Die Nazis nannten sie »Asoziale« und »Berufsverbrecher« -  - E-Book

Die Nazis nannten sie »Asoziale« und »Berufsverbrecher« E-Book

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Beschreibung

Viele Menschen wissen heute von den jüdischen und politischen Opfern des Nationalsozialismus, eventuell auch von der NS-Verfolgung der Homosexuellen sowie der Sinti und Roma. Weithin unbekannt ist aber die sozialrassistische Verfolgung derer, die die Nationalsozialisten für genetisch verdorbene und deshalb »auszumerzende« Menschen, für »Asoziale« und »Berufsverbrecher« hielten und sie deshalb als Häftlinge mit dem grünen oder schwarzen Winkel, einem Stoffdreieck auf der linken Brustseite der gestreiften Häftlingskleidung, in die Konzentrationslager sperrten. Dieses Buch beschreibt nicht nur eindringlich die historischen und politischen Hintergründe sowie die Verfolgung dieser Menschen im Nationalsozialismus, sondern stellt auch dar, warum sie in der Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang von jeder moralischen und rechtlichen Anerkennung ausgeschlossen wurden – bis der Deutsche Bundestag sie 2020 mit 70jähriger Verspätung als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannte. In bewegenden Darstellungen von mehr als zwanzig Nachkommen, die die Geschichte ihres jeweiligen Vorfahren erzählen, werden erstmals in der erinnerungskulturellen Publikationsgeschichte die Biografien einzelner Verfolgter vorgestellt – es zeigt sich, wie das Trauma der verleugneten Opfer bis heute in den Familien wirkt.

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Cover for EPUB

Frank Nonnenmacher (Hg.)

Die Nazis nannten sie »Asoziale« und »Berufsverbrecher«

Geschichten der Verfolgung vor und nach 1945

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Viele Menschen wissen heute von den jüdischen und politischen Opfern des Nationalsozialismus, eventuell auch von der NS-Verfolgung der Homosexuellen sowie der Sinti und Roma. Weithin unbekannt ist aber die sozialrassistische Verfolgung derer, die die Nationalsozialisten für genetisch verdorbene und deshalb »auszumerzende« Menschen, für »Asoziale« und »Berufsverbrecher« hielten und sie deshalb als Häftlinge mit dem grünen oder schwarzen Winkel, einem Stoffdreieck auf der linken Brustseite der gestreiften Häftlingskleidung, in die Konzentrationslager sperrten. Dieses Buch beschreibt nicht nur eindringlich die historischen und politischen Hintergründe sowie die Verfolgung dieser Menschen im Nationalsozialismus, sondern stellt auch dar, warum sie in der Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang von jeder moralischen und rechtlichen Anerkennung ausgeschlossen wurden – bis der Deutsche Bundestag sie 2020 mit 70jähriger Verspätung als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannte. In bewegenden Darstellungen von zwanzig Nachkommen, die die Geschichte ihres jeweiligen Vorfahren erzählen, werden erstmals in der erinnerungskulturellen Publikationsgeschichte die Biografien einzelner Verfolgter vorgestellt – es zeigt sich, wie das Trauma der verleugneten Opfer bis heute in den Familien wirkt.

Vita

Frank Nonnenmacher ist emeritierter Professor für Didaktik der politischen Bildung an der Universität Frankfurt am Main. Er ist Nachkomme eines KZ-Häftlings mit dem grünen Winkel, Initiator des erfolgreichen Appells an den Deutschen Bundestag zur Anerkennung der als »Berufsverbrecher« und »Asoziale« jahrzehntelang diskriminierten NS-Opfer und 1. Vorsitzender des 2023 gegründeten Vereins »vevon – Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus«.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Bärbel Bas: Geleitwort

Frank Nonnenmacher: Verfolgt, verachtet, verleugnet – vor und nach 1945

Ausschlusserfahrungen nach der Befreiung

Die allmählichen Erfolge der zunächst ebenfalls verleugneten Opfergruppen

Gründe für die anhaltende Stigmatisierung der von den Nazis als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Bezeichneten

Das Überlebensversprechen der SS an die Funktionshäftlinge

Wer bekam im KZ die »Funktionen« z. B. als Schreiber, Blockältester, Vorarbeiter oder »Kapo«?

Gibt es einen ethischen Grundkonsens über NS-Opfer, auch wenn sie zuvor straffällig waren?

Warum schwieg auch ich so lange?

Die Initiative zum Anerkennungsbeschluss

Der Beschluss des Bundestages vom 13. Februar 2020

Das Medienecho zum Bundestagsbeschluss

Endlich Bewegung

Vorstellung der Beiträge

Resümee

Literatur

Julia Hörath: Die KZ-Einweisungen von »Asozialen« und »Berufsverbrechern« bzw. »Berufsverbrecherinnen« im Nationalsozialismus. Rechtliche Konstrukte und kriminologische Diskurse

Die Zuschreibung »asozial«

Die Zuschreibung »Berufsverbrecher« bzw. »Berufsverbrecherin«

Die Winkelzuteilung in den KZ

Der legalistische Rahmen der KZ-Einweisungen von »Asozialen«, »Berufsverbrecherinnen« und »Berufsverbrechern«

»Schutzhaft«

»Heimtücke«

Fürsorgerechtlicher und sicherheitspolizeilicher Arbeitszwang

»Sicherungsverwahrung« und polizeiliche »Vorbeugungshaft«

Entwicklung der Verfolgung und Radikalisierungsdynamiken

Literatur

Für häufiger vorkommende Archive wurden folgende Abkürzungen benutzt:

Ausführliche Quellenangabe zu den nur mit Kurzbegriffen genannten Erlassen, Verordnungen und Gesetzen:

Wissenschaftliche Literatur

Anke Schulte: Wir sind noch da

Großvater

Wewelsburg

Großmutter

Vater

Onkel und Tanten

Onkel Hans

Onkel W.

Mitmenschen

Wir sind noch da.

Literatur

Daniel Engel: Emil Baum – ein Schicksal, ein Leidensweg

Auf der Suche nach meinem Urgroßvater

Vom Pech verfolgt – ein Lebensweg

Verhaftung – Emslandlager

Deportation ins KZ Dachau

Verlegung ins KZ Mauthausen

Das lange Schweigen nach 1945 und die Wiederentdeckung

Wie ging das Leben der kleinen Familie ohne Emil Baum weiter?

Literatur

Carola Sendel: »Stirb woanders, erspar uns die Schande«

Ein Brief aus dem KZ

Politisch oder BV – stolz auf Opa sein können, oder sich seiner schämen müssen?

Konsequenzen?

Siegrid Fahrecker: Unsichtbare Narben

Kinderfragen

Erste Erzählungen

Die Suche beginnt

Gefunden …

Jahrzehntelanges Weitersuchen

Mein Stammbaum

Mamas letztes Jahr

Die »Schatztruhe«

Literatur

André Glöckner: »Aus der Art geschlagen«. Rekonstruktion des verschwundenen Lebens der Johanna Römmler

Literatur

Ines Eichmüller: Und sie flüsterte: »Du weißt schon, dass er kein Politischer war (…)«. Ein vorbildlicher Kamerad

Ein Nuller

Durchlavieren am Gänsberg

Die Verhaftung

Die Überstellung nach Dachau

Alles andere als Automatismus: die vorzeitige Entlassung

Nach der Entlassung: Spuren der Folter und Verleugnen

»Du weißt schon…«

Literatur

Eva Fischer: »Wenn ich einen roten Winkel gehabt hätte, könnte ich so ein bisschen Held bei euch spielen. Kann ich aber nicht.«. Einer mit dem grünen Winkel bricht schon in den Achtzigern sein Schweigen

Biografische Notizen aus Kindheit, Jugend, jungem Erwachsenenleben bis zum Ende der Zeit im Konzentrationslager

Ernst Nonnenmachers Leben nach 1945

Ernst spricht zum ersten Mal über seine Zeit im Lager

Ernst Nonnenmacher als Zeitzeuge

Was bleibt

Persönliche Schlussbemerkung

Literatur

Alfons L. Ims: Sozial-politische Verfolgung jenseits der Konzentrationslager

Konsequenzen der Ausgrenzung werden spürbar

Meine Mutter wird durch Heirat »asozial«, bringt aber Licht ans Ende des Tunnels

Die Verarbeitung der Familiengeschichte in meiner Familie

Es gibt keine Gegenwart ohne Vergangenheit

Literatur

Petra Wilfert: Täter und Opfer

Eine verlorene Generation

Tragisches Ende eines Volksfestes

Der Prozess

Haft im Nationalsozialismus

Vermeintlich frei

Eine Frau kämpft um ihren Mann

Mein Resümee

Literatur

Barbara Stellbrink-Kesy: Vom »liederlichen Lebenswandel« zu Arbeitszwang, Psychiatrie und KZ

Annäherung an eine Eigensinnige

Nicht normal – Verstöße gegen die Sittlichkeit und Inanspruchnahme von Fürsorge

Der Nationalsozialismus fiel nicht vom Himmel

Zwangssterilisation

Familiengeschichte mit doppeltem Boden

Unerhörte Geschichten

Meine Erfahrungen bei der Aufarbeitung der Geschichte einer »Minderwertigen«

Literatur

Daniel Haberlah: Die verschüttete Geschichte meiner von den Nazis ermordeten Urgroßtante. Von dem Wunsch nach Verdrängen und Vergessen

Das kurze Leben der Irmgard Plättner

Das Nachleben der Irmgard Plättner

Heute

Literatur

Nicole Kaczmarek: Für die Nazis eine durch und durch »asoziale« Familie

»Säufer« oder alkoholkrank?

Meine Urgroßmutter - eine Arbeitsscheue?

Das tragische Schicksal von Martin und Paul, den ältesten Söhnen

Die Zwangstrennung der übrigen Kinder durch die Behörden

Endstation der letzten Kinder Remus im Waisenheim

Die Stigmatisierungen hören nicht auf

»Wir waren Abschaum«

Die Familienregeln

Meine Recherchen im Archiv

Die Anerkennung der Verleugneten

Literatur

Liane Lieske: In Auschwitz ermordet – selbst schuld? Meine Großmutter Erna Lieske

Ein Leben – rekonstruiert aus Gerichtsakten

Problematisches Gedenken – Demütigung bis zur 4. Generation

Auseinandersetzung versus Verdrängung in der Familie

Gesellschaftliche Abwehreffekte – Gedankensplitter

Literatur

Holger Tilicki: Er war kein Mörder und wurde doch zum Tode verurteilt

Wie ging die Familie mit dem Schicksal meines Onkels um?

Nennung als Opfer der Nazijustiz in einem Buch

Wie denke ich über meinen Onkel?

Literatur und Quellen

Ellen Lortzing: SCHORSCHI. Ein Anruf auf den letzten Poeng

Der traurige Schatz

Ein Leben ohne Auswege

Abschied nach 77 Jahren

Literatur und Quellen

Informationen aus dem Internet

Christopher Strunz: Wegen »Schwarzschlachtens« ins KZ

Die Konzentrationslager

Nach der Befreiung

Lange verdrängt und vergessen – späte Erinnerung

Marie-Luise Conen: Und immer wieder neu angefangen …

Nie gefragt – doch gewusst?

Meine Großeltern

Das große Unglück … und die Trennung meiner Großeltern

Lösungsversuche, die zu Problemen führen

Polizeiliche planmäßige Überwachung

KZ-Haft – Sachsenhausen – Ravensbrück – Berlin-Lichterfelde

Nach dem Krieg – Versuche neu anzufangen

»Er ist doch Dein Vater«

Scham

Zugehörigkeit suchend

Joachim Kowollik: Ein das Schreiben gewohnter Reichsarbeitsscheuer

Prolog

Eine von Armut geprägte Kindheit und Jugend im Grenzland Schlesien

Redakteur in Ausbildung, Schwerstarbeit im Tiefbau und Wehrdienstleistender

»Recht oder Unrecht, mein Vaterland!«

Als Wehrmachtssoldat in Frankreich und der Sowjetunion

Publizistische Aufarbeitung der Leiden in der NS-Tyrannei

Eine neue Häftlingskategorie? Ein Asozialer/Reichsarbeitsscheuer und antifaschistischer Kämpfer

Schreiben als eine lebenslange Leidenschaft

Epilog

Literatur

Irmgard Fuchs: Für Franz: Wie die Nazis das Leben meines Vaters verpfuschten

Einleitung

Nur Andeutungen und Ahnungen zu seinen Lebzeiten

Die Recherche

Sein erstes Leben

Der Fall, die verhängnisvolle Anschuldigung

Der Gutachter

Unterstellungen

Hilfeschreie

Sein zweites Leben

Das Nachspiel

Die Nachkriegsjustiz und das Medieninteresse

Sein drittes Leben

Nachwort

Literatur

Mascha Krink: Die NS-Ideologie in Sachen Familienpolitik – am Beispiel meiner Großeltern

Die Recherche meines Vaters

Biographie: Herbert

Ein großer Fund

Die Ehe bröckelt

Landesanstalt Bräunsdorf

Scheidung

Was wurde aus den Kindern?

Literatur

Geleitwort

Bärbel Bas

Am 13. Februar 2020 beschloss der Deutsche Bundestag: »Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet.«1 So unfassbar es klingt: Dieser Satz war nicht selbstverständlich. Zum Teil sogar bis heute hat sich die Vorstellung gehalten, dass manche Häftlinge zu Recht im Konzentrationslager waren. Besonders hartnäckig haftete dieser Verdacht an all den Menschen, die von den Nationalsozialisten als vermeintliche »Berufsverbrecher« und vermeintliche »Asoziale« stigmatisiert und deportiert wurden. In den Konzentrationslagern mussten sie den grünen beziehungsweise schwarzen Winkel tragen.

Mit dem Beschluss des Antrages »Anerkennung der von den Nationalsozialisten als ›Asoziale‹ und ›Berufsverbrecher‹ Verfolgten« hat der Deutsche Bundestag am 13. Februar 2020 klargestellt: Auch diese Menschen waren Opfer des nationalsozialistischen Unrechts. Ausnahmslos. Sie verdienen einen angemessenen Platz in unserer Erinnerungskultur. Dieses Buch trägt dazu bei, ihnen diesen Platz zu geben. Angehörige stellen die Verfolgungsschicksale ihrer verstorbenen Vorfahren vor und berichten vom Umgang damit in ihren Familien.

Ich danke Frank Nonnenmacher für die Initiative zu diesem wichtigen Projekt. Ebenso danke ich allen, die Texte zu diesem Buch beigetragen haben. Für ihre aufwändigen Recherchen. Und vor allem für ihren Mut, über dieses noch immer tabuisierte Thema zu schreiben. Sie haben damit unserer Erinnerungskultur einen bedeutenden Dienst erwiesen.

Die Beiträge machen deutlich, dass die Häftlinge mit dem grünen und schwarzen Winkel wenig gemein hatten – außer dass die Nationalsozialisten ihnen ein gemeinsames Stigma anhefteten. Die Texte handeln von sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten: von angeblichen »Arbeitsscheuen« und von Kleinkriminellen, die Kohlen gestohlen oder Urkunden gefälscht haben. Sie enthalten Berichte von Menschen in großer Armut, zum Beispiel von kinderreichen Familien, die sich durchgeschlagen hatten – bis die Eltern deportiert und die Kinder in Heime eingewiesen wurden. Die Beträge erzählen auch von Mädchen, die früh schwanger wurden, und von Frauen, die sich nicht in das enge Korsett der bürgerlichen Sexualmoral zwängen ließen.

So verschieden diese Menschen waren: Für sie gab es keinen Platz in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft«. Sie wichen ab. Aus Sicht der Nationalsozialisten genügte das für die Deportation. Sie wurden ohne jedes rechtsstaatliche Verfahren verfolgt – aufgrund von Vorstrafen, Denunziationen oder einfach aus Verdacht. Der perfide Euphemismus der Behörden lautete dafür »Vorbeugungshaft«. In vielen Fällen bedeutete sie ein Todesurteil.

Die Verfolgung von Menschen aus sozialen Gründen überschnitt sich mitunter mit der Verfolgung anderer Opfergruppen: der Sinti und Roma oder der sexuellen Minderheiten. In der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2023 wurde zum Beispiel das Schicksal der Jüdin Mary Pünjer vorgestellt, die unter dem Vorwand der »Asozialität« in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert wurde. Tatsächlich war sie als Homosexuelle ins Visier der Behörden geraten. 1942 wurde sie in der Gas-Tötungsanstalt Bernburg ermordet. Dieses Schicksal teilte sie mit vielen der als angebliche »Asoziale« Verfolgten.

Mir ist es wichtig, dass unsere Erinnerungskultur auch die lange vernachlässigten Opfergruppen in den Blick nimmt. Unsere Gesellschaft ist es allen Opfern des Nationalsozialismus schuldig, ihr Leid anzuerkennen und ihre Geschichten zu hören. Insbesondere die Häftlinge mit dem grünen und schwarzen Winkel wurden als Opfergruppe bewusst verleugnet – weil weite Teile der Nachkriegsgesellschaft die Verfolgung im Grunde für gerechtfertigt hielten. Die Ideologie der Nationalsozialisten wirkte noch nach.

Die Betroffenen schwiegen über ihre Verfolgung – aus Scham und aus Furcht vor erneuter Diskriminierung. Anders als andere Häftlingsgruppen hinterließen sie kaum Erinnerungsliteratur. Auch in den Familien war ihre Zeit im Konzentrationslager oft ein Tabu, über Generationen hinweg.

Die Anerkennung der aus sozialen Gründen Verfolgten als Opfer des Nationalsozialismus kommt spät – aber nicht zu spät. Auch die nachfolgenden Generationen leiden oft unter der verdrängten Verfolgungsgeschichte ihrer Eltern, Großeltern und Verwandten. Ihnen stärkt der Bundestagsbeschluss aus dem Jahr 2020 den Rücken: »Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet.«

In diesem Buch lassen Nachfahren erkennen, wie viel ihnen die Rehabilitierung ihrer Familienmitglieder bedeutet. Sie wollen das Schweigen brechen. Endlich! Sie führen damit vor, was unsere Erinnerungskultur lebendig hält: Menschen, die die Geschichte nicht auf sich beruhen lassen, die nachforschen und auch das Familiengedächtnis kritisch hinterfragen – und bereit sind, dafür auch Konflikte in ihrem persönlichen Umfeld zu riskieren.

Die Beiträge sparen die amivalenten Seiten der Opfer nicht aus. Über einen Häftling im Konzentrationslager erfahren wir, dass die Ausweglosigkeit seiner Lage ihn in die Zusammenarbeit mit den eigenen Verfolgern trieb. Ein Opfer war er dennoch. Häftlinge gegeneinander auszuspielen – das war Teil des perfiden Lagersystems. Die zersetzende Wirkung dieser Strategie überdauerte das Ende der Lager. Nach ihrer Befreiung sahen sich die Häftlinge mit dem grünen und schwarzen Winkel dem Verdacht ausgesetzt, die SS hätte besonders sie als »Kapos« geworben. Die Forschung hält dagegen: Diese Gruppe war nicht privilegiert, sondern oftmals einer besonders brutalen Behandlung ausgesetzt. Dieses Buch wird helfen, solche Vorurteile abzubauen.

Die hier vorgestellten Schicksale zeigen, warum sich Deutschland auch mehr als 75 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus seiner Vergangenheit stellen muss. Noch immer gibt es Lücken in der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen; Unrecht, das nicht anerkannt wurde; Opfer, deren Geschichten bis heute beschwiegen werden. Untersuchungen weisen darauf hin, dass ein großer Teil der Bevölkerung viele Opfergruppen des nationalsozialistischen Terrors nicht kennt. Es muss uns zu denken geben, dass »asozial« nach wie vor ein verbreitetes Schimpfwort ist.

Es ist weiterhin viel Aufklärungsarbeit nötig, gerade was die Häftlinge mit dem grünen und schwarzen Winkel betrifft. Dazu wird auch die Wanderausstellung beitragen, die der Deutsche Bundestag beschlossen hat und die die Stiftung »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« gemeinsam mit der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg konzipiert. Ihre Eröffnung im Laufe des Jahres 2024 wird ein wichtiger Schritt hin zu mehr gesellschaftlichem Bewusstsein sein.

Darüber hinaus hat sich auf Initiative von Frank Nonnenmacher ein »Verband für das Erinnern an die Verleugneten Opfer des Nationalsozialismus« gegründet, der viele Nachkommen der Verfolgten zusammenbringt. Die fehlende Anerkennung hatte es über Jahrzehnte verhindert, dass sich die Verfolgten organisieren. Ich bin dankbar, dass endlich auch diese Opfergruppe eine Stimme hat.

Dieses Buch schärft das Bewusstsein für die Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung. Auch darum ist es mit Blick auf unsere Gegenwart ebenfalls relevant. Die Beiträge laden zu einem Gedankenexperiment ein: Wie würden wir heute über einige der vorgestellten Menschen urteilen? Nehmen wir ihre Geschichten zum Anlass, unsere eigenen Vorurteile zu hinterfragen! Wir müssen uns immer wieder die fundamentale Lehre aus den Verbrechen des Nationalsozialismus vergegenwärtigen: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Jeder Mensch hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.

Unser Land ist liberal und tolerant geworden. Unsere Demokratie ist gefestigt, aber sie ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist gefährlich zu glauben, wir hätten ein für alle Mal aus der Geschichte gelernt. Was Soziologen »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« nennen, kennen wir bis heute. Umfragen zeigen: Auch in der Mitte unserer Gesellschaft gibt es die Bereitschaft, Minderheiten abzuwerten und Mitmenschen einzuteilen in die, die dazugehören – und die, die außenvor bleiben. Weil sie anders aussehen, anders denken oder anders leben.

Die Hemmschwellen für Hass und Hetze sinken, besonders in den sozialen Medien. Es ist schockierend, wie offen Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Menschenverachtung wieder artikuliert werden – längst nicht nur online. Das beunruhigt mich zutiefst.

Dieses Buch konfrontiert uns mit dem, was möglich war – und möglich bleibt.

Die Lektüre macht nachdenklich, berührt und rüttelt wach. Geschichte besteht aus vielen Geschichten. Diese Geschichten lassen uns mitfühlen mit Menschen, denen Unrecht und Leid widerfahren ist. Sie leisten einen wichtigen Beitrag, um lange vernachlässigten Opfergruppen ihren angemessenen Platz in unserer Erinnerungskultur zu geben.

Bärbel Bas ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags; seit 2021 ist sie Präsidentin des Deutschen Bundestages.

Verfolgt, verachtet, verleugnet – vor und nach 1945

Frank Nonnenmacher

Ausschlusserfahrungen nach der Befreiung

Erst als ich 25 Jahre alt war, habe ich erfahren, dass mein Onkel Ernst, der Halbbruder meines Vaters, im KZ war. Ich hatte beiden, getrennt voneinander, die generationstypische Frage gestellt: »Und was hast DU damals gemacht?« Mein Vater Gustav, der sechs Jahre lang als Pilot für Hitlers Luftwaffe geflogen war, stellte sich immerhin – anders als viele Väter meiner Alterskameraden – meinen anfangs sehr selbstgerechten Thesen (»Ich wäre Antifaschist gewesen!«) und blieb mit mir jahrelang im Gespräch (Vgl. Nonnenmacher 2014, 306 ff). Während Gustav bis 1945 als hoch geachteter Fliegerheld galt, sollte Ernst als »Asozialer« und »Berufsverbrecher« im KZ Flossenbürg »durch Arbeit vernichtet« werden. Auch Ernst erzählte mir in den 70er Jahren in vielen eigens dafür verabredeten Gesprächen sein Leben und Leiden. Für mich war Ernst von Anfang an ein Opfer des Faschismus, ein Mann, der aufgrund einer doch offensichtlich abzulehnenden Ideologie der Nazis, wonach Menschen, die mehrere Haftstrafen wegen kleinerer Delikte (z. B. damals strafbarer Bettelei, Hehlerei oder Diebstahl) abgesessen hatten, »bewiesen« hätten, dass sie asoziale oder kriminelle Gene in sich trügen und deshalb weggesperrt und vernichtet werden müssten. Für mich stand Ernst auf einer Ebene mit den jüdischen Opfern, mit den politisch Verfolgten, mit Sinti und Roma, Homosexuellen und allen, die in den KZ gequält und ermordet worden waren.

Ernst nannte mich naiv. Er erzählte mir von seinen vergeblichen Versuchen, nach 1945 eine Anerkennung als Verfolgter des Naziregimes zu erhalten. Er hatte nach der Befreiung mit seinem kommunistischen Freund Fritz Fiege, mit dem er im KZ Sachsenhausen an einem Kommando zum Reparieren von Geschosskörben eingesetzt war, in Witzenhausen eine Korbmacherei eröffnet. Fritz war sofort als »Politischer« anerkannt worden. Ernst wurde 1946 auf dem Landratsamt lapidar mitgeteilt: »Sie waren nicht aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen verfolgt, also waren Sie zu Recht im KZ.« Die beiden Freunde machten 1947 einen zweiten Versuch, denn sie hatten erfahren, dass ein anderer Kamerad aus Sachsenhausen, der politische Häftling Otto Auerswald, inzwischen Polizeipräsident in Zwickau und zudem in einem OdF-Komitee (Komitee zur Anerkennung von Menschen als Opfer des Faschismus) einflussreiches Mitglied geworden war. Sie fuhren hin, wurden freundlich empfangen, aber am Ende wurde Ernst von Otto klargemacht, dass die Vorurteile auch bei den Besatzungsmächten, vor allem aber in der deutschen Bevölkerung enorm groß waren. Die meisten seien doch der Meinung, dass alle, die in den Lagern waren, nicht ohne Grund dort gelandet seien. Auch die politischen Häftlinge müssten um ihre Anerkennung kämpfen. Und dann kam der entscheidende Satz: »In dieser Situation können wir es uns nicht erlauben, uns nachsagen zu lassen, dass wir uns mit Kriminellen auf eine Stufe stellen!« Das saß tief und bewirkte, dass die Freunde sich nicht mehr auf gleicher Stufe sahen; die Freundschaft zerbrach; Ernst zog nach Frankfurt wurde Straßenbauarbeiter und engagiertes Gewerkschaftsmitglied. Über seine Zeit im KZ schwieg er fast 30 Jahre lang.

Diejenigen unter den mit dem grünen und schwarzen Winkel Markierten, die Versuche unternahmen, als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt zu werden oder gar Entschädigungszahlungen zu erhalten, mussten ganz schnell erfahren, dass nicht nur in Zwickau, sondern in allen deutschen Städten, in denen Komitees oder Ausschüsse zur Anerkennung und Unterstützung der KZ-Häftlinge gegründet wurden, Exklusionsprozesse stattfanden. Schon lange vor dem Inkrafttreten des Bundesentschädigungsgesetzes sorgten insbesondere diejenigen, die in diesen Ausschüssen als aus politischen Gründen Verfolgte saßen, dafür, dass ihre ehemaligen Kameraden und Leidensgenossen von jeder Anerkennung ausgeschlossen wurden. Exemplarisch ist eine gemeinsame Stellungnahme der Vorsitzenden der Betreuungsstellen für NS-Verfolgte von Hanau, Wiesbaden, Gießen, Fulda, Darmstadt, Offenbach, Kassel und Frankfurt am Main vom August 1946: »Asoziale und kriminelle Elemente schädigen unser Ansehen. Wir haben es nicht verdient, dass man uns in einem Atemzug mit diesen Elementen nennt« (zitiert bei Ayaß 2008, 17). Es war offensichtlich in den ersten Nachkriegsjahren leicht, Menschen, die aus welchen Gründen auch immer nonkonformistisch lebten und den bürgerlichen Normen nicht entsprachen, zu diffamieren und auszuschließen. Zu dieser Einschätzung kommt auch Goschler in seiner Untersuchung von 1992: »Zugleich wird hier aber auch deutlich, dass die in nationalsozialistischer Zeit gebräuchlichen Kategorien der ›Asozialität‹ oder des ›gemeinschaftsschädlichen Verhaltens‹ noch nachwirkten. Man kann also feststellen, dass in den ersten Nachkriegsjahren auch unter den rassisch, religiös und politisch Verfolgten die Kriminalisierung normabweichender moralischer und sozialer Standards in der NS-Zeit nicht in Frage gestellt wurde, allenfalls wurde das übermäßige Strafmaß kritisiert. Dies lässt darauf schließen, dass die Verbreitung mancher Einstellungen und Vorurteilsstrukturen, die dabei eine Rolle gespielt hatten, quer durch alle Schichten der deutschen Bevölkerung verlief und sich nicht auf den dezidiert nationalsozialistisch eingestellten Teil beschränkte« (Goschler 1992, 88). Wie selbstverständlich die Exklusion der dann jahrzehntelang verleugneten Opfer des NS-Systems schon 1952 geworden war, zeigt ein scheinbar die grün- und schwarzgewinkelten Leidensgenossen einschließendes Plädoyer des SPD-Abgeordneten Reimers in der Hamburger Bürgerschaft, in der er für die Gleichbehandlung aller derer, die »von den Klauen des Nationalsozialismus erfasst worden« sind, plädiert und gar nicht mehr erwähnen muss, warum die Schwarz- und Grüngewinkelten bei der »Gleichbehandlung« dennoch ausgeschlossen werden. Christa Paul resümiert hierzu, dass der »Ausschluss von ›asozial‹ und ›kriminell‹ Inhaftierten sich zu diesem Zeitpunkt verfestigt hatte. Er war schon seit Jahren praktiziert worden und brauchte nicht mehr verteidigt zu werden. (…) In den Ohren derjenigen, die als ›Asoziale‹ und ›Kriminelle‹ inhaftiert gewesen waren, muss diese Äußerung wie Hohn geklungen haben« (Paul 2008, 83). Das Bundesentschädigungsgesetz von 1955 war dann die logische Folge des erfolgreichen ideologischen Kampfes der rotgewinkelten für den Ausschluss der schwarz- und grüngewinkelten Mithäftlinge. Es gewährte nur Personen Entschädigungen, die von den Nazis »aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung« verfolgt worden waren. »Diese Ausschließlichkeit wurde leider auch von politischen Organisationen der Verfolgten selbst seit 1945 vorangetrieben. Auch in der DDR erhielten nur politische Gegner der Nazis und die Opfer rassistischer Verfolgung staatliche Leistungen« (Borggräfe 2023). Bezeichnend ist auch die Entscheidung, die hinsichtlich der grün- und schwarzgewinkelten Leidensgenossen bei der Ausgestaltung des bekannten Reliefs im internationalen Mahnmal in der Gedenkstätte des KZ Dachau getroffen wurde. Der Vorschlag des Künstlers Nandor Glid war ein Relief einer etwa acht Meter breiten Kette, in der Dreiecke mit allen in Dachau verwendeten Winkelfarben abgebildet waren. Das Internationale Dachau-Komitee (CID), in dem die politischen Häftlinge das Sagen hatten, entschied 1963: »Der Vorschlag des Bildhauers für die Basis des Monuments ist: Alle Dreiecke müssen auf der Kette, die sich auf der Wand in der Anlage befindet, erscheinen. Das Sekretariat hat dieses Problem geprüft und diskutiert und kommt zu dem Fazit, dass alle Dreiecke ohne Ausnahme dargestellt werden, mit Ausnahme des grünen Dreiecks, das von verurteilten Straftätern getragen wurde, des rosa Dreiecks, das von Homosexuellen getragen wurde, und des schwarzen Dreiecks für die Asozialen. Wir dachten daher, dass diese Dreiecke keinen Platz auf dem Sockel der Anlage finden sollen. Das Denkmal soll der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus dienen und nicht jene Menschen ehren, die aus Gründen des allgemeinen Rechts, wegen Homosexualität oder als Asoziale inhaftiert waren.« (Riedle/Schretter 2015, 105) Ohne große gesellschaftliche Diskussionen wurden die genannten Dreiecke eliminiert. Ein – folgenloser und kaum beachteter – Protest kam immerhin von einzelnen Verbänden der Homosexuellen. Die Kette steht bis heute und schließt die genannten NS-Opfer sichtbar aus.

Die anerkannt Verfolgten traten öffentlich auf, kämpften für ihre Interessen, berichteten von ihren Leiden, schrieben Biografien, wurden in den Medien präsentiert, zu Gedenkfeiern und in Schulen als Zeitzeugen eingeladen – all dies völlig zu Recht, ja meines Erachtens lange Zeit noch viel zu selten. Gleichzeitig schwiegen die vor und nach 1945 Stigmatisierten. Sie schwiegen in den Familien, sie schwiegen gegenüber der Nachbarschaft, sie schrieben keine Erinnerungsliteratur, sie wurden in keine Fernsehsendung als Zeitzeugen eingeladen. Der Direktor der Arolsen Archives schreibt: »Vielfach war die KZ-Haft eines Familienmitglieds tabuisiert, denn das Stigma ›asozial‹ oder die Kennzeichnung als ›Berufsverbrecher‹ wirken bei vielen Menschen schon durch die Wortwahl bis in unsere Tage und sorgen für große Verunsicherung. Wir sehen dies etwa bei unseren Bemühungen, persönliche Gegenstände ehemaliger KZ-Häftlinge, die sogenannten Effekten, die wir in unserem Archiv noch verwahren, an Familien zurückzugeben. In einigen Fällen wollen die Familien den persönlichen Besitz ehemaliger Häftlinge mit dem grünen oder schwarzen Winkel gar nicht zurückerhalten, um an diese Geschichte nicht erinnert zu werden« (Borggräfe 2023, o.S.).

Angesichts des großen Schweigens der bruchlos Stigmatisierten muss allerdings an einen – aus heutiger Sicht fast rührend anmutenden – Versuch der Selbstorganisation und Interessenvertretung erinnert werden. Georg Tauber, ein Maler, der wegen seiner Morphinsucht 1938 eine Gefängnisstrafe erhielt, wurde nach deren Verbüßung 1940 von der Kripo als »Asozialer« erst in das KZ Sachsenhausen, dann nach Dachau deportiert. Auch seine Versuche, als Opfer des NS-Systems anerkannt zu werden, scheiterten – wie üblich. Er gab sich aber damit nicht zufrieden, sondern gründete mit anderen zusammen in München eine »KZ-Arbeitsgemeinschaft ›die Vergessenen‹«. In einer gleichnamigen hektografierten Zeitschrift, die in wenigen hundert Exemplaren nur kurze Zeit erschien, wandte er sich an die Mithäftlinge mit dem roten Winkel, erinnerte an gemeinsames Leid und plädierte für gemeinsame solidarische Interessenvertretung. In einem Aquarell »Die Last« drückte er den Zwiespalt zwischen den sich etablierenden politischen und den an der Last der Diskriminierung leidenden grün- und schwarzgewinkelten Ex-KZ-Häftlingen aus. Der Appell wurde nicht gehört, nach drei Ausgaben wurde das Blatt eingestellt. Ähnliche Aktivitäten unterblieben viele Jahrzehnte lang.

Abb. 1:»Die Last« (Georg Tauber, 1946)

Quelle © KZ-Gedenkstätte Dachau, Sign.: L992/55/45111

Die allmählichen Erfolge der zunächst ebenfalls verleugneten Opfergruppen

Auch andere zunächst ignorierte Naziopfer mussten lange um ihre Anerkennung kämpfen. Der § 175 StGB, der Homosexualität unter Strafe stellte, galt bis 1969 unverändert fort. Erst 1994 wurden sämtliche strafrechtlichen Sondervorschriften abgeschafft. Im Mai 2008 wurde das nationale Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen am Berliner Tiergarten eingeweiht. Zehn Jahre später, am 3. Juni 2018, sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Denkmal: »Wir sind spät dran. Was gegenüber anderen Opfergruppen gesagt wurde, ist ihnen bisher versagt geblieben. Deshalb bitte ich heute um Vergebung.« Wann werden ähnliche Worte an einem Mahnmal für die noch länger Verleugneten gesprochen?

Auch die Naziverbrechen an den Sinti und Roma, die in den KZ erst mit einem schwarzen, später mit einem braunen Winkel markiert wurden, galten in der Nachkriegszeit lediglich als »legitime Maßnahmen gegen Kriminalität«. Lange wurden auch sie nicht gehört. 1980 weckte ein Hungerstreik von zwölf Sinti in der Gedenkstätte Dachau, darunter KZ-Überlebende wie Romani Rose, der spätere Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma, das Interesse von Medien, Zivilgesellschaft und Politik. Am 17. März 1982 erkannte Bundeskanzler Helmut Schmidt den Holocaust an den Sinti und Roma völkerrechtlich an. 2012 wurde das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma eingeweiht.

Auch den Zwangssterilisierten wurde nach 1945 ein Wiedergutmachungsanspruch verweigert. Bis 1991 galt das Argument, auch in einem Rechtsstaat könne es Zwangssterilisierungen geben. 1988 wurden die entsprechenden Nazi-Gesetze aufgehoben. Erst im Januar 2011 wurde ein Entschädigungsanspruch durch den Bundestag beschlossen. Das lange Zuwarten hatte bewirkt, dass viele Betroffene schon verstorben, bzw. nicht mehr in der Lage oder willens waren, sich einem Antragsverfahren zu stellen. Bis zum November 2016 hatten gerade einmal 135 Personen einen solchen Antrag gestellt (Vgl. Hamm 2017). Ein nationales Denkmal gibt es nicht. 2013 wurde auf Grund einer Initiative des sehr verdienstvollen »Arbeitskreises Justiz und Geschichte des Nationalsozialismus in Mannheim« ein mobiles Mahnmal für die Opfer der Zwangssterilisierungen aufgestellt. Es steht für je ein Jahr an unterschiedlichen Orten des Verbrechens und wird von Schulklassen betreut.

Gründe für die anhaltende Stigmatisierung der von den Nazis als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Bezeichneten

Vielleicht der wesentlichste Grund ist, dass es über 70 Jahre keine einzige Stimme gegeben hat, sei es als Person, Verband oder Institution, die im Namen dieser Opfergruppe oder in ihrem Interesse sich öffentlich geäußert hätte. Auch in der Erinnerungskultur blieb sie ausgegrenzt – das muss man so hart sagen. Ein weiterer Grund ist sicher, wie Borggräfe zu Recht betont, dass es – anders als bei den anderen Opfergruppen – keine nicht diskriminierende Bezeichnung gibt. Ob die Bezeichnung »die Verleugneten«, die der im Januar 2023 geründete Verband »vevon« (»Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus«) vorschlägt, sich durchsetzen wird, muss man abwarten. Immerhin hat die »Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas« für das Projekt einer Wanderausstellung zum Schicksal dieser Opfergruppe auf ihrer Homepage auch diese Bezeichnung gewählt. Fragt man willkürlich Menschen nach ihren Assoziationen zu den Begriffen »Asoziale« und »Berufsverbrecher«, bekommt man keine positiv konnotierten Formulierungen zu hören, allenfalls erntet bei liberalen Menschen der vor dem Supermarkt bettelnde »Asoziale« einen mitfühlenden Unterton und einen Euro.

Schließlich hat auch die Forschung zu diesem Thema jahrzehntelang geschwiegen. 1995 konnten Karin Orth und Michael Wildt bilanzieren: »Über die Jahrzehnte hat die Perspektive der deutschen politischen Häftlinge das Gedenken und das Forschen beeinflusst, während die sogenannten ›asozialen‹ oder gar ›kriminellen‹ Häftlinge sowohl in weit geringerem Maße überhaupt schriftliche Erinnerungen hinterlassen haben, als auch kaum eine Chance gehabt haben, gehört zu werden« (Orth/Wildt 1995, 55 f). Danach gab es einige wenige, aber außerhalb der engen Fachcommunity öffentlich kaum wahrgenommene Publikationen, etwa von Wolfgang Ayaß oder Patrick Wagner (Vgl. Ayaß 1995; Wagner 1996). Ab dem Jahre 2000 erschienen dann einige sehr wichtige Arbeiten, wie das wohl – auch im internationalen Diskurs – bedeutendste Werk zu dem System der KZ allgemein von Nikolaus Wachsmann, in dem er an verschiedenen Stellen sehr differenzierte Aussagen zu den Grün- und Schwarzgewinkelten macht (Vgl. Wachsmann 2016). Weiter sind zu dieser Zeit erschienen: Christa Schikorras Forschungen zu »asozialen« Frauen im KZ Ravensbrück (Vgl. Schikorra 2001), Andreas Kranebitters wichtige quantitativ-soziologische Analyse zur Häftlingsgesellschaft des KZ-Mauthausen (Vgl. Kranebitter 2014), Sylvia Köchls biografische Forschungen der Wege von »Berufsverbrecherinnen« ins KZ Ravensbrück (Vgl. Köchl 2016), die Arbeit von Dagmar Lieske über die mehr als 9.000 Menschen, die im KZ Sachsenhausen als »Berufsverbrecher« inhaftiert waren (Vgl. Lieske 2016) und schließlich die von Julia Hörath, die zeigt, dass die wesentlichen Merkmale eines menschenrechtswidrigen Alltags schon in den frühen Phasen der KZ angelegt waren (Vgl. Hörath 2017). In fast allen Fällen sind diese Publikationen nicht unter angemessen gut ausgestatteten Projektbedingungen entstanden, sondern eher auf Grund akademischer Einzelinitiativen der Forscherinnen und Forscher. Trotz dieser wichtigen Arbeiten, die innerhalb des letzten Jahrzehnts erschienen sind, stimmt die Bemerkung von Wolfgang Ayaß über immense Forschungsdefizite immer noch: »Die ›Grünen‹ sind wohl die bislang am schlechtesten erforschte Häftlingsgruppe der Konzentrationslager« (Ayaß 2009, 25). Was zudem immer noch fehlt, ist eine systematische Erforschung der Rolle der Verfolgungsinstanzen, z. B. und vor allem der Rolle der lokalen Polizeien oder der Fürsorgeämter bei der Deportation von Menschen, die die Nazis für »asozial« oder »gewohnheitskriminell« hielten, ohne dass ihnen eine konkrete Straftat vorgeworfen oder eine Maßnahme richterlich angeordnet worden war. Auch eine über den Einzelfall hinausgehende systematisch-empirische Forschung zu den Biografien dieser Verfolgten steht aus. Dies betont auch Julia Hörath in diesem Buch mit dem letzten Satz ihres Beitrags in aller Deutlichkeit. Ein weiterer Grund für die anhaltende Stigmatisierung der verleugneten NS-Opfer ist die in der Erinnerungsliteratur der »Politischen« häufig zu findende Redefigur von den »Kriminellen«, die – im Gegensatz zu den Politischen – besonders willige Helfer der SS und Schinder der Mithäftlinge gewesen seien. »Es drängt sich die Vermutung auf, dass diese Abgrenzungsbemühungen der politisch Verfolgten auch eine Form war, die eigenen Deklassierungs- und Stigmatisierungserfahrungen, der NS-Zeit abzuwehren« (zur Nieden 2003,190). Es gibt bei diesem Thema eine argumentative »Falle«: Einerseits ist es völlig legitim, ja notwendig, die Frage zu stellen, inwieweit im KZ Häftlinge als Helfershelfer der SS dienten und an Übergriffen bis hin zum Mord beteiligt waren. Andererseits wird diese Frage traditionell immer nur dann gestellt, wenn es um »grüne« Häftlinge geht. Wenn ich jetzt dieses Thema aufnehme, laufe ich Gefahr, genau die Redeweise zu reproduzieren, die das Phänomen einer Tätergemeinschaft zwischen KZ-Häftlingen und der SS in eine exklusive Kumpanei zwischen den »Grünen« und der SS phantasiert. In vielen schriftlichen Erinnerungsberichten politischer KZ-Häftlinge existiert eine wiederkehrende und unwidersprochene Redefigur: Da wird von den tugendhaften und nur am Wohlergehen und an der Minimierung des Leids der Mithäftlinge interessierten »roten« Kapos ausgegangen, während die anderen, vor allem die »grünen« Kapos, meist als die willigen Helfer der SS und oftmals brutalere Schinder als diese selbst dargestellt werden. Dabei tauchen auch – bis heute nicht gänzlich verschwundene – Attribute, wie »geborene Verbrecher« auf, deren »Hang« zum Verbrechen offensichtlich sei. Die »anthropologische Kriminalitätstheorie« von Cesare Lombroso (1835–1909) und vor allem dessen Thesen zur Genetik wurden von den Nazis simplifiziert aufgegriffen. Das mündete in die Rechtfertigung der Nazis, diese Menschen, die genetisch bedingte Veranlagungen wie Arbeitsscheu, Wandertrieb, sozialschädliches oder kriminelles Verhalten aufwiesen, seien zum Schutze der Gesellschaft ohne Gerichtsverfahren auszusondern, wegzusperren und letztlich zu vernichten. Selbst ein an sich so reflektierter Zeitzeuge wie Eugen Kogon sprach zur Beschreibung der »grünen« Mithäftlinge von »üblen, zum Teil übelsten Elementen«, die »verbrecherisch veranlagt« (Kogon 1974, 68) seien, und übernahm damit unkritisch ideologische Versatzstücke der Nazis.

Ja, die KZ-Häftlinge mit dem grünen Winkel hatten – meist mehrere – Vorstrafen, in der Regel wegen Diebstahls, Einbruchs, Hehlerei, Bettelei, manchmal auch Körperverletzung oder Zechprellerei. Die Leserinnen und Leser der nachfolgenden Erzählungen werden zahlreiche Beispiele von deliktreichen Biografien finden. Aber diese Menschen haben fast alle ihre Strafen abgesessen und hätten sich somit nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten als freie Menschen bewegen können und als rehabilitiert gelten müssen. Diese Chance wurde ihnen aber genommen, denn sie wurden auf Weisung der Gestapo von den lokalen Polizeien einkassiert und direkt in die KZ verschleppt. Auch den »Sicherungsverwahrten« geschah typisch nationalsozialistisches Unrecht: Nach einer bloßen Absprache zwischen Heinrich Himmler und Justizminister Thierack wurden ab September 1942 zur (oft nachträglich verhängten) Sicherungsverwahrung Verurteilte ohne weitere justizförmige Verfahren aus den Gefängnissen geholt und sollten in den KZ »durch Arbeit vernichtet« werden. Sie wurden dort als »SVer« geführt, oft mit dem Vermerk auf der Karteikarte »RU« für »Rückkehr unerwünscht«. Sie erhielten in den KZ auch einen grünen Winkel, allerdings mit einer nach oben zeigenden Spitze. Sie wurden in relativ kurzer Zeit ermordet.

Es ist durchaus legitim, ja notwendig, die Frage zu stellen, warum Menschen delinquent werden, sich nicht an die gesetzlichen Regeln halten, verwahrlosen, sich prostituieren, Diebstähle und Einbrüche begehen, obdachlos sind oder sich nicht in die Welt der Arbeit einfügen können. Schon in meiner Jugend hatte bei dieser Frage ein über 100 Jahre altes Zitat eine für mich lehrreiche Wirkung: »Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es Reichen wie Armen, unter Brücken zu schlafen, auf Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.« (Anatol France 1894 in »Le lys rouge«) In bitterer Ironie zeigt dieser Satz, dass eines der wichtigsten Prinzipien der liberalen Demokratien (»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.«) gerade von den Opfern der aktuellen neoliberalen Variante der Marktwirtschaft als Hohn betrachtet werden muss. Auch heute leben wir in einer Gesellschaft, in der viele Menschen um ihre materielle Existenz kämpfen, demütigende Gänge zu den »Tafeln« unternehmen müssen und zum Teil kleinkriminell werden.

Die Spaltung der Gesellschaft Deutschlands war aber bis in die 1940er Jahre hinein um ein Vielfaches dramatischer, als wir das heute kennen. Es herrschte massive Arbeitslosigkeit, Lohnabbau und Wohnungsnot. In den Städten grassierten in der Folge das soziale Elend und individuelle Perspektivlosigkeit. So manches gesetzwidrige Verhalten war unter den damaligen Bedingungen nichts anderes als soziale Notwehr. Für die Nazis und ihre Vorstellung von einer reinrassig arischen, »sauberen« Gesellschaft war die Sache dann einfach: Wer »herumstreunte«, in Parks schlief, als »Fahrender« keinen Wohnsitz hatte, bettelte (was damals verboten war) oder auch infolge persönlicher Schicksalsschläge den sozialen Halt verlor, wurde als unverbesserlicher »Asozialer« gezeichnet und in ein KZ deportiert. Wer mehrfach straffällig geworden war, hatte alleine dadurch bewiesen, dass er ein »Berufsverbrecher« war. Er wurde nach Verbüßung seiner letzten Strafhaft i. d. R. durch die lokale Kripo gefasst, in ein KZ deportiert und dort mit dem grünen Winkel markiert.

Das Überlebensversprechen der SS an die Funktionshäftlinge

Wie konnte das KZ bei möglichst minimalem Personalaufwand für die SS funktionieren? Indem möglichst viele Funktionen des Überwachens und Strafens den Häftlingen selbst übertragen wurden. Dem ins Auge gefassten Häftling wurde ein zynischer, ja teuflischer »Vertrag« angeboten: Du überwachst eine definierte Gruppe deiner Mithäftlinge, z. B. in den Arbeitskommandos oder in der Baracke. Du sorgst dafür, dass das vorgegebene Arbeitspensum geschafft, die strikte Disziplin eingehalten und jede Aufsässigkeit schon im Ansatz unterbunden wird. Du darfst dabei alle disziplinarischen Mittel anwenden, du darfst demütigen, schlagen oder Strafexerzieren anordnen, ohne dass du dafür zur Verantwortung gezogen wirst, wir erwarten solche Verhaltensweisen sogar von dir. Im Gegenzug bekommst du besseres Essen, eine eigene Schlafstelle, kurz wir geben dir eine Überlebenschance.

Wer kann von sich behaupten, er hätte auf ein solches Angebot hin moralische Stärke bewiesen und lieber das Verrecken riskiert als die Rolle des Hilfspeinigers anzunehmen? Zumal klar war, dass eine Weigerung nicht einfach hingenommen, sondern der Betreffende sofort verdächtigt worden wäre, ein Subversiver zu sein, den man besonders schikanieren musste. In diesem moralischen Dilemma standen auch die »roten Kapos« von Buchenwald. Sie haben ihre Funktionsstellen benutzt, um eigene Kameraden besser zu verpflegen, in angenehmere Kommandos zu lotsen oder zu verhindern, dass sie »auf Transport« (d. h. in die Vernichtungslager) kamen. Aber jede Mehrverpflegung für den bevorzugten Genossen fehlte einem anderen, für jeden, der vor einem Schinderkommando gerettet wurde, kam ein anderer hinein und für jeden, der vor der Transportliste bewahrt wurde, kam ein anderer in ein Vernichtungslager. Skrupel gab es da nicht, kooperierten nach eigener Wahrnehmung die »roten Kapos« doch nur deshalb mit der SS, um das das eigene Überleben und das der »Guten« zu sichern. (Vgl. Niethammer 1994)

Beklemmend auch die innere Rhetorik, mit der man sich entschuldigen kann: Man ist als Kapo ja nicht persönlich verantwortlich für die Grausamkeit, man ist ja gezwungen, die Demütigungen und Unterdrückungen zu vollziehen. Es sei hier auf das Milgram-Experiment von 1961 verwiesen, wo Versuchspersonen in einem angeblichen Test über Lernen und Strafen »Lernenden« bei Fehlern Stromschläge auf Anweisung von »Wissenschaftlern« bis zu lebensgefährlichen Dosen verpassten. Die »Wissenschaftler« versicherten bei Skrupeln, sie, die Versuchspersonen, trügen keine Verantwortung für die Folgen, es sei notwendig für das Gelingen des Tests die »Strafen« auszuführen. Erschreckendes Ergebnis: Menschen sind bereit, grausam zu handeln, wenn ihnen die Verantwortung für die Folgen abgenommen wird.

Wer bekam im KZ die »Funktionen« z. B. als Schreiber, Blockältester, Vorarbeiter oder »Kapo«?

Die SS setzte Häftlinge aller Winkelfarben als Vorarbeiter, Blockälteste oder Kapos ein: kommunistische, sozialdemokratische, bürgerliche, »asoziale«, jüdische, »kriminelle«, deutsche und nicht-deutsche Männer und Frauen. Sie alle wurden in das Dilemma gezwungen, einerseits Mithäftlinge auf Befehl zu schikanieren, was andererseits das eigene Überleben bedeuten konnte. Sie blieben aber jederzeit gefährdete Häftlinge. Kapos »hatten einen gewissen Spielraum. Nichtsdestoweniger war selbst der schlimmste Kapo immer noch Gefangener, der von einem Tag auf den anderen hoffte, zu überleben. In dieser Hinsicht wenigstens waren alle Insassen gleich: Keiner von ihnen wusste, ob er morgen noch am Leben sein würde.« (Wachsmann 2018, 598 et passim) Und: »Nur eine Minderheit der Häftlinge hatte die Chance, in der Lagerhierarchie aufzusteigen und Funktionshäftling zu werden« (Dregger 2007, o. S.). Manche haben dem Druck nicht widerstanden und die SS-Befehle im Übermaß ausgeführt. Nicht wenige brutale Kapos wurden in den letzten Tagen und Wochen von den Häftlingen gelyncht. In der Nachkriegszeit gab es einige Prozesse gegen Kapos aller Winkelfarben, die sich schuldig gemacht hatten. In den 50er Jahren fanden in Israel und den USA Prozesse gegen jüdische Kapos statt. Sie endeten in der Regel mit sehr milden Urteilen, in denen auf das moralische Dilemma verwiesen wird, in dem sie sich befanden (Vgl. Ludewig-Kedmi 2001, 33 ff). Es gibt aber auch abscheuliche Einzelfälle. Einer der schlimmsten ist wohl Joseph Kammerer, ein Mauthausen-Häftling, der erst den braunen, dann den grünen und roten Winkel erhielt. Er war ein williger Helfer der SS, der seine Macht genoss, aber zugleich blieb er ein Werkzeug der SS, ein Produkt eines einmaligen Menschenversuchs, in dem sich sadistische Machtbedürfnisse entfalten konnten und sollten. 1950 wurde Kammerer wegen Mordes in 96 Fällen zu lebenslanger Haft verurteilt. Trotz solcher Einzelbeispiele gilt: »Der Stempel der brutalen, korrupten und rücksichtslosen Grünwinkler, der bereits im Lager allen von der Kripo Eingewiesenen anhaftete, ist genau das – ein Stempel, eine simplifizierende Verallgemeinerung. Denn die Zahl jener, die der SS nicht als verlängerter Arm dienten, sondern selbst in den Konzentrationslagern starben, unter dem Regime von SS und Kapos litten und sich nicht an der Ermordung und Versklavung anderer beteiligten, übertraf die Gruppe der willfährigen Helfer bei Weitem. In Mauthausen sollten über 8.000 der etwa 15.000 Kriminellen die Befreiung nicht erleben.« (Kranebitter 2013)

Manchen Kapos gelang die gefährliche Gratwanderung. Ein bekanntes Beispiel ist Otto Küsel. Er war der »Kapo Nr. 2« in Auschwitz und trug den grünen Winkel. Er erfährt von der Fluchtabsicht dreier polnischer Häftlinge. Er muss sie melden, oder er wird schwer bestraft, vielleicht getötet, wenn die Flucht entdeckt wird. Küsel entscheidet sich trotz seiner privilegierten Stellung dafür mitzufliehen, und die Flucht gelingt. Ein extremes Gegenbeispiel ist Paul Raphaelson, ein jüdischer Kapo in Theresienstadt. Er wurde nach 1945 zunächst Vorsitzender einer jüdischen Gemeinde, dann als einer der brutalsten Kapos von ehemaligen Häftlingen erkannt und in der CSSR zum Tode verurteilt. Franz Stuschka hingegen, SS-Mann und unmittelbarer Befehlsgeber von Raphaelson, kam in der Bundesrepublik nach kurzer Haft frei (Vgl. Dregger 2007).

Alle Funktionshäftlinge gerieten in das beschriebene Dilemma. Meines Erachtens gilt dennoch: Wer sich als Kapo oder Vorarbeiter aus eigenem Antrieb und über das von der SS geforderte Maß Übergriffe gegen Häftlinge hat zuschulden kommen lassen, ist nach dem Ende des Faschismus zu Recht angeklagt und bestraft worden – egal welchen Winkel er trug.

Gibt es einen ethischen Grundkonsens über NS-Opfer, auch wenn sie zuvor straffällig waren?

Mein Onkel Ernst hat als Wanderarbeiter, Wohnsitzloser und immer wieder Arbeitsloser während der Weimarer Republik und des Faschismus keinen sozialen Halt gefunden. Er stahl, verkaufte eine gestohlene Lederjacke, liebte eine Frau, die ebenfalls aus sozialer Not sich für wenige Mark prostituierte. Dafür kam er ins Gefängnis und saß alle seine Strafen bis zum letzten Tag ab. Nach vollständiger Verbüßung seiner letzten Haftstrafe wurde er von der lokalen KriPo gegriffen und kam ohne weiteres Verfahren direkt ins KZ und das bis zur Befreiung durch die rote Armee im April 1945. Für die Nazis hatte er bewiesen, dass er genetisch unbrauchbar war.

Aufgeklärte Demokraten erkennen alle Menschen, die in den KZ gequält und gemordet wurden, als Verfolgte des Naziregimes an. Niemals, bei keiner Opfergruppe, sollte die Anerkennung einer Person als NS-Opfer gebunden sein an die Prüfung eines der KZ-Haft vorangegangenen tadellosen Verhaltens. Unangepasstheit, Delinquenz, Vorstrafen, fragwürdige Lebensstile, selbst in hohem Maße kritikwürdiger Lebenswandel – in welcher Richtung auch immer – verwirken nicht das Recht auf ein Leben in Würde und rechtfertigen keine Verbringung in eine menschenrechtswidriges Zwangssystem, wie die KZ es waren.

Mit der Anerkennung als Opfer des NS-Willkürsystems ist auch keine »Rehabilitierung« oder »Amnestie« für eventuell vorangegangene Taten verbunden. Damit setzen sich Demokraten und Antifaschisten ab von jenen, die erklären, man dürfe den »Asozialen« und »Berufsverbrechern« »nicht eine Art Generalamnestie« (so MdB Thomas Ehrhorn für die AfD in der Bundestagsdebatte am 13. Februar 2020) gewähren. Dagegen stellt der Bundestag fest: »Alle Konzentrationslagerhäftlinge waren am Ende Opfer des nationalsozialistischen Unrechtssystems – auch Menschen mit dem ›schwarzen‹ und ›grünen‹ Winkel« (Beschluss vom 13. Februar 2020). Denn jede einzelne Verschleppung in ein KZ fand ohne richterliche Anordnung statt, war an keine konkrete Straftat gebunden, war nicht anfechtbar, war nicht zeitlich befristet, sie war Willkür. Die KZ-Haft verstieß gegen die fundamentalen Menschenrechte, war und ist typisch nationalsozialistisches Unrecht.

Warum schwieg auch ich so lange?

Eigentlich »wusste« ich es doch schon vor über 50 Jahren: Menschen wie mein Onkel Ernst waren Verfolgte des Naziregimes, waren zu Unrecht nicht als solche anerkannt und hätten Teil unserer Erinnerungskultur sein müssen. Als er mir in den 80ern in vielen Gesprächen und Interviews Rede und Antwort stand, als ich meinen Freunden und Lehrerkolleginnen und -kollegen von ihm erzählt und keiner von ihnen die Nase gerümpft hatte, als er zur gleichen Zeit (1983) in einer Schulklasse als Zeitzeuge mit dem grünen Winkel auftrat (siehe den Bericht von Eva Fischer in diesem Band), den Schülerinnen und Schülern seine spezielle Geschichte ganz offen erzählte und dabei erfolgreich antifaschistische Aufklärungsarbeit leistete, da hätte ich das doch eigentlich zum Anlass nehmen können – ja müssen – dieser verleugneten Verfolgtengruppe zu einer öffentlichen Präsenz in der Erinnerungskultur zu verhelfen. Wieso wurde ich nicht aktiv? Warum kam ich damals nicht einmal auf eine solche Idee? Vielleicht deshalb, weil ich in der Erinnerungsliteratur ehemaliger politischer und jüdischer Häftlinge, die ich gelesen hatte, die abwertenden Redeweisen über die »grünen Kapos« selbst internalisiert hatte? Vielleicht, weil ich schlichtweg Angst hatte, beim öffentlichen Aussprechen dessen, was für mich offensichtlich war, in den Kreisen der organisierten NS-Verfolgten und der Medien als ein naiver Verteidiger von Kollaborateuren der Nazis dazustehen? Vielleicht auch, weil ich fürchtete, den intellektuellen Balanceakt nicht auszuhalten, das unfassbare Dilemma des von der SS eingesetzten Helfershelfers zu verstehen und gleichzeitig die schärfste Verurteilung derer zu befürworten, die in diesem Dilemma sich zu Sadisten entwickelt hatten? Vielleicht war es aber auch einfach so, dass mein politisches Interesse sich in hohem Maße auf das Zeitgeschehen bezog, wie das Aufkommen der NPD, die Diskussionen um die Baader-Meinhof-Gruppe, die Afghanistan-Kriege, die Berufsverbote für linke Lehrerinnen und Lehrer oder die Bush-Lüge zur Legitimierung des zweiten Irak-Krieges, die mich und meine Freunde damals beschäftigten, und für anderes kein Raum mehr blieb.

Jedenfalls begann ich erst zu Beginn des neuen Jahrtausends in Staatsarchiven, in den Arolsen Archives und den Archiven der KZ-Gedenkstätten Genaueres zum Schicksal meines Onkels zu recherchieren. Ich lernte dabei Dagmar Lieske und Julia Hörath, schließlich in Mauthausen auch Andreas Kranebitter und Sylvia Köchl kennen und schätzen. 2014 erschien die Doppelbiografie zu meinem Onkel Ernst, der erst in Flossenbürg, dann in Sachsenhausen im KZ war, und seinem Bruder, meinem Vater, der zur gleichen Zeit für die Nazi-Luftwaffe geflogen war. In vielen Lesungen und Vorträgen machte ich eine verblüffende Erfahrung: Es waren gar nicht in erster Linie die Brüche in der Biografie meines Vaters, die die Menschen berührte, es war vielmehr das Schicksal Ernsts, das Emotionen freisetzte und Nachfragen auslöste. Die allermeisten Menschen stellten fest und viele sagten das auch öffentlich: »Von dieser Häftlingsgruppe habe ich ja gar nichts gewusst.« Selbst Geschichtslehrer, die mich in den Unterricht eingeladen hatten, bekannten ihre Nicht-Informiertheit. Und es ist mir bis jetzt noch kein einziges Mal begegnet, weder bei Vorträgen, noch im Presseecho auf meine öffentlichen Interventionen, was ich befürchtet hatte, nämlich dass in Zweifel gezogen worden wäre, dass auch von der SS in den KZ mit dem schwarzen und dem grünen Winkel Markierte Verfolgte des Naziregimes waren.

Die Initiative zum Anerkennungsbeschluss

Eigentlich begann es 2013, als Dagmar Lieske und ich gemeinsam zu einem Vortrag in Berlin eingeladen waren, dass wir am Rande und nach der Veranstaltung Überlegungen über die Möglichkeit einer Aktivität zur Anerkennung der mittlerweile über 70 Jahre ignorierten NS-Opfer anstellten (vgl. die Beschreibung von Dagmar Lieske 2021, 80 ff). Schnell waren wir uns einig, dass wir zusammen mit Julia Hörath, Sylvia Köchl und Andreas Kranebitter initiativ werden wollten. Wir wollten eine Debatte im Bundestag anregen, die das Thema publik machen sollte. Wir rechneten durchaus damit, dass die damalige große Koalition letztlich das Anliegen nicht unterstützen würde, hofften aber doch, dass wenigstens LINKE und Grüne sich dem Thema nicht verweigern würden und es so mindestens zu einer Bundestagdebatte kommen würde. Im Oktober 2017 legte ich meinen vier Mitstreiter*innen einen ersten Textentwurf vor, den wir nach intensiven internen Diskussionen mehrfach variierten und schließlich daran gingen, »prominente« Erstunterzeichnende dafür zu gewinnen. Nach und nach gewannen wir Unterstützerinnen und Unterstützer, z. B. aus der Wissenschaft Jürgen Habermas, Wilhelm Heitmeyer, Micha Brumlik und Nikolaus Wachsmann, mehrere Personen aus den Gedenkstättenleitungen sowie Politiker*innen aus CDU/CSU wie Elmar Brok, Peter Tauber, Jan-Marco Luczak oder Marie-Luise Dött, aus der SPD Kerstin Griese, Eva Högl oder Wolfgang Thierse, von den Grünen Claudia Roth, Tabea Rösner und Erhard Grundl, von den LINKEN Janine Wissler und Bodo Ramelow, von der FDP Nicola Beer. Am 18. April 2018 wurde dann der von 120 Erstunterzeichnenden und weiteren 22.000 Menschen unterschriebene Appell dem Bundestagspräsidium zugeleitet (siehe: change.org/vergessene-opfer). In der Folge gab es mehrere Sitzungen des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien. Julia Hörath, Dagmar Lieske und ich waren mehrfach zu Expertenanhörungen eingeladen. Die Meinung der Experten war relativ einhellig, die Abgeordneten stellten interessierte Nachfragen, lediglich der Abgeordnete Jongen (AfD) wurde in der öffentlichen Sitzung am 6. November 2019 beleidigend. (Vgl. Wortprotokoll 2019, 13)

Nach anfänglichem Zögern der CDU/CSU-Ausschussmitglieder bedurfte es dann der Intervention auf Fraktionsebene, insbesondere der damaligen Fraktionsvorsitzenden Eva Högl (SPD), bis es schließlich zu einem gemeinsamen Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD zur Anerkennung der bisher Verleugneten als Opfer des Nationalsozialismus kam. Die Fraktionen von Bündnis90/die Grünen, FDP und LINKE legten je einen eigenen Antrag vor.

Der Beschluss des Bundestages vom 13. Februar 2020

Am 13. Februar 2020 lagen dem Plenum des Bundestages vier verschiedene Anträge vor. Die Fraktionen von B90/Grüne, FDP und LINKE hatten einen je eigenen Antrag eingebracht und die GroKo aus CDU/CSU und SPD einen gemeinsamen. Alle vier hatten das Ziel, eine Anerkennung der so lange verleugneten NS-Opfer auszusprechen, und unterschieden sich lediglich in Nuancen bei der Begründung. Die AfD hatte keinen eigenen Antrag vorgelegt. Die drei Oppositionsanträge wurden nacheinander vorgestellt und durch die Mehrheit der Großen Koalition abgelehnt. Bei der Schlussabstimmung über deren Antrag stimmten dann alle demokratischen Fraktionen dafür, lediglich die AfD enthielt sich. Obwohl B90/Grüne, FDP und LINKE mit ihren Anträgen gescheitert waren, kam es also zu einer breiten Zustimmung und damit zu einer verpflichtenden Grundlage auch für zukünftige Regierungskoalitionen. Der Bundestag beschloss, »die Opfergruppen, die von den Nationalsozialisten ›Asoziale‹ und ›Berufsverbrecher‹ genannt wurden, zukünftig stärker in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und ihnen einen angemessenen Platz im staatlichen Erinnern zu verschaffen«, sowie sie »…anzuerkennen, ihre Geschichte aufzuarbeiten und als ›asozial‹ oder ›Berufsverbrecher‹ Verfolgte in die nicht abschließende Aufzählung der Leistungsempfänger in § 1 Abs. 1 Satz 2 AKG-Härterichtlinien aufzunehmen«. Und schließlich wird eindeutig festgestellt: »Alle Konzentrationslagerhäftlinge waren am Ende Opfer des nationalsozialistischen Unrechtssystems – auch Menschen mit dem ›schwarzen‹ und dem grünen Winkel« (Bundestagsbeschluss vom13. Februar 2020). Der Abgeordnete Erhard Grundl drückte es in der Aussprache prägnant und jede Relativierung verurteilend so aus: »Kein Mensch war zu Recht im KZ. Punkt! Aus!«

Dass dieser Beschluss zustande kam, ist aus meiner Sicht zunächst einmal ein großer Erfolg für alle, die die entsprechende Initiative getragen und unterstützt haben und zugleich ein Wendepunkt in der Erinnerungskultur. Leider ist aber der kritische Einwand berechtigt, dass der Beschluss viel zu spät kam. Durch das 75jährige Zuwarten ist die Situation eingetreten, dass kaum noch eine Person lebt, die als Opfer eine materielle Entschädigung beantragen könnte oder wollte. Es ist faktisch niemand mehr da, die oder der sich ganz einfach über den neu gewonnenen Respekt oder die neue Akzeptanz als Opfer des Faschismus freuen kann. Seit 2020 war niemand mehr willens oder in der Lage, einen Entschädigungsantrag zu stellen. Zynisch kann man sagen: Das Geld hat die Bundesrepublik Deutschland gespart. Dennoch ist die Anerkennung durch den Bundestag bedeutsam für die Angehörigen und Nachkommen dieser NS-Opfer. Ein offeneres Umgehen mit der Familiengeschichte wird möglich, auch ein Zugänglichmachen der privaten Dokumente für die Forschung. Das beschämte Schweigen kann jetzt ein Ende haben. Positiv ist auch zu bewerten, dass eine der Maßnahmen, die der Bundestagsbeschluss explizit für notwendig hält, um den »angemessenen Platz im staatlichen Erinnern« einnehmen zu können, relativ zeitnah angepackt wurde: 2020 wurden aus dem Budget der Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) 1,5 Mio € zur Verfügung gestellt, um eine Wanderausstellung zu den verleugneten NS-Opfern zu erstellen und Städten und Institutionen anbieten zu können. Die Stiftung »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« ist in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Flossenbürg dabei, diese Ausstellung zu konzipieren. Sie soll im Jahre 2024 einsatzbereit sein.

Andere Maßnahmen, die laut Bundestagsbeschluss notwendig sind, um den Verleugneten zu einem »angemessenen Platz« in der Erinnerungskultur zu verhelfen, werden in dem Bundestagsbeschluss ausdrücklich genannt, sind aber bedauerlicherweise bislang nicht umgesetzt worden. So hat der Bundestag zwar beschlossen, »Forschungsaufgaben zu finanzieren, um das Schicksal der von den Nationalsozialisten als ›Asoziale‹ und ›Berufsverbrecher‹ Verfolgten weiter aufzuarbeiten«, was auch dringend notwendig ist, denn eine systematische und kriteriengeleitete Forschung gibt es bislang nicht. Die Darstellung von Einzelschicksalen der sich in Arbeit befindenden Wanderausstellung werden zwar einen anschaulichen Charakter haben, können und wollen aber keineswegs die geforderten systematischen Forschungen ersetzen. Bislang hat jedoch weder das Staatsministerium für Kultur, noch ein anderes Ministerium auch nur die Absicht kundgetan, ein angemessenes Forschungsbudget bereitstellen zu wollen. Julia Hörath beschreibt in diesem Buch welche weiteren konkreten Forschungsdefizite noch bestehen: Das Ausmaß der KZ-Einweisungen von »Asozialen« auf fürsorgerechtlicher Grundlage »ist bislang nicht bekannt«. Und sie mahnt u.a.: »Zu Auswahlkriterien für die Gaskammern der ›Euthanasieanstalten‹ bedarf es weiterer Forschungen«.

Ein weiterer Bestandteil des Beschlusses vom 13. Februar 2020 fordert die Bundesregierung auf, Forschungen »zu der noch wenig erforschten Rolle der beteiligten Verfolgungsinstanzen finanziell zu fördern«. Welche Rolle spielten zum Beispiel die Wohlfahrtsämter beim Aufspüren und Verfolgen im Rahmen der Razzien gegen »Asoziale«? Hier stünde es dem Bundesinnenministerium (in Kooperation mit den Innenministerien der Länder) gut an, Gelder für ein Forschungsprojekt bereitzustellen, bei dem historische Fachbereiche von Universitäten und eine Polizeihochschule gemeinsam systematisch – sagen wir in einer repräsentativen Anzahl von Städten – untersuchen, welche Rolle die lokalen Polizeien einnahmen bei der Deportation von Menschen, die ihre Strafe vollkommen abgebüßt hatten, oder wie sich die Fürsorgeämter beim Aufspüren der »Asozialen« beteiligten. Die Akten werden in vielen Fällen unberührt in den Archiven ruhen. Die Hoffnung der Nachkommen der Verleugneten, dass auch diese Punkte des Bundestagsbeschlusses vom Februar 2020 umgesetzt werden, ist bislang nicht erfüllt worden; nicht einmal Absichtserklärungen sind bekannt geworden. Im Gegenteil: Auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom 11. Dezember 2023 zum »Stand der Umsetzung« des Bundestagsbeschlusses antwortete die Bundesregierung am 27. Dezember 2023, also fast vier Jahre nach dem Beschluss, lapidar: »Im BMBF werden aktuell keine Forschungsprojekte zu den beteiligten Verfolgungsinstanzen geplant. Es ist nicht geplant ein entsprechendes Forschungsprogramm im Haushalt des Inneren zu etatisieren.« Im Übrigen zeigt die Antwort auch zu den anderen Teilen der Anfrage, dass die gegenwärtige Bundesregierung bis auf den Punkt »Wanderausstellung« ihre eigenen, einstimmig gefassten Beschlüsse nicht bereit ist umzusetzen. Offensichtlich ist naiv, wer glaubt, ein einstimmiger Bundestagsbeschluss verpflichte die jeweilige Bundesregierung zur anschließenden Bereitstellung entsprechender Finanzierungen. Noch nicht einmal eine Begründung für diese Verweigerungshaltung ist der Antwort zu entnehmen (vgl. Bundestagdrucksache 20/9968 vom 27.12.2023).

Ein weiterer Aspekt des Bundestagsbeschlusses ist kritisch zu kommentieren. Im kulturpolitischen Ausschuss des Bundestages wurde von den eingeladenen Expertinnen und Experten in den Anhörungen über die nach der nationalsozialistischen »Polenstrafrechtsverordnung« Verfolgten und wegen Bagatelldelikten zu hohen Gefängnisstrafen verurteilten Polinnen und Polen berichtet. Sie wurden nach dem Himmler-Thierack-Abkommen als »SVer« mit dem grünen Winkel in die KZ deportiert und in hoher Zahl ermordet. Ein Beispiel: Die 21jährigen Kazimierz K., Stanislaw A. und Tadeusz P. waren zur Zwangsarbeit in Berlin verpflichtet worden. Dort entwendeten sie im April 1942 ein paar Kleidungsstücke. Im August 1942 wurden sie nach der Polenstrafrechtsverordnung vom Berliner Sondergericht zu verschärftem Straflager von fünf Jahren in Wronki verurteilt. Von dort wurden sie ins KZ Mauthausen deportiert, wo sie kurz darauf »verstarben«. (Quelle: Raum der Namen – die Toten des KZ Mauthausen).

Ich berichtete dem Ausschuss als Beispiel von folgendem Fall: »Emil Madej, ein 38-jähriger Hausmeister, wurde denunziert, weil er ein Bajonett nicht abgeliefert, sondern unter seinem Bett versteckt hatte. Im Oktober 1940 wurde er wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Kurz nach dem Himmler-Thierack-Abkommen, also schon im Dezember 1942, wurde Emil dann in einem Transport zusammen mit über 1.000 überwiegend polnischen ›Sicherungsverwahrten‹ in das Konzentrationslager Mauthausen zur Vernichtung durch Arbeit eingeliefert. Die dortige SS erledigte den Auftrag, Emil überlebte kaum einen Monat. Er starb am 15. Januar 1943 laut Totenbuch an Lungenentzündung. Emil ist nur einer von über 6.000 ›SVern‹, die allein in Mauthausen umgebracht worden sind. Emil wurde aufgrund der Polenstrafrechtsverordnung, jener Entfesselung nationalstaatlicher Brutalität, deportiert und zu Tode gebracht. Diese Verordnung wurde 1947 in den Nürnberger Juristenprozessen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Ich erzähle dieses Beispiel, weil ich Sie bitte, in Ihrem Antrag diese bis heute verdrängten Hintergründe der Ermordung vieler ›SVer‹ nach der Polenstrafrechtsverordnung mit aufzunehmen und auch zu verurteilen. Selbstverständlich zu verurteilen, was denn sonst?« (Wortprotokoll 2019, 11; ähnlich die als Expertin geladene Dagmar Lieske a. a. O., 21)

In dem schließlich verabschiedeten Bundestagsbeschluss kommen diese NS-Opfer nicht vor, lediglich in dem Antrag der Fraktion der LINKEN werden sie erwähnt. Auch hier hat die Forschung massiven Nachholbedarf. Julia Hörath schreibt unmissverständlich: »Über die praktische Anwendung der ›Polenstrafrechtsverordnung‹ liegen noch keine Forschungsergebnisse vor.« Finanzierungsabsichten der Regierung sind auch hier nicht bekannt. Von offizieller polnischer Seite gibt es bis heute keine Stellungnahme. Möglicherweise ist in polnischen Regierungskreisen keine große Neigung vorhanden, sich mit nicht eindeutig aus politischen Gründen von den Nazis verfolgten Polinnen und Polen zu solidarisieren.

Claudia Roth ist seit Dezember 2021 neue Kulturstaatsministerin. Sie ist Erstunterzeichnende des Appells an den Bundestag vom April 2018. Dafür war und bin ich ihr sehr dankbar. Ich erwarte von ihr und der aktuellen Koalition weiterhin Initiativen, die nach dem Polenstrafrecht Verfolgten in einer eigenen Erklärung zu würdigen und dass die Finanzierung der noch ausstehenden Maßnahmen zügig stattfindet. Es sind jetzt schon wieder vier Jahre vergangen. Für die Nachfahren der von den Nazis als »Berufsverbrecher« und »Asoziale« ins KZ Verschleppten sind weitere Verzögerungen kaum erträglich.

Das Medienecho zum Bundestagsbeschluss

Ein mir bekannter Journalist, den ich fragte, warum das Pressecho zu dem Bundestagsbeschluss so dürftig ausgefallen sei, erklärte mir mit entwaffnender Offenheit: »Weißt du, wir Medienleute suchen in den Themen immer den Konflikt, die Kontroverse; wir berichten über das, was umstritten ist. Der Bundestagsbeschluss ist einstimmig gefallen? Noch nicht einmal die AfD hat dagegen gestimmt? Es gab keine Auseinandersetzungen? Da gibt es für uns ja gar nichts kritisch zu berichten. Das Thema ist für uns ›kalt‹«. Bei meinen Pressekontakten in den letzten Jahren hatte ich den Eindruck, dass ein Grund, warum sich Journalistinnen und Journalisten mit den »verleugneten NS-Opfer« nicht unbedingt gerne beschäftigen wollen, auch darin liegt, dass es ein »schweres« Thema ist, in das man sich erst »einarbeiten« muss.

Ausführlicher, vor allem auch kritisch hinsichtlich der Umsetzung des Bundestagsbeschlusses haben vor allem »der Freitag«, der »Tagesspiegel«, die »Frankfurter Rundschau«, und die »taz« berichtet; die großen Printorgane wie »Spiegel«, »Süddeutsche« oder die »Zeit« haben dem Thema offensichtlich keine große kulturelle Bedeutung beigemessen. Im Fernsehen hat es einige trotz der Kürze sehr informative Beiträge z. B. in FAKT (Tom Fugmann) oder in »ZDF-Mittagsmagazin« (Thomas Gill) gegeben. Ausführliche Dokumentationen mit historischer Analyse, Hintergrundberichten und Bewertungen des aktuellen Umgangs der Politik mit dem Thema der verleugneten Opfer des NS stehen aus; nicht eine der populären Talk-Runden hat sich mit diesem Thema bis heute beschäftigt.

Endlich Bewegung

Dennoch konnte ich seit dem 13. Januar 2020 eine Veränderung feststellen. Als Autor einer Biografie eines Verleugneten, der mit dem grünen Winkel im KZ war, erhielt ich verstärkt Einladungen zu Lesungen und Vorträgen in Schulen, Kulturinstituten und Gedenkstätten. In Fürth lernte ich im Rahmen einer solchen Veranstaltung Ines Eichmüller kennen, in zweiter Generation Nachkommin eines mit dem schwarzen Winkel Markierten. Lange Diskussionen nach der Veranstaltung führten dazu, dass wir uns entschlossen, eine Verbandsgründung ins Auge zu fassen. Unser erstes großes Problem betraf die Frage: Wie kommen wir an die Daten von Nachkommen der Verleugneten heran? Es gibt nirgends eine Institution, die solche Daten führt. Wir sahen nur einen möglichen Weg: Es musste gelingen, möglichst viele Presseartikel zu lancieren, die von der geplanten Verbandsgründung berichteten und die Redaktionen dazu zu bringen, am Ende für Menschen, die als Nachkommen an der Verbandsgründung teilnehmen wollten, eine Mail-Adresse anzugeben. Innerhalb eines halben Jahres gelang dies in hinreichend vielen Fällen, sodass ich tatsächlich Mitte 2022 etwa fünfzig Adressen von Nachkommen aus der ersten, zweiten und sogar dritten Generation eines oder einer Verleugneten hatte. Viele schrieben bereits bei der ersten Kontaktaufnahme von der Geschichte ihres jeweiligen Vorfahren und äußerten ihre Genugtuung über den Versuch, »endlich« eine Plattform zu gründen, die erstens einen Austausch ermöglichen und zweitens auch nach außen gerichtete Aktivitäten entfalten könnte. Es gab Interessent*innen, die mir schrieben, dass sie die Idee, sich mit anderen Nachkommen zu treffen, wunderbar fänden, es aber »noch nicht« schaffen würden, zu einer solchen Versammlung zu kommen. Ich hatte schon durch entsprechende Hinweise in den ersten Kontaktschreiben damit gerechnet, dass es Teilnehmerinnen und Teilnehmer geben könnte, die noch nie außerhalb der Familie über ihren verleugneten Vorfahren geredet haben.