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Der Psychologe David hadert mit dem Altwerden. Er entscheidet sich, ehrenamtlich in einem Zen-Hospiz zu arbeiten, um sich mit Vergänglichkeit und Tod auseinander zu setzen. David erfährt, auf welch unterschiedliche Weise Menschen dem Tod nahe sind. Und er lernt, dass die Nähe zum Tod großzügig macht: die Sterbenden, die Begleiter und nicht zuletzt auch ihn selbst. »Loszulassen und mit den Verlorenen der Vergänglichkeit anzuhängen - das ist der Weg, der so schwer zu gehen ist, insbesondere in einer Kultur, die den Verlust nicht mag, sondern nur den Gewinn und die Sicherung der Bestände.« FAZ, in einer Rezension der Erstausgabe des Buches von Stephen Schoen am 28. 07. 2006.
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Seitenzahl: 171
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Stephen Schoen, 1924-2018, war Psychiater und Gestalttherapeut in freier Praxis in San Rafael/Kalifornien. Zu seinen Lehrern gehörten Fritz Perls, Harry Stack Sullivan, Milton Erickson und Gregory Bateson, mit dem ihn eine Freundschaft verband. Er lehrte viele Jahre lang Gestalttherapie in den USA und in (Ost-) Europa. Zahlreiche Fachartikel zu Theorie und Praxis der Gestalttherapie.
In der gikPRESS erschien »Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten. Gestalttherapie als spirituelle Suche«. Eine Neuauflage seines Romans »Greenacres« ist in Vorbereitung.
»Würden Sie sagen, dass er verrückt ist?« – »Ich weiß es nicht.« Und dann fügte ich hinzu: »Vielleicht hat die Nähe zum Tod ihn so großzügig gemacht.«
Das ist die Szene aus dem neuen Buch von Stephen Schoen, aus der der Titel für dieses wunderbare Buch entstanden ist. Der Protagonist Dave, ein alternder Psychologe und Psychotherapeut, trifft in einem Supermarkt einen ihm unbekannten jungen Mann, der ihm ein Geschenk macht. Es stellt sich heraus, dass der junge Mann ihm unbekannten Menschen Geschenke macht, seitdem er eine gefährliche Krankheit überlebt hat.
Stephen Schoen bringt die Leserinnen und Leser in diesem Buch in Kontakt mit den Themen Leben, Leiden, Vergänglichkeit, Sterben und Tod sowie mit verschiedenen Weisen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Er zeigt auf ermutigende Art, welche Möglichkeiten es gibt, sich diesen existenziellen Themen anzunähern, ohne von persönlichen Ängsten oder Annahmen überschwemmt zu werden.
Ebenso wie in seiner therapeutischen Arbeit mit Gruppen und mit Einzelnen, zeigt Stephen Schoen in diesem Buch auf vorsichtige und fast zärtliche Weise, wie es ist, für kurze Momente auf Konzepte und Annahmen zu verzichten und sich nur dem zuzuwenden, was wirklich gerade da ist.
Dabei wird die heilsame Wirkung von kontaktvoller Begegnung, die ihm so am Herzen liegt, auch in diesem Buch deutlich. Stephen Schoen bietet seinen Klienten immer wieder Kontakt an, der ihren Heilungsprozess unterstützt und häufig auch erst ermöglicht. Und seine Präsenz ist dabei stets freundlich, unaufdringlich und verlässlich.
Stephen Schoen ist ein gern gesehener Gast, ein geschätzter Lehrtrainer in unseren Gestalttherapie-Ausbildungen und mehr noch: ein vertrauter, wertvoller, herzlicher Freund.
Dieses Buch ist sein drittes in unserer Edition, nach »Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten. Gestalttherapie als spirituelle Suche« (1996, 3. Auflage 2004) sowie »Greenacres – Ein Therapieroman« (2002).
In allen seinen Büchern sind die Grundpfeiler der gestalttherapeutischen Haltung, die ihn persönlich ausmachen und die wir am Gestalt-Institut Köln schätzen, üben und trainieren, zu finden: Wohlwollen, Achtsamkeit und Begegnung.
Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, dass dieses Buch auch Ihr Herz erreicht.
Und wir wünschen unserem Freund alles Liebe und Gute.
Köln, 2005
Anke und Erhard Doubrawa, Gestalttherapeuten
Dieser Bericht erzählt von der Begegnung eines Mannes mit dem Sterben und dem Tod. Die Erzählung seiner Erfahrungen – von tiefem Leid bis hin zu weitgehender Gelassenheit –, ist all denjenigen gewidmet, die mit dieser schwierigen Situation konfrontiert sind.
Die Geschichte, die ich erzähle, das Hospiz, seine Mitarbeiter und Volontäre sind frei erfunden. Ein ähnliches Hospiz existiert unter anderem Namen und in etwas anderer Form.
Vielleicht gehöre ich gar nicht hierher
Diese unbeschreibliche Zerstreutheit
»Sie meinen, er ist tot?«
»Lust auf ›Trivial Persuits‹?«
Wer hilft hier eigentlich wem?
Die Kostbarkeiten des Anfangs
John
»Nennen Sie mich Menolushka«
Ein noch tieferer Verlust
Einen Steinbock am Bart zupfen
Ein Besuch im Aquarium
Der Traum von diesem Leben
Die Betrübnis in der Existenz
Die Sehnsucht nach Gott
»Der Tod macht mir eine Scheißangst«
»Objektiv wahr«
Festhalten
Pierre
Mein armes Schätzchen
Kim
Etwas bleibt
Die verbindende Welle
Zu Beginn dieses Jahres haben wir uns hier versammelt, um der Toten zu gedenken. Oder vielleicht eher, um uns glücklich zu schätzen, dass wir noch am Leben sind?
Niemand spricht das aus. Aber der Raum strahlt Wohlstand aus und ist gleichsam eine Hymne an das Leben: der dunkelrote türkische Teppich; die bronzenen Leuchter – jeder mit drei soliden, aufrechten Armen, die pastellgrünen Stuckleisten am Deckenrand; die dunkle, hölzerne Buddhastatue, umhüllt und gekrönt – der Kopf umgeben von einer Art Lichtschein, an dessen Rand Feuerzun gen zu tanzen scheinen, während seine rechte Hand zur Segensgeste erhoben ist. In den beiden Backsteinkaminen am vorderen Ende des Raumes lodert ein Feuer; und zwischen den Kaminen steht ein kleiner Tisch mit orange- und goldfarbenen Tüchern, auf denen fünfundachtzig Namenskärtchen mit den Namen all derer ausgebreitet liegen, die im letzten Jahr in diesem buddhistischen Hospiz gestorben sind.
Ja, selbst diese gefalteten weißen Namenskärtchen atmen eine sinnliche Schönheit und erinnern an Platzkarten anlässlich einer rituellen Feierstunde. Nur die Gesichter der siebzig stillen und schweigenden Männer und Frauen um mich herum, die diese Zeremonie begehen werden, wirken matt, selbstversunken und ein wenig glasig, so als habe ihre innere Sammlung das äußere Leben abflauen lassen. Und doch sitzen wir wachsam und aufrecht und achten auf unseren Atem – die meisten im Schneidersitz auf roten Meditationskissen, die auf dem Boden verteilt sind, einige wenige auch auf den im Halbkreis aufgestellten Stühlen.
Wie kommt es, dass die Konzentrierung der Energie sie gleichzeitig zu reduzieren scheint? Immerhin haben wir ja hier einen ganz besonderen, aktiven Dienst zu verrichten. Uns wurde gesagt, dass wir, wenn wir den Impuls verspüren, einzeln aufstehen, nach vorne treten und eine Karte vom Tisch nehmen sollten – egal, ob wir den Namen auf dieser Karte kennen, oder nicht –, um sie dann mit Achtsamkeit zu einer der Feuerstellen neben dem Tisch zu tragen, so als ob wir den Menschen, dessen Name auf der Karte steht, körperlich in Händen trügen. Dann wenden wir uns der Gruppe zu, sprechen den Namen laut aus und fügen ein paar eigene Gruß- und Abschiedsworte hinzu – oder schweigen.
»Terry, möge die Ruhe, die du nach deinen Worten nie gefühlt hast, jetzt zu dir kommen. Mögest du Frieden finden.«
»Alan, du warst weich und wunderbar. Auf dass wir uns wieder sehen!«
»Zao Huh! Nur dein Name!«
»Norman, du warst zäh und hast dich mir doch geöffnet. Mögest du Frieden finden.«
»Alex, du warst zu krank, um es zu wissen. Dank dir trotzdem für das Privileg, im Sterben bei dir sein zu dürfen. Ruhe in Frieden.«
»Davida, in deinem Leben hast du viel Leid gelindert. Mögest du das auch weiterhin tun.«
»Na Yong, mögest du deine wahre Natur erkennen?«
Danach wird die Karte ins Feuer gelegt.
Ich selbst werde nicht aufstehen. Ich habe diese hundert Menschen nicht gekannt, denn mein Praktikum in diesem Hospiz dauert nur ein paar Wochen – als Teil einer achtmonatigen Ausbildung. Keiner dieser Namen sagt mir etwas. Und doch bedeutet diese Zeremonie, sich an ein Leben zu erinnern und es dann endgültig zu beschließen, für mich eine seltsame Wendung. Ich habe gehört, die letzten Worte des Buddha seien gewesen: »Alle Dinge sind unbeständig.« Aber bei allem Mitgefühl für die Stimmen der Lebenden hier: wovon reden diese Menschen eigentlich? Habe ich nicht vor einer Minute einen Mann sagen hören »Auf dass wir uns wieder sehen!«? – Nach diesem letzten Ende im Feuer? Sehen? Und warum dankt die junge Frau für ein »Privileg«, wenn der Sterbende zu krank war, um zu wissen, was er ihr gab? Was hatte er für eine Wahl? Oder dankt sie ihm dafür, dass er nicht starb, bevor sie zur Arbeit kam? Eine komische Dankbarkeit? Überhaupt nicht, sie meinte das ganz ernst. Wieder nehmen sie Karten und sprechen:
»Judd Jones, ich vermisse dich! Mögest du Frieden finden.«
»Inez, wir sind uns nie körperlich begegnet. Aber im Geiste sind wir sicher eins. Ich wünsche dir Frieden.«
»Mikele! Mikele! Mikele! Mikele Retto!«
»Tony, du kamst ins Hospiz, nachdem du einige Kugeln in den Boden der Nachbarn über dir geschossen hattest, weil sie dich störten. Und dann starbst du bei uns nach einem plötzlichen Schlaganfall. Mögest du und deine Nachbarn Frieden finden.«
Jetzt – Lachen. Die Atmosphäre entspannt sich. Und hier, denke ich ein wenig berührt, es ist gut, dass Leben und Tod auf die selbe Art geehrt werden. Aber all die anderen, sehr ernsten Reden von »Frieden finden« – als ob die Toten auf eine Insel der Gesegneten entschwunden wären! Wo soll das sein? Haben sie nicht den Frieden ebenso hinter sich gelassen wie den Schmerz? Sie sind erloschen. Man sagt doch auch nicht zu einer Kerze, die man gerade ausgeblasen hat: »Mögest du Frieden finden.« Und wen ehren wir hier eigentlich, nur durch das Aussprechen eines Namens, um wen geht es dabei? Doch nicht um jene, die unwiederbringlich gegangen sind. Nein. Der Verlust, den diese Männer und Frauen um mich herum empfinden, existiert in ihrem eigenen Leben; sie tragen die Trauer der Überlebenden. Sie haben bei den Sterbenden gesessen, mit ihnen gesprochen, haben versucht, ihnen Trost, Kraft und Beachtung zu schenken, und nun betrauern sie ihren Tod. Das verstehe ich. Sie übergeben dem Feuer ihre Erinnerung an den Verlust, sie verbrennen die Erinnerung, um sich von ihr zu befreien. Das heißt: nicht von der Erinnerung selbst wollen sie sich befreien, sondern von ihrer Last.
»Dave, mögest du Befreiung von deinen Qualen und Frieden finden.«
»Suzanne, mögest du immer singen!«
»Warren, ich glaube, dass du am Ende in die Berge gegangen bist. Mögest du Frieden haben.«
Und immer so weiter – bis keine Karte mehr übrig ist. Ich höre nicht mehr zu – oder nur noch eingehüllt in den hypnotischen Bann des Rituals. Dann, als es vorbei ist, werde ich wieder wach. Von hinten höre ich eine laute Stimme sagen: »Mögen diese und alle Wesen froh sein. Mögen diese und alle Wesen ihre wahre Natur erkennen.«
Da ist es wieder! »Diese Verstorbenen – alle Lebenden«: mit großem Ernst werden die vereinenden Worte noch einmal verkündet! Und dann löst sich die Gruppe auf, die Menschen gehen auseinander – anscheinend zufrieden mit dem, was hier gerade geschehen ist. Ich aber denke an die über achtzigjährige, an Alzheimer erkrankte Frau, die ich auf der Hospizstation gefüttert habe, und deren Augen aus ihrem ausgemergelten Gesicht heraus ins Leere starrten, während sie mit ihrem zahnlosen Mund schmatzend an einem Keks herumkaute: Wie sollte dieser verfallene Überrest eines menschlichen Lebens seine wahre Natur erkennen?
Die Buddhisten sagen, wir sollen uns von Urteil und Ablehnung befreien und weder den eigenen Tod noch den eigenen Lebenswunsch ablehnen: auf diese Weise erschließt sich uns unsere wahre Natur – in diesem Leben. Aber erstreckt sich diese Freiheit auch noch – wie ich gehört habe – auf unser Erlöschen? Der Staub als Seinsgrund? Das hat eine gewisse Poesie, aber weitaus mehr Poesie hat Ariels Lied »Perlen seine Augen-Ballen.« Und diese Leben wurden hier symbolisch verbrannt. Ich denke an die toten Körper in den Särgen, die von Bakterien und Maden zerfressen werden oder zu Asche verbrannt sind, und die dennoch hoffnungslos betrauert werden von so vielen, an ihrer Erinnerung leidenden Angehörigen. Das lässt mir diese selbstgenügsame Frömmigkeit hier so rätselhaft erscheinen.
Vielleicht aber ist sie gar nicht so selbstgenügsam. Vielleicht suchen all diese Männer und Frauen um mich her, die in gutem Geist aus dem Raum strömen, ja auch ganz aufrichtig nach jenem Vertrauen, das sie bisher nur erahnen können. Vielleicht suchen sie in Wahrheit eine Lebensweise, die ihnen schon jetzt Linderung und Trost schenkt; und was wäre da besser als die Toten ihre wahre Natur finden zu lassen und sie wieder in den Stand eines ersehnten und erfüllten Lebensgefühls zu erheben?
Warum auch nicht? Der Friede, den sie den Toten wünschen, ist derselbe Friede, den sie sich selber wünschen. Friede – oder seine höhere Form: Freude. Verbirgt sich hinter den matten Blicken während der Zeremonie nicht jene beflügelt hartnäckige Lebensfreude, nach der wir uns alle sehnen? Das einzige, was wirklich zählt?
Vielleicht gehöre ich nicht hierher.
Und doch – ist es nicht eigentlich gerade der richtige Ort für mich? Auch ich sterbe doch.
Nicht so schnell wie die Patienten des Hospizes zwar, und nicht an einer bestimmten Krankheit. Aber als ich vor sechs Wochen mitten in der Nacht aufwachte – es war kurz vor meinem sechsundsiebzigsten Geburtstag –, meine Frau Trudi mit einem Gefühl der Vorfreude küsste und dann dachte, dass nichts so wertvoll ist, dass ich dafür zu sterben bereit wäre, stieg der Nebel der Angst wie der in mir hoch – wie schon seit Monaten.
Ich stand auf und ging zu meinem Schreibtisch. Ich wollte die Spur dieser Angst aufs Sorgfältigste verfolgen, sie sezieren und zerlegen so weit mein analytischer Verstand das vermochte. Was war es, das mich so sehr zu ängstigen begann? Weder in meiner Ehe noch in meinem Beruf als Psychotherapeut gab es Hinweise auf irgendeine Art von Verfall. Es waren auch nicht die normalen Anzeichen von Alter oder Krankheit, wie etwa dass ich Augentropfen gegen den grünen Star nahm oder ein Hörgerät brauchte. Ja nicht einmal das Nachlassen des sexuellen Antriebs, denn immerhin gab es ja solche modernen und äußerst effektiven Hilfsmittel wie Hormonspritzen oder diese Pillen, die sich auf Niagara reimen und dafür sorgen, dass man nicht mitten im Akt schlappmacht.
Nein, es war etwas anderes, das vor einigen Wochen begonnen hatte, und anfänglich durchaus amüsant gewesen war. In meinem Adressbuch las ich einen Namen, den ich nicht wieder erkannte, und mitten in der Nacht musste ich an einen entfernten Bekannten denken, dessen Name mir nicht mehr ein fiel. Ich war mir sicher, dass er irgendwo in meinem Adressbuch stehen musste, aber – lebte er überhaupt noch? Könnte ich ihn erreichen, wenn ich wollte? Das führte mich zu einer allgemeineren, eher moralischen Frage: Sollte man überhaupt Wert darauf legen, Freundschaften aufrechtzuerhalten? Wie hieß noch mal der französische Dramatiker des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, der so hervorragend über moralische Skrupel geschrieben hatte?
Solcherart streiften meine Gedanken umher, bis plötzlich in mir die Panik ausbrach. Wie eine Marionette – von fremder Hand geführt – sprang ich aus meinem Bett und stürmte in meine Bibliothek, um unter den französischen Dramen nach dem Buch dieses Dichters zu suchen – nur um seinen Namen wieder zu finden! Habe ich das Buch überhaupt? Sicher habe ich es. Ich hatte es doch. Aber es war nicht da. Konnte es woanders stehen? Nein. Und was, wenn mir der Name nicht mehr einfällt und ich das Buch nicht finde? Das ist noch kein Weltuntergang. Nicht? Aber irgendein Untergang ist es, auch wenn ich nicht weiß, was für einer. Mit einer einzigen kräftigen Bewegung fegte ich sämtliche Dramen aus dem Regal. Und da, hinter ihnen, flach auf dem Regalbrett liegend, sah ich das Buch, das ich gesucht hatte. Von Gabriel Marcel.
Ich setzte mich hin – und zitterte vor Erleichterung. Ich konnte mich an den Namen erinnern, zumindest wenn ich ihn sah! Aber ist das wirklich so wichtig – abgesehen von einem beiläufigen Test der eigenen Bedeutung? Ja. Denn meine Erinnerung steht auf dem Spiel – und mit ihr alle meine guten und bereichernden Erfahrungen, mein Urteilsvermögen, meine Erkenntnis über die Welt, die feinen Unterscheidungen, der Reichtum des Herzens, mein ganzer Sinn für die Kontinuität und den Wert meines eigenen Daseins. Das alles zu verlieren hieße, nichts mehr zu haben, was ich bewahrenswert fände.
Moment mal – immer langsam! Hat denn das Vergessen nicht auch seine guten Seiten? Natürlich nicht bei einem erdrutschartigen Verfall des Bewusstseins, wie bei der Alzheimer-Krankheit. Aber wenn man von den banalen Einzelheiten einmal absieht, spricht man in solchen Momenten ja auch wohlwollend von der Zerstreutheit des Alters. Könnte ich es nicht einfach so hinnehmen, als natürliche und keineswegs unwürdige Begleiterscheinung des Älterwerdens, dass ich mich beispielsweise letzte Woche nicht mehr ganz spontan an den Spruch auf dem T-Shirt meines Sohnes erinnern konnte, sondern nur ganz allmählich wieder darauf kam: »Vielleicht bin ich nicht perfekt, aber manches an mir ist hervorragend«?
Ich fing an, mich zu entspannen. Diese Ausdünnungen, Auslassungen und Abweichungen, die zu einer wortlosen Tiefe führen – wie nennt man den Zustand jenseits aller Worte?
Ich konnte mich nicht erinnern.
Plötzlich – wieder Panik.
Ich griff zu meinem Wörterbuch, dessen 2600 Seiten nur spöttisch mit den Achseln zu zucken schienen. Nun gut; habe ich nicht zumindest irgendeinen Anhaltspunkt? Vielleicht das Präfix. »Meta…?« Ich blätterte mich durch das immense Buch. Drei unbrauchbare Spalten: »Metazestoden«, »Metabolie«, ja so gar »Metasprache.« Na gut! Dann versuche ich es mit »Epi…«. Mein Gott, welcher Teufel reitet mich hier! Es ist sicher nicht »Epi….« Ich kann jetzt nicht klar denken. Ich gehe lieber wieder ins Bett, vergesse die ganze Sache und frage morgen Frances; die wird es wissen.
Zwanzig Sekunden liege ich im Bett. »Peri…«? – Nein, nein! Aber was, wenn mir ein Synonym ein fiele?
Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf, laufe zurück und nehme das Wörterbuch. »Unsäglich.« Gott, nein, das ist es nicht. »Unsagbar.« Nein. Aber das bringt mich zu »unaussprechlich.« Warum muss ich das hier tun? Wenn ich das Wort fände, würde ich zur Ruhe kommen, oder zumindest atmen – wie ein Ertrinkender, der an die Oberfläche kommt und nach Luft schnappt. »Unaussprechlich: unsäglich, unsagbar, unbeschreiblich.« »Ja, ja natürlich, mein Gott!«, rufe ich laut und zeige mit dem Finger auf dieses Wort, erleichtert, begeistert, als hätte ich einen Schatz entdeckt, ein Orgasmus, das Geschenk des Lebens selbst. Ich gehe langsam zurück an meinen Schreibtisch, schreibe das Wort in großen Lettern auf ein Stück Papier und gehe zurück ins Bett. Es ist viertel vor drei. Ich möchte Trudi wecken, ihr sagen, wie erleichtert ich bin, aber sie schläft. Und eigentlich ist es ja auch nur ein Wort. Dafür wecke ich sie nicht auf.
Schnell schlafe ich wieder ein.
Als ich am nächsten Morgen den Frühstückstisch abräume, hat sich die nächtliche Hysterie gelegt.
»Was hat dich mitten in der Nacht so aufgeregt?«, fragt Trudi.
»Hast du mich gehört? Ich habe nach einem Wort gesucht, das ich vergessen hatte. Ganz plötzlich!«
»Wie beunruhigend! Ich bin sicher, wenn du dich entspannt hättest, wäre es dir heute Morgen beim Aufstehen wieder eingefallen.«
Ich will ihr nicht sagen, dass ich mich an meine Selbstkontrolle klammere, voll Furcht vor jeder Art von Verzögerung durch die Details meiner Erinnerung. Das heißt, eigentlich versuche ich bei jedem noch so kleinen Hinweis auf den Verlust meines Gedächtnisses augenblicklich zu beweisen, dass es keinen Verlust gibt. Und dieser Verlust erscheint sehr dunkel, als sei der Tod eingetreten – und zum ersten Mal – um zu bleiben.
Ja! Der Verlust, den ich nun fürchte, ist der Tod.
Meine Eltern starben vor Jahren, über achtzigjährig, aber das war ein erwarteter, in gewisser Weise einfacher Abschied gewesen. Und noch Jahre danach, wenn Freunde starben – mit fünfzig, sechzig, vielleicht fünfundsechzig –, erschien mir ihr Tod immer noch natürlich. Und wenn meine Patienten mich fragten, wie ich mich fühle, habe ich oft gesagt: »Sehr gut. Heute ist ein guter Tag zum Sterben.«
Was habe ich seitdem vergessen?
Auf der einen Ecke unseres Frühstückstisches stand mitten unter dem anderen Geschirr ein kugelförmiger Behälter aus waldgrünem Kristall, außen mit Diamantschliff, und innen ganz weich; irgend jemand hatte ihn als Geschenk mitgebracht, und wir hatten ihn mehrere Tage nicht weiter beachtet. Man hebt den gewölbten Deckel mithilfe einer speziell dafür vorgesehenen Öffnung an seinem oberen Ende, und dann kommt ein Docht zum Vorschein, der auf einem großen, flachen Wachsbett steht. Ich nahm den Deckel ab und sah eine kleine tote Spinne in der Nähe des Dochts; ihre Beine waren angewinkelt und wurden von einem kleinen Stück Netz bedeckt, das sie als letztes Symbol eines Zuhauses gesponnen hatte. Sie war durch die obere Öffnung der Kuppel hineingefallen und wusste nicht, wie sie wieder hinauskommen sollte. Es wären nur ein paar wenige, sichere Schritte gewesen, nichts, das sie nicht hätte schaffen können. Aber sie konnte es nicht.
Ich setzte mich, zitternd – und froh, dass Trudi hinausgegangen war, denn ich wollte nicht, dass sie mich so sah, in meiner verrückten Nervosität, zitternd den nächsten Moment erwartend, in dem mein Gedächtnis mich verlassen könnte. Welche Schritte – notwendig und beherzt – würde ich vergessen? – Wie nennt man zwei stark betonte Silben am Ende einer Verszeile? Nicht Trochäus. Spielt das eine Rolle? Nein. Ja. Auch nicht Daktylus. Was ist das? Diesmal kam mir nach fünf endlos langen Sekunden ein Wort in den Sinn: Spondeus! Guter Gott, ja! Guter Gott, hör auf damit! Warum diese Qual für eine Posse von Molière!
Ich schreite langsam durch unseren sonnenbeschienenen Wintergarten und schaue durchs Fenster auf die Bäume im Tal.