die Kälte, deine gegenwärtige aussichtslose Situation völlig zu ignorieren, um dich zu sammeln und dich ganz auf die Bilder in deinem Kopf zu fokussieren.

Erinnerungsfetzen kehren zurück. Aus den letzten zwei Wochen. Du versuchst, die Tage vor deinem Blackout minutiös zu rekonstruieren. Je länger du in dieser stinkenden albtraumartigen Höhle sitzt, umso besser gelingt es dir schließlich.

Der Streit im Institut mit Stefan fällt dir ein. Er behauptete, dass du dich in etwas verrannt hättest. Stefan! Du wirst wehmütig. Ohne Grund. Stefan war dein williges Spielzeug, das sich in einen abstrusen, völlig konstruierten Gedanken manövriert und sich dabei selbst falsch ein- oder besser überschätzt. Was für jämmerliche Kreaturen Männer sein können, denkst du, auch wenn sie noch so gebildet und intelligent scheinen. Nur weil zwischen ihren Beinen etwas Fleisch baumelt, das gelegentlich steht, verlieren sie gleich den Kopf, wenn sich derselbige mit zwei jungen, straffen Brüsten füllt. Dabei geht die Würde, der Respekt und alles, was die menschliche Spezies von der des Tieres unterscheidet, verloren. Obgleich Stefan nackt auf allen vieren mit Halsband und Knebel im Mund in deiner Küche eher an einen gedemütigten Straßenköter erinnerte als an einen Mann mit akademischer Auszeichnung. Gar mit dem Grad eines Professor. Stefan! Er beteuerte in einem letzten Gespräch in seinem Büro, dass dir die wissenschaftliche Objektivität abhandengekommen wäre. So ein Schwachsinn, denkst du, es geht doch nicht um derartig abgedroschene Begriffe. Es geht darum, endlich ein Verbrechen aufzuklären. Womöglich ist er nur neidisch, denkst du, die wissenschaftliche Konkurrenz ist nicht zu unterschätzen. Obgleich Stefan es gar nicht nötig hätte, dich zu beneiden, weil er schon da ist, wo du hinwillst. Professor. Der Streit mit Stefan ging dir an die Nieren. Nicht seinetwegen, denn dir liegt nichts an ihm. Was kann einem schon an einem gedemütigten Straßenköter liegen. Höchstens Mitleid, mehr nicht. Aber für Mitleid warst du noch nie empfänglich. Du versuchst zu widersprechen, es abzustreiten, und weißt doch, dass es stimmt. Er war für dich nur ein Mittel. Warum ihn nicht benutzen, um dein Ziel zu erreichen? Das, was dir bis vor Kurzem am wichtigsten erschien?

Als Mann hat er dich nicht interessiert. Männer interessieren dich schon lange nicht mehr. Es ging aber nur so. Nur durch das alberne Geschlechterspiel war er zu knacken. Einen 30 Jahre älteren, noch dazu verheirateten Mann zu verführen, fiel dir nicht schwer. Im Bett war er eine Niete. Einfallslos, kurzatmig, akademisch. Es dauerte nicht lang, bis er abhängig von dir war. Er wurde sentimental, klingelte nachts alkoholisiert an deiner Tür. Und als du ihn nicht mehr brauchtest, ließt du ihn fallen. Er warnte dich, sagte, du solltest es nicht auf die Spitze treiben, bis er dir schließlich vorschlug, dir einen anderen Doktorvater zu suchen.

Du hast ihn nur herablassend angelächelt und entgegnet: »Es gibt Angelegenheiten, in denen kann man nicht mehr zurück, Stefan.« Dabei hast du ihm mit der einen Hand in den Schritt gefasst und mit der anderen – wie einem unartigen Kind – über sein schütteres Haar gestrichen. Dann hast du dich umgedreht und bist gegangen.

Das war ein Fehler. Das hättest du nicht tun dürfen. Es war nicht der letzte, der dir unterlief. Kein Wunder, dass du dich immer weiter ins Abseits manövriert hast. Aus Überheblichkeit, aus Ignoranz, aus Fehleinschätzung und falscher Selbstwahrnehmung. Du hast geglaubt, alles laufe nach Plan. Als du dann doch nicht vorankamst, keine eindeutigen Resultate erzielen konntest, war deine Verzweiflung grenzenlos. Du warst in einer Sackgasse. Du glaubtest, es nicht zu schaffen. Jahrzehnte hatte es niemand geschafft. Dabei ging es dir nicht nur um die Aufdeckung dieses historischen Verbrechens. Das war doch nur ein Vorwand, nicht wahr? Dir ging es letztendlich um etwas ganz anderes, stimmt’s?

ICH

Wien. Burgtheater, Prater, Hawelka, Naschmarkt, Fiaker, Sachertorte, Strudelhofstiege, Heurigen, Wolfgang Ambross, Schifoan!, Schönbrunn, Stephansdom, Der dritte Mann, Der Herr Karl, Opernball, Mehlspeise, Falco, Qualtinger, Kreisler, Schubert, Mozart, Thomas Bernhard, Egon Schiele, Sigmund Freud, Ernst Happel, Hermes Phettberg, , Wien! – Das sind die Assoziationen, die Gedankenschnipsel, die mir beim Blick aus dem Seitenfenster des Wagens durch den Kopf schwirren. Während Rechtsanwalt Dr. Wittlich wie eine gesenkte Sau durch die Straßen heizt und dabei vor sich hinflucht, als wären alle anderen Verkehrsteilnehmer Volltrottel. Ich zerbreche mir die ganze Zeit über den Kopf, ob ich Dr. Wittlich schon einmal gesehen habe. Er kommt mir verdammt bekannt vor. Womöglich war er einer der ständig wechselnden Liebhaber meiner Mutter. Damals in meiner Jugend, nachdem meine Mutter mit mir und ohne meinen Vater nach dem Fall der Mauer die DDR verlassen hatte, um im Schwäbischen anzuheuern. Ganz sicher sogar. Je länger ich in diesem französischen Mittelklassewagen sitze, in dem es penetrant nach künstlicher Pfefferminze stinkt, was offenbar vom schaukelnden Duftbäumchen am Innenspiegel herrührt, umso vertrauter kommt mir das Gesicht des Anwalts vor. Ich überlege, ihn zu fragen, woher er meine Mutter kennt, verwerfe es aber im letzten Moment und will stattdessen wissen, er meine Mutter kennt.

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