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Kurz vor der Krönung am Lucia-Fest verschwindet ein junges Mädchen spurlos. Nathalie Svensson begibt sich auf eine düstere Spur ... In der kleinen schwedischen Stadt Svartviken herrscht der kälteste Winter seit Jahrzehnten. Das beliebte Lucia-Fest steht bevor, die sechzehnjährige Ebba Lindgren soll zur Lucia gekrönt werden. Doch am Abend der großen Feier verschwindet Ebba spurlos. Eine Woche vergeht ohne jeden Hinweis auf den Verbleib des Mädchens. In Svartviken verdächtigt bald jeder jeden. Als Ebbas Lehrer Pierre brutal erstochen wird, schaltet sich die Psychiaterin Nathalie Svensson mit ihrer Profiling-Spezialeinheit in den Fall ein. Doch Nathalie weiß – mit jeder Stunde, die verstreicht, sinken die Chancen, Ebba lebendig zu finden …
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Eisesschatten
JONAS MOSTRÖM wurde 1973 geboren. Er begann während seiner Elternzeit damit, an seinem ersten Roman zu arbeiten, der 2004 erschien. Seine Krimis um Psychiaterin Nathalie Svensson sind in Schweden Bestseller. Er lebt und arbeitet als Arzt in Stockholm.Von Jonas Moström sind in der Nathalie-Svensson-Reihe in unserem Hause bereits erschienen:So tödlich nah · Dominotod · Mitternachtsmädchen · Eisige Dornen
Jonas Moström
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Dagmar Mißfeldt
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Oktober 2021© für die deutsche AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021© Jonas Moström, 2018Titel der schwedischen Originalausgabe: Skuggorna Ruva(First published by Lind & Co, Stockholm, Sweden)Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München (Äste, Himmel, Struktur),Getty Images / imageBROKER / © Daniel Kreher (Haus mit Schnee),Getty Images / © Mikael Sundberg (Steine im Schnee)Autorenfoto: © Eva LindbladE-Book-Konvertierung powered by PepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-2390-9
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Impressum
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NACHWORT
Leseprobe: Der Tod in dir
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Cover
Titelseite
Inhalt
PROLOG
Nathalie Svensson, fünfundvierzig Jahre. Psychiatrische Oberärztin an der Uniklinik Uppsala, in den nordischen Ländern führende Expertin für Psychopathen und Mitglied in der Einheit für operative Fallanalyse (OFA) am schwedischen Zentralkriminalamt. Nathalie ist seit einem halben Jahr vom Anwalt Håkan Svensson geschieden, mit dem sie die beiden Kinder Gabriel, zehn Jahre, und Tea, acht Jahre, hat. Håkan ist mit seiner Personal Trainerin Tilde Corazon, achtundzwanzig Jahre, zusammengezogen.
Sonja Nilsson, achtundsechzig Jahre. Nathalies Mutter, trockene Alkoholikerin, die sich mit Fotokunst beschäftigt und sich mit ihren Freundinnen vom Lions Club in diversen Wohltätigkeitsprojekten engagiert.
Estelle Ekman, vierundvierzig Jahre. Nathalies jüngere Schwester, Chirurgie-Krankenschwester in Sundsvall.
Ingemar Granstam, dreiundsechzig Jahre. Leiter der OFA-Einheit. Ein behäbiger, aber keinesfalls träger Nordschwede, der wegen seiner Körperfülle, seines beeindruckenden Schnäuzers und seines unerschütterlichen Sinns für Gerechtigkeit den Spitznamen »Walross« trägt.
Angelica Hübinette, fünfundfünfzig Jahre. Stocksteife und kompetente Gerichtsmedizinerin der Einheit, trägt nur Schwarz, und Kostümfilme berühren sie mehr als Obduktionen.
Tim Walter, dreiundzwanzig Jahre. Technik- und Computergenie, dem es leichter fällt, Tabellen im Kopf zu behalten, als mit anderen Menschen umzugehen.
Maria Sanchez, fünfunddreißig Jahre, aus Peru adoptiert. Knallharte Polizistin und Feministin, hat in ihren neunundzwanzig Jahren in Schweden die Polizei-Hochschule sowie das Grundstudium zur Juristin absolviert und zweimal Silber im Taekwondo bei den schwedischen Landesmeisterschaften geholt.
Kriminalhauptkommissar Johan Axberg, einundvierzig Jahre. Leiter der verdeckten Ermittlungsgruppe und Mitglied der OFA. Freund der Fernsehreporterin Carolina Lind, neununddreißig Jahre. Die beiden haben den zwei Jahre alten Sohn Alfred.
Oberarzt Erik Jensen, einundvierzig Jahre. Johans einziger enger Freund, geschieden von Sara. Die ehemalige Hausfrau ist mittlerweile zur Bestsellerautorin avanciert. Er hat eine Beziehung mit Nathalies Schwester Estelle.
Rosine Axberg, neunundachtzig Jahre. Johans Großmutter, die auf der Insel Frösön lebt und bei der er ab dem zwölften Lebensjahr aufwuchs, nachdem seine Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren.
13. Dezember, Lucia-Tag
»Weil du so ein Volldepp bist, gehe ich zu Fuß!«
Sie knallt die Tür zu und hört nicht mehr, was er sagt. Die Kälte stürzt sich auf sie, die Luft brennt in ihrer Lunge. Wenige Sekunden bleibt sie im Schein der Lampe auf der Vortreppe stehen und starrt in die punktuell beleuchtete Dunkelheit. Dann flucht sie und marschiert los. Nie im Leben lässt sie sich von ihm fahren. Soll er doch sauer auf sie sein. Sie kocht vor Wut. Sie wird es ihm schon zeigen!
Sie sieht auf ihr Handy. Zwei Minuten nach halb. Zu Fuß dauert es höchstens eine Viertelstunde bis zur Kirche, und die Krönung fängt erst um acht Uhr an. Sie wird rechtzeitig da sein, obwohl sie im Lucia-Kleid ärgerlicherweise nur mit kleinen Schritten vorwärtskommt. Über die Schulter wirft sie einen Blick zurück. Wie erwartet steht er im hellen Küchenfenster. Er ist wütend, breitet die Arme aus, und sein Mund formt Zornesworte.
Scheißrassist, denkt sie, als sie an dem nachlässig geparkten Auto vorbeigeht. Im Schein der Straßenlaterne sieht sie, dass er Eis von den Scheiben gekratzt hat. Warum muss ausgerechnet so ein Volldepp ihr Vater sein? Er kann sagen, was er will, sie geht auf das Fest. Und sie trifft sich mit Hamid. Obwohl auch der ein Volldepp ist. Oder zumindest ein Betrüger. Wenn die eigene Freundin in diesem Jahr die Lucia ist, dann geht man in die Kirche, egal welche Religion man hat.
In der Jackentasche findet sie die Handschuhe ihrer Mutter. Sie sind zu eng, müssen aber reichen. Auf die Mütze jedoch verzichtet sie. Die blonden Locken sind mit dem Lockenstab perfekt geworden. Lieber erfriert sie, als sie zu ruinieren.
Sie biegt nach links zur Bundesstraße ab, die wie eine Pulsader durchs Dorf verläuft. Ab und zu fahren in beide Richtungen Autos an ihr vorbei. Mit etwas Dusel nimmt sie jemand aus ihrer Klasse im Auto mit.
Zum Glück hat sich ihr Geheimnis nicht rumgesprochen. Das wäre eine Katastrophe. Wenn das Ekelige rauskäme, dann müsste sie noch am selben Tag von hier wegziehen. Vor einem Monat und vier Tagen ist es passiert. Aber jetzt will sie nicht mehr daran denken. Jetzt ist Lucia. Sie weiß, dass sie auf den Fotos hübsch aussehen wird.
Unter ihren Stiefeln knirscht der Schnee. Die Plastiktüte, in der die Lucia-Krone liegt, knistert immer weniger, je steifer sie in der Eiseskälte wird. Auf dem anderen Seeufer scheint der Vollmond kalt und weiß über dem Nadelwald. Sie denkt, der ist die Erinnerung daran, dass sich nie etwas ändern wird, dass alles bleibt, wie es ist.
Wie erwartet, ist Alice völlig ausgerastet, weil sie nicht zur Lucia gewählt wurde. Sie hat nicht damit gerechnet, als Jungfer im Gefolge hinter der Lucia herzulaufen. Das aber haben sie und ihr hirnblinder Freund verdient. Es war total klar, dass ihr einer von den beiden gestern irgendwas in die Bratkartoffeln gemischt hat, damit sie Durchfall kriegt. Zum Glück hat Hamid die Augen offen gehalten.
Ihr Handy klingelt in der Jackentasche. Bestimmt Papa, der sie noch hinbringen will. Sie dreht sich um, erahnt seine Umrisse im Fenster, kann aber nicht erkennen, ob er die Hand am Ohr hat. Vielleicht ruft Hamid an, der beschlossen hat, doch zu kommen. Oder Tony, der immer noch nicht kapiert hat, dass Schluss ist. Oder vielleicht Pierre? Gestern nach der Ethik-Doppelstunde faselte er eine Viertelstunde irgendwas davon, dass er ihr helfen würde, ihren Traum zu verwirklichen. Ihr ist klar, dass er das nur tut, damit er mit ihr in die Kiste springen kann.
Sie reißt sich die Handschuhe herunter. Das Display zeigt eine 076er-Nummer an, die sie nicht kennt. Sie vermutet, dass es Hamid ist. Er und seine Gang haben ständig neue Handys, und sie hat aufgehört zu fragen, woher sie sind.
Das Gespräch ist kurz. Danach zieht sie sich rasch die Handschuhe wieder an. Die Laternenmasten zeichnen Lichtkegel auf die Straße. Sie zählt sie, um nicht an die Kälte denken zu müssen.
Beim vierten Mast hält ein Auto neben ihr.
Papa, denkt sie, als sie den silberfarbenen Volvo sieht. Aber ist er es wirklich? Von der Kälte tränen ihr die Augen, und sie kann nicht richtig gucken.
Die Scheibe auf der Beifahrerseite gleitet nach unten.
Sie macht einen Schritt auf das Auto zu und beugt sich vor.
Uppsala, 24. Dezember
Nathalie Svensson gab den Code ein und hatte beim Verlassen der Abteilung das Gefühl, dass sie gute Arbeit geleistet hatte. Natürlich wurde wie oft um die Weihnachtsfeiertage im Lauf der Nacht eine ansehnliche und bunte Schar von Patienten eingeliefert. Doch sie hatte in einem sorgsam ausgewogenen Gleichgewicht aus Professionalität, Empathie und sozialer Rücksichtnahme die richtigen Patienten dabehalten beziehungsweise entlassen. Allerdings hatte sie später nach den Visiten mitunter den gegenteiligen Eindruck. Denn die Einschätzung des künftigen Schicksals einer Person fiel schwer, wenn man als Grundlage nur von den Angaben im nächtlichen Aufnahmeformular und einem zehnminütigen Gespräch ausgehen konnte.
Heute hatte sie der schizophrene Örjan Bäckström am meisten berührt, der sich immer an allen langen Feiertagswochenenden die Unterarme ritzte. Die Schnitte waren nie so tief, dass sie sich der Chirurg anschauen musste; weil er aber immer damit drohte, sich das Leben zu nehmen, wurde er in die Psychiatrie überwiesen. Nathalie hatte Örjan auf der Station behalten und sich gefragt, was für eine Gesellschaft wir erschaffen hatten, die jeden Tag Menschen aus Einsamkeit in den Selbstmord trieb.
Sie ging eine Treppe tiefer, hinunter in die Notaufnahme. Ihre Absätze hallten einsam in dem fensterlosen Treppenhaus wider. Es war halb zwei Uhr. Sie spürte dieses Ziehen im Bauch, das häufig das erste Anzeichen für Hunger war. Seit neun Uhr hatte sie ununterbrochen gearbeitet, und jetzt war es höchste Zeit fürs Mittagessen. Doch zuerst ging sie zu Schwester Berit, die am Aufnahmeregister stand und noch einen weiteren Patienten eintrug.
»Jetzt bin ich mit der Visite in der APIP fertig«, sagte Nathalie und schaute in Berits freundliche Augen, die jeden noch so neurotischen Patienten beruhigen konnten.
»Hier ist alles im grünen Bereich. Nur vier warten.«
Nathalie warf einen Blick auf den Monitor, auf dem das Wartezimmer auf der anderen Seite der abgeschlossenen Milchglastüren zu sehen war. Dort saßen ein halbes Dutzend Personen, deren Gesichter sie nicht deutlich erkennen konnte. Sie las im Aufnahmeregister nach, dass es sich dabei um einen Zwangsneurotiker, zwei Krisenreaktionen und eine mutmaßliche Depression handelte.
»Ich esse in der Teeküche schnell zu Mittag.«
»Reste vom Weihnachtsgericht stehen im Kühlschrank.«
»Danke, aber ich habe mir heute was mitgebracht«, lächelte Nathalie. Sie fühlte sich immer noch abgefüllt nach dem Weihnachtsschmaus, zu dem ihre Mutter Sonja sie und die Kinder eingeladen hatte. Heute früh hatte die Waage ihre Vorahnung nach dem Verzehr von Pfefferkuchen, Lucia-Gebäck und Weihnachtssüßigkeiten in diesem Monat bestätigt: drei Kilo mehr als das Matchgewicht. Obwohl sie sich mit ihren molligen Kurven wohlfühlte und oft Komplimente bekam, weil sie wie ein Plus-Size-Model aussah, gab es Grenzen. An Neujahr sollte das Louis-Vuitton-Kleid noch genauso schön sitzen wie bei der Anprobe im Nobelkaufhaus NK. Auf der ersten Silvesterfeier ohne die Kinder wollte sie wenigstens hübsch aussehen. Mit diesem Vorsatz machte sie sich die Weight-Watchers-Lasagne in der Mikrowelle warm, ließ ein Glas mit Leitungswasser volllaufen und setzte sich an den Tisch, der vor Marshmallow-Weihnachtsmännern, Sahnebonbons und Schokolade überquoll. Draußen hatte es angefangen zu dämmern. Wieder so ein Tag, an dem es draußen nicht richtig Tag wird, dachte sie und aß einen Bissen von der Lasagne.
Ihr Blick wanderte zu den Abendzeitungen des Vortages, die neben einer weihnachtlich geschmückten Amaryllis lagen. Die Titelseiten der beiden Blätter brachten Fotos von der Sechzehnjährigen aus Svartviken, die auf dem Weg zu ihrer Lucia-Krönung verschwunden war. Ebba Lindgren war für alle Schweden jetzt EBBA, und über ihr Schicksal sprach man im ganzen Land. Wer hatte sie auf dem Weg zur Kirche im Auto mitgenommen? Ihr Freund, der unbegleitete Flüchtlingsjunge Hamid? Oder ihr Ex-Freund Tony oder Ebbas Lehrer mit dem Spitznamen Pervo-Pierre? Oder war es der sogenannte »Fremde«, der eine Stunde vor der Entführung in dem einzigen Hotel des Dorfes gefrühstückt hatte? Nathalie hatte über den Fall alles gelesen und drehte die Zeitung instinktiv mit den Bildern nach unten. Ebbas Schicksal hatte sie ziemlich mitgenommen, und ihr Unbehagen verstärkte sich mit jedem Detail.
Ihr Mobiltelefon meldete sich: eine MMS von Gabriel. Sie klickte auf das Bild und spürte, wie die Lasagne im Mund aufquoll.
Hallo, Mama! Wir haben gerade unsere ersten Geschenke gekriegt. Guck mal, was für schöne Pullover wir von Papa und Tilde bekommen haben!
Gabriel und Tea standen vor Håkan und Tilde und lächelten mit Weihnachtsmannmützen auf dem Kopf in die Kamera. Alle vier trugen Strickpullover mit weihnachtlichen Motiven. Nathalie war klar, dass das Bild nicht für sie bestimmt war, sondern fürs Fotoalbum der neuen Familie. Gabriel jedoch konnte weder ihre Eifersucht noch ihre Trauer nachempfinden. Für ihn waren ihre Gefühle genauso abstrakt wie die Traurigkeit seiner Mitschüler, wenn er etwas Gemeines sagte oder tat, und das hatte er in der Regel auch schon vergessen, wenn anschließend die Lehrkräfte mit ihm darüber sprachen.
Sie spülte den Mund leer und schaute sich weiter das Foto an: das Wohnzimmer in dem Einfamilienhaus, das sie und Håkan vor zehn Jahren gekauft hatten. Der Weihnachtsbaum stand an gewohnter Stelle, sonst war nichts wie vorher. Neue Vorhänge, neue Kissen und Decken. An der Wand hingen vier kakifarbene Sombreros, zwei davon in Kindergröße. Nathalie nahm an, dass sie von der Reise nach Kolumbien stammten, wohin Håkan und Tilde in den Herbstferien mit den Kindern gefahren waren.
Ihr fiel auf, dass sie seit ihrem Auszug nicht mehr in dem Wohnzimmer gewesen war, und sie beschlich das Gefühl von Verlassenheit, das sie bei ihren Patienten so gut zu mildern, bei sich selbst aber so schwer abzuwehren verstand.
Wie hatte es nur so weit kommen können? Sie kannte die Antwort: Sie hatte die Scheidung gewollt. Das hatte sie nicht eine Sekunde bereut. Und es dauerte nur noch drei Tage, bis die Kinder wieder bei ihr waren. Jetzt musste sie sich zusammenreißen.
Sie betrachtete Tildes Bauch. Der war rund und schön. In zwei Monaten würde er ihr und Håkan das Kind der Liebe schenken, mit dessen Zeugung es den beiden nicht schnell genug hatte gehen können. In ihrem Inneren hörte sie, wie Tea und Gabriel begeistert diskutierten, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde und welchen Namen sie dem Baby geben würden.
Sie schaute auf, sah sich im Fenster und schrieb:
Superschön! Habe Riesensehnsucht nach euch!
Um neue Kraft zu tanken, dachte sie an Johan, erinnerte sich an seine Worte bei ihrer ersten Begegnung, dass sie Ähnlichkeit mit der Promi-Köchin aus der Fernsehsendung Leila backt habe, erinnerte sich an die Nacht im Hotelzimmer in Östersund und an das Abendessen, zu dem sie ihn eingeladen hatte. Das war drei Monate her. Seitdem hatten sie sich gegenseitig mit SMS und über Facetime gemeldet. Sie ertappte sich oft dabei, dass sie Sehnsucht nach ihm hatte, konnte aber diese Gefühle jetzt besser ausblenden. In den Wochen, in denen sie die Kinder hatte, funktionierte das problemlos, dann gaben sie ihr Wärme und sorgten rund um die Uhr für Beschäftigung. In den kinderfreien Wochen schaufelte sie sich mit Arbeit, Forschung und Studierendenbetreuung zu. Das klappte nicht immer gleich gut.
Das Übernachtungsappartement auf Östermalm, in Stockholms Promiviertel, nutzte sie immer seltener, und das Internet-Dating hatte sie fast ganz aufgegeben. Seit der Nacht mit Johan hatte sie nur einmal einen Mann mitgenommen. Das war aber ein spontaner Aufriss nach einem Kneipenabend, der nur bestätigte, dass One-Night-Stands nichts mehr für sie waren. Und eine neue Beziehung wollte sie nicht. Sie würde allein und frei leben, sich nur um die Kinder und sich selbst kümmern. Heute Abend hatte sie mit ihrem Chor ein Konzert, und morgen wollten sie, Josie und Cecilia ins Kino gehen.
Ein Tag nach dem anderen, und jetzt ist die Mittagspause zu Ende, beschloss sie und stellte das Geschirr in die Spülmaschine, warf zur Kontrolle einen Blick in den Spiegel, entfernte etwas Spinat, der zwischen den Zähnen hängen geblieben war, knöpfte ihren Arztkittel zu und verließ den Raum. Berit kam mit einem Aufnahmeformular in der Hand aus dem Wartezimmer.
»Wie gut, Nathalie, wir haben zwei Neuzugänge gekriegt.«
»Mit wem soll ich anfangen?«
»Mit dem aus Afghanistan, der ist wegen Depressionen und Angstzuständen hergekommen«, erklärte Berit und übergab Nathalie das Formular.
Mohammed Aziz, achtzehn Jahre, Erstaufnahme, Asylbewerber mit einer vorläufigen Versicherungsnummer, als wohnhaft in einer Flüchtlingsunterkunft in Fålhagen gemeldet.
»Die Kontaktaufnahme mit ihm ist leicht auffällig, er flackert mit den Augen und antwortet einsilbig«, berichtete Berit. »Sagt, er ist traurig und will nicht mehr leben.«
Nathalie schaute auf den Monitor. »Meinst du den, der da mit zwei anderen Typen auf der Bank sitzt?«
»Ja, den in der Mitte.«
»Spricht er Englisch?«
»Leidlich. Ich glaube, du solltest unter vier Augen mit ihm reden, die Kumpels, die ihn begleiten, sind gestresst und mischen sich mit Fragen in ihrer eigenen Sprache ständig ins Gespräch ein.«
»Okay, ich gehe in die Zwei«, beschloss Nathalie und steuerte das Wartezimmer an. Sie tippte den Code ein, schob die Tür auf und rief Mohammed zu sich herein. Die drei Männer drehten sich zu ihr um. Sie lächelte sie an. Mohammed erhob sich zögernd, wechselte mit seinen Freunden einen Blick und ging auf Nathalie zu.
Wie immer scannte sie den Patienten und seine Begleiter: groß gewachsene, elegante junge Männer mit Kurzhaarschnitt in intakter, sauberer Kleidung aus einem der Billigketten-Läden.
Mohammed hatte Probleme, den Augenkontakt zu halten, wenig Mimik und einen feuchten Händedruck. Er zeigte jedoch keinerlei Anzeichen von Aggression oder dieser schwer definierbaren Unberechenbarkeit, wegen der sie sich manchmal einen Pfleger dazuholte.
Als sie einander im Sprechzimmer gegenübersaßen, stellte sie ihre Routinefragen. Mohammed antwortete monoton, ohne sie dabei anzusehen, wobei er mit dem Fuß ständig auf den pissgelb-grau gesprenkelten Linoleumfußboden tippte, von dem die Kollegen und Kolleginnen im Scherz behaupteten, er sei entworfen worden, um das Erbrochene der Intoxikierten zu kaschieren.
Nathalie erkundigte sich freundlich, womit er sich den Tag über beschäftige, wie es ihm in Schweden gefalle und wie er sich seine Zukunft vorstelle. Mohammed verspannte sich immer mehr und war blockiert. Ihr war klar, dass etwas nicht stimmte, sie konnte es aber nicht genau benennen.
Im Versuch, seinen Schutzpanzer zu knacken, beugte sie sich vor und legte ihre Hand auf seine. Die war warm und zitterte. Langsam, als begriffe er nicht, was vor sich ging, hob er den Blick. Eine Sekunde bekam sie Kontakt, dann glitt die Finsternis zurück in seine braunen Augen. Es kam ihr so vor, als würde er glatt durch sie und die Wände in eine Landschaft gucken, die nur er sah.
Mit einem kräftigen Ruck zog er seine Hand weg. Er riss die Augen auf, hob die Hände und warf sich auf sie, stieß einen wortlosen Schrei aus und packte sie mit den Daumen auf dem Kehlkopf im Würgegriff.
Erschrocken versuchte sie den Alarmknopf in der Kitteltasche zu drücken, kippte aber auf dem Schemel nach hinten um und hatte keine Chance. Sie schlug mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf und hatte ihn über sich. Sein Blick war hasserfüllt und so weggetreten, dass zu bezweifeln war, dass er wusste, was er tat.
In Panik versuchte sie zu schreien, bekam aber keinen Ton heraus, versuchte, sich mit Schlägen und Tritten aus seinem Griff zu winden.
Es war zwecklos. Er war stark und vollkommen außer Kontrolle.
Sundsvall, 24. Dezember
Johan Axberg brachte noch einen Teller, an dem Reste von Senf, Apfelmus und Heringssalat klebten, in der Spülmaschine unter. Obwohl das Gerät schon zum Bersten voll war, stand noch einmal die gleiche Menge an Geschirr draußen, wie er seufzend feststellte, und er schloss die Tür. Mit Carolinas Eltern, ihrem älteren Bruder Christer, seiner Neuen und deren sechs Kindern waren sie insgesamt dreizehn Personen am Tisch gewesen. Leider waren das nicht die Überbleibsel vom letzten, sondern vom ersten Festessen in einer scheinbar nicht enden wollenden Reihe bis zum zweiten Feiertag. Wenn es nach Johan gegangen wäre, hätte er Weihnachten nur mit Alfred und Carolina verbracht, aber sie hatte auf einer großen Feier bestanden.
»Weil wir jetzt endlich ein Haus haben, will ich das so! Denk doch nur an die vielen Male, die wir bei meinen Eltern oder Christer gefeiert haben.«
Und alle sollten natürlich bei ihnen übernachten. »Wir haben doch Gästebetten, und die Kinder können auf Matratzen schlafen. Das wird super!«
Selbstverständlich hatte Carolina ihren Willen bekommen. Wie immer. Trotz Johans Veto zu einem zweiten Kind war sie im fünften Monat schwanger. Das Haus, das er nicht haben wollte, mussten sie kaufen, weil Alfred ein Geschwisterchen bekam.
Er nahm sich eine Flasche Weihnachtsbier aus dem Kühlschrank, hörte das Lachen und den Radau aus dem Wohnzimmer, wohin sich alle begeben hatten, um auf die Fernsehsendung mit Donald Duck und den anschließenden Besuch des Weihnachtsmannes zu warten.
Er trank ein paar Schlucke und guckte auf die Uhr. Halb zwei. Er beschloss, eine Weile allein zu bleiben und nachzudenken. Seit er um halb sechs von Alfred geweckt worden war, hatte er keine ruhige Minute mehr gehabt. Der Tannenbaum musste geschmückt werden, das Essen gekocht und die Gäste untergebracht werden. Weil Carolina einen Hexenschuss hatte, blieb das meiste an ihm hängen. Dagegen hatte er nichts. Liebend gern packte er mit an, reparierte und war bei praktischen Dingen behilflich. Andere Leute und das Gefühl, eingesperrt zu sein, trieben ihn in den Wahnsinn. Seltsamerweise fühlte er sich immer am einsamsten, wenn er Menschen um sich hatte.
Er guckte aus dem Fenster über der Küchenzeile, stellte fest, dass in Eriks Wohnung ganz oben in dem neu gebauten Hochhaus, das auf halbem Weg hinunter in die Stadt lag, Licht in den Fenstern brannte. Er fragte sich, wie wohl Erik und Estelle und ihre sechs Kinder ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest verbrachten. Er wischte sich den Schaum von der Oberlippe, ließ den Blick weiter durch die einbrechende Dämmerung zum Hafen schweifen. Die neue Brücke in der Ferne leuchtete wie eine kilometerlange Perlenkette. Kein einziges Auto war auf den Straßen. Als einzige Bewegung sah er den Rauch, der aus den Fabrikschornsteinen quoll und zu imaginären Spitzen auf den Türmen der Steinstadt wurde. Das Fünfsternehotel auf dem Södra Berg glomm wie eine Luftspiegelung aus Lichtern.
Sundsvall war eine schöne Stadt. Es war seine Stadt.
Aber er sehnte sich nach einem echten Fall, an dem er arbeiten konnte. Im Herbst war es zu der üblichen lang anhaltenden Mischung aus Einbrüchen in Einfamilienhäuser, Autodiebstählen, Körperverletzungen, Besitz von Drogen und Raubüberfällen auf Geschäfte gekommen. Obwohl ihm bewusst war, dass er ein komischer einsamer Wolf war, der sich jetzt glücklich schätzen sollte, dass er nach Jahren mit schwierigen Beziehungen eine Familie hatte, empfand er es nicht so.
Er wurde immer rastloser, dachte oft an Nathalie und ihre vertrauten und spannenden Gespräche. Alfred liebte er über alles, aber Carolinas eingefahrene Tagesabläufe nahmen ihm die Luft zum Atmen. Dennoch fehlte ihm die Kraft zum Widerspruch. Wahrscheinlich, weil er wusste, dass sie meistens recht hatte. Wahrscheinlich, weil er Angst hatte, sie zu verlieren. Er ahnte, dass der frühe Verlust seiner Eltern die Ursache war, aber darüber wollte er nicht nachdenken und tat es auch so gut wie nie.
Er genehmigte sich einen Schluck und stellte die Flasche ab, dachte an das Abendessen bei Nathalie zu Hause, zu dem sie ihn im September im Anschluss an die Anti-Terror-Konferenz eingeladen hatte. Erstaunlicherweise kam es ihm so vor, als ob die Verbindung zwischen ihnen stärker geworden war, nachdem sie aus gegenseitigem Respekt auf Sex verzichtet hatten, obwohl sie gern miteinander geschlafen hätten. Manchmal dachte er, sie beide seien wie zwei Magnete, deren Anziehungskraft zunahm, je weiter sie voneinander entfernt waren.
Als er sich ans Abwaschen des Topfes mit dem festgetrockneten Milchreis machte, kam Alfred angetapst. Er hatte ein Plastikschwert in der Hand und Glitter im Haar.
»Papa!«, rief er. Johan lächelte seinen Sohn an, stellte den Topf hin und warf ihn hoch in die Luft, sodass er vor Lachen fast erstickte.
Carolina watschelte hinterher, die Hände in den Rücken gestützt, lächelte Johan an und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Komm und setz dich eine Weile zu uns, der Abwasch kann warten.«
»Aber ich muss doch gleich alles fürs Kaffeetrinken vorbereiten«, widersprach er und warf Alfred noch einmal so hoch, dass der Glitter in seinem Haar die Decke streifte.
»Dafür ist noch genug Zeit«, meinte sie und verwuschelte sein ohnehin widerspenstiges Haar.
»Okay«, gab er nach, stellte das Bier in den Kühlschrank und ging mit Alfred auf dem Arm ins Wohnzimmer.
Aus den Stereolautsprechern dröhnte White Christmas, und die Schwiegermutter knackte ununterbrochen Nüsse.
»Agnes und Lo, springt bitte nicht auf dem Sofa rum!«, bat Carolina und bekam Unterstützung von Christer, der mit der Videokamera im Anschlag aus dem Flur kam. Johan stellte Alfred auf den Boden und nahm neben seinen Schwiegereltern auf dem Sofa Platz. Sie betrachteten ein Fotoalbum, das Carolina ihnen im Voraus geschenkt hatte, »weil wir doch was Lustiges machen müssen, und später gibt es wegen der vielen Geschenke doch bloß nur Chaos«.
Als wenn das nicht schon der Fall wäre, dachte Johan und hatte dabei sowohl die Kaffeetafel als auch die offene Vorschule vor Augen. Als Agnes und ihr Bruder hinter ihm auf die Rückenlehne kletterten, bereute er, dass er das Bier nicht mitgenommen hatte.
»Guckt mal, was für coole Löwen ich vorige Weihnachten in der Serengeti gefilmt habe«, rief Christer und lockte damit die halbe Kinderschar inklusive Alfred zu sich, der seiner Cousine Elsa mit dem Plastikschwert auf den Kopf schlug. Nach kurzem Zögern, bis sie der Aufmerksamkeit aller Erwachsenen sicher sein konnte, brach sie mit einer Leidensmiene in Tränen aus, wie es nur eine Dreijährige fertigbrachte.
Johan brach der kalte Schweiß aus. »Sei vorsichtig mit dem Schwert, Alfred!«, ermahnte er seinen Sohn und stand auf, als er sah, wie Alfred zu einem neuen Schlag ausholte. Zu Johans Erstaunen beugte sich Carolina vor und nahm Alfred auf den Arm. In den letzten Tagen hatten sie so große Schmerzen im Rücken geplagt, dass sie sich kaum die Schuhe zuschnüren konnte.
Verwirrt blieb Johan kurz stehen und hörte, wie ein vertrautes Signal die Kakofonie aus Geräuschen durchdrang. Es dauerte etwas, bis er begriff, dass es von seinem Handy kam.
Johan verzog sich in den Flur und nahm das Gespräch an. Zu seiner Verwunderung war Ingemar Granstam am anderen Ende der Leitung. Johan war es ein bisschen peinlich, dass er auf einen neuen Fall hoffte, und er ging schleunigst in die Küche. Nach den obligatorischen Höflichkeitsfloskeln und einer Entschuldigung, dass er den Weihnachtsfrieden störte, fragte Granstam, ob Johan über den Fall des verschwundenen Mädchens aus Svartviken im Bilde war.
»Natürlich habe ich die Nachrichten gelesen und gehört.«
»Wie Sie bestimmt wissen, wurde ihr Lehrer an dem Morgen erstochen, als man die Suche nach ihr eingestellt hatte«, sprach Granstam weiter. »Die Fälle liegen bei der Östersunder Polizei auf dem Tisch, die Unterstützung von einem ehemaligen Polizisten aus dem Dorf hat. Das Problem ist nur, dass keiner der Fälle aufgeklärt ist. Jetzt will der oberste Polizeichef des Landes, dass wir ihnen bei den Ermittlungen unter die Arme greifen. In den Medien war wegen der Auflösung so vieler Polizeidienststellen harsche Kritik laut geworden, unter anderem wegen der Schließung in Svartviken, was mehr als hundert Kilometer von Östersund entfernt ist.«
Granstam holte hörbar Luft, und Johan sah vor sich, wie er sich über den beeindruckenden Schnäuzer strich.
»Svartviken ist ein Dorf mit kaum zweitausend Einwohnern, und das scheint wider Erwarten die Arbeit eher erschwert als erleichtert zu haben. Nach den Worten des verantwortlichen Kommissars bleiben die Leute lieber unter sich und sind allen anderen gegenüber misstrauisch. Der Vater des Mädchens ist überzeugt, dass sie noch lebt, und krempelt gerade das ganze Dorf um.«
»Wann soll das Team-Meeting stattfinden?«, fragte Johan, öffnete den Kühlschrank und trank einen Schluck Bier.
»Morgen um halb elf auf dem Östersunder Flughafen. Dort mieten wir Autos und fahren zusammen nach Svartviken. Können Sie sich von den Weihnachtsfeierlichkeiten loseisen?«
»Glaube schon. Muss nur mit meiner Freundin sprechen. Kommen die anderen auch?«
»Alle haben zugesagt, bis auf Nathalie. Sie habe ich noch nicht erreicht.«
»Ich melde mich, sobald ich Bescheid weiß«, erklärte Johan.
In dem Augenblick kam Carolina: »Wer war das?«
»Ingemar Granstam, der Leiter der Profilergruppe.«
»Was wollte er?«
»Wir haben morgen Vormittag ein Team-Meeting in Östersund. Du weißt schon, der Fall mit der verschwundenen Lucia und ihrem ermordeten Lehrer.«
»Ja und?«, sagte Carolina, fuhr sich durchs blonde Haar, wie um ihre böse Vorahnung zu verscheuchen. »Aber wir haben Gäste, das hast du doch gesagt, oder?«
»Du weißt doch, wie die Arbeit mit der Gruppe läuft«, entgegnete er und stellte die Flasche hin. »Unsere Aufträge kommen nie zum passenden Zeitpunkt. Wenn ich gerufen werde, muss ich kommen, sonst setze ich meinen Platz in der Gruppe aufs Spiel. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass das Mädchen noch lebt.«
Carolinas Augen verengten sich. Sie machte noch einen Schritt auf ihn zu und fauchte mit unverhohlener Wut: »Ich habe das so satt! Du nutzt jede Möglichkeit, abzuhauen. Du musst in dieser Gruppe nicht mitarbeiten. Es reicht doch, dass du mehr als hundert Prozent bei deiner Arbeit hier in der Stadt gibst.«
Sie holte zweimal schnell Luft. Ihr Hals bekam rote Flecken, und die Sehnen unter der Haut waren angespannt.
»Wenn du fährst, brauchst du dich hier nicht mehr blicken zu lassen! Nur damit du’s weißt!«
Uppsala
Vor ihren Augen blitzte es, und ihr Kopf explodierte. Mohammed starrte sie aus pechschwarzen Augen an. Seine Hände waren stark, seine Arme sehnig und ausdauernd.
Warum hatte sie ihn nur so falsch eingeschätzt? Das war jetzt egal. Jetzt musste sie sich befreien, bevor sie das Bewusstsein verlor. Eine intensive Todesangst packte sie. Sie versuchte, den Kopf zu drehen, war aber wie in einem Schraubstock eingezwängt. Die Kraft ihrer Tritte nahm ab, und die Präzision der Hand, die fieberhaft nach dem Alarm suchte, verschlechterte sich mit jedem Herzschlag.
Hört denn niemand, was hier passiert?
Ihr ganzes Inneres verwandelte sich in einen Hilferuf, aber es war ein stummer und höhnischer Schrei, den nur sie hörte.
Nein, nein, nein!
Das hier passiert nicht.
Instinktiv änderte sie ihre Taktik, entspannte den ganzen Körper mit Ausnahme des rechten Arms, der weiter nach dem Alarm tastete. Mohammed saß rittlings auf ihr und dachte nicht daran, von ihr abzulassen.
Wie in Trance fand sie den Alarmknopf. Er war auf den Boden geglitten. Mit anscheinend letzter Kraft drückte sie ihn. In weiter Ferne hörte sie, wie es zu heulen begann, sah das rote Licht der Lampe über der Tür aufblitzen.
Schritte und Rufe im Korridor näherten sich. Die Tür wurde aufgerissen. Mehrere Personen stürmten ins Zimmer. Der Griff um ihren Hals verschwand, und sie sog so heftig Luft ein, dass ihr schwindelig wurde.
Vier Pfleger setzten sich auf Mohammeds Rücken, verschränkten seine Arme und Beine nach dem Bergen-Modell, das alle vom Personal zweimal im Jahr üben mussten. Er wehrte sich. Sein Blick erinnerte an den eines waidwunden Tieres.
Nathalie stand auf, taumelte und hielt sich an Berit fest. Als sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte, ging sie in die Hocke und versuchte, mit Mohammed zu sprechen. Es war zwecklos. Die Pfleger hatten Schwierigkeiten, ihn festzuhalten, und er blutete an der Stirn.
»Wir müssen ihn festschnallen«, beschloss sie. »Geben Sie ihm intramuskulär fünf Milligramm Haldol und zwanzig Milligramm Stesolid.«
Berit holte eine Spritze und injizierte sie in den Oberschenkelmuskel. Mohammeds Widerstand ließ nach. Eine Minute später konnten sie ihn in den Fixierraum bringen.
Erst als er festgezurrt war und die Gurte an Ort und Stelle saßen, betrat Nathalie das Stationszimmer. Sie betastete ihren Hals und betrachtete sich dabei im Spiegel. Außer dass sie stark mitgenommen aussah, war ihr nichts anzumerken. Alles war, obwohl es sich für sie ganz anders angefühlt hatte, sehr schnell gegangen. Hoffentlich kriegte sie keine blauen Flecken. Berit kam herein und fragte, ob mit ihr alles in Ordnung sei.
»Ja, alles gut.«
Die Antwort war Beschwörung und reflexartige Leugnung gleichermaßen. »Ich habe ihn falsch eingeschätzt. Er war wie ausgewechselt, als ich ihn berührt habe.«
Berit strich ihr über den Arm. »Ich hätte mitkommen müssen, aber auch ich habe ihn falsch eingeschätzt.«
»Sie haben keinen Fehler gemacht«, entschied Nathalie, »dafür trage ganz allein ich die Verantwortung.«
Berit nickte und kehrte in den Korridor zurück. Nathalie rief Jacob Salomon, den Arzt in Ausbildung, von der Abteilung zu sich nach unten und bat ihn, für Mohammed eine psychiatrische Zwangseinweisung auszustellen, damit sie eine Aufnahme-Entscheidung treffen konnte. Das obligatorische Zwei-Ärzte-Prinzip bei Zwangseinweisungen war zwar umständlich, aber Nathalie wusste, von welch großer Wichtigkeit es war, um einen Patienten vor einer Fehlbeurteilung zu bewahren.
Doktor Salomon hastete davon, und Nathalie ging in den Pausenraum, trank ein Glas Wasser und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass es ihr ungehindert und schmerzfrei die Kehle hinunterlief. Zum ersten Mal nach zwei Jahren war sie von einem Patienten angegriffen worden, und das war diesmal definitiv der schwerwiegendste Vorfall. Mohammed hatte wahrscheinlich eine paranoide Psychose. Vermutlich war ihre Berührung der Auslöser dafür gewesen, dass er Stimmen hörte, die ihm befahlen, sich auf sie zu stürzen. Merkwürdig war nur, dass er eingangs die manische Verrücktheit hatte vermissen lassen, die psychotische Patienten auf ihre ganz eigene Art ausstrahlten.
Sie naschte einen Marshmallow-Weihnachtsmann. Kaum hatte sie ihn hinuntergeschluckt, klingelte das Beratungstelefon. Nachdem sie die Fragen des diensthabenden Chirurgen beantwortet hatte, kehrte Doktor Salomon mit der Zwangseinweisung zurück.
»Danke«, sagte Nathalie, als sie kontrolliert hatte, ob sie vorschriftsmäßig ausgefüllt war. »Übernehmen Sie bitte die Patienten im Wartezimmer, dann überstelle ich ihn auf die Drei.«
»Alles klar«, nickte Jacob mit der Energie eines Kollegen, der noch keine fünfzig Nachtdienste geleistet hatte.
Wieder allein, schaute Nathalie abermals in den Spiegel. Laut der Klinikrichtlinien sollte jede Gewalt gegen das Personal dokumentiert werden, und das schriftlich und gefolgt von einer ärztlichen Untersuchung. Aber es war nichts zu sehen, und sie hatte dazu weder Zeit noch Lust.
Vielleicht später, entschied sie, rückte den Kragen am Kittel wieder zurecht und machte sich auf zum Gespräch mit Mohammed.
Auf der Treppe zur Abteilung Drei klingelte ihr privates Handy. Wenn es Gabriel ist, dann habe ich keine Zeit ranzugehen, dachte sie noch, als sie stehen blieb, um das Display zu checken.
Nicht Gabriel war am anderen Ende. Es war Granstam.
Östersund, 25. Dezember
Um Viertel vor elf war die Profilergruppe vollzählig am Tresen der Autovermietung am Östersunder Flughafen versammelt. Sie begrüßten sich voller Erwartung, gepaart mit verbissenem Ernst. Granstam verteilte die ID-Karten an seine handverlesenen Mitarbeiter, zu denen neben Nathalie und Johan die Gerichtsmedizinerin Angelica Hübinette, der IT-Experte Tim Walter und Maria Sanchez, der Shootingstar der Stockholmer Kriminalpolizei, zählten.
»Schön, dass Sie kommen konnten«, sagte Granstam in seinem melodischen Kirunaer Tonfall. »Svartviken liegt, wie Sie wissen, hundert Kilometer nördlich von hier. Ich habe zwei Wagen gemietet: einen Toyota und einen Minibus. In Svartviken gibt es weder Taxis noch eine Autovermietung, und wir müssen uns aufteilen können. Um zwölf treffen wir uns in dem Hotel, wo wir wohnen werden, mit Anna-Karin Tallander, der zuständigen Östersunder Kommissarin, und mit dem alten Dorfpolizisten Gunnar Malm.«
»Sie meinen das Motel, das zur Flüchtlingsunterkunft umgebaut werden soll?«, fragte Tim Walter und drehte den Schirm seiner Basecap zur Seite.
»Ja«, antwortete Granstam, »aber das Eigentümerpaar hat versprochen, für uns einen der Flügel aufzumachen. Wer will fahren?«
Er hielt zwei Schlüssel hoch, die in seinen riesigen Pranken winzig aussahen.
»Ich fahre den Minibus«, meldete sich Johan und nahm den Schlüssel mit dem Volkswagen-Anhänger entgegen.
»Maria und ich nehmen den Japaner, obwohl mir ein deutsches Auto lieber ist«, meinte Angelica und verzog den Mund zu einem seltenen Lächeln.
Sie begaben sich zu den Fahrzeugen. Wie immer gingen Johan und Nathalie voraus, dicht gefolgt von Angelica und Maria. Ein paar Meter hinter ihnen schlenderten Tim und Granstam. Nathalie erinnerte das an eine alte Schulklasse, in der alle ihre gewohnte Rolle einnahmen, ganz gleich, ob ein Tag oder zehn Jahre vergangen waren.
Der Parkplatz war bis auf zwei Taxis und einen Flughafenbus weitestgehend leer. Die Luft war staubtrocken, wodurch sich die siebzehn Grad unter null bedeutend besser aushalten ließen als die nasskalten neun Grad auf Stockholms Flughafen Arlanda.
»Verflucht, ist das kalt«, fand Tim und zog den Kopf ein. Außer der Cap trug er eine dünne Bomberjacke, knöchelkurze Röhrenjeans und ein Paar Sneakers.
»Willkommen in Norrland«, lächelte Nathalie und linste kurz zu Tims Computertaschen und nur winzigem Reisegepäck hinüber. »Sie haben großzügig gepackt, wie ich sehe, hoffentlich haben Sie warme Unterhosen dabei.«
Tim ging, ohne zu antworten, zitternd zum Minibus. Nathalie bereute ihre spitze Bemerkung, aber die hatte sie sich nicht verkneifen können. Wenn sich jemand Gedanken darüber machte, ob Tim zu dünn angezogen war, dann war sie das. In solchen Situationen war sie immer Mutter, da konnte sie noch so sehr versuchen, sich von der Rolle zu distanzieren.
Johan fuhr über Frösöns weitläufige und schneebedeckte Weiden, die am Hang zum Storsjön in der Sonne funkelten. Nathalie saß hinten neben Tim und Granstam. Hin und wieder warf sie einen Blick auf Johans Hände, seinen scharfen Blick und die kaum zu entdeckende Prise Snus unter seiner Oberlippe. Sie wechselten nicht viele Worte. Das war auch nicht nötig, weil sie miteinander telefoniert hatten, sowohl gestern als auch an diesem Morgen. Stattdessen beantworteten sie beide Tims und Granstams Fragen, die die Unterhaltung über den aktuellen Fall bis hin zu Weihnachtsbräuchen am Laufen hielten.
Johan lenkte den Wagen auf die Frösö-Brücke. Nathalie lockerte den Schal, der sich plötzlich zu eng am Hals anfühlte. Vor Dienstschluss hatte sie ein Gespräch mit Mohammed Aziz geführt. Er erinnerte sich kaum an das, was er getan hatte. Ihre anfängliche Einschätzung, dass er unter einer paranoiden Psychose leide, traf zu. Jetzt ging es ihm nach der Verabreichung von Neuroleptika und Schlafmitteln ein bisschen besser.
Sie fuhren durch die Stadt. Hier und da hatte schon der Weihnachtsschlussverkauf begonnen. Als Johan auf die E45 nach Norden abbog, stellte Tim fest:
»Sie wissen bestimmt, dass das hier Europas längste Straße ist, die man auch Inlandsstraße nennt, oder?«
»Also geradewegs rein in die Finsternis«, meinte Johan lächelnd.
»Irgendwo hier an dieser Straße müssen wir Ebba finden«, sagte Nathalie mit einem Ernst, der Johans schwarzem Humor die Spitze nahm.
»An welche der Theorien glauben wir?«, fragte Johan. »Dass sie sich einer aus dem Dorf oder der sogenannte Fremde geschnappt hat?«
»Ich befasse mich im Vorfeld nicht gern mit Spekulationen«, entgegnete Granstam.
»Wir dürfen nicht die Möglichkeit außer Acht lassen, dass sie freiwillig abgehauen sein kann«, gab Johan zu bedenken.
»Warum hätte sie das auf dem Weg zu ihrer Lucia-Krönung tun sollen?«, widersprach Nathalie. »Außerdem sind seit ihrem Verschwinden zwölf Tage vergangen. Schwierig, sich so lange versteckt zu halten, ohne entdeckt zu werden.«
»In einem Punkt sind wir uns doch wohl einig, nämlich dass der, der ihren Lehrer erstochen hat, überzeugt war, dass er der Schuldige war«, erklärte Tim.
»Wie schon gesagt«, entgegnete Granstam, »erst alle Fakten auf den Tisch, und am allerwichtigsten ist, die Tatorte zu fühlen und in Augenschein zu nehmen.«
Johan fuhr zügig und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Carolina hatte kaum noch ein Wort gesagt nach seiner Entscheidung zu fahren. Sie ging nicht ans Handy, wenn er anrief oder SMS schickte, und das war vorher noch nie vorgekommen. Hatte sie es ernst gemeint, dass er nicht mehr zurückzukommen brauche? Nein, das war ihr nur rausgerutscht. Sobald er in Svartviken war, würde er sich wieder bei ihr melden. Granstams Anruf, um sie alle zusammenzutrommeln, kam ausgerechnet am Heiligabend zwar zu einem ungünstigen Zeitpunkt, aber er musste unbedingt losfahren. Bei dem Geräusch der Reifen auf der Fahrbahn und in Begleitung der besten Ermittler und Ermittlerinnen des Landes fühlte er es ganz deutlich. Wo auch immer das Mädchen geblieben war, sie würden sie finden.
Der Minibus fraß sich Kilometer für Kilometer vorwärts. Nach einer guten Stunde sagte Tim: »Jetzt sind es nur noch dreihundert Meter.«
»Noch keine Anzeichen von Zivilisation«, stellte Granstam fest und betrachtete die dunkelgrüne Wand aus Bäumen, in die nicht einmal die grelle Sonne vorzudringen vermochte.
»Ist ja auch ein sehr kleiner Ort, wo wir hinwollen«, sprach Tim mit dem Blick auf das iPad weiter. »Sieht auf der Karte sogar unecht aus, wie ein Kommazeichen, das jemand irgendwo ins Nirgendwo geworfen hat.«
Er grinste über den Vergleich in sich hinein. »Die Straße, auf der wir fahren, ist also die, auf der Ebba im Auto mitgenommen wurde, sie teilt das Dorf in zwei Hälften: auf der Ostseite liegen die Bahnschienen, der See und die größten Einfamilienhausgebiete, auf der Westseite sind der Marktplatz, Mietshäuser, die Schule, die Geschäfte und der Höhenkamm mit der Kirche und dem stillgelegten Skihügel. In zwei Minuten und zwölf Sekunden ist man durchs Dorf gefahren, wenn man sich an die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit hält.«
»Danke, Tim, jetzt kommen wir allein klar«, sagte Johan, als sie das mit Raureif überzogene Ortschild von Svartviken passierten.
»Gibt es eine Apotheke?«, fragte Granstam.
»Ja, im Bahnhofsgebäude«, antwortete Tim. »Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis das auch geschlossen wird. In den letzten drei Jahren haben das Arbeitsamt, die Krankenversicherung und die Touri-Info dichtgemacht.«
Nathalie warf im Rückspiegel einen Blick auf Granstam. Seine grauen Augen schauten aus dem Fenster, und er sah so niedergeschlagen aus wie immer. Warum erkundigte er sich nach einer Apotheke? Hatte er vor, sich Beruhigungstabletten zu besorgen? Wenn dem so war, dann würde sie ihm jedenfalls kein Rezept über Sobril mehr ausstellen. Mit der Überweisung zur Suchtberatung hatte sie ihm definitiv ein letztes Mal einen Gefallen getan.
Das Hotel Brunkullan tauchte gleich links nach einem Kreisverkehr, einer Autowerkstatt und einem Anzeigenbrett mit einem Sammelsurium aus Zetteln und Plakaten auf, denen die Witterung stark zugesetzt hatte.
Als sie auf den Parkplatz bogen, sprang die Zeitanzeige auf dem Willkommensschild des Hotels auf 12.00. Auf dem Parkplatz standen fünf Autos, ein Wohnmobil mit Rostflecken und ein Holzlaster. Keine Menschenseele war zu sehen.
Beim Aussteigen fiel Nathalie ein Mann auf, der sie aus einem Wagen am anderen Ende anglotzte. Sie blieb stehen und begegnete seinem Blick. Da beugte sich der Mann nach vorn, startete den Motor und fuhr los. Dem dunkelblauen Angeberwagen kam auf der Ausfahrt Angelicas und Marias Toyota entgegen, und er verschwand ins Dorf.
»Was ist los?«, fragte Johan, dem ihre Reaktion nicht entgangen war.
»Nichts, nur ein Mann, von dem ich dachte, er starre mich an.«
»In diesem Dorf taucht eben nicht jeden Tag eine Profilergruppe auf.«
»Nein, bestimmt nicht«, erwiderte sie lächelnd und versuchte das Unbehagen auszublenden, das sie jedes Mal befiel, wenn sie sich beobachtet fühlte.
Als sie vollzählig waren, begaben sie sich mit ihren Taschen zum Eingang. Das Hotel war ebenerdig und hatte drei Flügel. Über dem Eingang hingen drei von der Sonne ausgeblichene Fahnen schnurgerade in der Kälte: die norwegische und die deutsche Flagge sowie die blau-weiß-grüne der Republik Jämtland.
Tim ging doppelt so schnell wie die anderen, und hinter ihm glitt die Tür direkt vor Marias Nase wieder zu. Von ihrer roten Fleecemütze behütet, die auf ihrem schwarzen Haar und ihrer bronzefarbenen Haut wie Feuer leuchtete, schüttelte sie nur den Kopf. Mit einem strahlend weißen Lächeln sagte sie etwas, das nur Angelica hörte, weil Granstam heftiger als sonst keuchte.
Im Flugzeug hatte Maria erzählt, dass sie noch nie so weit oben im Norden gewesen war, aber in schwarzer Skihose, dicker Daunenjacke und Skoter-Handschuhen war sie wie eine Polarforscherin ausgestattet und würde Minusgraden trotzen, obwohl sie kaum ein Gramm Fett an ihrem gut durchtrainierten Kampfsportkörper hatte.
An der Rezeption erwarteten sie Kommissarin Anna-Karin Tallander und der kürzlich pensionierte Dorfpolizist Gunnar Malm. Anna-Karin war groß, muskulös und fünfunddreißig Jahre alt, hatte einen festen Händedruck, trug ihr blondes Haar in einem Zopf, und sie hatte blaue Augen in einem kräftigen ovalen Gesicht, das dem eines Pferdes ähnelte. Gunnar war klein und vierkantig kompakt gebaut, trug kurz geschnittenes Haar und einen üppigen Bart, der ein wettergegerbtes Gesicht mit eisblauen Augen einrahmte. Wie ein fieser Weihnachtsmann, dachte Nathalie und erinnerte sich, wie sie als Kind Todesangst vorm Weihnachtsmann gehabt hatte, bis sie kapierte, dass sich ihr Vater hinter der Maske verbarg.
Sie begrüßten sich. Nathalie merkte, dass sich sowohl Anna-Karin als auch Gunnar freundlich, aber zurückhaltend verhielten. Ihr fielen Granstams Worte wieder ein, dass es für die Arbeit der beiden ein Armutszeugnis war, dass die Profilergruppe hinzugezogen wurde. Seit Ebbas Verschwinden waren elf Tage vergangen, fünf seit dem Mord an ihrem Lehrer.
»Das Hotel ist, wie Sie wissen, wegen des bevorstehenden Verkaufs zum Teil geschlossen«, erklärte Gunnar. »Aber das Eigentümer-Ehepaar ist so großzügig gewesen und hat sechs Zimmer geöffnet. Das Restaurant und die Bar haben noch zu bestimmten Zeiten Betrieb, und das Personal hat versprochen, Frühstückspakete bereitzustellen. Wenn was ist, dann können Sie die Eigentümer anrufen, die Nummer finden Sie in den Umschlägen. Wenn da niemand rangeht, können Sie mich anrufen. Ich wohne zweihundert Meter von hier, und mir wurde der Hauptschlüssel anvertraut.«
Gunnar Malm lächelte zum ersten Mal und kaum sichtbar unter seinem buschigen Bart. »Wenn Sie sich eingerichtet haben, gehen wir zusammen zur Dienststelle.«
»Wie weit ist es bis dahin?«, wollte Tim wissen.
»Zwei Minuten, wenn man schnell geht«, antwortete Anna-Karin.
»Wer weiß, dass wir hier sind?«, fragte Nathalie und berichtete von dem Mann im Auto.
Gunnar lächelte wieder und verschränkte die Arme über der Jacke, die eine mit Bärenfell gefütterte Kapuze hatte. »In diesem Dorf spricht sich alles innerhalb einer Stunde rum. Ich wohne hier schon mein ganzes Leben und weiß über viele das meiste. Leider hat uns das nicht geholfen, Ebba zu finden oder die Person, die Pierre Jonsson getötet hat.«
Tim saugte eine Dosis aus seinem Asthmainhalator tief ein und unterbrach das Gespräch: »Svartviken hat 1812 Einwohner, ist Schwedens zweihundertgrößte Kommune mit sechs Gemeinden und einer Fläche von 5 783,4 Quadratkilometern. Das Wappen der Kommune hat als Symbol einen Vielfraß, die Kirche wurde 1847 erbaut, und in den Sechzigern hat man in der Nähe archäologische Funde aus der Wikingerzeit entdeckt.«
Tim verstummte, doch als er die erstaunten Gesichter von Anna-Karin und Gunnar sah, fuhr er fort: »Die Kommune ist gegenüber der EU die kritischste im Land und eine der stärksten Hochburgen der Sozialdemokraten; bei der letzten Wahl bekamen sie 34,2 Prozent. 11,4 Prozent der Einwohner sind im Ausland geboren, und die Kommune hat im Land in den vergangenen fünf Jahren die zweitmeisten Flüchtlinge pro Kopf aufgenommen.«
Gunnar Malm hob die buschigen Augenbrauen, und Anna-Karin Tallander lächelte verblüfft.
»Sie scheinen über das Dorf mehr zu wissen als ich«, stellte Gunnar fest, »sind Sie so was wie ein Genie?«
Tim sah Nathalie zufrieden an: »Ich glaube nicht, dass Intelligenz in numerischen Zahlen gemessen werden kann.«
»Hä?«, sagte Gunnar.
»Okay«, setzte Tim von Neuem an, »ich habe einen IQ von 146, kann 23 000 Wörter in der Minute lesen und habe ein fotografisches Gedächtnis …« Er lächelte unsicher und kratzte sich im Nacken. »… ja, ich bin ein Genie.«
Aber der EQ ist nicht genauso hoch, dachte Nathalie und lächelte in sich hinein.
»Das reicht jetzt«, entschied Gunnar und griff sich einen Korb von der Rezeption. »Hier sind Ihre Schlüssel, wir treffen uns in zehn Minuten wieder hier. Vermute, Sie sind genauso interessiert daran loszulegen wie wir.«
Die Kälte durchdrang sofort die Kleidung. Die Haare auf der Haut stellten sich auf, sobald sie den Parkplatz betraten. Nathalie setzte die Kapuze ihrer Canada-Goose-Jacke auf und schaute Tim mitleidig an. Obwohl sie ihm Skiunterwäsche und Mütze geliehen hatte, schien er zu frieren.
Johan, der neben ihr ging, sah im Gegensatz dazu unberührt aus, obwohl er seine schwarzen Boots, Bluejeans und einen gefütterten Ledermantel trug. Sie hatten Zimmer nebeneinander bekommen und im Korridor einen Blick gewechselt, von dem sie nicht wusste, was sie davon halten sollte. Aber sie würden nicht miteinander schlafen, das hatte sie sich geschworen. Ihr Verhältnis war ohnehin schon anstrengend genug.
Als sie die Leihwagen hinter sich gelassen hatten, blieb Gunnar auf dem Parkplatz stehen und zeigte in die Ecke zwischen der Bundesstraße und der Polizeidienststelle. »Hier stand der unbekannte Mann, den wir den Fremden nennen, mit seinem silberfarbenen Volvo V70, also das gleiche Modell wie das Auto, von dem Ebba mitgenommen wurde. Er hat am Lucia-Morgen um sieben Uhr im Speisesaal gefrühstückt und sich kurz nach halb acht auf den Weg gemacht. Leider hat er bar bezahlt, und uns ist es nicht gelungen, ihn zu identifizieren. Ein paar Angestellte haben ausgesagt, dass er zwei Kameras dabeihatte, einen Pferdeschwanz trug und die Sonnenbrille auf die Stirn geschoben hatte. Er verhielt sich merkwürdig, vermied Blickkontakt und setzte sich an einen Tisch weit weg von allen anderen Gästen. Die Fahndung hat nichts ergeben, und in dieser Gegend waren keine bekannten Sexualverbrecher. Wir haben auch überprüft, ob Fotografen hier auf der Durchreise waren, aber ohne Ergebnis.«
»Ebba wurde gegen zwanzig vor acht von jemandem im Auto mitgenommen, die Zeit kommt also hin«, sagte Anna-Karin.
»Gibt es im Dorf Überwachungskameras?«, fragte Johan.
»Nur an der Tankstelle und in der Bank«, antwortete Gunnar. »Aber da haben wir nichts Interessantes gefunden.«
»Könnte Ebba zu jemandem eingestiegen sein, den sie nicht kannte?«, erkundigte sich Nathalie.
Gunnar zuckte die Schultern, starrte auf die Straße, als läge dort eine Antwort. »Sie konnte sich ein bisschen verrückt und ausgelassen benehmen, darum ist es also nicht auszuschließen.«
»Wollen wir los?«, fragte Granstam und watschelte weiter, ohne eine Antwort abzuwarten.
Die Polizeidienststelle war in einem gelben Backsteingebäude an der Bundesstraße in Sichtweite des Hotels untergebracht. An der Wand neben der Eingangstür hatte jemand in Großbuchstaben »Scheißverräter« gesprayt.
»Das ist in der Nacht, nachdem wir die Suche eingestellt haben, aufgetaucht«, seufzte Gunnar. »Wohl von irgendwelchen Leuten aus Ebbas Freundeskreis, die deshalb stinksauer waren, und ich kann sie verstehen.«
»Die Entscheidung kam von oben aus Östersund«, erklärte Anna-Karin. »Nach einer Woche ergebnisloser Suche wurde der Einsatz als nicht mehr sinnvoll eingestuft. Es herrschten in der ganzen Zeit von Lucia bis zum Zwanzigsten zwischen dreißig und zweiundzwanzig Grad unter null.«
»Worte ohne Taten«, murmelte Gunnar und zog die Tür auf. »Für morgen haben sie versprochen, das Geschmier zu beseitigen. Die Kommune hat es nicht so eilig, wenn es um die Wartung von Einrichtungen hier im Dorf geht.«
Resigniert bedeutete er ihnen, einzutreten.
»Nach Einschätzung der Rettungsleiterin war sie entweder tot oder wurde außerhalb des Suchgebiets versteckt«, meldete sich Anna-Karin wieder, als sie den Raum betraten, der einmal die besetzte Anmeldung gewesen war. »Weil sie dann praktisch überall, sogar im Ausland, sein kann, hatte es keinen Sinn mehr, aufs Geratewohl weiterzusuchen.«
Gunnar führte sie in ein Zimmer, das mit dem ovalen Holztisch, der weißen Tafel und dem Projektor an den Besprechungsraum in Stockholm erinnerte. Der Blick aus den hohen Fenstern fiel auf ein braunes Holzgebäude, in dem sich die Tagesklinik befand. Sie legten ihre Mäntel und Jacken auf eine Bank neben der Tür und setzten sich.
»Hier haben wir also nach dem Verschwinden von Ebba Lindgren unsere Einsatzzentrale eingerichtet«, erklärte Gunnar, als er zwei Thermoskannen, Tunnbröd-Rollen mit Rentierfleisch und Becher mit der Aufschrift Svartvikens Hockeyklub hereintrug. »Die Dienststelle ist vor einem Jahr geschlossen worden, und ich durfte in den vorzeitigen Ruhestand gehen. Aber jetzt hat man für mich und diese Räumlichkeiten offensichtlich wieder Verwendung. Der Kaffee ist übrigens so gut wie frisch, ich habe ihn, kurz bevor Sie gekommen sind, aufgebrüht.«
»Gibt es Sojamilch?«, fragte Maria.
Gunnar schaute sie fragend an.
»Ich bin Veganerin und trinke keine Kuhmilch.«
»Leider nicht«, antwortete Anna-Karin, »können Sie ihn schwarz trinken?«
Maria nickte enttäuscht. »Wenn ich muss.«
Sie bedienten sich, packten ihre Rechner und iPads aus, um die Ordner aufzurufen, die Granstam ihnen geschickt hatte. Nathalie zog sich die Lammfellstiefel aus, schob ihre Füße in die hochhackigen Schuhe, die sie fürs Haus eingepackt hatte, und wechselte einen Blick mit Johan. Er mochte es, wenn sie hohe Absätze trug, das hatte er ihr in der Nacht in Östersund gesagt, als sie sich näher denn je gekommen waren. Dann schämte sie sich für ihre Eitelkeit und loggte sich auf dem Rechner ein.
»Wir fangen mit dem Verschwinden an«, begann Anna-Karin und schaltete das Kontrollpanel ein. Gunnar nahm an der Schmalseite des Raumes Platz, wo ein großes Foto von Ebba auf die weiße Leinwand projiziert wurde. Es war dasselbe Porträt, das für die Wahl der Lucia verwendet worden war. Die Nahaufnahme war in alle Medienkanäle des Landes gepumpt worden und zum regelrechten Sinnbild des Falles geworden.
Ebba Lindgren war auffallend schön. Goldblonde Mähne, hohe Wangenknochen und braune Augen, die den Betrachter mit einer Präsenz ansahen, als stünde man ihr direkt gegenüber. Ihre verführerisch weichen Gesichtszüge, die Pfirsichhaut und zwei kleine Grübchen rundeten den Eindruck eines niedlichen Mädchens perfekt ab. Sie war derart attraktiv, dass sie nicht zu übersehen war, weder in Svartviken noch sonst wo auf der Welt. Ihre Schönheit war umwerfend. Sie fiel allen sofort auf, unabhängig von Kultur und Geschmack, und brannte sich in die Netzhaut ein, ohne dass man sich dagegen wehren konnte.
Nathalie wusste von den Models unter ihren Patientinnen, dass eine solche Schönheit andere abschrecken und für Distanz sorgen konnte. Im Film mag sie anziehend wirken, in Wirklichkeit ist sie oft ein Hindernis: Menschen schreckt sie ganz einfach ab. Ein Fluch der Schönheit, der Neid weckt und manchmal Besessenheit verursacht. Eine Besessenheit, die bei einigen wenigen zu Übergriffen und dem Willen führen kann, das zu zerstören, womit sie nicht umgehen können.
»Ebba Lindgren war also am Morgen des 13. Dezember zu Fuß auf dem Weg zur Kirche«, begann Gunnar, den Blick auf das Foto gerichtet. »Sie hatte auf dem Weihnachtsmarkt im Dorf die Wahl zur Lucia gewonnen und sollte um acht Uhr gekrönt werden. Dann sollte der Lucia-Umzug nach draußen gehen, um an Arbeitsplätzen, in Altersheimen und in Schulen die Winterdunkelheit zu vertreiben. Aber sie ist, wie Sie wissen, nie in der Kirche angekommen.«
Gunnar strich sich über den Bart und betrachtete eine Weile schweigend Ebba, bevor er sich wieder an die Gruppe wandte: »Sie ist das einzige Kind von Jack und Jenny Lindgren. Die Eltern sind seit letztem Sommer geschieden, und Ebba hat abwechselnd jeweils eine Woche bei einem der beiden gewohnt. Am Lucia-Tag war sie bei ihrem Vater.«
Gunnar trat an eine Karte vom Dorf und zeigte auf ein Einfamilienhaus, das hundert Meter entfernt von der Bundesstraße am anderen Ende des Dorfes stand. »Die Mutter wohnt hier im Wohngebiet Mården«, erklärte er weiter und deutete auf ein paar braune Würfel einen Katzensprung vom Dorfkern entfernt. »Ebba sollte von ihrem Vater im Auto hingefahren werden. Sie hatte das Lucia-Kleid an und sich hübsch gemacht. Dann haben sie sich wegen des Klassenfestes, das an dem Abend stattfinden sollte, gestritten. Jack wollte nicht, dass sie hinging. Sie wurde sauer und machte sich allein zu Fuß auf den Weg zur Kirche.«
»Obwohl es fünfzehn Grad unter null war?«, wunderte sich Nathalie.
»Das Mädchen hat ihr aufbrausendes Temperament von ihrem Vater geerbt«, erklärte Gunnar.
Anna-Karin Tallander lehnte sich zurück und sagte: »Wie Sie merken, ist der Vater sicher, dass Ebba kurz nach halb acht losgegangen ist. Das stimmt mit der Zeit überein, zu der er vom Küchenfenster aus gesehen hat, dass sie einen Anruf bekommen hat, als sie vom Grundstück Richtung Bundesstraße abgebogen ist.«
»Das Gespräch wurde um 19.34 registriert«, sagte Tim und schrieb gleichzeitig auf einem seiner Laptops.
»Sie ist zur Bundesstraße hinunter, nach rechts zur Kirche abgebogen, also zum Dorfkern und der Stelle, wo wir uns jetzt befinden«, führte Gunnar weiter aus und zeigte den Weg auf der Karte. »Und das ist also hier, dreihundert Meter von der Klinik entfernt und zweihundert Meter vor der einzigen Tankstelle im Dorf, von wo der Pfarrer im Vorbeifahren gesehen hat, dass Ebba in einen silberfarbenen Volvo V70 eingestiegen ist.«
Anna-Karin schluckte ein Stück Rentierfleisch hinunter und ergänzte: »Der Pfarrer heißt Hans-Olov Bergman und wohnt seit dreißig Jahren im Dorf. Er ist sich sicher, dass er Ebba gesehen hat. Sie war voriges Jahr bei ihm im Konfirmandenunterricht, und er kennt sie gut. Sie trug keine Mütze, er hat ihr weißes Lucia-Kleid und ein Stück von dem roten Band gesehen. Er war auch auf dem Weg in die Kirche und dachte im Vorbeifahren, dass sie jemand im Auto mitnimmt.«
»Um die Uhrzeit war es doch dunkel«, gab Granstam zu bedenken, »hat er sie trotzdem eindeutig erkannt?«
»Ja, sie stand unter einer Straßenlaterne, und er ist mit fünfzig Kilometern in der Stunde gefahren. Aber vom Fahrer oder dem Autokennzeichen hat er nichts erkannt.«
»Und danach hat sie also niemand mehr gesehen«, sagte Johan.
»Genau«, bestätigte Gunnar. »Ihr Handy wurde, zehn Minuten nachdem sie mitgenommen worden war, ausgeschaltet; sie hat ihre Kreditkarte nicht benutzt und war auch in den sozialen Medien nicht aktiv. Aber es gibt eine letzte Spur …«
Anna-Karin Tallander klickte auf dem Rechner, und ein neues Foto wurde eingeblendet. Drei junge Mädchen in weißen Kleidern und mit Flitter im Haar lächelten steif in die Kamera. Im Hintergrund war schemenhaft das rote Gemeindehaus zu erkennen. Links vor dem Trio war auf der Straße ein silberfarbener Volvo zu sehen.
»Das sind drei von Ebbas Mitschülerinnen, die in dem Umzug zu den Jungfern der Lucia gehörten«, erklärte Gunnar. »Das Foto wurde um 19.40 vom Vater von einem der Mädchen gemacht. Mit dem Auto dauert es von der Stelle, an der Ebba mitgenommen wurde, drei Minuten bis zur Kirche. Und weil sich niemand gemeldet und gesagt hat, sie wären zu dem Zeitpunkt an der Kirche vorbeigefahren, kann es sich um ein und denselben Volvo handeln. Aber weil wir das Kennzeichen nicht sehen, können wir nicht mit Sicherheit davon ausgehen.«
»Konnten die Techniker das Foto so weiterbearbeiten, dass man erkennt, wer drinnen sitzt?«, fragte Johan.
Es entstand eine Pause, als alle auf die Scheiben des Autos schauten. Sie glänzten schwarz in dem fernen Lichtschein von der Kirche und den Straßenlaternen.
»Ja, weiterbearbeitet haben sie es, aber leider konnte man es nicht entpixeln«, antwortete Anna-Karin. »Und das Auto wurde nicht identifiziert, obwohl wir alle dreizehn Personen im Dorf befragt haben, die einen silberfarbenen Volvo V70 besitzen. Von denen haben Sie eine Liste im Ordner.«
»Pech, dass der Täter ausgerechnet eins der gebräuchlichsten Autos im Land fährt«, kommentierte Tim.
»Die Richtung, in die er fährt, ist auch nicht aussagekräftig, weil die Straße zum einzigen Kreisverkehr im Dorf führt, und der liegt an der Bundesstraße«, meldete sich Gunnar wieder und zeigte es auf der Karte.
»Also kann er in alle Richtungen gefahren sein«, sagte Granstam und schenkte sich Kaffee nach.
»Fragt sich nur, ob die Person sie angerufen hat, von der sie dann mitgenommen wurde«, überlegte Nathalie laut.
»Leider kam die Nummer von einem unregistrierten Handy, das wir nicht ermitteln konnten«, erklärte Gunnar. »Wir wissen, dass sich der Anrufer ungefähr hier aufgehalten hat.« Er zeigte auf den Marktplatz des Dorfes, der vom Dorfgemeinschaftshaus, zwei Supermärkten und einem staatlichen Alkoholgeschäft gesäumt wurde.
»… und dass das Gespräch eine Minute und vierunddreißig Sekunden gedauert hat«, fügte Tim hinzu.
Angelica Hübinette verflocht ihre mageren Finger auf dem Tisch und streckte den Nacken, sodass die Halswirbel knackten. Wie üblich trug sie Schwarz, und der Blazer hing an ihren knochigen Schultern wie auf einem Bügel. Mit ihrem typisch deutschen Akzent fragte sie: »Und der Volvo, der im Motorsportklub gestohlen wurde, ist natürlich nicht gefunden worden?«
Gunnar Malm schüttelte den Kopf. »Was, wie Sie verstehen werden, die Arbeit erheblich erschwert hat.«