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Eine Mordserie hält ganz Schweden in Atem: Der vierte Fall für Nathalie Svensson In Ystad wird der Fußballstar Hendrik Borg tot in seinem Sommerhaus gefunden – auf seiner Brust liegt eine blaue Rose. Es scheint fast, als wäre er friedlich eingeschlafen. Doch ein natürlicher Tod kann schnell ausgeschlossen werden. Innerhalb von einer Woche kommt es zu weiteren Todesfällen. Der Täter hat alle Opfer mit einer blauen Rose versehen. Psychiaterin Nathalie Svensson soll mit ihren Kollegen von der Spezialeinheit die Jagd nach dem unkalkulierbaren Serienmörder aufnehmen. Was hat die Toten zu Lebzeiten miteinander verbunden? Warum mussten sie sterben? Und vor allem: Wo wird der Killer als nächstes zuschlagen?
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Eisige Dornen
Jonas Moström wurde 1973 geboren. Er begann während seiner Elternzeit mit der Arbeit an seinem ersten Roman, der 2004 erschien. Er lebt und arbeitet als Arzt in Stockholm. »Eisige Dornen« ist der vierte Teil der erfolgreichen Krimiserie aus Schweden um Psychiaterin Nathalie Svensson.Von Jonas Moström sind in der Nathalie-Svensson-Reihe in unserem Hause bereits erschienen: So tödlich nah · Dominotod · Mitternachtsmädchen
Psychiaterin Nathalie Svensson gewöhnt sich nach der Trennung von ihrem Ex-Mann gerade an ihr neues Leben, das ihr einiges abverlangt. Da erreicht sie ein Anruf der Polizei: Die Spezialeinheit für besonders schwere Fälle wird einberufen, ihre Expertise ist gefragt. Gemeinsam mit ihrem Team soll die Psychiaterin ein Persönlichkeitsprofil eines mysteriösen Täters erstellen. Drei Menschen wurden ermordet aufgefunden. Nichts scheint sie zu verbinden. Der Täter hat jedoch jedes seiner Opfer mit einer blau gefärbten Rose auf der Brust hinterlassen, es gibt keine Anzeichen von Gewaltanwendung. Gemeinsam mit Kriminalhauptkommissar Johan Axberg beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Können sie den Rosenmörder fassen, bevor er ein weiteres Mal zuschlägt?
Jonas Moström
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Dagmar Mißfeldt
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 2020© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020© Jonas Moström, 2017Titel der schwedischen Originalausgabe: Trogen intill döden(First published by Lind & Co, Stockholm, Sweden)Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: Getty Images / © Johner Images (Landschaft mit Haus), © FinePic®, München (Ast)E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-2142-4
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Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
PERSONEN
Personen aus der Sundsvall-Serie
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Cover
Titelseite
Inhalt
PERSONEN
Nathalie Svensson, fünfundvierzig Jahre. Psychiatrische Oberärztin an der Uniklinik Uppsala, in den nordischen Ländern führende Expertin für Psychopathen und Mitglied der Einheit für operative Fallanalyse (OFA) am schwedischen Zentralkriminalamt. Nathalie hat sich kürzlich vom Anwalt Håkan Svensson scheiden lassen, mit dem sie zwei Kinder hat: Gabriel, neun Jahre, und Tea, sieben Jahre. Håkan hat eine Beziehung mit seiner Personal Trainerin Tilde Corazon, siebenundzwanzig Jahre.
Sonja Nilson, siebenundsechzig Jahre. Nathalies Mutter, trockene Alkoholikerin, beschäftigt sich mit Fotografie und ist mit ihren Freundinnen vom Lions Club in verschiedenen Wohltätigkeitsprojekten aktiv.
Estelle Ekman, dreiundvierzig Jahre. Nathalies jüngere Schwester, Chirurgie-Krankenschwester, ist mit dem Arzt Erik Jensen zusammen.
Louise af Croneborg. Nathalies beste Freundin betreibt eine Praxis für plastische Chirurgie im noblen Stockholmer Strandvägen. War verheiratet mit dem Kriminalhauptkommissar Frank Hammar.
Ingemar Granstam, dreiundsechzig Jahre. Ein behäbiger Nordschwede, der die OFA-Einheit leitet und wegen seiner Körperfülle, seines beeindruckenden Schnäuzers und seines unerschütterlichen Sinns für Gerechtigkeit den Spitznamen »Walross« trägt.
Tim Walter, zweiundzwanzig Jahre. Kriminaltechniker und jüngstes Mitglied der OFA-Einheit, dem Tabellen und Verhörprotokolle weitaus weniger zu schaffen machen als der Umgang mit Menschen.
Angelica Hübinette, fünfundfünfzig Jahre. Die förmliche und kompetente Gerichtsmedizinerin der Einheit, immer schwarz gekleidet. Kostümfilme berühren sie mehr als Obduktionen.
Maria Sanchez, vierunddreißig Jahre, aus Peru adoptiert. Knallharte Polizistin und Feministin. Neu in der Einheit. Ist seit neunundzwanzig Jahren in Schweden, hat die Polizei-Hochschule und das Jura-Grundstudium absolviert und bei den schwedischen Landesmeisterschaften zweimal Silber in Taekwondo geholt.
Kriminalhauptkommissar Johan Axberg, vierzig Jahre. Leiter bei verdeckten Ermittlungen und inzwischen auch Mitglied der OFA. Freund der Fernsehreporterin Carolina Lind, achtunddreißig Jahre. Die beiden haben den zwanzig Monate alten Sohn Alfred.
Oberarzt Erik Jensen, vierzig Jahre. Johans einziger enger Freund, geschieden von Sara. Die ehemalige Hausfrau ist mittlerweile zur Bestsellerautorin avanciert. Erik und Sara haben zwei Töchter: Erika und Sanna, elf und neun Jahre alt.
Rosine Axberg, achtundachtzig Jahre. Johans Großmutter, die auf der Insel Frösön lebt und bei der er ab dem zwölften Lebensjahr aufwuchs, nachdem seine Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren.
Früher
Die Fahrt, die eben erst begonnen hat, findet ein jähes Ende.
»Ich bin dir dankbar, dass du das hier für mich tust«, sagt sie und streichelt seine Schulter. »Egal, was passiert, wir beide halten immer zusammen.«
Die Hände halten das Steuer fest umklammert, er schaut rasch zu ihr hinüber. Die Augustsonne scheint auf ihr blondes Haar, und ihre Augen funkeln so hell wie der wolkenlose Himmel. Sie ist immer noch das Schönste, was er je gesehen hat.
»Für dich tu ich alles, das weißt du doch«, antwortet er und ist sich bewusst, dass er es so meint, wie er es sagt.
Jetzt sind sie bald da. Trotzdem fährt er schneller als sonst, gespannt, was für ein Gesicht sie machen wird, wenn sie ankommen.
»Um drei Uhr muss ich zu Hause sein«, sagt sie. »Anders hat seine Eltern und seine Schwester zum Kaffee eingeladen.«
»Schönes Geschenk. Hat er dir auch eine Torte gebacken? Mit achtunddreißig Kerzen?«
»Immerhin gibt er sich Mühe«, seufzt sie. »Er hat sogar einen Blumenstrauß gekauft.«
»Wie einfallsreich! Vor allem Blumen fehlen dir wirklich noch ganz dringend in deinem Leben.«
Den ironischen Unterton überhört sie.
»Leider erinnern mich meine Geburtstage auch immer daran, dass wir keine Kinder haben. Du weißt ja, dass wieder ein Jahr vorübergegangen ist, in dem ich nicht schwanger geworden bin. Und dann noch meine Schwiegermutter, die ständig fragt, ob sich bei uns was tut.«
»Verstehe«, nickt er und umfasst das Steuer fester. »Aber daran darfst du jetzt nicht mehr denken. Jetzt gibt es nur uns beide.«
Sie lächelt wieder, fährt sich mit den Händen durchs Haar und lässt es auf die Schultern fallen. Er nimmt den Duft ihres Shampoos, Sonne und dieses Einzigartige wahr, das er nicht in Worte fassen kann.
»Am liebsten wäre ich nur mit dir zusammen«, sagt sie, »und würde Tag und Nacht durchfahren und nie wieder nach Hause zurückkommen.«
»Können wir machen, wenn wir wollen.«
»Nein«, lacht sie. »Mir reicht die Lüge, dass ich ein paar Stunden arbeiten muss. Ich habe das Gefühl, dass Anders mich durchschaut hat. Und ich weiß doch, dass er auf dich eifersüchtig ist, obwohl er das nie zugeben würde.«
»Hat er was gesagt?«
»Nein, aber ich habe es seinen Augen angesehen.«
»Das bildest du dir ein. Ich finde es lustig, dass wir uns ein und dieselbe Lüge ausgedacht haben. Das sagt einiges darüber, wie ähnlich wir uns sind.«
»Wohl eher keine positive Eigenschaft in diesem Fall«, stellt sie mit einer Nachdenklichkeit fest, die ihn seine Äußerung bereuen lässt.
»Bald sind wir da«, sagt er und überholt einen Holztransporter.
»Ich bin dir wirklich dankbar«, wiederholt sie mit dem Blick auf die undurchdringlich grünen Laubbäume. »Mit dir ist alles so einfach. Wir ergänzen einander perfekt.«
»Yin und Yang«, lacht er. Ihre Ausdrücke und Redewendungen hat er übernommen. Oft weiß er nicht mehr, wem zuerst bestimmte Formulierungen, Gesten und Scherze eingefallen sind. Aber das Gleichnis Yin und Yang stammt von ihr, und er liebt es.
Eine Pause kommt auf. Sogar das Schweigen ist angenehm und erfüllt von Gleichklang. Ihre Worte hallen in seinen Ohren wider: Egal, was passiert, wir beide halten immer zusammen.
Auf pünktliches Ankommen bedacht, fährt er etwas schneller, überschreitet aber nicht die Geschwindigkeitsbegrenzung von hundertzehn Stundenkilometern. Er ist zwar ein routinierter Fahrer, aber sie ist das Wertvollste, was er hat, und sie kann es nicht ausstehen, wenn er zu schnell fährt.
»So gut dürfte es uns eigentlich gar nicht gehen«, meint sie, und in ihrer Stimme schwingt eine Angst mit, die er nur allzu gut kennt. Darum überraschen ihn auch ihre folgenden Worte nicht: »Hast du nicht auch das Gefühl, dass wir fliehen und irgendwann dafür bestraft werden?«
Wieder ihre Gedanken über das Schicksal. Jedes Mal eine Herausforderung, sie ihr auszureden.
»Liebes, so eine Art von Gerechtigkeit gibt es auf der Welt nicht. Das Schicksal verantwortlich zu machen, ist für Menschen nur ein Weg, die Verantwortung für das eigene Leben abzulehnen. Wir entscheiden selbst, was passiert.«
Er hört den Zweifel in ihren Atemzügen. Spürt ihn in ihren angespannten Schultern und ihren Fingern, die den Rock über die Knie ziehen.
»Außerdem tun wir nichts Falsches«, spricht er weiter. »Wir folgen unseren Herzen.«
»Und lügen, um nicht zu verletzen.«
»Genau!«
Er lächelt ihr zu und gestattet sich, das Tempo zu steigern. Drei Kilometer noch. Sie wird staunen.
Als er hochguckt, löst sich ein Schatten aus dem Grünen. Ein Körper und vier schlaksige Beine fliegen aus dem Graben.
Er tritt die Bremse voll durch und hört sie schreien. Dann ein Krachen von demoliertem Blech und splitterndem Glas.
Ein Schmerz, intensiver als alles, was er zuvor kannte, durchschneidet seinen Körper.
Dann wird alles still.
Ystad, Samstag, 2. August
Henrik Borg war tot. Diese Erkenntnis hämmerte sich im Rhythmus seines Pulsschlages in den Schläfen weiter in sein Bewusstsein. Was verdammt noch mal sollte er jetzt machen?
Vorsichtig berührte er Henriks Stirn. Sie war kalt wie Porzellan. Er zog die Hand zurück, merkte, dass er zitterte.
Der Tod. Jetzt begegnete er ihm zum ersten Mal in der Realität. Er war unwirklich friedvoll. Da Henrik mit geschlossenen Augen im Bett lag, machte es den Eindruck, als hätte er seinen letzten Atemzug mitten in einem friedlichen Traum ausgehaucht. Das schöne Gesicht war weiß wie Schnee, die Hände lagen um die große Rose gefaltet auf der Brust. Dunkelblaue Linien durchzogen die Unterseite der cremefarbenen Blütenblätter. Ganz am Rand verlief die Farbe in Adern, die an feine Blutgefäße erinnerten.
Ihm fiel das Abzeichen des MC-Klubs ein. Aber dessen Rose war rot und tropfte vor Blut. Würde die Polizei den Zusammenhang herstellen? Natürlich würden sie das.
Als hätte ihn der erste logische Gedanke, den er fassen konnte, wachgerüttelt, trat er einen Schritt vom Bett zurück. Der Anblick wurde dadurch zwar nicht wirklicher, aber der Verstand vertrieb die Gefühle.
Henrik Borg war tot. Das würde Konsequenzen haben, die niemand – nicht einmal er, dessen Aufgabe es war, die Zukunft vorherzusagen und in Bahnen zu lenken – überblicken konnte.
Was sollte er jetzt machen?
Damage control. Als Agent von einem Dutzend der größten Sportlerstars des Landes wusste er, dass Schadensbegrenzung genauso wichtig war wie die Fähigkeit, das Boot mit dem Wind zu segeln. Oft war es genau das, was Profis von Amateuren unterschied. Die meisten kamen mit Erfolg zurecht, einige verkrafteten Niederlagen, nur äußerst wenige konnten mit beidem umgehen.
Aber er konnte das. Genau diese Flexibilität machte aus ihm den, der er war.
Er schaute sich im Zimmer um, tippte an seinen Ohrstecker wie immer, wenn er sich konzentrieren musste. Alles sah aus wie üblich, abgesehen von der halb leeren Whiskyflasche auf dem Nachttisch und dem Kissen auf dem Boden. Im Regal neben dem Bett bewahrte Henrik die Stücke seiner Sammlung von Auszeichnungen auf, die er unbedingt im Ferienhaus haben wollte. Die Silbermedaille von der EM funkelte im Schein der Gartenlaternen. An der Wand hing das Trikot, auf dem sich alle Vizeweltmeister mit ihren Autogrammen über der Zehn verewigt hatten.
Heute vor einem Jahr und einem Monat schoss Henrik den Elfmeter, der Schweden ins EM-Finale führte. Den Siegesjubel hatte er noch deutlich im Ohr. Immer wenn er sich den Moment ins Gedächtnis rief, bekam er Gänsehaut. Eine halbe Stunde nach dem Spiel hatte das Telefon nicht mehr aufgehört zu klingeln. Die Klubs standen Schlange bei dem unbekannten Schweden, und es hagelte Angebote.
Bayern München bekam den Zuschlag. Die Erfolgsserie riss nicht ab, und voriges Frühjahr hatte er als geschäftstüchtiger Agent einen Vertrag mit Milan ausgehandelt. Doch Henrik hatte seine Unterschrift verweigert und das mit Verletzungen, verminderter Motivation, dem Teufel und seiner Großmutter begründet. Störrisch wie ein Esel hatte er den lukrativsten Vertrag in ihrer beider Karriere verschleppt. Allerdings hatte sich Henrik tatsächlich mehr Verletzungen als sonst zugezogen, aber davon ließen sich weder der MC Mailand noch sonst jemand abschrecken, sondern nur er. Obendrein blockierte er die Position, auf der auch Jorma in der Nationalmannschaft hätte spielen und bei Bayern unterschreiben können. Noch ein geplatzter Profivertrag, weil Henrik sich verhielt wie ein Esel. Als er dann auch noch Johnny die Freundin ausspannte, brachte er seinen Agenten in eine äußerst schwierige Lage. Was Henrik auf dem Platz leistete, konnte ihm keiner streitig machen, aber sich die Freundin des MC-Präsidenten anzulachen, glich russischem Roulette. Als wäre es nicht genug, dass Johnny vor Wut kochte, weil Henrik Jormas Karriere sabotierte.
Johnny und Jorma Lappanainen. Die Brüder, die sich immer nahmen, was sie wollten. Und Henrik hatte vergangenes Frühjahr miterlebt, wie Johnny in Göteborg diesen Piloten bedroht hatte. Es hätte ihm eine Warnung sein sollen.
Jetzt war das alles Schnee von gestern. Sein Tod brachte Plus und Minus, und es war nun seine Aufgabe, das Gleichgewicht herzustellen. Auch nur annähernd eine Summe wie die für den Profivertrag mit Milan würde er wahrscheinlich nie wieder erzielen, aber andererseits war er jetzt Johnnys Forderung los, Henrik zurückzupfeifen. Natürlich würde er darauf bestehen, dass Johnny die Filme löschte. Wenn Johnny mit seiner Drohung, sie ins Netz zu stellen, Ernst machte, wäre seine Karriere zu Ende. Bis in alle Ewigkeit.
Aber das Problem konnte warten. Jetzt war schnelles Handeln gefragt. Die Polizei würde die Zusammenhänge erkennen und Fragen stellen. Seine Aufgabe war es nun, die Beweise verschwinden zu lassen.
Mit dem Handrücken wischte er sich über die Stirn und trat ans Fenster. Der Kiesweg hinter dem beleuchteten Garten war menschenleer. Der dunkle Wald stand noch genauso stumm und schwarz da wie zu dem Zeitpunkt, als er seinen neuen Dienst-Jeep in der Garagenauffahrt abgestellt hatte. Mitten in der Nacht, mitten in der Wildnis, und keine Menschenseele, so weit das Auge reichte. Er hatte nie begriffen, warum Henrik hier wohnen wollte.
Er zog die Handschuhe an und ließ das Rollo hinunter. Je länger es dauerte, bis man Henrik fand, umso besser. Er drehte sich zur Mitte des Raums um und betrachtete die Leiche. Erinnerte sich, wie er ihm die Hand auf die Stirn gelegt hatte. Das war ein Versehen gewesen, ein Impuls.
Im Badezimmer feuchtete er ein Handtuch an und wusch die blasse Stirn ab. Steckte das Handtuch in die Innentasche seines Sakkos und beschloss, es im Kachelofen zu verbrennen, sobald er nach Hause kam.
Systematisch begann er das Ferienhaus zu durchsuchen. Das Kissen auf dem Boden neben dem Bett rührte er nicht an, auch nicht die Rose, obwohl sie aller Wahrscheinlichkeit nach den Verdacht auf Johnny und den Klub lenken würde. Als er den Whisky ins Spülbecken goss, entdeckte er das Päckchen John Silver auf der Dunstabzugshaube. Das musste Johnny vergessen haben, schlussfolgerte er und verstaute es in der Jackentasche. Wie konnte man nur so blöd sein?
Nach zehn Minuten war er fertig. Aus dem Jeep holte er eine Tasche und packte die Sachen hinein. Die meisten von Emmas Hinterlassenschaften rührte er nicht an. Die Polizei wusste bestimmt schon, dass sie mit Henrik zusammen gewesen war.
Wieder zurück am Fußende des Bettes fragte er sich, was er jetzt machen sollte. Henrik lag stocksteif wie eine Schaufensterpuppe da und schien mit jeder Sekunde blasser zu werden. Die Fingerkuppen nahmen langsam die gleiche bläuliche Färbung an wie die Rose.
Die Stille dröhnte in seinen Ohren. Er roch seinen eigenen Schweiß, spürte den Drang, eine Line reinzuziehen. Erinnerte sich, wie er in der Bar vom Hotel Savoy mit Henrik gestritten hatte. Ein weiterer Patzer, weil die Gefühle das Kommando über die Vernunft übernommen hatten. Damals konnte er es zumindest darauf schieben, dass er unter Drogen gestanden hatte.
Er fischte das Handy heraus: 01.23.
Natürlich würde er die Polizei verständigen, doch zuerst musste er einen anderen Anruf erledigen. Und zuallererst das Zeug loswerden, das er auf seinem Kontrollrundgang eingesammelt hatte.
Ohne die Beleuchtung am Haus einzuschalten, begab er sich mit dem Mobiltelefon am Ohr zur Rückseite des Ferienhauses. In der warmen Dunkelheit ging er hinunter zum Waldteich, in dem er und Henrik vorige Woche noch gebadet hatten. Er würde das hier schon regeln. Genauso reibungslos wie er in seinem Leben schon so manch andere Schlachten geschlagen hatte. Wo andere Katastrophen sahen, fand er Möglichkeiten. Die Filme wären bald gelöscht. Dann wäre er endlich frei.
Klingelzeichen auf Klingelzeichen vibrierte an seinem Trommelfell.
Als er den Bootssteg erreichte, wurde das Gespräch angenommen.
Uppsala, Freitag, 8. August
Jetzt könnte er aber verflucht noch mal kommen! Nathalie Svensson warf die Rosenzweige weg, die sie vom Strauch auf der Terrasse abgeschnitten hatte, und schaute zum tausendsten Mal an diesem Morgen zur Straße, die vor ihrem Haus in Kungshamn in einen Wendehammer mündete. Noch immer kein Håkan in Sicht. In der Ferne kein Motorgeräusch von dem BMW, in dem er Tilde immer durch die Gegend kutschierte, wenn er sich von der Rechtsanwaltsfirma in einem Ausmaß freinahm, wie er es während ihrer gemeinsamen Ehe nie getan hatte.
Nathalie sah, dass nur zwei Segelboote ausgelaufen waren und vom Anleger bei Skarholmen über das leuchtend blaue Wasser des Mälarens dahinglitten. Das Vereinshaus des Segelklubs funkelte im Sonnenschein wie ein Diamant, und die hohen Masten auf den Millionärsbooten schaukelten im Wind. Es versprach ein schöner Tag zu werden, doch im Moment interessierte sie das herzlich wenig.
Mit Wut im Bauch steuerte sie auf die Waschküche zu. In fünfundvierzig Minuten begannen die beiden Sportlager ihrer Kinder. Konnte Håkan nicht wenigstens jetzt einmal pünktlich kommen, nachdem sie den Mädelsabend abgesagt hatte, damit er auf die spontane Feier zum fünfundzwanzigsten Geburtstag von Tildes Schwester in Malmö mitgehen konnte? Ein Zugeständnis, zu dem sie bereit war, obwohl sie sich auf das Abendessen mit den Freundinnen gefreut und das Wochenende für den Hausputz und die Vorbereitungen zur Betreuung der Studierenden im Wintersemester eingeplant hatte. Sie konnte Håkans neue laxe Art, die er sich zugelegt hatte, nicht ausstehen. Er wusste genauso gut wie sie, dass Gabriel stressige Situationen nicht gut aushielt.
Jetzt gedachte Håkan offenbar, ihr das Problem aufzuhalsen. Und warum antwortete er nicht auf ihre SMS?
Nach dem Sorgerechtsstreit beschränkte sich ihre Kommunikation auf diese wortkargen Textnachrichten, obwohl sie versuchte, Håkan zu vermitteln, dass es besser wäre, wenn sie zusammenarbeiteten. Jedes Mal, wenn sie das Thema anschnitt, hatte er seine anwaltlichen Ohren auf Durchzug geschaltet und sich so stur und rigide verhalten, wie er es tief in seinem Innersten immer schon gewesen war.
In der Waschküche zog sie die Gartenhandschuhe aus, wusch ihre Hände und betrachtete sich im Spiegel. Ordnete das Haar, legte Lippenstift auf. Weder Tilde noch Håkan wollte sie einen Grund liefern, an ihrem Aussehen etwas aussetzen zu können. Es war schon mehr als genug, dass Tilde achtzehn Jahre jünger war, aussah wie Shakira und Zellulite vermutlich nur vom Hörensagen kannte.
Als sie Håkan gerade eine weitere SMS schreiben wollte, meldete sich ihr Handy.
Entschuldige, dass wir später dran sind. G und T traurig und wollten nicht losfahren. Kommen in 10 Min. / H
Seit Tilde bei Håkan eingezogen war, hatte sich immer deutlicher herausgestellt, dass sich Tea und Gabriel lieber dort aufhielten als bei Nathalie. Schon zwei Tage vor dem Wochenwechsel sprachen sie davon, was sie Cooles mit Papa machen würden und vor allem mit Tilde, die so super war und mit ihnen schon zum Bowling, Lasergame und Klettern gegangen war.
Nathalie leerte das Glas und schaute die Kühlschrankmagnete an, auf denen zu sehen war, wie sie, Tea und Gabriel auf dem Fliegenden Teppich im Freizeitpark Gröna Lund fuhren. In den letzten beiden Wochen hatte sie alles dafür getan, damit sie ihren Spaß hatten; außer im Tivoli waren sie im ABBA-Museum, im Freilichtmuseum Skansen und im Wildpark Kolmården gewesen. Vorgestern hatte sie die Ferien mit einem Besuch bei Estelle und den Cousins und Cousinen in Sundsvall abgerundet. Tea und Gabriel hatte all das sehr gefallen; aber im Alltag hatte sie keine Chance gegen Tildes flexibles Leben als Personal Trainerin. Sie konnte am Arbeitsplatz nach Belieben kommen und gehen. Hoffentlich lag die Begeisterung für sie nur am Reiz des Neuen. Und solange die Kinder es gut hatten, musste sie ihre Eifersucht zügeln.
Mit diesem Vorsatz holte sie zwei Schalen aus der Küche und ging zum Beet, wo sie eine Reihe wilder Erdbeeren ausgesät hatte. Hockte sich hin und pflückte die roten Früchte. Der Rasen, den sie am Morgen gemäht hatte, anstatt ihre tägliche Laufstrecke zu absolvieren, duftete frisch. Sollte sie vielleicht ein Krocketspiel kaufen und die Kinder nach dem Abendessen damit überraschen?
Als sie oben auf der Vortreppe war, klingelte ihr Telefon wieder. Das Date vom Vorabend.
Hallo, Nathalie, war richtig nett gestern! Sehen wir uns am Wochenende?
Am gestrigen Morgen, nachdem sie die Kinder zu Håkan gebracht hatte, hatte sie die Einsamkeit überkommen. Weil keine ihrer Freundinnen Zeit gehabt hatte, hatte sie sich aus Frust zuerst eine Bluse im Edel-Kaufhaus NK gegönnt, sich dann auf der Dating-App eingeloggt und sich mit dem fünfunddreißigjährigen Fußbodenverleger Måns verabredet. Sie hatten im Sturehof eine Flasche Weißen geleert und anschließend die Nacht in ihrem Einzimmerappartement in der Artillerigatan verbracht.
Die Antwort war schnell geschrieben, weil sie nicht nachzudenken brauchte.
Wie ich schon sagte, treffe ich meine Dates kein zweites Mal, ganz egal, wie gut es war ;) / N.
Sie setzte sich auf die Bank, schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Wie immer, wenn sie mit der Liebe spielte, dachte sie an Johan. Nachdem sie den Fall mit dem Serienvergewaltiger gelöst hatten, waren sie beide in ihre alten Leben zurückgekehrt – er nach Sundsvall als Lebensgefährte und Vater in Elternzeit, sie nach Uppsala als hart arbeitende Psychiaterin.
Sie hatten in den seither vergangenen drei Monaten mehr als zehnmal telefoniert. Obwohl sie sich mit dem Kuss im Hotelzimmer bis auf die Knochen blamiert hatte, hatte sie den ersten Schritt gemacht und ihn angerufen. Sie hatten über Gott und die Welt geredet, aber nicht über den Kuss. Oft kam ihr der Gedanke, dass sie zusammen ein Puzzle mit den Scherben aus ihren Leben legten in dem Versuch, ein gemeinsames Bild zu finden.
Endlich hörte sie das vertraute Motorgeräusch. Als das Auto zwischen den Laubbäumen auftauchte, ging sie langsam auf den Briefkasten zu. Håkan wendete den Wagen, fuhr dann wie immer ein paar Meter an Nathalie vorbei, bevor er mit dem Kofferraum auf Höhe der Grundstücksgrenze anhielt.
Sie schluckte den Ärger hinunter und beschloss, sich auf die Kinder zu konzentrieren. Mit den Erdbeeren und einem strahlenden Lächeln ging sie auf Tea und Gabriel zu, die mit ihren Rucksäcken und Sporttaschen vom Rücksitz kletterten.
»Hallo, meine Lieblinge! Guckt mal, was ich gepflückt habe!«
Tea strahlte, und Gabriels saure Miene wich überraschter Freude, als er die Tasche fallen ließ und auf sie zustürmte. Der BMW glitt davon, und Nathalie musste die Schalen hochhalten, damit Gabriel sie ihr nicht aus der Hand stieß.
»Hallo, mein Lieber! Willst du mich nicht zuerst umarmen?«
Pflichtschuldig schlang er seine Arme um sie. Sie drückte ihn an sich, die eine Schale in der Hand, die andere reichte sie Tea, während sie ihre Tochter von der bleischweren Tasche befreite, die wie immer randvoll mit Büchern war.
»Das war lecker«, fand Gabriel, der die Schale schon leer gegessen hatte und dann wieder enttäuscht aussah. »Ich will heute nicht ins Fußballlager.«
»Natürlich gehst du hin«, widersprach Nathalie. »Warum sagst du so was?«
»Weil das nervt!«
Er drehte sich um und marschierte zielstrebig auf die Tür zu.
»Warte, Gabriel! Lass uns drüber reden, ja?«
Er setzte seinen Weg ins Haus fort, als hätte er sie nicht gehört. Nathalie drehte sich zu ihrer Tochter um.
»Aber du willst zur Leichtathletik gehen, oder?«
»Nein, aber ich weiß, dass ich muss, Mama«, erklärte ihre Tochter auf ihre altkluge Art und schob die runde Brille die Nase hoch.
»Wir müssen in einer halben Stunde losfahren. Du kannst ja schon mal reingehen und auspacken, dann spreche ich mit Gabriel. Ist was Besonderes vorgefallen, dass er nicht hingehen will?«
»Gestern hat es mit einem Jungen Streit gegeben, mehr weiß ich nicht.«
Sie gingen ins Haus. Gabriel war schon in seinem Zimmer und spielte auf dem Handy. Nathalie setzte sich neben ihn, folgte ihm eine Weile in die Minecraft-Welt, bevor sie nach dem Streit fragte. Gabriel verweigerte eine Antwort. Als es ihr trotz aller Überredungskünste und Versprechen von Thai-Essen am Abend nicht gelang, zu ihm durchzudringen, ging sie in den Flur und schickte Håkan eine SMS. Er antwortete nach fünf Minuten.
Ja, hat sein Ritalin heute Morgen genommen. Ja, es gab gestern Streit mit William. G erzählte das erst heute, darum will er nicht hingehen. W hatte G offensichtlich als Sch ….-ADHS-Kind beschimpft. Wollte es dir gerade schreiben. Wenn er nicht hinwill, muss er es doch nicht?
Vor Wut bekam Nathalie heiße Wangen. Warum hatte Håkan nicht reagiert? Warum hatte er nicht das Rückgrat, Williams Eltern anzurufen, mit dem Trainer zu sprechen oder irgendetwas zu tun?
Sie riss sich zusammen und kehrte zu Gabriel zurück. Diesmal musste er ihr angesehen haben, wie sauer sie war, denn er legte das Handy sofort weg, als sie ihn darum bat. Dann bestätigte er widerwillig, was Håkan geschrieben hatte.
»Darum will ich nicht hin, das verstehst du doch, oder?«, schluchzte er und biss die Zähne zusammen, sodass die Kieferknochen in seinem mageren Gesicht hervortraten.
»Jetzt rufe ich Williams Vater an, und wir klären das«, verkündete Nathalie so ruhig sie konnte. »Er ist Arzt im Krankenhaus, und ich kenne ihn ein bisschen.«
Mit einem ruhigen Ernst, der in Gabriels zappeligem Leben äußerst ungewöhnlich war, schaute er sie an.
»Ich will aber trotzdem nicht hin.«
»Vertrau mir.« Sie ging hinunter in die Küche, googelte Magnus Bergman und rief ihn an. Magnus war Chirurg, und sie grüßte ihn immer in der Kantine vom Universitätsklinikum Uppsala.
Mit erkämpfter Ruhe schilderte sie den Vorfall. Magnus Bergman hörte aufmerksam zu.
»Fragt sich also, ob du mit William sprechen kannst«, beendete sie ihre Ausführungen.
»Selbstverständlich. Wenn das stimmt, muss er sich entschuldigen. Kann ich in fünf Minuten zurückrufen?«
Sie hörte an seiner Stimme, dass er ebenso erstaunt wie wütend war.
»Klar«, antwortete sie und fand, dass es nichts ausmachte, wenn sie sich etwas verspäteten. Die Alternative war, dass Gabriel in seinem Zimmer hockte und den Rest des Tages spielte.
Sie hatte gerade Teas Sportklamotten zum zweiten Mal überprüft, als Magnus zurückrief und sagte, William habe alles zugegeben und dass sie gern vorbeikommen würden, um Gabriel abzuholen.
»Das ist nett, aber ich glaube nicht …«
»Keine Diskussion«, entschied Magnus, und diesmal ließ sie sich gern unterbrechen.
»Okay, nett von dir … von euch. Ich werde Gabriel darauf vorbereiten.«
Zwanzig Minuten später zog Magnus mit den Jungs ab. Nathalie fuhr in ihrem roten Volvo V70 mit Tea auf dem Rücksitz hinterher.
Als sie Tea beim Studenternas IP, dem Sportplatz der Uni, abgesetzt hatte, erhielt sie eine SMS.
Die Jungs sind Freunde und geben Vollgas auf dem Platz.
Sie lächelte und vollführte einen U-Turn, um nach Hause zu fahren. Legte die CD mit Beyoncés Lemonade ein, stellte sie aber nach acht Takten aus, als ihr Handy klingelte. Zuerst dachte sie, Håkan sei dran, der sich endlich dazu herabließ, mit ihr zu reden. Dann sah sie, dass der Anruf von einer unterdrückten Nummer stammte.
»Nathalie Svensson.«
»Ja, hallo, Nathalie …«
Sofort erkannte sie den singenden Zungenschlag aus Kiruna wieder. Ihr Puls erhöhte sich. Ingemar Granstam war kein Mensch, der ohne Grund anrief.
»Hallo, Ingemar! Schön, Ihre Stimme zu hören.«
»Ja, gleichfalls. Aber schön ist, wie Sie bestimmt auch schon festgestellt haben, die falsche Bezeichnung, wenn ich mich melde. Wir haben einen neuen Fall.«
Sie ging etwas vom Gas, als sie merkte, dass sie ein wenig zu schnell auf dem Ulleråkervägen unterwegs war, der sich im Licht, das durch das dichte Blätterdach der umstehenden Birken, Espen, Linden und Ahornbäume drang, in einen Tunnel aus tausend Grüntönen verwandelte.
»Sie haben bestimmt das Neuste über den Fußballspieler Henrik Borg gehört, oder?«
»Ja, er ist unter ungeklärten Umständen in seinem Ferienhaus gestorben in … in Ystad war das doch, oder?«
»Ja, aber wahrscheinlich wurde er ermordet. Nicht an die Presse durchgesickert ist, dass eine blau gefärbte Rose auf seiner Brust lag. Und jetzt haben wir einen Bericht von einem Piloten reingekriegt, der auch friedlich im Bett liegend mit einer blauen Rose auf der Brust tot aufgefunden wurde.«
Fragen drängten sich in Nathalies Gehirn, aber sie hörte wie Granstam Luft holte, und sie wusste, dass es länger dauern würde, wenn sie ihn unterbrach.
»Und heute Morgen wurde eine sechsunddreißig Jahre alte Tänzerin in Göteborg tot im Bett unter ähnlichen Umständen entdeckt. Der Grund, warum niemand die Fälle schon vorher miteinander in Verbindung gebracht hat, liegt an reiner Schlamperei wegen der jüngsten Umstrukturierung.«
»Also innerhalb von sechs Tagen drei Fälle, in denen der Mörder eine Rose zurückgelassen hat«, dachte Nathalie laut nach. »Wie hat er sie umgebracht?«
»Das wissen wir nicht. Es gibt nämlich keine Spuren von Gewalt. Wie gesagt, habe ich die Fälle eben erst auf den Tisch gekriegt und bin dabei, Fakten zu sammeln. Und ich will die Einheit heute um ein Uhr vor Ort auf Kungsholmen sehen. Können Sie kommen?«
»Klar«, antwortete sie. »Ich muss nur ein paar praktische Angelegenheiten klären, ich rufe in einer Stunde zurück und bestätige das dann.«
Ihre Mutter Sonja hatte ihr schon den ganzen Sommer damit in den Ohren gelegen, dass die Kinder bei ihr übernachten sollten, es würde sich also bestimmt eine Lösung finden.
»Gut, Nathalie. Wir brauchen Sie, um das hier zu lösen. Ich maile Ihnen die Unterlagen an die sichere Adresse.«
»Wer kommt sonst noch?«
»Tim Walter, Angelica Hübinette und eine neue Kollegin namens Maria Sanchez.«
»Und Johan?«
»Ich rufe ihn gleich an. Wir sehen uns um eins.«
Kiruna, Dienstag, 5. August
Er fliegt. Es fühlt sich genauso schwindelerregend an, wie mit einem voll besetzten Jumbojet abzuheben, aber jetzt liegt er in seinem Bett und hat keine Kontrolle. Seine Gedanken irren umher, und sein Körper gehorcht ihm nicht. Er hat Angst und versucht zu schreien, weiß aber nicht so genau, ob er da seine eigene Stimme hört. Das Atmen fällt ihm schwer. Das Herz schlägt voller Hoffnung, aber er weiß, dass der unsteuerbare Überlebenskampf der Muskeln aussichtslos ist. Siebenundvierzig Jahre, und in der Mitte des Lebens ist schon alles vorbei.
Warum musste es so kommen?
Verzweifelt dreht er seine Wange zum Kissen. Es blitzt vor seinen Augen. Vor sich sieht er Patricias flehenden Blick, hört sie um ein weiteres Darlehen betteln. Obwohl sie hoffnungsloser denn je ist, lehnt er ab. Weiß nur zu gut, wofür das Geld draufgeht. Es ist egal, dass sie damit droht, was sie machen will, wenn er ihr nicht hilft.
Die Dunkelheit verdichtet sich, und seine Atemzüge werden kürzer. Eine angenehme Wärme durchfließt seinen Körper. Er liegt auf einem Bett aus flauschigen Wolken, auf einem weichen Ruhelager, das sein letztes sein wird.
Nein, nein, nein. Ich will nicht sterben!
Ein Surren wird lauter. Er vermutet eine Mücke, die sich gleich auf seine warme Haut setzen wird, aber er kann weder die Augen öffnen noch nach ihr schlagen. Die Mücke entfernt sich, und er hört wieder das Atmen des anderen. Er will schreien, bringt aber keinen Ton heraus.
Ein weiteres Bild steigt aus dem trügerischen Brunnen der Erinnerung nach oben. Die Wolkendecke reißt auf, und durch den Regen erahnt er die Landebahn wie einen verschwommenen schwarzen Fluss. Das Flugzeug schwankt in den Windböen, aber er hält es so gut wie möglich auf Kurs. Der Sturm hat im Lauf des Fluges aufgefrischt, und er hat entschieden, dass sie landen werden, obwohl Flugleitung wie Co-Pilot ihre Zweifel haben. Doch ein Teil der Nationalmannschaft ist an Bord und soll in der WM-Quali gegen Frankreich spielen.
Jetzt steht der Beweis seines Könnens an. Die Kontrolle, die über Leben und Tod entscheidet, ist Bestandteil seiner Arbeit, Zögern ist sein ärgster Feind. Adrenalin rauscht durch seine Adern. Als die Räder mit einem perfekten Aufprall auf der Landebahn aufsetzen, lächelt er in sich hinein.
Das Surren der Mücke kommt näher, und die Szene verändert sich. Ein anderer Flug; und das Atmen fällt schwerer. Die Erinnerung ist klar und deutlich, die Angst genauso greifbar wie damals.
Er geht in der Rampe zum Gate. Patricia hat sich mit ihren Freundinnen schon auf und davon gemacht, will ihm unbedingt aus dem Weg gehen. In der Ankunftshalle sieht er, dass die Polizei drei Mitglieder des MC-Klubs festhält. Seine Meldung aus dem Cockpit hat ihre Wirkung also nicht verfehlt.
Als er an den Männern vorbeigeht, starrt Johnny Lappanainen ihn an. Sein Blick ist der finsterste, den er je gesehen hat. Mit Zeige- und Mittelfinger deutet der Präsident zuerst auf seine Augen und dann auf ihn.
Die Bilder verblassen, aber die Angst bleibt. Die Mücke verstummt, und in seiner Armbeuge spürt er einen Stich. Ihm wird schwarz vor Augen.
Kopfüber fällt er durch die Dunkelheit.
Jetzt braucht er wenigstens keine Angst mehr zu haben.
Östersund
»Guck mal da, Alfred!« Johan drehte den Kinderwagen so, dass sein Sohn die drei Motorräder sehen konnte, die vor dem Eingang zum Krankenhaus standen.
»Brummbrumm-moad!«, rief Alfred und zeigte begeistert mit dem ganzen Arm auf die drei Wunderwerke aus Pferdestärken und Jungenträumen.
»Harley Davidson«, sagte Johan und lenkte den Wagen zu den Glastüren.
»Motorrad«, berichtigte Carolina mit der Betonung auf jeder Silbe, die Alfred nicht ausgesprochen hatte. Dann warf sie Johan einen Blick zu, der so verärgert wie nachsichtig war. »Findest du nicht, dass er für die Marke noch etwas zu jung ist?«
»Für eine HD ist man nie zu jung.«
»Brumm-brumm!«, rief Alfred, als die Türen aufglitten, immer noch mit dem Finger geradeaus zeigend wie ein General auf dem Schlachtfeld.
»Wollen wir ein paar Blumen kaufen?«, fragte Carolina, als sie am Kiosk vorbeigingen, der gerade öffnete.
»Ich glaube nicht, dass man Blumen mit auf die Station nehmen darf. Außerdem haben wir doch das Foto von unserem kleinen Tarzan – das ist bestimmt der Volltreffer.«
Ohne weitere Worte gingen sie zu den Aufzügen. Alfred war nicht eine Sekunde ruhig. Er hüpfte im Wagen auf und ab und rief ständig »Guck da!«, während er zugleich alle erstaunt betrachtete, die ihm zulächelten und winkten.
Johan legte den Arm um Carolina und sog den Duft ihres Grapefruitshampoos ein. So wollte er leben. Mit der Frau seines Lebens, dem gemeinsamen Sohn, der sich mit jedem Tag zu einem immer prächtigeren Kerlchen entwickelte, auf dem Weg zu seiner Oma Rosine, die ihm im Leben Geborgenheit gab, seit dem Tag, an dem er seine Eltern verloren hatte. Dennoch war da etwas, woran sich sein Inneres wund rieb wie an einem ärgerlichen Stein im Schuh.
In den drei Wochen, die er und Carolina gemeinsam freigehabt hatten, war die Rastlosigkeit an ihn herangeschlichen. Er spürte, dass er sich nach der Arbeit sehnte. Nach einem schwierigen Fall, Verhören, Untersuchungen am Tatort, Überführungen und Verhaftungen. Sein Leben fühlte sich durch Carolinas ständiges Generve wegen eines Geschwisterchens für Alfred zu eingeengt an. Und die Gefahr bestand, dass sie ihren Willen durchsetzte, manchmal verführte sie ihn auf eine Art, die ihn alle Verhütungsmittel vergessen ließ.
Das Hauskauf-Projekt hatte sie allerdings auf Eis gelegt, aber Johan nahm an, dass das nur eine Taktik für den Übergang war, um sich stattdessen auf die Kinderfrage zu konzentrieren. Bekäme Alfred ein Geschwisterchen, müssten sie ohnehin aus der Dreizimmerwohnung in der Bankgatan ausziehen.
»Jetzt besuchen wir Uroma«, sagte Johan, als sie den Fahrstuhl betraten.
»Uhma!«, rief Alfred.
Carolina streichelte seine Wange und lächelte.
»Das Fest heute Abend wird bestimmt cool, Marielle hat übrigens beim Frühstück eine SMS geschickt, dass wir Alfred schon um vier zu ihr bringen können.«
»Perfekt. Dann haben wir noch Zeit für einen Drink mit Erik und Estelle. Ihr Flieger landet um drei.«
»Bin gespannt, was sie von Kiruna erzählen. Meinst du, dass Erik wieder anfängt, in Sundsvall zu arbeiten?«
»Keine Ahnung. Er hat sich nach der Entführung verändert. Im Moment, glaube ich, findet Erik die Arbeit als Freiberufler ganz gut, weil er nicht arbeiten muss, wenn die Kinder bei ihm sind.«
Der Aufzug klingelte, und sie stiegen aus. Wie so oft bei den Krankenhausbesuchen der vergangenen Jahre überkam ihn auch jetzt wieder das Gefühl, dass er Rosine vielleicht zum letzten Mal sehen könnte. Nathalie hatte ihm erklärt, dass es sich dabei um eine Zwangsidee handelte, die es wahrzunehmen, zu akzeptieren und dann wegzupacken gelte. Das war leichter gesagt als getan.
Im Gang eilte das Personal hin und her, und drei Patienten lagen abgeschirmt von Stellwänden in ihren Betten. Die unverkennbare Geruchsmischung aus Reinigungsmitteln, Urin und Kaffee schlug ihnen entgegen. Als ein älterer weißhaariger Mann in der Berufskleidung des hiesigen Pflegepersonals ein Bett mit einer grün-weiß gestreiften Bettdecke über einem offenbar toten Menschen aus einem Zimmer in den Flur rollte, musste Johan sich am Kinderwagen festhalten. Aber nein, die Person war mindestens einen halben Meter größer als Rosine. Und die Krankenschwester hatte doch gesagt, sie liege ganz am Ende des Flurs.
Er ging zum Schalter im Stationszimmer. Die Krankenschwester, die laut einem handgemalten Holzschild Agnes hieß und mit der er vorher telefoniert hatte, schaute von ihren Unterlagen auf.
»Hallo, ich heiße Johan Axberg und suche meine Großmutter Rosine.«
»Gut, dass Sie kommen, ich würde gern kurz mit Ihnen sprechen. Sie können hier reinkommen.«
Agnes öffnete die Tür, Carolina nahm Alfred auf den Arm, und sie gingen in den kleinen Glaskasten.
»Tja, es ist so, dass wir für Ihre Großmutter einen Pflegeplan aufstellen«, begann Agnes. »Sie wird mit jedem Tag kräftiger, die Lungenentzündung ist unter Kontrolle, und die Blutwerte haben sich verbessert. Der Arzt will sie am Montag entlassen.«
»Klingt gut«, sagte Johan, obwohl er an der Sorgenfalte im Gesicht der jungen Krankenschwester erkennen konnte, dass das noch nicht alles war.
»Tja, es ist so, dass Rosines Gedächtnis immer mehr nachlässt«, setzte Agnes neu an. »Sie vergisst Namen, weiß nicht, welche Tageszeit gerade ist, und manchmal erkennt sie uns vom Personal nicht wieder.«
»Ist das nicht ein bisschen altersbedingte Vergesslichkeit, die alle älteren Leute kriegen?«
Agnes strich sich über den Zopf.
»Das glaube ich leider nicht. Doktor Björklund sagt, dass es Demenz ist, vielleicht Alzheimer.«
Johan zuckte bei dem Wort zusammen, obwohl ihm der Gedanke auch schon gekommen war.
»Das Problem ist, dass Rosine sich weigert, ihr Gedächtnis untersuchen zu lassen. Sie ist stur wie …« Es entstand eine Pause, als die Schwester nach dem richtigen Wort suchte. »… verflixt und zugenäht!« Agnes steckte als Übersprungshandlung einen Stift in die Brusttasche ihres Kasacks.
»Ich weiß schon, was Sie meinen«, seufzte Johan.
»Können Sie sie überreden?«
»Was sollte das bringen?«
»Es gibt Medikamente, die den Verlauf verlangsamen.«
»Aha«, sagte er und sah Alfred an, der versuchte, sich aus Carolinas Armen zu befreien, um auf das Bücherregal zu klettern.
»Und wahrscheinlich braucht sie einen Vormund. Wie läuft es mit Rechnungen und so was?«
»Bisher hat sie sich selbst darum gekümmert. In welchem Zimmer liegt sie?«
»In Acht-Zwei. Aber ich glaube, sie ist gerade im Gemeinschaftszimmer. Wir haben dafür einen Computer bekommen, an dem die Patienten gern sitzen. EU-Gelder«, schloss Agnes mit einem Seufzer, den Johan so interpretierte, dass es für manches Ressourcen gab, aber nicht für das wirklich Notwendige.
Großmutter Rosine stand mit zwei anderen Damen tatsächlich am Computer, wie immer über den Rollator gebeugt, die Griffe fest in der Hand. Johan sah das Bild einer widerstandsfähigen Fjällbirke vor sich, die allem und jedem trotzte. Mit Alfred auf dem Arm stellte er sich neben sie. Rosine strahlte übers ganze Gesicht und streichelte Alfreds flaumiges Köpfchen mit einer Hand, die zur Hälfte von eingezogener Bräunungscreme fleckig geworden war.
»Viertel nach neun, und jetzt kommt ihr endlich zur Omimi«, sagte sie mit gekünstelter Stimme und guckte auf die große Armbanduhr aus Plastik, die in den letzten Jahren ihre ständige Begleiterin geworden war. »Ich stehe hier seit einer Viertelstunde und warte auf euch.«
»Jetzt sind wir ja da«, sagte Johan. »Du hast aber eine schicke Frisur!«
»Frisch gefärbt und dauergewellt«, erklärte sie, ohne Alfred aus den Augen zu lassen.
»Wollen wir in dein Zimmer gehen?«, schlug Johan vor.
»Machen wir. Hier draußen sind so viele Leute. Ich habe eben allen den Vormittagskaffee serviert.«
Kaffee und Vormittag stimmten zumindest, dachte Johan.
»Und hier haben wir die schöne Ehefrau«, sagte Rosine, als Carolina sie umarmte.
»Wir sind nicht verheiratet, das weißt du doch«, widersprach Johan.
»Sei ja lieb zu ihr«, fuhr Rosine fort und guckte ihn streng an. »Habt ihr euch schon für ein Haus entschieden? Ich finde nicht, dass Alfred in dieser Wohnung aufwachsen sollte, die ihr habt.«
»Ja, ja, Oma«, sagte er ausweichend und ging unbeirrt weiter auf den Korridor zu. »Komm, wir gehen jetzt.«
Carolina lächelte und hob die Augenbrauen, so wie sie es immer tat, wenn sie fand, jemand habe den Nagel auf den Kopf getroffen.
»Will nur dieses Höllengestell losmachen«, meinte seine Großmutter und löste die Bremsen am Rollator. »Und übrigens, Johan, jetzt wirst du staunen …«
»Warum das?«
»Du wirst eine alte Bekannte wiedersehen«, antwortete Rosine und lächelte schelmisch.
»Wen denn?«
»Hedvig Molin. Wir liegen seit vorgestern oder vielleicht doch erst seit gestern im selben Zimmer, ich weiß nicht mehr so genau.«
»Tante Hedvig?«, sagte Johan lächelnd. »Dann verstehe ich, dass du dich hier wohlfühlst.«
»Ja, aber sie ist sehr krank. Der Krebs hat sie schlimm erwischt. Der Arzt sagt, es ist unheilbar.«
Auf dem fünf Minuten dauernden Weg durch den Gang erzählte Johan Carolina, wer Hedvig Molin war. Dass sie und ihr Mann Enar die Nachbarn von seinen Großeltern auf Frösön gewesen waren, als er mit zwölf Jahren dort hingezogen war. Dass Hedvig die Mutter seines besten Freundes Mattias war, der im Zusammenhang mit den Ermittlungen zum dramatischen Ertrinkungstod des sogenannten Wundermannes ermordet worden war. Wie Hedvig für ihn da gewesen war und ihn mit Sahnebonbons und warmen Worten getröstet hatte, wenn die Sehnsucht nach Mutter und Vater übermächtig wurde.
»Hier kommt vornehmer Besuch aus Sundsvall!«, rief Rosine aus, als sie das Krankenzimmer betrat, das einen herrlichen Blick auf den Storsjön und Frösön bot. Die Sonne schien von einem leuchtend blauen Himmel, und weit in der Ferne rechts konnte man den Berg Åreskutan erahnen.
Hedvig lag im Bett am Fenster. Ihr Gesicht war mager und blass. Dünne blaue Äderchen zeichneten sich deutlich unter der durchscheinenden Haut ab, ihr Haar war weiß und wuchs in vereinzelten Büscheln. In der linken Armbeuge war sie an einen Tropf angeschlossen, der Händedruck war kraftlos, und der schelmische Blick, den er so mochte, war matt und erschöpft. Im linken Auge hatte sie einen gelben Fleck in der leuchtend blauen Iris. Der Fleck hatte ihn vom ersten Moment an, als er ihn entdeckte, fasziniert. Er hatte so etwas vorher schon einmal gesehen und wusste, dass diese Flecken verschwanden, wenn die Personen starben, als erlöschte das Licht in ihnen. Als er sich auf die Bettkante setzte und Alfred Hedvigs Gesicht zu betasten begann, strahlte sie und sagte: »Dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten!«
»Abgesehen von den blonden Haaren«, lächelte Johan und lud Carolina mit einem Blick zum Gespräch ein. Rosine ließ sich in einen Sessel fallen, und sie unterhielten sich eine Weile über alte und neue Zeiten. Hedvig wurde vor drei Wochen wegen metastasierendem Brustkrebs, schwer einstellbarer Diabetes, Herzschwäche, Harnwegsinfektion und offenen Wunden an den Beinen eingeliefert. Nach unzähligen Untersuchungen und Therapien hatte sie sich nun so weit berappelt, dass sie am nächsten Tag mit anschließender häuslicher Pflege entlassen werden sollte.
»Könnt ihr mich verstehen?«, begann sie und drückte Johans Hand mit erstaunlicher Kraft. »Ich finde, jetzt reicht’s. Ich habe mein Leben gelebt und bin zufrieden mit der Zeit, die mir vergönnt war.« Ihr traten Tränen in die Augen, und der gelbe Fleck leuchtete wie eine Fackel im Regen. »Ich will dem Staat nicht zur Last fallen. Bald schaffe ich es nicht mehr, allein aufs Klo zu gehen, und andere Menschen brauchen die Ressourcen dringender als ich.«
»So darfst du nicht denken«, sagte Johan, und Carolina schüttelte zustimmend den Kopf. Rosine seufzte, als hätte sie diese Worte schon zur Genüge gehört.
»Wenn ich tot bin, sehe ich ja vielleicht Enar und Mattias wieder«, fuhr Hedvig fort, als hätte sie Johan nicht gehört.
»Das hoffen wir, aber jetzt sollst du zusehen, dass du noch ein bisschen lebst«, meinte Johan. »Mit wem soll Rosine denn sonst Kaffee trinken?«
Hedvig lächelte und warf Rosine einen Blick zu.
»Ja, das stimmt.«
Carolina überreichte Rosine die gerahmte Fotografie von Alfred. Rosine war gerührt und zeigte sie stolz Hedvig, bevor sie sie auf den Tisch zwischen ihren Betten stellte.
»Auf was für eine Hochzeit wollt ihr?«, fragte sie, als sie sich wieder gefasst und sich die Lippen nachgezogen hatte.
»Wir wollen zu einem vierzigsten Geburtstag«, erklärte Johan.
»Wer hat denn Geburtstag?«
»Kenneth Widén, ein Freund von Erik und mir.« Johan zog die Einladung aus der Innentasche seiner Lederjacke und zeigte Rosine und Hedvig das Foto von Kenneth umringt von seinen Freunden auf seiner Feier zum dreißigsten Geburtstag. »Er ist übrigens Gynäkologe hier im Krankenhaus.«
»Ihr wollt also erst auf der Thomée schippern und dann nach Jamtli«, krächzte Hedvig und lächelte. »In jungen Jahren sind wir da oft zum Tanzen hingegangen, stimmt’s, Rosine?«
»Hör bloß auf«, sagte seine Großmutter und musterte das Foto eingehend. »Die Jugend von heute wird nicht das erleben, was wir damals erlebt haben.«
Was mit »das« gemeint war, blieb unerwähnt, weil der hagere weißhaarige Pfleger, der vorhin einen Leichnam von der Station gerollt hatte, das Zimmer betrat. Johan begegnete dem Blick des Mannes und hatte das Gefühl, dass er ihm bekannt vorkam.
»Peter Schultz, Hilfspfleger«, stellte er sich vor.
»Entschuldigung, aber kennen wir uns nicht?«, fragte Johan.
Schultz sah ihn eine Weile forschend an, fuhr sich über das wassergekämmte Haar.
»Doch, Sie sind Kommissar Johan Axberg, oder?«
»Ja, genau.«
»Dann sind wir uns vor ein paar Jahren im Krankenhaus in Sundsvall begegnet. Auf Station neun, Sie haben den Mord an Göran Huldt aufgeklärt.«
Stimmt, dachte Johan und erinnerte sich an die Ermittlungen in dem eingeschneiten Krankenhaus. Der Landtagsabgeordnete, der für einen Großteil der Einsparungsmaßnahmen verantwortlich war, wurde in seinem Bett auf der Station erdrosselt.
»Aber jetzt ist Peter hier, und das finde ich gut«, schob Rosine ein und legte die Einladung auf den Beistelltisch. »Peter ist unser Liebling, stimmt’s, Hedvig?«
Hedvig nickte müde mit augenscheinlich letzten Kräften.
»Ich bleibe noch eine Woche hier«, verkündete Peter Schultz und richtete sich an Johan und Carolina. »Ich arbeite inzwischen freiberuflich. Wenn ich will und zum doppelten Gehalt.«
Alfred wand sich auf Johans Schulter immer ungeduldiger. Carolina erlöste ihn von dem, was wie ein unendlicher Ringkampf aussah.
»Wir sollten Ihre Wunden neu verbinden«, sagte Peter zu Hedvig und griff zum Rollstuhl, der am Fenster stand.
»Nicht schon wieder«, seufzte Hedvig und schnappte sich ein Handy vom Nachttisch. »Ich nehme das hier mit, falls jemand anruft.«
Johan half Peter, sie in den Stuhl zu heben.
»Wir sehen uns morgen Vormittag, wir kommen zur gleichen Zeit her, bevor wir nach Hause nach Sundsvall fahren.«
»Viel Spaß auf dem Fest, und schwinge für mich das Tanzbein mit.«
»Versprochen«, sagte Carolina und versuchte Alfred zum Winken zu bewegen, aber er hatte vor dem Fenster einen Rettungshubschrauber entdeckt.
»Oma, willst du auch ein Handy haben?«, fragte Johan.
Rosine schnaubte und setzte ihre getönte Brille auf.
»Dann rufst du doch trotzdem nie an.«
Der Helikopter flog übers Dach und verschwand. Alfred begann lautstark zu quengeln, und Carolina fiel es schwer, ihn zu halten.
»Ich glaube, wir müssen los«, sagte Johan, »aber wir sehen uns morgen.«
»Wenn ich dann noch lebe.«
Nach den Abschiedsumarmungen und etlichen Versprechen, ihre Blumen zu gießen, die Post ins Haus zu holen und aufeinander aufzupassen, setzte Johan Alfred in den Wagen und rollte ihn auf der gleichen Reifenspur hinaus, in der Hedvig eben hinausgeschoben worden war.
Im Fahrstuhl nach unten standen sie schweigend nebeneinander. Carolina gab Johan einen Kuss und streichelte seine Wange, dass seine Bartstoppeln knirschten.
»Du könntest dich mal wieder rasieren«, bekundete sie, als die künstliche Stimme aus dem Lautsprecher mitteilte, dass sie im Eingangsgeschoss angekommen waren.
Im Hauptkorridor drückte sich Alfred gegen die Rückenlehne und rieb sich die Augen. Johan und Carolina wechselten sich damit ab, ihn auf dem Weg nach draußen zu unterhalten. Gerade als sie vor der Tür in den Sonnenschein traten, ertönte Bob Dylans Knockin’ on Heaven’s Door aus der Innentasche seiner Jacke.
Ingemar Granstam war am anderen Ende. Seit der Ermittlung in Uppsala hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Während Granstam den neuen Fall schilderte, sprang Johans Blick zwischen Carolina, Alfred und dem Krankenhausparkplatz hin und her.
»Wir haben eine erste Besprechung um ein Uhr, ich kann verstehen, wenn Sie es bis dahin nicht schaffen, aber haben Sie im Lauf des Nachmittags Zeit, sich uns anzuschließen?«
Jede Zelle in seinem Körper schrie Ja, aber er hatte beschlossen, bei der Familie zu bleiben. Ließe er Carolina in der letzten freien Sommerwoche allein, würde sie wütend werden. Und auf die kinderfreie Feier am Abend hatten sie sich beide schon lange gefreut.
»Es ist wieder das gleiche Team wie beim letzten Mal und ein Neuzugang namens Maria Sanchez«, fuhr Granstam fort. »Und Nathalie ist aus Uppsala schon unterwegs.«
Carolina sah ihn ungeduldig an.
»Ich muss leider ablehnen. Ich bin in Elternzeit, und wir haben Pläne …«
Er verstummte, merkte, dass seine Erklärung nicht überzeugend war.
Granstam startete ein paar Überredungsversuche. Bei jedem machte Johan deutlich, dass man diesmal nicht mit ihm rechnen konnte.
Als sie aufgelegt hatten, war ihm fast so, als hätte er die richtige Entscheidung getroffen.
Obwohl es im nagelneuen SUV kühl ist, schwitze ich. Ich brauche unbedingt eine Pause, bevor ich weiterfahre. Steure auf einen kleinen Parkplatz neben dem Imbiss zu und stelle den Wagen so weit wie möglich von den anderen Autos entfernt ab. Ich schließe die Augen, lasse das Rauschen der Klimaanlage meinen Kopf füllen und denke an nichts. Wenn ich mich entspanne, überspült mich die Müdigkeit wie eine Welle, aber ich darf nicht einschlafen. Ich habe noch einiges vor mir, und ich muss meinen Plan einhalten.
Auf dem Sitz neben mir liegen die beiden sorgfältig zugeklebten Blumentüten. Die größere werde ich Kenneth mit einer Flasche achtzehn Jahre altem Glenlivet zum vierzigsten Geburtstag schenken. Eigentlich kann ich Schiffe nicht ausstehen, nach einigem Zögern habe ich aber doch zugesagt. Trotzdem wird es nett sein, Freunde wiederzutreffen, die ich seit Jahr und Tag nicht mehr gesehen habe. Dann wahrscheinlich zum letzten Mal.
Vorsichtig hebe ich das kleinere Päckchen an. Entferne das Klebeband und wickle das Papier ab. Die weiße Rose ist eine Pracht.
Avalanche, sagte die Blumenhändlerin stolz. Ich nickte, als würde ich es nicht wissen. Klebe alles wieder mit dem Tape zu und lege die Rose auf den Beifahrersitz. Die Kühle im Wagen hält die Blumen frisch. Aber wird die Tinte durch die niedrige Temperatur womöglich nicht so schnell aufgesogen?
Mit dem Mobiltelefon in der Hand markiere ich Östersund auf der Karte. Ich bin in der letzten Woche weit und viel gefahren, aber das ist die Sache wert. Merkwürdig, dass die Medien nicht auf die Fälle aufmerksam geworden sind. Sie schreiben nur über Henrik Borg, Nachruf für Nachruf. Verständlich, doch nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Aber die Botschaft mit den Rosen wird bei ihnen ankommen. Vermutlich schon morgen früh. Vier Opfer, und dann muss etwas passieren. Wenn nicht, werde ich dafür sorgen, dass sie informiert werden. Die Zeit drängt, und Effektivität ist ein Muss.
Stockholm
Um fünf Minuten vor eins betrat Nathalie Svensson durch die Drehtür das Polizeigebäude in der Polhemsgatan auf Kungsholmen in Stockholm. Das Klappern ihrer Absätze hallte wider, als sie auf die Anmeldung zustöckelte. Sie legte ihren Ausweis vor, erhielt eine Passierkarte und eine ID, die sie als Mitarbeiterin der Einheit für operative Fallanalyse beim schwedischen Zentralkriminalamt auswies.
»Nehmen Sie den Fahrstuhl in den dritten Stock. Aber ich nehme an, Sie kennen sich hier aus?«, sagte die junge Frau lächelnd.
»Ja danke, ich kenne mich hier aus«, antwortete Nathalie und steuerte auf die Aufzüge zu.
Die Lifttüren glitten auf, und sie bestieg die Kabine mit sieben Männern, die steif und stumm dastanden, die Augen auf alles, nur nicht auf die Menschen um sie herum gerichtet. Im zweiten Stock stiegen einige aus. Sie warf schnell einen Seitenblick auf ein verglastes Großraumbüro, das ihres Wissens nach zur Sicherheitspolizei gehörte. Ein Gewusel aus versteinerten Mienen. Daran war, wie sie vermutete, die Terrordrohung schuld, die heute Morgen dafür gesorgt hatte, dass die Sicherheitspolizei auf einer Skala von eins bis fünf die aktuelle Bedrohungslage auf Stufe vier eingeordnet hatte.
Nachdem sie sich mit ihrer Karte und Codes vom äußeren Schutzbereich durch weitere Sicherheitstüren inklusive des Fingerabdruckscanners geschleust hatte, betrat sie endlich den Konferenzraum. Ingemar Granstam, Angelica Hübinette, Tim Walter und die Neue, Maria Sanchez, saßen schon versammelt um den ovalen Tisch.
Nathalie wurde von Marias blendend weißem Lächeln verbunden mit einem kräftigen Händedruck begrüßt, erinnerte sich an Granstams Beschreibung von ihr als »die neue Senkrechtstarterin in der Landeskriminalpolizei, die das Jura-Grundstudium absolviert und in den schwedischen Landesmeisterschaften zweimal Silber in Taekwondo geholt hatte«. Maria hatte bei den Ermittlungen zu den Springbrunnen-Morden auch mit Frank zusammengearbeitet, und er war voll des Lobes über sie. Wie Angelica war Maria ganz in Schwarz gekleidet: Boots, Lederhose, Lederjacke. Sie trug eine silberne Halskette mit einem Kreuz. Das Haar war zu einem strammen und hohen Pferdeschwanz zusammengefasst.
Auf ihren Absätzen war Nathalie einen Kopf größer, und das gab ihr das Selbstvertrauen, das sie brauchte, weil sich in solchen Situationen ganz zuverlässig das Gefühl von Konkurrenzkampf bei ihr einstellte, obwohl sie es selbst lächerlich fand.
»Ja, dann legen wir mal los«, begann Granstam, als Nathalie sich zwischen Tim Walter und Maria setzte und einen Ordner aufschlug, wie ihn auch alle anderen in der Gruppe vor sich liegen hatten.
Tim aktivierte das Control Panel, das eine Videokonferenz, Konferenzschaltung oder auch die Verbindung mit mehreren Rechnern gleichzeitig ermöglichte. An die Wand wurde ein Foto von Henrik Borg projiziert. Er trug das gelb-blaue Nationaltrikot mit der Nummer zehn auf der Brust. Im Hintergrund konnte man schemenhaft einen Fußballplatz und voll besetzte Ränge erkennen. Sein Blick unter der weizenblonden Mähne war entschlossen, die straffe Haut der Wangen umspannte seine kräftige Kieferpartie. Er sah aus, als könnte er es mit jedem Gegner aufnehmen. Nathalie meinte die Rufe der Sprechchöre hören und den Rasen und die Erwartung riechen zu können.
»Ja, wie Sie schon wissen, haben wir innerhalb von sechs Tagen also drei mutmaßliche Mordopfer«, machte Granstam den Auftakt und faltete die Hände über seinem Bierbauch. »Henrik Borg, vierundzwanzig Jahre, in Ystad, der Pilot Mikael Tornerud, siebenundvierzig Jahre, in Kiruna, plus die Tänzerin Tina Eriksson, sechsunddreißig Jahre, in Göteborg.«
Zwei Fotos tauchten neben dem von Henrik Borg auf. Das erste zeigte einen Mann in einer dunkelblauen Pilotenuniform vor einem Jumbojet. Auch er sah attraktiv aus, hatte ein sympathisches Lächeln in einem braun gebrannten Gesicht und warme braune Augen. Das Foto ganz rechts war in einem Tanzsaal aufgenommen. Eine Frau mit langem aschblondem Haar und schöner Figur stand vorgebeugt mit der einen Hand am Spiegel im leeren Saal.
»Da haben wir sie«, sagte Granstam. »Alle drei wurden mit einer blau gefärbten Rose auf der Brust tot in ihren Betten aufgefunden. Und wir kennen die Todesursache nicht.«
Tim tippte wieder auf der Tastatur herum. Die Fotos wurden durch drei neue ersetzt. Nathalie spürte eine innere Kühle, als sie die drei Leichen kerzengerade in ihren Betten, die Hände um die Rosen gefaltet, sah. Alle Lebensenergie und die gesamte Persönlichkeit waren wie weggeblasen. Sie sah nur den Tod. Das endgültige Ende, das für alle gleich war, ganz egal, wie man gelebt hatte.
Granstam drehte sich zur Gerichtsmedizinerin Angelica Hübinette um. Sie saß aufrecht auf dem Stuhl, als wäre jeder Muskel in ihrem hageren Körper angespannt. »Die rechtsmedizinischen Untersuchungen laufen noch; aber da erst heute Morgen der Zusammenhang zwischen den Opfern bekannt wurde, hatte man sie fälschlicherweise nicht vorrangig behandelt«, erklärte sie in ihrem monotonen Tonfall.
»Wie gesagt, es kam aufgrund der neuen Organisation zu einer Verzögerung«, seufzte Granstam und drückte eine Portion groben Snus zurecht. »Zuerst dachte man vor Ort, Henrik Borg und der Pilot in Kiruna hätten sich das Leben genommen.«
»Weil keine Spuren von Gewalt gefunden wurden?«, fragte Nathalie und schaute auf die Fotografien.
»Genau«, antwortete Angelica. »Aber es gab weder Abschiedsbriefe noch Medikamente, abgesehen von Nahrungsergänzungspillen in Henriks Fall und einer Handvoll Schlaftabletten bei dem Piloten; darum kann man sich nur wundern, wie sich die Kollegen das vorgestellt haben … Wie häufig kommt es denn vor, dass man beschließt, seinem Leben mit einer Rose auf der Brust ein Ende zu setzen?«
»Bestimmt hielten sie die Rose für ein merkwürdiges Detail, aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie sie nur bei einem einzigen Fall gesehen haben. Wenn man bedenkt, wie viele sonderbare Dinge Leute machen, wenn sie sich das Leben nehmen – ist es vielleicht verständlich, dass ihnen nicht gleich klar war, dass es sich um Mord handelte.«
»Und in Schweden kommt Selbstmord zehnmal häufiger vor als Mord«, klärte Tim sie auf und fummelte an seiner verkehrt herum aufgesetzten Baseballcap herum. »Voriges Jahr betrug die Anzahl 1.531 verglichen mit 114 Morden.«
»Danke«, sagte Granstam und schob sich die Portion Snus unter die Lippe, woraufhin sich die linke Spitze seines Schnäuzers nach oben bog.
»Alle Opfer waren, soweit wir wissen, gesund, mit Ausnahme der Frau in Göteborg, Tina Eriksson, die laut der Krankenakte an der Persönlichkeitsstörung Borderlinesyndrom mit Tendenz zu manisch-depressiven Phasen litt«, führte Angelica weiter aus.
»Was bedeutet das?«, fragte Maria Sanchez.
Nathalie fing ihren Blick ein und antwortete schnell: »Borderline bedeutet, dass man emotional instabil ist, was zu Problemen in Beziehungen führt. Die Patienten pendeln zwischen Depression, Angstzuständen und Freude hin und her, und ihnen fällt es schwer, ihre Impulse zu kontrollieren. Oft zeigen sie auch ein autodestruktives Verhalten. In Tinas Fall gab es außerdem Anzeichen von Bipolarität mit wechselnden Phasen von Hochstimmung und Selbstvertrauen und von Niedergeschlagenheit und negativem Selbstwertgefühl.«
»In den letzten zehn Jahren hat sie mindestens zwanzigmal gedroht, sich das Leben zu nehmen«, schaltete Angelica sich wieder ein, »hat aber nie ernst zu nehmende Versuche unternommen. Im Alter von zwanzig Jahren wurde sie mit Antidepressiva behandelt, hörte aber damit auf, weil sie der Meinung war, es beeinträchtige ihre Kreativität.«
»Fanden sich Reste von Tabletten in den Mageninhalten der Opfer?«, wollte Tim wissen.
Angelica schüttelte den Kopf.
»Können sie stranguliert worden sein?«, fragte Maria.
»Nein, dann hätten wir punktförmige Einblutungen in der Bindehaut der Augen festgestellt. Danach suchen wir immer zuerst.«
»In Henrik Borgs Fall fand man ein Kissen auf dem Boden neben dem Bett«, sagte Nathalie. »Können sie erstickt worden sein?«