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** Die ersten drei Nathalie-Svensson-Krimis des schwedischen Erfolgsautors Jonas Moström in einem E-Bundle zum attraktiven Sonderpreis. ** So tödlich nah Psychiaterin Nathalie Svensson unterstützt die Polizei bei besonders drastischen Fällen. Eines Nachts allerdings kann sie nur hilflos zusehen, wie ihr Liebhaber in Stockholm auf offener Straße erschossen wird. Er verblutet in ihren Armen. Sie fühlt sich in einem Alptraum gefangen, denn zehn Jahre zuvor wurde ihr damaliger Freund ebenfalls ermordet. Nathalie versucht, auf eigene Faust zu ermitteln. Doch jemand stellt Nathalie nach. Sie bekommt bedrohliche Nachrichten und hat das Gefühl, verfolgt zu werden. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Morden? Und ist sie das eigentliche Ziel? Dominotod In den tiefen Wäldern Nordschwedens wird der Arzt Thomas Hoffman tot aufgefunden. Alles weist darauf hin, dass er mehrere Tage gefangengehalten und gequält wurde. Einer der Kollegen des Toten ist spurlos verschwunden, nur sein Namensschild und ein Dominostein sind zurückgeblieben. Er scheint in die Hände desselben Mörders geraten zu sein. Psychiaterin Nathalie Svensson, Spezialistin für die härtesten Fälle, wird nach Sundsvall gerufen. Ausgerechnet ihre eigene Schwester war die letzte, die das Entführungsopfer lebend gesehen hat. Ist sie in den Fall verwickelt? Mitternachtsmädchen Uppsala im Frühling: Die Studenten der Universitätsstadt feiern die Walpurgisnacht, als im Hörsaal der Anatomie die Leiche einer blonden Studentin gefunden wird, die eindeutige Würgemale aufweist. Schon zuvor wurden mehrere blonde Frauen überfallen und gewürgt. Genau wie bei der toten Studentin, fehlte allen Opfern der linke Schuh. Die Polizei will ein Täterprofil erstellen und ruft Psychiaterin Nathalie Svensson zu Hilfe. Zermürbt vom Scheidungskrieg mit ihrem Ex-Mann stürzt Nathalie sich in die Ermittlungen. Denn das Opfer ist die Tochter einer guten Freundin, und ihr ist klar: solange der Täter nicht gefasst wird, ist keine junge Frau in Uppsala sicher.
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So tödlich nah // Dominotod // Mitternachtsmädchen
Jonas Moström wurde 1973 geboren. Er begann während seiner Elternzeit damit, an seinem ersten Roman zu arbeiten, der 2004 erschien. Seine Krimis um Psychiaterin Nathalie Svensson sind in Schweden Bestseller. Er lebt und arbeitet als Arzt in Stockholm.
So tödlich nah
Psychiaterin Nathalie Svensson unterstützt die Polizei bei besonders drastischen Fällen. Eines Nachts allerdings kann sie nur hilflos zusehen, wie ihr Liebhaber in Stockholm auf offener Straße erschossen wird. Er verblutet in ihren Armen. Sie fühlt sich in einem Alptraum gefangen, denn zehn Jahre zuvor wurde ihr damaliger Freund ebenfalls ermordet. Nathalie versucht, auf eigene Faust zu ermitteln. Doch jemand stellt Nathalie nach. Sie bekommt bedrohliche Nachrichten und hat das Gefühl, verfolgt zu werden. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Morden? Und ist sie das eigentliche Ziel?Dominotod
In den tiefen Wäldern Nordschwedens wird der Arzt Thomas Hoffman tot aufgefunden. Alles weist darauf hin, dass er mehrere Tage gefangengehalten und gequält wurde. Einer der Kollegen des Toten ist spurlos verschwunden, nur sein Namensschild und ein Dominostein sind zurückgeblieben. Er scheint in die Hände desselben Mörders geraten zu sein. Psychiaterin Nathalie Svensson, Spezialistin für die härtesten Fälle, wird nach Sundsvall gerufen. Ausgerechnet ihre eigene Schwester war die letzte, die das Entführungsopfer lebend gesehen hat. Ist sie in den Fall verwickelt?Mitternachtsmädchen
Uppsala im Frühling: Die Studenten der Universitätsstadt feiern die Walpurgisnacht, als im Hörsaal der Anatomie die Leiche einer blonden Studentin gefunden wird, die eindeutige Würgemale aufweist. Schon zuvor wurden mehrere blonde Frauen überfallen und gewürgt. Genau wie bei der toten Studentin, fehlte allen Opfern der linke Schuh.Die Polizei will ein Täterprofil erstellen und ruft Psychiaterin Nathalie Svensson zu Hilfe. Zermürbt vom Scheidungskrieg mit ihrem Ex-Mann stürzt Nathalie sich in die Ermittlungen. Denn das Opfer ist die Tochter einer guten Freundin, und ihr ist klar: solange der Täter nicht gefasst wird, ist keine junge Frau in Uppsala sicher.
Jonas Moström
Die Nathalie-Svensson-Krimis Band 1 bis 3
Aus dem Schwedischen von Nora Pröfrock und Dagmar Mißfeldt
Ullstein
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Sonderausgabe im Ullstein TaschenbuchDezember 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
So tödlich nah:
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: Trevillion Images/ © Jamie Heiden
Dominotod:
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: Landschaft: plainpicture/ © SuzetteBross; Struktur & Ast: © FinePic®, München
Mitternachtsmädchen:
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: Landschaft: Getty Images/ © Kentaroo Truman; Struktur & Ast: © FinePic®, München
Autorenfoto: © Eva LindbladISBN 978-3-8437-2882-9
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Titelei
Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
So tödlich nah
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Nachwort
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Anhang
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
So tödlich nah
Die Geschehnisse der folgenden halben Stunde blieben Nathalie Svensson nur bruchstückhaft in Erinnerung. Wie sie Rickard Ekengård aus dem Wasser zog und ihn neben dem Springbrunnen auf den Boden legte. Wie sie versuchte, die Blutung zu stillen, indem sie ihm seinen Schal auf die Brust drückte, und gleichzeitig die Nummer des Notrufs tippte. Wie sie Puls und Atmung kontrollierte, um sich zu vergewissern, dass er noch lebte, auch wenn er auf ihre verzweifelten Rufe nicht reagierte.
Ein Krankenwagen bremste fünf Meter von dem schwerverletzten Körper auf dem Schotter, und gleichzeitig fuhr der erste Polizeiwagen durch eine Öffnung in dem Baumkreis, der den Springbrunnen umgab. Die grüngekleideten Rettungssanitäter gingen professionell vor, waren aber offensichtlich gestresst von all dem Blut, das den Boden und die Kleidung des Angeschossenen rot färbte. Dass es sich bei dem Opfer um Rickard Ekengård handelte, erkannten sie sofort, doch nachdem sie das einmal festgestellt hatten, fuhren sie unbeeindruckt mit ihren routinierten Handgriffen fort. Her mit der Trage, hinauf mit dem schlaffen Körper und rein in den Wagen. Tropf und Sauerstoffmaske angelegt und einen Druckverband am Brustkorb angebracht.
Der Fahrer des Wagens drängte Nathalie zurück und schlug die Türen zu. Drei Sekunden später verbreiteten die rotierenden Blaulichter ihr grelles Flackern in der Morgendämmerung. Die Sirenen hallten von den Steinfassaden wider, als der Krankenwagen mit Hochgeschwindigkeit über den Karlavägen verschwand.
Zwei uniformierte Polizisten legten ihr eine Decke um die Schultern und führten sie zu einer Bank jenseits des blauweißen Plastikbandes, das schon bald den Bereich um den Springbrunnen und einen Ausläufer in Richtung U-Bahn absperrte, wohin der Mörder mit seinem Fahrrad geflüchtet war.
Der Beamte und seine Kollegin stellten Fragen und sprachen Anweisungen in ihre Funkgeräte. Wenig später wimmelte es auf dem Platz nur so von Uniformen. Nathalie hörte sich antworten, doch es war, als gehörte die Stimme jemand anderem.
Rickard Ekengård.
Vor ihren Augen erschossen und in einen Springbrunnen gezerrt.
Aber ihr einziger Gedanke galt Adam, der Liebe ihres Lebens, die ihr so brutal entrissen worden war. Es war jetzt zehn Jahre her, doch das Bild, wie jemand ihm in den Rücken geschossen hatte, um ihn dann blutend im Springbrunnen vor dem Hauptbahnhof in Uppsala zurückzulassen, war kein bisschen verblichen. Dabei hatte sie die Szene nicht einmal mit eigenen Augen gesehen. Seit damals war kein Tag vergangen, an dem sie nicht an ihn gedacht hatte. Und nachdem der Fall Anfang des Monats in der Fernsehsendung Ungelöste Verbrechen aufgegriffen worden war, hatte die Erinnerung nur zusätzlich an Lebendigkeit gewonnen.
Nun hatte sie mit ansehen müssen, wie Rickard auf ganz ähnliche Weise niedergeschossen worden war. Das kann einfach nicht wahr sein, dachte sie, weck mich doch bitte jemand aus diesem Albtraum.
Auf dem Platz trafen noch mehr Polizisten ein. Sie hörte, wie einer von ihnen jemanden ans Telefon zu bekommen versuchte, der das Wasser abstellen konnte, drei neugierige Jugendliche blieben an der Absperrung zum Narvavägen stehen, das Surren einer Kamera war zu hören, als ein Fotograf eine Serie von Bildern schoss. Zwei Männer fuhren in einem schwarzen Wagen vor, zogen sich weiße Anzüge, Handschuhe und Überschuhe an und näherten sich der Blutlache.
Nathalie fröstelte und zog die Decke enger um sich, ohne dass es jedoch etwas nützte. Wie lange sie so dasaß, den Blick auf das Wasser gerichtet, wusste sie nicht. Schließlich setzte sich jemand neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Hallo, Nathalie, wie geht es dir?«
Frank. Auch wenn seine Stimme den sonst so dunklen, erdigen Klang vermissen ließ, erkannte sie ihn sofort. Nathalie wandte sich um und blickte in seine tiefliegenden grauen Augen. Sie waren gerötet und starrten sie auf eine prüfende Art an, die nach der anfänglichen Erleichterung über seine Anwesenheit unmittelbar Unbehagen in ihr aufkeimen ließ. Er saß dicht neben ihr, sein zerfurchtes Gesicht wirkte besorgt. Wie üblich trug er eine schwarze Lederjacke, T-Shirt und Jeans. Am Kinn hatte er eine Wunde, die anscheinend gerade erst aufgehört hatte zu bluten. Unter seiner Oberlippe klemmte eine Portion Snus, die aschblonden Bartstoppeln standen in alle Richtungen ab.
»Was machst du hier?«, fragte sie.
»Arbeiten, Nathalie«, sagte er in einem Versuch, möglichst beherrscht zu wirken, doch seine Stimme klang immer noch eigenartig fremd. »Ich habe heute Bereitschaftsdienst für die Kripo, vor zehn Minuten hat mich der Notruf erreicht.«
Die Sinneseindrücke überschlugen sich und wurden zu einem undurchdringlichen Wirrwarr in ihrem Kopf. Sie hörte sich sagen: »Ich bin vorhin an deiner Haustür vorbeigegangen … vor einer Minute … Ich wollte dich eigentlich heute anrufen … aber dann kam was dazwischen und ich … dann bin ich hierhergekommen und …«
Ihre Stimme versagte, und ihr kamen die Tränen.
»Ich weiß in etwa, was passiert ist«, sagte Frank und legte den Arm um sie, so dass sie eine wohlige Wärme durchströmte. »Es muss furchtbar gewesen sein …«
Sie nickte und betrachtete ihn.
»Was hast du am Kinn?«
»Ach, das ist nichts«, antwortete er. »Nur eine Schnittwunde vom Rasieren.«
Man brauchte jedoch keine medizinischen Fachkenntnisse, um zu sehen, dass er nicht die Wahrheit sagte.
»Warst du zu Hause?«, wollte sie wissen.
»Ja«, sagte er und ließ sie wieder los. »Was hast du hier gemacht?«
»Ich war auf dem Weg nach Hause … vom Café Opera … wollte noch ein bisschen frische Luft schnappen und bin einen Umweg gegangen.«
Die Lüge kam ihr wie von selbst über die Lippen. Um davon abzulenken, fragte sie: »Wird er überleben?«
»Keine Ahnung«, antwortete Frank. »Er kommt jetzt in den OP. Wir gehen natürlich vor wie bei einem Mord. Alle verfügbaren Streifen suchen gerade das Gebiet ab, in dem der Täter verschwunden ist«, ergänzte er und deutete mit dem Kopf in Richtung U-Bahn.
Nathalies Gedanken wanderten zu der Ermordung der Außenministerin Anna Lindh. Auf der Pressekonferenz hatten die Ärzte ihren Zustand zunächst als stabil bezeichnet. Wenige Stunden später war sie für tot erklärt worden.
»Es war furchtbar«, sagte sie und blickte auf ihre Schuhe, die so rot wie Rickards Blut waren. Über den Schotter näherten sich Schritte, und eine kleine, magere Gestalt erschien in ihrem Blickfeld.
»Hallo, Nathalie.«
Sie wandte den Kopf und begegnete Angelica Hübinettes Blick.
»Was machen Sie denn hier?«, wollte die Gerichtsmedizinerin wissen und sah abwechselnd von ihr zu Frank.
Nathalie hatte sie im Zuge ihrer Arbeit für die operative Fallanalyse kennengelernt. Sie war nett, kompetent und geradeheraus.
»Sie ist hier als Zeugin«, erklärte Frank.
»Verstehe«, sagte Angelica. »Ich dachte zuerst, die OFA-Einheit wäre vielleicht schon eingeschaltet.«
»Nein«, sagte Frank, »das wäre wohl etwas zu früh.«
»Ja«, stimmte Angelica zu. »Ich bin auch nur im regulären Dienst hier.«
Ein erneuter Blick in Richtung Nathalie und ein Nicken, das mit etwas Wohlwollen als ein Zeichen von Mitgefühl gedeutet werden konnte.
»Alles Gute, Nathalie. Wir hören voneinander.«
Damit ging Angelica Hübinette zu ihren Kollegen am Springbrunnen. Frank wandte sich zu Nathalie um und hob vielsagend eine Augenbraue. Er hatte sie zwar selbst der OFA-Einheit empfohlen, aber trotzdem war er jedes Mal skeptisch, wenn sich das Team in die Arbeit der örtlichen Kripo einmischte.
»Kannst du noch einmal beschreiben, was du gesehen hast?«, bat Frank sie und schaltete ein Diktiergerät ein.
Sie zwang sich, ein weiteres Mal den Hergang der Ereignisse zusammenzufassen. Nur die Verabredung mit Rickard ließ sie unerwähnt. Frank wusste nichts von den Männern, mit denen sie sich traf, und so sollte es auch bleiben. Vor allem aber ging sie davon aus, dass ihr Date wohl kaum etwas mit dem Überfall zu tun hatte.
Frank strich sich mit dem Finger über die Wunde am Kinn.
»Nathalie, ich weiß, wie schwer das für dich sein muss«, sagte er.
»Ich verstehe es einfach nicht«, antwortete sie mit halberstickter Stimme. Die Umgebung verschwamm vor ihren Augen, als ihr erneut die Tränen kamen.
»Zehn Jahre ist es jetzt her«, murmelte sie.
»Ich weiß. Er fehlt mir auch.«
Frank schwieg.
Er war Adams bester Freund gewesen. Nathalie und Louise hatten die beiden zu Beginn ihres Medizinstudiums kennengelernt. Ein paar Wochen später waren aus den vier Freunden zwei Pärchen geworden.
»Gibt es noch etwas, was für uns wichtig sein könnte?«, fragte Frank nach einer Weile.
Nathalie hielt den Blick geradeaus gerichtet und atmete tief ein. Die Ulmen um den Springbrunnen verschmolzen zunehmend mit der weißen Wassersäule. Sie schloss die Augen. Spürte, wie sie auf der kalten Bank ganz schwer wurde, wie ihre Lippen taub wurden und sämtliche Geräusche um sie herum erstarben.
»Ich muss nach Hause.«
»Ich kümmere mich darum«, sagte Frank. »Wann fährst du nach Uppsala?«
»Weiß nicht, ich nehme die Bahn, wie immer. Spätestens heute Abend um sieben muss ich zu Hause sein.«
»Ruf mich an, sobald du wach bist.«
Frank stand auf und beorderte einen Beamten namens Hansson, sie nach Hause zu bringen. Zu ihrer Wohnung in der Artillerigatan waren es nur fünfhundert Meter, doch sie protestierte nicht.
Eine Minute später stand sie an dem Fußgängerüberweg, von dem aus sie Zeugin des Angriffs geworden war, und öffnete die Beifahrertür eines Streifenwagens. Das Letzte, was sie hörte, bevor sie die Tür zuzog, war der Ruf eines weißgekleideten Kriminaltechnikers. Er stand an der Ulme, an der das Fahrrad des Täters gelehnt hatte. »Frank! Ich habe hier etwas gefunden, das müssen Sie sich mal ansehen!«
»Soll ich noch mit reinkommen?«
Hansson hatte vor der Artillerigatan 32 gehalten. Nathalie wandte sich zu ihm um, sah seine Finger gegen das Lenkrad trommeln.
»Nein danke, ich komme schon zurecht«, sagte sie und drückte die Tür auf. »Danke fürs Fahren.«
Damit stellte sie die hohen Absätze auf den Asphalt und stieg aus. Ohne hinzusehen, hob sie die Hand zum Gruß und kehrte dem Polizisten den Rücken zu. Tief sog sie die kühle Luft ein und hörte die Glocke der Hedwig-Eleonora-Kirche ein Mal schlagen. Halb sechs. In den Bäumen auf dem Friedhof gegenüber zwitscherten die Vögel. Blaue, weiße und violette Blausterne kämpften sich zwischen den schneebedeckten Flecken Erde, die stets im Schatten der asymmetrisch angeordneten Grabsteine zu liegen schienen, ans Tageslicht.
Bevor sie ins Haus ging, sah sie noch, wie der Streifenwagen nach rechts in die Storgatan abbog. Sie überzeugte sich, dass die Tür hinter ihr auch wirklich ins Schloss gefallen war, und stieg die Treppe in die vierte Etage hinauf. Jede Zelle ihres Körpers vibrierte vor Unruhe, und gleichzeitig war sie unsagbar müde.
In dem winzigen Flur ihrer Wohnung, in dem sich fünf Kleiderhaken, ein Schuhregal, ein Spiegel und die Tür zur Toilette befanden, hängte sie ihren Mantel auf und zog sich die Schuhe aus. Erleichtert spürte sie ihre Füße auf dem Parkettboden, als wäre sie nach einer langen Flugreise endlich wieder gelandet. Ihr Blick fiel auf die ordentlich hingestellten neonfarbigen Joggingschuhe. Aus der Laufrunde um den Kungliga Djurgården würde dieses Wochenende wohl nichts mehr werden, ging ihr durch den Kopf. Als spielte das jetzt noch eine Rolle.
Beim Blick in den großen Spiegel an der Wand erschrak sie. Ihre dunkelbraunen Locken hingen in langen Strähnen herunter, der Mascara hatte schwarze Schatten unter ihren Augen hinterlassen, ihr Gesicht war aufgequollen, die Lippen bleich.
Schaudernd ging sie in das einzige Zimmer der Wohnung. Das graue Morgenlicht fiel durch das nordwestlich ausgerichtete Fenster, vor dem die knospenden Zweige noch immer den Blick über den Friedhof bis zum Östermalmstorg freigaben.
In dem Bemühen, sich etwas zu sammeln, ließ sie den Blick über die ihr so vertrauten, sorgfältig möblierten zweiundzwanzig Quadratmeter schweifen. Links das Bücherregal mit der Stereoanlage, auf der sie Aviciis Debütplatte gespielt hatte, bevor sie zum Café Opera aufgebrochen war. Rechts der Kleiderschrank, das Bett und die Kochnische. Die eingerahmten Fotocollagen ihrer Mutter, der orientalische Teppich, den sie von ihrem Vater bekommen hatte, und der Arne-Jacobsen-Sessel, den sie im Internet ersteigert hatte.
Zwischen den Blumentöpfen mit den weißen Orchideen lagen die viel zu teuren Videospiele, die sie für Gabriel und Tea gekauft hatte. Mitten im Raum stand der Notenständer mit den Chornoten der Woche, an den sie die Medaille vom Frauenlauf vergangenes Jahr gehängt hatte – zur Erinnerung daran, das sie mehr trainieren musste. Sie hatte sich bemüht, eine möglichst wohnliche Atmosphäre zu schaffen.
In diesem Moment aber kam ihr irgendetwas komisch vor. Das Gefühl von Sicherheit, das sich normalerweise einstellte, war wie weggeblasen. Ihr Blick irrte umher und versuchte, den Grund dafür zu finden. An dem weißgestreiften Vorhang zwischen Bett und Kochnische, hinter dem sich die Putzecke verbarg, blieb er hängen. Fielen die Falten nicht irgendwie anders als sonst? Was ragte da einen halben Meter über dem Fußboden hervor? Mit weit aufgerissenen Augen ging sie darauf zu und schob den Vorhang zur Seite.
Dahinter stand natürlich niemand. Nur ihre Putzsachen und das Bügelbrett. Der Staubsaugerschlauch war nach vorne gefallen und hatte sich in den Raum geschoben.
Mit einem Seufzen ließ sie die angehaltene Luft aus ihren Lungen entweichen und schüttelte den Kopf über ihre Hirngespinste. Noch einmal rief sie sich die Bilder ihres unbekannten Verfolgers in Erinnerung. Wie er oder sie um eine Ecke verschwunden war. Das Gefühl, dass da immer jemand war, aber nie greifbar.
Sie zog sich das Kleid aus und hängte es zu den anderen in den Kleiderschrank. In der Kochnische ließ sie eine Brausetablette in ein Glas Wasser fallen. Durch das Rauschen hörte und sah sie noch einmal den Springbrunnen vor sich. Die Person auf der Bank, den plötzlichen Angriff und das Blut, das das Wasser rot gefärbt hatte. Rickards Hand an ihrem Arm und seine Worte: »Wi … Wi …«
Sein letzter Moment bei Bewusstsein, ihr Anblick hatte ihn bis zum Schluss begleitet.
Was hatte er gemeint?
Wir beide?
Rickard. Wirst du überleben?
Sie unterdrückte den Impuls, im Krankenhaus anzurufen und sich nach ihm zu erkundigen. Sah ein, dass es zwecklos war und dass sie, so schwer es ihr fiel, versuchen musste zu schlafen.
Sie ging zurück zum Bad, klappte den Spiegel am Badezimmerschrank zur Seite, um nicht noch einmal ihr Spiegelbild sehen zu müssen, und holte eine halbe Tablette Benzodiazepin aus dem Kulturbeutel. Normalerweise nahm sie keine Beruhigungsmittel, doch das war ein Notfall.
Dann legte sie den Haken an der Tür vor, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Drehte so viel heißes Wasser auf, bis ihre Haut brannte und sie von einer Dampfwolke umhüllt war. Die Hitze und der harte Strahl auf der Haut ließen ihre Gedanken in all dem Gefühlschaos ein wenig klarer werden.
Was geschehen war, war unbegreiflich und dennoch geschehen. Als Ärztin war sie es gewohnt, zwischen Empathie und Analyse hin- und herzuwechseln, doch in diesem Moment fühlte sie sich ebenso hilflos wie die Patienten, die manchmal vor ihr zusammenbrachen.
Sie war Zeugin eines Mordversuchs an Rickard Ekengård geworden.
Hätte ich nicht so schnell die Blutung gestillt und den Krankenwagen gerufen, wäre er jetzt tot, mutmaßte sie und spülte sich den Schaum aus dem Haar.
Rickard. Warum wollte er sie ausgerechnet heute treffen? Hatte er einfach nur zu viel getrunken, Lust auf Sex gehabt und darauf gesetzt, dass sie bestimmt mit ihm nach Hause kommen würde?
Nathalie dachte an den Abend im Riche vor ein paar Wochen. Wie sie dort an der Bar saß und ein Glas Wein getrunken hatte, bis er sich plötzlich neben sie gesetzt und Hallo gesagt hatte. Wie verblüfft sie gewesen war. Zwar hatte er ihr von dem Tisch, an dem er zuvor mit seinen Schauspielerkollegen saß, schon die ganze Zeit Blicke zugeworfen, aber dass er zu ihr herüberkommen würde, hätte sie nie gedacht.
Sofort hatte sich zwischen ihnen ein unbeschwertes Gespräch aus der üblichen Mischung von Faktenaustausch und Scherzen entsponnen. Im Gegensatz zu vielen anderen Männern hatte er aufrichtiges Interesse an ihren Antworten gezeigt. Das hatte sie sehr angenehm gefunden und gefreut. Er hatte sich nach ihrer Familie erkundigt, wollte wissen, wie es war, als Psychiaterin zu arbeiten, und hatte sowohl Fragen zum Chor als auch zu ihrer Scheidung gestellt (die sie im Normalfall gar nicht erwähnte).
Die Stunden waren nur so verflogen. Als der Bartender sagte, dass bald geschlossen würde, hatte Rickard sie noch auf eine Flasche gutgelagerten Amarone, die er vom Theaterchef bekommen hatte, zu sich eingeladen. Er war fröhlich und ausgelassen gewesen, hatte von dem Stück erzählt, für das er gerade probte, und von seinen kommenden Filmprojekten.
Als sie aber auf seinem großen Ledersofa Platz genommen und mit dem rubinroten Wein angestoßen hatten, war er plötzlich ernst geworden. Er hatte erzählt, dass er gerade an einer Autobiographie arbeite. Er wolle alles auffliegen lassen.
Noch bevor sie fragen konnte, was genau er darin auffliegen lassen wolle, hatte er sich vorgebeugt und sie geküsst. Seine Hand war an ihr hinaufgewandert, und sie hatte seinen Nacken umfasst. Wieder und wieder hatten sie sich geliebt. Anschließend hatte er gesagt, dass er es gewohnt sei, allein zu schlafen. Bis zu seiner SMS hatten sie nichts mehr voneinander gehört.
Nathalie drehte das Wasser ab. Die Wärme und die Tablette machten sie ganz schläfrig und betäubt. Sie trocknete sich sorgfältig mit dem neuen Ralph-Lauren-Handtuch ab, schlüpfte in ihr Seidennachthemd und putzte sich drei Minuten die Zähne. Dann löschte sie überall das Licht und ging zum Fenster, um die Jalousien herunterzulassen. Eine Weile blieb sie dort stehen und blickte auf den Friedhof, wo drei Spatzen über einen der Kieswege hüpften, bis die Gräber zu einem einzigen großen, grauen Stein vor ihren Augen verschwommen.
Noch einmal hallte die grauenvolle Nachricht von Adams Tod in ihr wider. Die Worte der Polizisten hatten ihr Leben zerstört, und was sie selbst in dieser Nacht erlebt hatte, war in einer undurchdringlichen Finsternis verschwunden, die sie seither in sich trug.
Die Mordermittlungen, an denen Frank als frischgebackener Kommissar beteiligt gewesen war, hatten rein gar nichts ergeben. Man wusste nur, dass Adam noch spät wegen einer Story ausgerückt war, worum es ging, war allerdings nicht klar. Der Saab, den er sich mit einem Kollegen teilte, stand vor dem Haus des Kollegen in der Salagatan. Adam hatte ihn im Laufe des Abends genommen und wie besprochen wieder zurückgebracht, vermutlich gegen 23:15 Uhr. Da es keine andere plausible Möglichkeit gab, nahm man an, dass er sich danach auf den Weg in die Redaktion der Upsala Nya Tidning gemacht hatte. Was er dort mitten in der Nacht wollte, wusste niemand, doch seit er eine Woche zuvor einen anonymen Hinweis bekommen hatte, war sein Verhalten ohnehin etwas seltsam gewesen.
Trotz aller Anstrengungen hatte die Polizei nie herausgefunden, worauf sich der Hinweis bezog, dem Adam heimlich nachgegangen war. Der einzige Zeuge war ein Taxifahrer, der gegen Mitternacht eine Zigarettenpause eingelegt und Adam im Springbrunnen gefunden hatte.
Bevor der Mann aus seinem Wagen gestiegen war, hatte er eine Person Richtung Norden zum Parkplatz vor dem Rathaus eilen sehen. Zehn Sekunden später hatte er gehört, wie ein Auto mit quietschenden Reifen davongefahren war. Eine genauere Beschreibung des Autos oder des Flüchtenden konnte er nicht abgeben. Dann war er zum Springbrunnen gegangen und hatte Adam vornüber im Wasser liegend gefunden.
Das Blut hatte ihn wie eine rote Wolke umgeben. Sein Körper war noch warm gewesen, als der Krankenwagen eintraf, doch sämtliche Wiederbelebungsversuche waren erfolglos geblieben.
Etwa zur selben Zeit hatte Nathalie das Furchtbare ereilt. Neue Bilder, neue Qualen. Sie stand noch immer am Fenster und hielt sich krampfhaft am Fensterrahmen fest.
Die Polizei hatte die Theorie, dass es sich um einen Raubüberfall handelte, der aus dem Ruder gelaufen war. Adams Kamera und Portemonnaie waren verschwunden, und in Uppsala trieb gerade eine gewalttätige Bande aus Osteuropa ihr Unwesen. Nathalie hatte nie daran geglaubt, und diese Überzeugung war noch stärker geworden, nachdem sie die Sendung Ungelöste Verbrechen gesehen hatte. Darin war zwar nichts Konkretes erwähnt worden, was die Theorie der Polizei widerlegt hätte, doch der Einschätzung des anwesenden Professors nach gab es in dem Fall diverse Ungereimtheiten. Im Anschluss an die Sendung war Nathalie auf den Dachboden gegangen und hatte die Kisten mit Adams Sachen hervorgekramt. Als sie im Begriff war, den ersten Karton zu öffnen, überlegte sie es sich jedoch anders. Sie hatte nie in diese Kisten hineingeschaut. Kurz nach dem Mord war sie zu traurig gewesen, und später, als sie mit ihrer Trauer umgehen konnte, hatte sie zu große Angst gehabt, erneut von ihr eingeholt zu werden. Außerdem hatte die Polizei den Inhalt bereits gründlich untersucht.
Dieses Mal hatten die Ermittler hoffentlich mehr Erfolg. Vielleicht war der Täter ja bereits gefasst. Vielleicht würde Rickard überleben.
Adam. Rickard.
Zehn Jahre, die plötzlich wie weggeblasen waren.
In einem Moment mühsam erkämpfter Handlungsfähigkeit ließ Nathalie die Jalousien herunter und wankte ins Bett. Sie zwang sich, die Augen zu schließen, dämmerte ein und wurde schließlich von einem tiefen Schlaf übermannt.
Um halb sieben vibrierte ihr Handy auf dem Schreibtisch. Eine neue SMS erleuchtete das Display:
Schön, dass du gut nach Hause gekommen bist. Ich hoffe, du schläfst jetzt. Du hast es doch nicht vergessen? Freundschaftliche Grüße.
Doch sie träumte bereits von Adam und hörte nichts mehr.
UPPSALA, 2004
Als sie nach Hause in die Mietwohnung im Gustaf Kjellbergs Väg kam, war sie völlig erschöpft. Der Tagesdienst in der psychiatrischen Notaufnahme war chaotisch gewesen. Von der Begutachtung zur Unterbringung des psychotischen Lkw-Fahrers, die gleich nach Dienstantritt auf sie gewartet hatte, bis zur Aufnahme der selbstmordgefährdeten Algerierin, deren Ausweisung nun amtlich war, hatte sie gerade mal zehn Minuten Pause gehabt. Der verantwortliche Oberarzt befand sich auf einer Computerfortbildung, und so hatte sie Entscheidungen treffen müssen, die weit über ihre Kompetenz als Ärztin im Praktikum hinausgingen. Zu allem Überfluss hatte dann während der Mittagspause auch noch ihre Mutter angerufen und sie gebeten, die Einladung zur Vernissage für irgendeine bevorstehende Fotoausstellung zu formulieren. Obwohl Nathalie tausend Gründe gehabt hätte, nein zu sagen, hatte sie versprochen, ihrer Mutter zu helfen. Ihr klarzumachen, dass sie keine Zeit hatte, hätte nur doppelt so lange gedauert.
Hoffentlich hat Adam Essen gemacht, dachte sie, als sie die letzten Stufen zu ihrer gemeinsamen Zweizimmerwohnung in der dritten Etage hinaufstieg. Zu ihrer Überraschung war die Haustür abgeschlossen. War Adam etwa nicht nach Hause gekommen, wie er es versprochen hatte, als sie vor der Nachmittagsvisite miteinander telefoniert hatten? Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr. Fünf nach sechs. Er hätte schon vor über einer Stunde zu Hause sein sollen.
Sie schloss die Tür auf und ging in die Wohnung. Auf dem Küchentisch standen noch die Reste des Frühstücks. Die Müdigkeit und ihr niedriger Blutzuckerspiegel ließen sie laut fluchen. Über Adams miserablen Sinn für Ordnung konnte sie sich kolossal aufregen. Wütend wählte sie seine Nummer. Nichts. Nur die freundliche Ansage, man solle es später noch einmal versuchen oder sich an die Redaktion wenden.
Sie räumte das Geschirr ab und warf die mit Marmelade bekleckste Tischdecke in die Waschmaschine. Sicher saß er noch an diesem Artikel über das Jugendheim, von dem er letzte Woche geredet hatte, ärgerte sie sich. Oder es war wieder irgendwas mit diesem gekränkten Schauspieler, der ihn neulich in der Universitätsbuchhandlung bedroht hatte. So oder so wurde Adam garantiert von einer seiner Storys aufgehalten – eine wichtiger als die andere und unmöglich in eine Rangfolge zu bringen.
Adam machte oft Überstunden. In letzter Zeit war es eher die Regel als ein Ausnahmefall. Immer gab es irgendwelche neuen Interviews, dringenden Artikel oder Chroniken, die geschrieben werden mussten. Bisher hatte Nathalie ihren Unmut noch für sich behalten, aber allmählich hatte sie die Nase voll. In einer Stunde wollten sie zu einer Party im Studentencenter, und vorher waren sie mit Louise, Håkan und der übrigen Clique zum Vorglühen bei Frank verabredet. Wenn sie noch eine realistische Chance haben wollte, zu duschen und sich fertigzumachen, hatte sie jetzt keine Zeit, Putzfrau und Köchin zu spielen.
Sie sah Adam vor sich und musste trotz allem lächeln. Darüber, wie ehrgeizig er war, wie er jeden Tag aufs Neue seine Qualifikation beweisen wollte, wie er mit Klauen und Zähnen dafür kämpfte, dass seine Vertretungsstelle bei der Upsala Nya Tidning zum Herbst hin in eine feste Stelle umgewandelt würde. Sie wusste, dass er tief im Inneren Komplexe hatte, weil sie aus einer »vornehmeren Familie« stammte, wie er immer voller Ironie zu sagen pflegte. Adam kam aus einer Arbeiterfamilie – seine Mutter war nach dreißig Jahren als Pflegehelferin wegen gesundheitlicher Probleme in Frührente gegangen, und sein Vater arbeitete als Gabelstaplerfahrer bei einer Kaffeerösterei. Ihre Eltern trugen zwar den gewöhnlichen Nachnamen Nilson, doch ihr Vater Victor war ein angesehener Geschäftsmann, der mehrere Hotels besaß und oft wegen seines Engagements für mehr Gleichberechtigung in den Medien vertreten war. Sonja, ihre Mutter, stammte aus einer adeligen Stockholmer Familie und hatte den Standesdünkel bereits mit der Muttermilch eingesogen.
Nathalie ging ins Bad und warf ihre Kleidung in den Wäschekorb. Nahm den Verlobungsring ab und reinigte ihn mit dem Desinfektionsmittel, das sie aus der Notaufnahme mitgenommen hatte. Als sie unter der Dusche stand und das warme Wasser auf der Haut spürte, musste sie wieder an Adam denken.
Morgen waren sie seit genau neun Monaten verlobt. Sie freute sich aufs Heiraten und Kinderkriegen. Das war ein klares Ziel für sie. Sie stellte sich oft vor, wie ihre zukünftigen Kinder wohl aussehen, wie sie reden und sich bewegen würden. Der Kinderwunsch brannte in ihr und wurde jeden Tag stärker.
Bald war sie fünfunddreißig. Allmählich wurde es höchste Zeit, doch sie wollte es Adam überlassen, einen Termin für die Hochzeit vorzuschlagen. Vielleicht irgendwann im Herbst, hoffte sie und massierte die Pflegespülung ins Haar. Als sie aus der Dusche kam, hörte sie seine Stimme im Flur: »Nathalie? Hallo?«
Obwohl sie Wasser im Ohr hatte, bemerkte sie, wie aufgewühlt er klang. Schnell wickelte sie sich ein Handtuch um und öffnete die Badezimmertür. Als sie in seine braunen Augen blickte, fand sie ihren Verdacht bestätigt: Irgendetwas war passiert.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Nichts«, antwortete er und zog sich die Schuhe aus.
»Doch, jetzt sag schon! Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt.«
»Tut mir leid, dass ich so spät bin«, sagte er und warf einen Blick auf die Armbanduhr, die sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte.
Sie legte ihm eine feuchte Hand auf die Wange und sah ihm in die Augen.
»Komm schon, erzähl es mir! Wir haben nicht viel Zeit.«
Er marschierte in die Küche. Trank den restlichen Apfelsaft direkt aus der Tüte und stellte sie anschließend auf der Spüle ab. Dann sah er Nathalie ernst an.
»Ich habe einen Tipp bekommen, deshalb bin ich so spät dran. Daraus kann etwas richtig Großes werden …«
Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab, ging einen Schritt auf sie zu und sagte mit einem Ernst, den sie so noch nicht von ihm kannte: »Dafür kann ich den Großen Journalistenpreis bekommen, Nathalie.«
STOCKHOLM, MONTAG, 28. APRIL 2014
Das fahle Weiß ging allmählich in ein helles Orange über, und sie spürte die morgendliche Wärme auf den Lidern. Langsam tauchte sie aus ihrem Traum auf, in dem Adam sich so wirklich angefühlt hatte wie schon seit Jahren nicht mehr. Sie hatte seine Stimme gehört, ihn umarmt, seinen Geruch wahrgenommen, das Salz seiner Haut geschmeckt. Alles in einer unlogischen Abfolge von Ereignissen, die ihr wie das Natürlichste auf der Welt vorgekommen war.
Die Seele kennt keine Zeit, sagte sie immer, wenn sie Eindrücke aus weit zurückliegenden Phasen ihres Lebens noch einmal mit derselben Intensität durchlebte wie zum ursprünglichen Zeitpunkt.
Adam. Sie versuchte ihn festzuhalten, doch er entglitt ihr und wurde durch die quälenden Bilder von dem Angriff auf Rickard verdrängt. Erneut überkam sie dieses unangenehm unwirkliche Gefühl, mit dem sie eingeschlafen war. Diese erdrückende Finsternis, die sie weder in Worte fassen konnte noch wollte.
Sie starrte an die weiße Decke, und ihr Blick blieb an einem halbmondförmigen Riss in der Farbe hängen. Ihr Kopf schmerzte, das Nachthemd klebte an ihrem Körper. Ihre Glieder waren wie betäubt, und es fühlte sich so an, als könnte sie nie wieder aufstehen. Um dieses lähmende Gefühl loszuwerden, zwang sie schließlich ihre Beine über die Bettkante, setzte sich auf und sah auf den Wecker neben dem Bett. Fünf nach zehn.
Wankend ging sie hinüber zur Kochnische und trank zwei Gläser Orangensaft. Das gab ihr die Energie, um ans Fenster zu treten und es den fünf Zentimeter breiten Spalt zu öffnen, den die Fenstersperre zuließ. Kühle Luft strömte ihr entgegen, und das Nachthemd löste sich von der Haut.
Auf dem Östermalmstorg herrschte buntes Markttreiben, als wäre überhaupt nichts geschehen. Alles nur ein böser Traum, dachte sie. Dann nahm sie ihr Handy vom Schreibtisch, um die Schlagzeilen im Aftonbladet zu lesen.
Auf dem Display leuchtete ihr eine SMS entgegen. Sie war um 06:32 Uhr geschickt worden. Ob sie von einem der Männer kam, mit denen sie sich getroffen hatte?
Neugierig las sie den Text. Vier Sätze. Dann wog das Handy mit einem Mal schwer wie Blei. Adrenalin schoss ihr durch die Adern und vertrieb augenblicklich jede Müdigkeit. Die einzelnen Wörter waren an sich ganz alltäglich, doch zusammen und in dieser Situation ergaben sie die unheimlichste Nachricht, die sie jemals erhalten hatte.
Schön, dass du gut nach Hause gekommen bist. Ich hoffe, du schläfst jetzt. Du hast es doch nicht vergessen? Freundschaftliche Grüße.
Schnell griff sie zu einem Stift, notierte die Nummer des Absenders auf einer Werbezeitung und rief die Auskunft an. Die Rufnummer gehöre zu einer unregistrierten Prepaidkarte, erfuhr sie dort.
Das bist doch garantiert du. Mein Stalker.
Sämtliche Erinnerungen an die fremde Person, die zu verschiedenen Gelegenheiten in ihrer Nähe aufgetaucht war, verbanden sich zu einem Film, der nun vor ihrem inneren Auge ablief.
Bist du hier? Bist du mir gestern gefolgt?
Sie trat zurück ans Fenster. Suchte mit den Augen die Straße, den Friedhof und den Marktplatz ab. Nirgendwo war jemand in einer grünen Jacke zu sehen, jemand, der sie zu beobachten schien.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Bis gestern war der oder die Unbekannte nur in Uppsala aufgetaucht. Außer Frank, Louise und ihren Eltern wusste niemand von der Wohnung in Stockholm.
Bist du mir hierher gefolgt?
Das machte das Ganze gleich um einiges verrückter. Zu Hause im Alltag einen Stalker zu haben, war ja schon schräg genug, aber dass dieser jemand ihr offenbar auch hinterherreiste, war eine andere Nummer.
Die Muskeln um ihren Brustkorb spannten sich an. Sie lehnte sich zum Fensterspalt vor und füllte ihre Lunge erneut mit Sauerstoff. Atmete langsam durch den Mund wieder aus und zählte bis drei, so wie sie es mit Patienten machte, die einen Panikanfall bekamen.
Vom Karlaplan war sie nach Hause gefahren worden. Soweit sie sich erinnerte, war ihr niemand gefolgt, aber andererseits hätte sie vermutlich ohnehin nichts davon mitbekommen.
Oder du hast mich am Karlaplan ins Auto steigen sehen und bist einfach davon ausgegangen, dass ich auf dem Heimweg war und wahrscheinlich schon schlief, als du die SMS geschickt hast.
Warum sonst würde irgendwer um halb sieben morgens »Ich hoffe, du schläfst jetzt« schreiben?
Noch einmal starrte sie auf das Display.
Du hast es doch nicht vergessen? Freundschaftliche Grüße.
»Wer immer du auch bist, mein Freund bist du jedenfalls nicht«, murmelte sie.
Erneut rief sie sich die Bilder des Verfolgers in Erinnerung. Sie waren verschwommen und vage. Die grüne Jacke, der durchschnittliche Körperbau, die zielstrebigen Bewegungen. Konnte es sich um dieselbe Person handeln, die Rickard niedergeschossen hatte?
Sie suchte Franks Nummer in ihrer Kontaktliste. Nach drei Freizeichen hatte sie ihn am Apparat. Er klang gehetzt, im Hintergrund war Stimmengewirr zu hören.
»Hallo, ich bin’s …«
»Ah, gut«, sagte Frank. »Ich wollte dich gerade anrufen. Kannst du herkommen? Ich habe noch ein paar Fragen.«
»Natürlich«, sagte sie. »Lebt er?«
Frank zögerte einen Moment.
»Du hast die Nachrichten also noch nicht gesehen? Nein, Nathalie, es tut mir leid, Rickard Ekengård ist tot. Man hat die besten Thoraxchirurgen von ganz Schweden zusammengetrommelt und die halbe Blutbank von Stockholm in ihn reingepumpt, aber es war nichts zu machen. Ich habe es vor einer Stunde erfahren.«
Vor ihren Augen blitzte das Blut im Wasser des Springbrunnens auf und färbte ihre Wohnung für eine Sekunde rot. Frank fuhr fort, ohne dass sie ihn dazu auffordern musste: »Wir haben noch keinen Verdächtigen gefasst. Eine Handvoll Zeugen hat in der Nähe des Tatorts einen Radfahrer in einer dunklen Jacke gesehen, zum Teil mit, zum Teil ohne Kapuze. Wie immer sind die Aussagen vage und widersprüchlich. Wir wissen nicht mal, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt … Einige haben einen ›Knall‹ oder ein ›Dröhnen‹ gehört, aber auch hier gehen die Meinungen auseinander.«
Frank wurde von irgendwem unterbrochen und antwortete irritiert: »Augenblick, ich komme gleich.« Dann sprach er weiter. »Die Chirurgen haben die Kugel aus seinem Brustkorb geholt, sie ist jetzt auf dem Weg ins Labor. Im besten Fall kann dort festgestellt werden, von welcher Waffe sie abgefeuert wurde. Kannst du kommen?«
Nathalie sank auf die Bettkante, spürte die Schwere in den Gliedern und sehnte sich zurück in ihren Traum.
»Klar«, sagte sie. »In einer halben Stunde bin ich da.«
Sie beendete das Gespräch und öffnete die Aftonbladet-App. Fette Schlagzeilen, Fotos von Rickard, Berichte über den Mord und Zitate von Schauspielerkollegen, die ihr Entsetzen ausdrückten. Ihr wurde schlecht.
Ich muss Frank die SMS zeigen, beschloss sie. Wer immer du auch bist, jetzt bist du zu weit gegangen.
Sie zog ihr Nachthemd aus und schlüpfte in ein weißes Baumwolltop und ein Paar Jeans. Aß eine Banane und eine Handvoll Cashewnüsse, die sie mit einer Tasse Instantkaffee und einer aufgelösten Kopfschmerztablette hinunterspülte. So vertraut ihr diese Abläufe waren, so bedrohlich und fremd kam ihr in diesem Moment doch alles vor.
Sie wählte Gabriels Handynummer, erreichte ihn aber nicht. Dann rief sie Håkan an, auch wenn ihr gerade überhaupt nicht danach war, seine Stimme zu hören. Er klang überrascht und irritiert. Sagte, er sei gerade am Flughafen Göteborg und habe keine Zeit zu reden. Sie schluckte ihren Stolz herunter und erkundigte sich nach den Kindern.
»Ruf sie doch selbst an, wenn dich das interessiert«, unterbrach er sie.
»Ich erreiche sie aber nicht«, entgegnete sie, auch wenn sie das Gespräch wohl besser beendet hätte.
»Gabriel ist beim Fußballtraining, und Tea backt mit meiner Mutter Milchbrötchen.«
Bei diesen Worten schossen Nathalie die Tränen in die Augen. Sie riss sich zusammen, sagte, dass sie die beiden um sieben Uhr abholen werde, wie abgemacht, und legte auf. Dann zog sie ihre Jeansjacke an und warf einen Blick durch den Türspion. Draußen war niemand zu sehen. Nachdem sie die Wohnungstür sorgfältig abgeschlossen hatte, lief sie die Treppe hinunter.
Die Sonnenbrille zum Schutz vor dem grellen Vormittagslicht auf der Nase ging sie die Artillerigatan in Richtung Karlavägen hinunter. In der Sonne war es warm, doch es war eine Wärme, die noch viel zu eng mit der eisigen Kälte des Winters verbandelt war. Sobald Nathalie ein Stück durch den Schatten ging, begann sie zu frieren.
An der Kreuzung zur Linnégatan kam sie an dem Kiosk vorbei, an dem sie sich immer Eis und Süßigkeiten kaufte, wenn sie Heißhunger auf etwas Süßes bekam. Von den ausgelegten Titelseiten schrien ihr fettgedruckte Schlagzeilen wie RICKARD EKENGÅRD AUF DEM KARLAPLAN ERMORDET entgegen. Reflexartig wandte sie den Blick ab und rief Louise an.
»Was? Ist das wahr?«, rief diese, als Nathalie ihr von dem Geschehen erzählt hatte.
Louise redete mehr als sonst. Nur zwei Stunden vor dem Mord sei sie auf dem Rückweg von einer Party am Karlaplan vorbeigegangen, ganz allein. Es habe nicht viel gefehlt, und sie sei selbst Zeugin des Mordes geworden.
»Das ist doch völlig verrückt, Nathalie! Und ausgerechnet Rickard Ekengård! Wann bist du noch mal mit ihm nach Hause gegangen? Ist das nicht erst zwei Wochen her?«
»Ja«, seufzte sie.
»Unglaublich«, sagte Louise. »Was machst du denn jetzt? Willst du herkommen?«
»Nein, ich muss zur Polizei und dann noch Papa treffen, bevor ich zurück zu den Kindern fahre.«
»Ich kann das einfach nicht fassen!«, sagte Louise. »Kann ich irgendetwas tun? Wenn du möchtest, bitte ich Frank mal, dass er dich anruft …«
»Ich habe schon mit ihm gesprochen, Louise. Er leitet die Ermittlungen. In fünf Minuten treffe ich ihn am Karlaplan.«
Ein paar Sekunden hörte sie nur Louises Atemzüge.
»Ich melde mich, sobald ich kann«, fuhr Nathalie fort.
»Okay, du weißt ja, dass du mich jederzeit anrufen kannst.«
Die Neugier war Louise immer noch deutlich anzuhören, doch sie stellte keine weiteren Fragen. Nathalie spürte, dass sie mindestens eine Stunde nur für sich brauchte, bevor sie ihre Freundin das nächste Mal anrufen konnte.
Plötzlich hustete jemand hinter ihr.
Sie drehte sich ruckartig um.
Als Nathalie sah, dass das Husten von einem älteren Herrn mit zwei weißen Pudeln stammte, kam sie sich lächerlich vor. Der Mann schaute sie verwundert an, räusperte sich und verschwand im nächsten Hauseingang. Sie schob ihre Sonnenbrille hoch und ging eilig weiter.
Auf dem Karlaplan wimmelte es von Menschen. Der Springbrunnen war abgesperrt, genau wie der Fußgängerübergang zum Maximtheater. Schaulustige allen Alters standen vor den blauweißen Plastikbändern, unterhielten sich, zeigten hierhin und dorthin und fotografierten mit ihren Handys die Polizisten bei der Arbeit.
Was interessiert die Leute nur so sehr an schrecklichen plötzlichen Todesfällen?
In das Stimmengewirr mischten sich Vogelgezwitscher und das Geräusch der Autos, die an dem symmetrisch angelegten runden Platz vorüberfuhren. Die Fontäne des Springbrunnens war mittlerweile abgeschaltet. Zwei weißgekleidete Techniker standen mit den Stiefeln im Wasser und untersuchten den Boden. Vier Journalisten mit gezückten Kameras und Mikrofonen versuchten, die Aufmerksamkeit der uniformierten Polizisten zu erlangen. An der Stelle, wo Nathalie Rickard aus dem Wasser gezogen hatte, lagen etliche Rosen und Tulpen. Vor der Absperrung standen zwei Busse des Bereitschaftstrupps. In einem davon erahnte sie Franks Silhouette auf dem Vordersitz. Dreißig Meter weiter standen ein Bus des Fernsehsenders SVT und einer von TV4.
Bist du auch hier?
Sie verspürte den Impuls, einfach kehrtzumachen und davonzulaufen, doch ihre Beine zwangen sie weiter geradeaus. Als wäre ihr Gedanke soeben Wirklichkeit geworden, sah sie hinter dem Plastikband auf der anderen Seite des Springbrunnens einen Mann in grüner Öljacke stehen. Sie hielt mitten in der Bewegung inne. Panik schlug ihr wie eine Faust in die Magengrube.
Ein Mann also, dieses Mal war sie sich sicher. Er war etwa ein Meter achtzig groß, hatte kurzes dunkles Haar und trug eine helle Stoffhose.
Nein, das bist du nicht, dachte sie dann.
Der Mann sah genau in ihre Richtung.
Das Unbehagen kroch ihr tief unter die Haut und packte sie bei den Eingeweiden. Sie hielt den Atem an. Schließlich drehte sich der Fremde auf dem Absatz um und ging auf die U-Bahn-Station am Einkaufszentrum Fältöversten zu.
Nein, der war es nicht, sagte sie sich, und ihre Anspannung ließ ein wenig nach. Als der Mann hinter einem Grüppchen Jugendlicher mit Skateboards verschwunden war, ging sie auf den Polizeibus zu. Auf halber Strecke sah Frank sie kommen und lief ihr sofort entgegen. Seine Augen waren gerötet, die Haut über den markanten Wangenknochen wirkte schlaffer als sonst. Die Wunde am Kinn war unter den Bartstoppeln kaum noch zu sehen.
»Hallo, Nathalie, gut, dass du kommst.«
Sie warf einen Blick in die Richtung, in die der Mann mit der grünen Jacke verschwunden war, biss sich auf die Unterlippe und nickte.
»Komm, wir setzen uns in den Bus, da können wir ungestört reden«, fuhr Frank fort.
Sie setzte sich neben ihn auf den Beifahrersitz und zog die Tür zu. Als das Gemurmel von draußen verstummte, war es mit einem Mal so still, als hätten sie sich in eine schalldichte Kapsel zurückgezogen und wären nur noch Beobachter der Geschehnisse um sie herum. Wieder ergriff Nathalie dieses unwirkliche Gefühl. Frank sah ihr in die Augen und fragte: »Wie geht es dir?«
Anstatt zu antworten, schüttelte sie nur den Kopf und ließ ihren Blick über den Springbrunnen schweifen. Frank fuhr fort: »Wie ich eben schon am Telefon sagte, haben wir noch keinen Verdächtigen, aber wir arbeiten unter Hochdruck. Wir gehen die Aufnahmen verschiedener Überwachungskameras durch, reden mit Anwohnern und Taxiunternehmen in der Gegend. Deine Beschreibung wurde im Großen und Ganzen von einem zweiten Zeugen bestätigt – einem Obdachlosen, der zum Zeitpunkt der Tat an einem Mülleimer auf der anderen Seite des Springbrunnens stand«, schloss er und deutete mit dem Kopf auf die Stelle, an der sie vor wenigen Augenblicken noch ihren Verfolger gesehen zu haben glaubte.
Plötzlich überwältigte sie ein Gefühl, das sie nicht in Worte fassen konnte. Tränen traten ihr in die Augen, und ihr Blick floh hinauf in die Baumkronen. Sie stellte sich vor, wie das Leben durch die kahlen, schwarzen Zweige strömte, bald würden Knospen und Blätter voller Chlorophyll daran sprießen – eine Wiedergeburt, die in herbem Kontrast zu Adams und Rickards grauenhaftem Ableben stand.
»Hatte er Familie?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Frank. »Er ist in Pflegefamilien groß geworden, seine Eltern leben nicht mehr, und er hatte keine Geschwister. Der nächste Angehörige ist ein Onkel in Umeå.«
»Was wollte der Techniker dir gestern zeigen, als ich in den Polizeiwagen gestiegen bin?«
»Ein Nikotinkaugummi«, antwortete Frank und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Es war noch frisch und lag neben dem Baum, an dem das Fahrrad gelehnt hat. Wenn wir Glück haben, stammt es vom Täter. Es wurde schon zur DNA-Analyse ins Labor geschickt und …«
Er hielt inne, blickte sie an und lächelte matt.
»Ich sitze hier und rede. Tut mir leid, ich bin müde und vergesse vollkommen, dich wie eine ganz normale Zeugin zu behandeln.«
Sie lächelte zurück, eher bestätigend als froh. Ihr kam in den Sinn, dass Håkan der einzige Mensch in ihrem Bekanntenkreis war, der Nikotinkaugummis kaute. Und zwar nicht etwa, weil er aufhören wollte zu rauchen – in seinem ganzen schönen Vorzeigeleben hatte er kein einziges Mal an einer Zigarette gezogen –, sondern weil er gelesen hatte, dass man damit Alzheimer vorbeugen könne. Sie schüttelte den Gedanken ab und beobachtete sich verwundert dabei, wie sie Frank über die Schulter strich.
»Aber ich bin ja auch keine ganz normale Zeugin … wir sind schließlich Freunde und …«
Das Lächeln verschwand von ihren Lippen. Wieder überkam sie dieses stumme, lähmende Gefühl. Sie ließ die Hand in den Schoß sinken und richtete den Blick auf das Wasser. Das Vormittagslicht spielte darin und erzeugte ein türkisfarbenes Glitzern wie in einer surrealistischen Traumwelt. Nirgendwo war mehr Blut zu sehen, doch aus ihrer Erinnerung würde das Bild nicht mehr verschwinden. Gedanklich wieder bei Frank führte sie den Satz zu Ende: » … und dann ist da ja noch die Sache mit Adam.«
»Ich kann verstehen, dass du daran denkst«, sagte Frank. »Aber nichts deutet darauf hin, dass die beiden Morde etwas miteinander zu tun haben.«
»Bis auf exakt das gleiche Szenario? Der Springbrunnen, der Schuss in den Rücken …«
»Nathalie, das ist über zehn Jahre her!«
»Hm«, sagte sie nickend. »Aber all die Erinnerungen sind auf einmal wieder da, und es frustriert mich einfach, dass wir nie die Wahrheit erfahren haben.«
Frank nahm ihre Hand.
»Ich war doch bei den Ermittlungen dabei. Höchstwahrscheinlich ist er einfach nur Opfer eines Überfalls geworden.«
»Nein!«, entgegnete sie so bestimmt, dass sie selbst ganz überrascht war. »Du weißt, dass ich das nie geglaubt habe. Und bei dem Mord an Rickard handelt es sich auf keinen Fall um einen Überfall.«
»Da hast du recht«, sagte Frank. »Deine Beschreibung der Tat schließt das aus … und sein Handy und Portemonnaie waren noch im Mantel. Bisher fehlt uns allerdings ein plausibles Motiv. Ein paar Kollegen und Freunde behaupten, er habe in letzter Zeit gestresster gewirkt als sonst, aber etwas Konkretes haben sie auch nicht. Die Verhöre laufen weiter, und wir untersuchen auch sein Handy.«
Dann werdet ihr meine Nachrichten finden, schoss es ihr durch den Kopf, ohne dass sie jedoch ein Wort herausbrachte.
»Es könnte sich um ein Eifersuchtsdrama handeln. Rickard Ekengård war ein berüchtigter Frauenheld, hat jede Nacht eine Neue mit nach Hause genommen.«
Sie spürte Scham und Irritation in sich aufsteigen.
»Vielleicht war es auch ein Stalker. Irgendein Verrückter, der besessen von ihm war und sein Idol umbringen wollte … so ähnlich wie bei John Lennon.«
Sie schloss die Hand fest um ihr Handy, sah ein, dass sie Frank von der SMS erzählen musste, doch ehe sie etwas sagen konnte, redete er weiter: »Die Frage ist, warum der Täter ausgerechnet hier zugeschlagen hat. Trotz der späten Uhrzeit hätte er hier schließlich sofort gefasst werden können. Und wieso hat er ihn ins Wasser gezerrt?«
»Das war bei Adam genauso«, sagte sie. »Ich wünschte, du würdest dir den Fall noch einmal ansehen. Vielleicht sind ja neue Hinweise eingegangen, seit im Fernsehen davon berichtet wurde.« Sie hatte schon darüber nachgedacht, selbst bei der Redaktion von Ungelöste Verbrechen anzurufen, aber dann hatte sie sich gesagt, dass man sie sicher benachrichtigen würde, sobald es etwas Neues gab.
»Ist die operative Fallanalyse im Einsatz?«
»Ja«, seufzte Frank. »Sie waren hier und haben sich umgesehen, aber wie du weißt, liegt die Einsatzleitung bei uns von der örtlichen Kripo.«
Was die OFA-Einheit wohl herausfinden wird?, fragte Nathalie sich und blickte über den Karlaplan. Die Psychologie der Gruppe besagte, dass der Tatort stets Auskunft über den Mörder gab, die äußeren Umstände enthielten Hinweise auf den Menschen, der sie ausgesucht hatte.
Frank sah sie an.
»Aber da du Zeugin bist, werden sie dich in diesem Fall nicht um Hilfe bitten, das weißt du, oder?«
Sie nickte. Das würde sie jedoch nicht daran hindern, einen der zehn, die sie aus der Gruppe am besten kannte, mal anzurufen. Angelica Hübinette vielleicht oder den Verhaltensanalytiker Fernando Rodriguez.
Ein Mann mit Kamera näherte sich dem Polizeibus. Frank fuchtelte abwehrend vor ihm herum, woraufhin der Reporter weiterging und auf drei ältere Damen in Pelzmänteln zusteuerte, die an der Absperrung an der Nordseite des Rundplatzes standen.
»Was du auch tust, sprich bloß nicht mit den Schmierfinken von der Presse, wenn du gleich nach Hause gehst«, sagte Frank. »Wenn die mitkriegen, dass du die Hauptzeugin bist, hast du keine ruhige Minute mehr.«
Endlich nahm Nathalie ihr Handy und zeigte Frank die anonyme SMS. Sie spürte seinen Atem auf der Wange, als er den Text laut vom Display ablas. Seltsamerweise klangen die drei Sätze gesprochen noch unheimlicher.
Er hob den Blick und sah sie an. Seine Augen leuchteten gräulich grün, so als würde sich das türkisfarbene Funkeln des Springbrunnens in ihnen bündeln. Sie erzählte von der unbekannten Person, die sie verfolgte. Von dem Anruf bei der Auskunft und von der unspezifischen Ähnlichkeit mit dem Mörder.
»Nathalie, du musst Anzeige erstatten. Dein Handy werden wir uns mal ansehen.«
Zwischen seinen Augenbrauen trat eine besorgte Falte hervor.
»Damit darfst du dich nicht abfinden, verstanden?«
»Ja«, antwortete sie mit einem Seufzen, das tief aus ihrem Inneren kam. »Was meinst du, besteht da vielleicht ein Zusammenhang zu …«
Sie führte den Satz nicht zu Ende, sondern deutete nur mit dem Kopf in Richtung Springbrunnen.
»Was glaubst du selbst?«
»Ich wüsste nicht, welcher. Der Mörder saß ja schon auf der Parkbank, als ich kam, er konnte unmöglich wissen, dass ich ausgerechnet in dem Moment vorbeikommen würde. Und Rickard kam aus einer anderen Richtung …«
»Aber trotzdem meinst du, es könnte sich vielleicht um dieselbe Person handeln?«
»Keine Ahnung. Ich erinnere mich an keine Details. Ich weiß, wie unlogisch das klingt, aber …«
Eine Weile saßen sie schweigend da. Der Mann mit der Kamera fotografierte gerade das Damentrio im Pelz vor dem Springbrunnen.
»Ja, das ist vielleicht tatsächlich etwas weit hergeholt«, stimmte Frank ihr schließlich zu. »Aber wir müssen uns das Handy ansehen.«
Er streckte die Hand aus. Sie zögerte.
»Du bekommst es in einer Viertelstunde zurück«, erklärte er.
Ohne ihre Antwort abzuwarten, rief er jemanden an. Eine halbe Minute später kam ein junger Mann Mitte zwanzig mit nach hinten gedrehtem Baseball-Cap zu ihnen und nahm das Handy entgegen. Schnellen Schrittes ging er damit hinüber zu dem anderen Polizeibus, dessen Scheiben getönt waren.
Franks Handy klingelte. Er hatte einen neuen Rufton. Wenn Nathalie nicht alles täuschte, hatte er Springsteens Hungry heart gegen die Ouvertüre aus Mozarts Don Giovanni ausgetauscht. Das Gespräch dauerte etwa eine Minute. Es musste irgendetwas Interessantes passiert sein, das hörte sie ihm an. Als er aufgelegt hatte, warf sie ihm einen fragenden Blick zu.
»Ein Theaterkollege namens Carl-Henric Gyllenborg, der von allen nur CH genannt wird, hat Rickard gestern Mittag im Pausenraum des Theaterpersonals bedroht. Die beiden konnten sich offenbar nicht ausstehen. Gyllenborg hatte gerade erfahren, dass Rickard eine Filmrolle als Gustav III. ergattert hatte. Dem Zeugen zufolge, einem Regisseur am Theater, war Gyllenborg der Zweite auf der Liste. Also bekommt er jetzt wahrscheinlich die Rolle.«
Carl-Henric Gyllenborg. Der Name kam Nathalie irgendwie bekannt vor, doch sie konnte sich nicht erinnern, woher. Ihr Gedächtnis arbeitete gerade so träge wie ihre Wahrnehmung. Die Folgen der viel zu kurzen, medikamentös herbeigeführten Nachtruhe machten sich bemerkbar. Der Springbrunnen drehte sich vor ihren Augen wie ein Karussell. Sie ließ das Fenster herunter, legte den Kopf in den Nacken und atmete ein paarmal tief durch. Nach einer Weile ließ das Schwindelgefühl nach. Zurück blieb nur das starke Bedürfnis, diesen Ort zu verlassen.
»Ich muss gehen«, sagte sie.
Zu ihrer Überraschung nickte Frank.
»Natürlich, aber warte noch kurz auf dein Handy. Und sorg dafür, dass wir dich jederzeit erreichen können.«
»Ich gehe zurück in die Wohnung und ruhe mich ein bisschen aus. Um fünf treffe ich noch Papa auf einen Kaffee, und dann nehme ich die Bahn nach Uppsala.«
»Nathalie«, sagte Frank und beugte sich zu ihr. »Wir müssen uns bald noch mal sehen und einfach ein bisschen reden, so wie immer. Mir kommt das alles hier völlig absurd vor … Wann bist wieder in der Stadt?«
»Nächstes Wochenende hatte ich eigentlich gedacht, aber jetzt weiß ich es nicht so genau.«
Sie wurden von einem Klopfen an die Fensterscheibe unterbrochen. Der junge Techniker schaute grinsend zu ihnen hinein. Frank ließ das Fenster herunter, nahm das Handy entgegen und reichte es Nathalie.
»Die Nachricht kommt von einer unregistrierten Prepaidkarte«, erklärte der Techniker. »Sie lässt sich also nicht zurückverfolgen. Wir können höchstens gucken, von welchem Sendemast sie verschickt wurde, dann wissen wir auf einen Radius von zwei Kilometern genau, wo sich der Absender in etwa befand.«
Während der junge Mann zurück zu dem anderen Bus ging, warf Nathalie einen Blick auf ihr Handy und sah, dass die Nachricht noch da war. Sie schaute auf.
»Was machen wir jetzt?«
»Entweder zerschneidest du die SIM-Karte und besorgst dir eine neue Nummer, oder du behältst sie.«
Sie überlegte kurz.
»Ich behalte sie. Ich will es mitbekommen, wenn er oder sie mir noch mal schreibt.«
»Klingt vernünftig«, stimmte Frank ihr zu.
»Kann ich jetzt gehen?«
Frank drückte ihr noch einmal die Hand und sah sie mit einem Blick an, den sie nicht so recht zu deuten wusste.
»Du kannst mich jederzeit anrufen.«
Nickend zog sie die Hand zurück und öffnete die Tür.
Als sie hinaus auf den Schotterplatz trat, erschien ihr das Treiben um sie herum plötzlich unruhiger, das Stimmengewirr dröhnte ihr in den Ohren, und das Tageslicht blendete sie. Sie setzte die Sonnenbrille auf und sah sich um. Bis auf zwei Journalisten schien niemand zu ihr herüberzusehen.
»Soll ich dich nach Hause fahren?«
Frank hatte noch einmal das Fenster heruntergelassen und rief ihr die Frage vom Wagen aus zu.
»Nein danke«, antwortete sie.
Dann kehrte sie ihm und dem Springbrunnen den Rücken zu und verließ den Platz in Richtung Karlavägen.
Ich sehe, wie sie sich umdreht und mit entschlossenen Schritten Richtung Karlavägen geht. Nicht einmal als sie unter der blau-weißen Absperrung durchschlüpft, wirft sie einen Blick zurück, aber warum sollte sie auch? Sie kann ja nicht wissen, dass ich sie beobachte.
Sie verschwindet hinter der Menschenmenge, ist jetzt auf dem Weg zu ihrer Wohnung in der Artillerigatan. Gleich werde ich ihr folgen, aber ich warte noch eine halbe Minute, genau, wie ich es mir vorgenommen habe. Ich schaue auf die Armbanduhr und merke mir die Position des Sekundenzeigers.
Ob sie ahnt, wie alles zusammenhängt? Aber nein, wie könnte sie?
Vor mir liegt der Schauplatz des Prologs, den ich inszeniert habe. Die Menschen versammeln sich wie die Fliegen um einen Hundehaufen, sobald jemand ermordet wurde. In diesem Fall entspricht das genau dem Plan – je mehr Aufmerksamkeit, umso besser.
Ich mustere die Polizisten um mich herum. Die Pistole und das Fahrrad werden die wohl kaum finden. Erstens sind sie nicht clever genug, und zweitens habe ich die Sachen an einem sicheren Ort versteckt.
In der Jackentasche spüre ich die Kaugummipackung, aber ich nehme mir jetzt kein neues. Will keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich lenken. Dass ich das Kaugummi gestern ausgespuckt habe, war mein einziger Fehler, ein so dummer Fehler, dass er fast nicht vorauszusehen war. Doch selbst die Sonne hat Flecken, und ich stehe zum Glück in keinem Register.
Eine Amsel hüpft auf den Rand des Springbrunnens und pickt nach etwas, das wie eine Brotkrume aussieht, ein lauer Wind weht durch mein Haar, und der Geruch von aufgetautem Hundekot steigt mir in die Nase.
Polizeihunde, denke ich. Zum Glück ist gestern niemand auf die Idee gekommen, sie hinter mir herzuhetzen. Nicht dass sie mich eingeholt hätten, aber sie hätten die sogenannte Ordnungsmacht vielleicht auf die richtige Spur gebracht.
Noch ein Blick auf die Uhr.
Jetzt ist es so weit.
Ich sage etwas zu der Person neben mir und setze mich in Bewegung.
Sobald er sie sah, stand er vom Barhocker auf und winkte ihr zu. Eilig ging sie zu ihm hinüber und nahm ihn fest in den Arm, drückte ihn eine Sekunde länger an sich als sonst. Sie spürte seine Wärme durch den grauen Anzug, nahm den Geruch von Geborgenheit wahr und konnte sich endlich entspannen.
»Hallo, Papa«, sagte sie. »Schön, dass du herkommen konntest.«
»Aber klar doch«, sagte er und deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Panoramablick über das Rathaus und die Altstadt. »Ist ja wie auf Wolke sieben hier«, sagte er lächelnd mit einem Blick in den klaren Abendhimmel.
In der Skybar des Hotels Royal Viking saßen etwa fünfzehn Gäste, und das Lokal war von angenehmem Gemurmel erfüllt.
»Ich bin wie immer auf dem Sprung, muss gleich noch zu einem Treffen mit der zukünftigen Gleichstellungsministerin in Nynäshamn. Mein Zug geht um Viertel vor sechs, was möchtest du haben?«
»Einen Cappuccino, bitte«, sagte sie. »Du bist dir also sicher, dass ihr die Wahl gewinnt?«
»Ja«, sagte er. »Wir haben die öffentliche Meinung auf unserer Seite. Unsere Forderung nach strengeren Haftstrafen für Freier ist gerade sehr populär.«
Sie nahmen auf den rotgepolsterten Barhockern Platz, von denen sie die beste Aussicht hatten. Er bestellte.
»Warum wolltest du eigentlich, dass wir uns hier treffen?«, fragte er.
Sie blickte ihm in die braunen Augen und sagte mit leiser Stimme: »Weil hier nicht so viel los ist.«