Die Nervensäge, meine Mutter, Sir Tiffy, der Nerd & ich - Michael Gerard Bauer - E-Book

Die Nervensäge, meine Mutter, Sir Tiffy, der Nerd & ich E-Book

Michael Gerard Bauer

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Beschreibung

Das perfekte Leben der Maggie Butt soll endlich beginnen, deshalb hat sie sich einiges vorgenommen: Sie möchte an der neuen Schule eine beste Freundin finden, sie will eine glatte Eins in Englisch schaffen und sie muss unbedingt eine zumutbare Begleitung für den Abschlussball auftreiben. Der unwesentliche Haken dabei: Das Schuljahr dauert gerade noch, zwei Monate. Und dann ist da noch der neue Lover ihrer Mutter. Diese Nervensäge gibt plötzlich überall ihren Senf dazu und macht damit alles noch schlimmer. Mit viel Wortwitz und Komik erzählt dieses Jugendbuch vom ganz normalen Wahnsinn im Leben eines jungen Mädchens.

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Über das Buch

In Maggies Leben ist so gut wie gar nichts perfekt. Schon gar nicht mehr, seit diese Nervensäge namens Danny an der Seite von Maggies Mutter aufgetaucht ist. Zu allem gibt er ungefragt seinen Senf dazu, ob es um Maggies verunglückte Frisur, um ihr erstes Date oder um den Abschlussball geht. Und dann schleppt er auch noch einen scheintoten räudigen Kater an und will als echtes Gemeinschaftserlebnis den gesamten Garten umgraben. Unfassbar!

Hanser E-Book

Michael Gerard Bauer

Die Nervensäge, meine Mutter, Sir Tiffy, Der Nerd & Ich

Aus dem Englischen vonUte Mihr

Carl Hanser Verlag

Für Dyan und Celia, für die vielen Male,die ihr mir geholfen habt, »was drin ist,hinaus in die Welt zu bringen«, und für die vielen »Wunder«, die ihr für mich erwirkt habt. Mit liebem Dank.

Die Nervensäge

Alles begann mit Danny, besser bekannt als die Nervensäge. Offiziell trat er genau neun Wochen und einen Tag vor der Abschlussfeier, am Ende des Schuljahres, in mein Leben. Und trotz aller Versuche, den Tag aus meinem Gedächtnis zu löschen, erinnere ich mich immer noch an jedes einzelne Detail.

Es war ein Freitag.

Der dreizehnte Tag des Monats.

Merkst du was?

Ich merkte nichts. Zumindest damals nicht. Keine Alarmglocken. Kein Gefühl drohenden Unheils. Eigentlich nicht verwunderlich. Mein Leben war bis dato nicht gerade ein Ponyhof gewesen, und »drohendes Unheil« war mehr oder weniger mein Normalzustand. Außerdem war alles, was an diesem Abend passierte, eigentlich ganz normal. Ich meine, Mum hatte durchaus schon Dates gehabt, seit Dad uns verlassen hatte. Ja. Zwei Mal. Später dann. Und warum auch nicht? Sie war noch jung. Irgendwie.

Aber diese Dates hatten absolut nichts bedeutet. Sie führten zu nichts. Wer wäre denn so blöd, noch einmal in die Falle zu gehen? Nicht meine Mutter. Bestimmt nicht!

Aus diesem Grund schrillte nichts bei mir, als die Nervensäge vor unserer Tür auftauchte, um Mum ins Kino abzuholen. Nicht das geringste Klingeln.

Aber das war, bevor ich die Haustür öffnete.

Und bevor er den Mund aufmachte.

Und danach?

Na ja, danach klingelte und schrillte es wie wahnsinnig.

Es war einmal ein Mädchen, das hieß Mags

Ich führe dich Schritt für schmerzvollen Schritt durch diese erste Begegnung.

Bereit?

Also. Als die Nervensäge eintraf, war ich in meinem Zimmer und machte einen letzten verzweifelten Versuch, meine Frisur zu retten (weitere verstörende Details später), während meine Mutter oben im Bad ihrem Gesicht den »letzten Schliff« gab.

Dann klingelte es, und folgende Worte schallten von oben zu mir herab:

»Machst du auf, Mags? Ich bin gleich so weit. Und benimm dich!«

Prima, Mum. Das ist der beste Weg, mich gleich von Anfang an total anzunerven.

Was mich an ihren Worten störte, willst du wissen? Also, zu deiner Information: Ich hatte sogar zwei sehr spezielle und sehr reale Probleme mit ihnen.

Mein erstes Problem:

Sie nennt mich MAGS!

Ich heiße nicht Mags. Ich heiße Maggie. Na ja, eigentlich Marguerite. Marguerite Butt. (Komm damit klar und mach weiter. So wie ich.)

Eigentlich will ich nur sagen, dass Maggie zwar kein besonders wohlklingender Name ist, aber schon eher ein sanftes Wiegenlied verglichen mit dem hässlichen, nebelhornartigen Rülpser Mags.

MAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAGS!

Oh, Entschuuuuuuuuuuuuuuuuuuuldigung.

Aber falls du noch nicht von seiner immanenten Hässlichkeit überzeugt bist, lass uns eine Sekunde innehalten und überlegen, was sich alles so wunderbar auf Mags reimt: entzückende Worte wie krächz, ächz, Sex, Ex. Jaaaaa, die wesentlichen Bausteine der Dichtkunst!

Es war einmal ein Mädchen, das hieß Mags …

Das kann nicht gut enden!

Ich bin ja kein totaler Mags-Gegner. Als Wort hat es seine Berechtigung. Zum Beispiel ist Mags eine durchaus akzeptable Bezeichnung für diese hässlichen dicken Gummiteile, mit denen Autofreaks ihre Reifen aufmotzen, um dann eine kindische Freude daran zu haben. Und es beschreibt ganz hervorragend das Geräusch, das neandertalerartige Football-Spieler machen, wenn sie Schleim hochhusten. Und natürlich ist Mags eine prima Anrede, wenn du zufällig eine der verrückten Hexen in Macbeth bist.

Hallo zusammen. Ich bin Mags. Möchtet ihr meine selbstgemachte Hundezungen-Pâté kosten? Zum Reinlegen! Noch besser als mein weltberühmter Molchaugen- und Froschzehen-Dip, finden meine Schwestern. Aber die sind auch ZIEMLICH SCHRÄG drauf!

JEDENFALLS ist Mags, wie ich meiner Mutter schon verschiedentlich erläutert habe (offenbar mit wenig Erfolg), definitiv kein angemessener Name für ein normales (um nicht zu sagen reifes und gebildetes) MENSCHLICHES WESEN.

Und da ich schon deine Aufmerksamkeit habe, sollte ich hier vielleicht hinzufügen (noch einmal, vor allem um meiner Mutter willen), dass jede verdrehte, kindische Variation von Mags, wie Maggles oder Maglet ebenso wie unerträglich peinliche Kombis wie Maggly-Moo, Maggly-Poo, Maggly-Waggly oder Waggly-Moo-Poo noch viel weniger angemessen sind!

Mein zweites Problem:

Sie sagt: »BENIMM DICH.«

Mich benehmen? Ich bin fünfzehn. Fast sechzehn! Warum redete meine Mutter mit mir, als wäre ich ein ungezogenes Kleinkind? Und was genau wollte sie damit überhaupt sagen? Benimm dich? Ich benehme mich immer! Genau genommen bin ich sogar stolz auf mein freundliches und ausgeglichenes Wesen.

Obwooooooooooohl … ich an diesem Abend, als die Nervensäge an unserer Tür auftauchte, möglicherweise ein kleines bisschen gereizt und kratzbürstig war (um meine Oma zu zitieren), was unter normalen Umständen natürlich VOLLKOMMEN UNTYPISCH FÜR MICH war. Aber wenn ich tatsächlich ein bisschen gereizt und kratzbürstig gewesen sein sollte (und ich sage nicht, dass ich es war), dann war ich aus SEHR GUTEN GRÜNDEN gereizt und kratzbürstig.

Und zwar aus folgenden sehr guten Gründen:

1.Ich hatte gerade den ersten Entwurf meines Macbeth-Referats von Schwester Yoda (keine Fragen bitte) zurückbekommen. War ich, wie erhofft, auf Kurs in Richtung Eins oder Eins+? Näh. Aber hey, totaaaaaal dicht dran! Drei+! Wirklich vollkommen nachvollziehbar. »Allem Anschein nach« mangelte es meinen Ausführungen an einem »klaren Fokus«. »Allem Anschein nach« hatte ich die schlechte Angewohnheit, »in alle Richtungen davonzuflitzen wie eine Katze, die einer Murmel hinterherjagt« und eine »gefährliche Neigung, es mit Metaphern und Gleichnissen zu übertreiben«. (Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Katzen werfen!)

2.Mum und ich hatten gerade mal wieder eine Diskussion darüber beendet, welche Neigungsfächer ich belegen würde. Wie alle unsere vorausgehenden Diskussionen kreiste diese überwiegend darum, dass ich es für eine echt gute Idee hielt, im nächsten Jahr die Fächer »Film und Fernsehen« und »Literatur und Theater« zu wählen, damit ich eine Laufbahn als Schauspielerin oder Regisseurin in Angriff nehmen könnte, meine Mutter dagegen nicht.

3.Ich hatte gerade wieder eine Woche in meinem Kalender abgestrichen, was bedeutete, dass nur noch ein Tag mehr als neun Wochen Zeit blieb bis zum großen Abschlussball am Ende der zehnten Klasse. Das war ein Problem, denn ich musste leider immer noch eine nebensächliche Frage bezüglich meines Partners klären. Nämlich einen finden.

4.Nach der Schule hatte ich meine Haare im hiesigen Friseursalon »professionell schneiden und stylen« lassen. Und wenn ich sage »professionell schneiden und stylen«, dann heißt das im Klartext »bis auf zweieinhalb Zentimeter Länge verstümmeln«.

Und all die genannten, sehr guten Gründe, an diesem Abend, als die Nervensäge vor unserer Haustür stand, ein bisschen gereizt und kratzbürstig zu sein, konnte Grund Nummer vier mühelos toppen.

Ich hatte nämlich den ganzen Nachmittag beim Friseur verbracht, wo mich Sharlette, die Chefin vom Salon »Cut Above the Rest«, für ein Wahnsinnsgeld dazu überredet hatte, Taarsheebah, der »absolut unglaublichen«, »was die Geiles mit deinen Haaren macht«, »oh mein Gott, total spitzenmäßigen« neuen Praktikantin zu erlauben, mich zur Favoritin für die Hauptrolle im Remake von Frankensteins Braut umzustylen.

Gerade rechtzeitig für die Klassenfotos nächste Woche.

HURRA! MAGGIE BUTT AUF DER ÜBERHOLSPUR!

Natürlich machte Mum mit ihren lahmen Kommentaren alles nur noch schlimmer.

»Du übertreibst mal wieder, Mags (!) Je länger ich dich anschaue, desto besser erkenne ich, dass du es bist.« (!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!)

Ich kann dir nicht sagen, wie tröstlich es war zu hören, dass meine neue Frisur, die zu diesem Zeitpunkt an etwas erinnerte, das von einer durchgeknallten Ratte auf Drogentrip in Form genagt wurde, TATSÄCHLICH ICH war! (Ich bitte alle um Entschuldigung, die sensibel auf eine figurative Sprache reagieren.)

Und trotz dieser oben ausgeführten, grässlichen Umstände schaffte ich es, in akzeptabler Weise freundlich und verständig zu sein, als ich an diesem schicksalhaften Abend die Tür öffnete und der NERVENSÄGE gegenüberstand.

Lass sie in Ruhe, du Mistkerl

Natürlich hatte ich in dem Augenblick, als ich die Tür öffnete, keine Ahnung, dass die Person da draußen die Nervensäge war. Für mich war er einfach ein Typ, mit dem Mum ins Kino ging. Ein Typ, den wir, so die Erfahrung nach Mums letzten Verabredungen, beide zum Glück bald nie wiedersehen würden.

Deshalb schenkte ich ihm eigentlich gar nicht viel Aufmerksamkeit. Abgesehen von den Basics, die ich natürlich registrierte. Und die Basics waren:

Ein bisschen größer als der Durchschnitt

Ein bisschen dicker als der Durchschnitt – um den Bauch spannte das T-Shirt ein wenig

Körperbau – wie ein Bär

Gesicht – nicht gerade wow!, aber okay

Alter – schätzungsweise zwischen Ende dreißig und fünfzig

Augen – grün (wahrscheinlich das »beste« Merkmal, auch wenn die Konkurrenz nicht gerade groß war)

Zähne – alle da, von annehmbarer Farbe und Stellung

Haare – viele und ziemlich freestyle-mäßig frisiert. Bin kein Fan von Bärten, aber wenigstens war dieser Bart kurz, und er sah nicht allzu sehr wie ein Straßenräuber aus.

Lächeln – irgendwie hinterlistig

Kleidung – funktional, aber nichts, was über die Catwalks in Mailand laufen würde

Eindruck insgesamt – na ja

Möglicherweise habe ich länger gebraucht, als ich dachte, um diese Basics zu registrieren, denn Mums Date sagte: »Hallo.« Allerdings irgendwie langsam, und seine Stimme hob sich am Ende, als würde er testen, ob ich ihn verstehe. Dann fügte er hinzu: »Ich bin Danny.«

Ich beobachtete, wie seine Augen zu meinen Haaren wanderten. Zuerst dachte ich, er würde vielleicht die kleine Narbe an meinem Haaransatz betrachten, aber dann erinnerte ich mich an Taarsheebahs Handwerkskunst und nahm an, dass er sich wahrscheinlich fragte, ob ich einen schrecklichen Unfall auf einem Trampolin unter einem an der Decke hängenden Hochleistungsventilator gehabt hatte. Ich beschloss, ihn am besten im Unklaren zu lassen und stattdessen auf seine Begrüßung zu reagieren.

»Ah ja. Hi. Ich bin Maggie. Ähm, Mums Tochter.«

Siehst du. Was hab ich dir gesagt? Obwohl ich das arglose Opfer von Taarsheebah, der verrückten Haar-Mörderin war und zudem noch mindestens drei andere, ausgezeichnete Gründe hatte, ausgesprochen muffelig zu sein, verhielt ich mich unglaublich freundlich und verständig.

Ja, ich weiß. Der Zusatz, dass ich »Mums Tochter« bin, war natürlich total schwachsinnig, also übergehen wir ihn einfach und fahren fort, einverstanden?

Egal, ich wollte gerade sagen »Ich hol Mum«, als er etwas total VERRÜCKTES und NERVIGES tat.

ER FING AN ZU SINGEN!

Ich weiß! Singen? Verrückt und nervig, ja? Um es noch schlimmer zu machen, sang er darüber, wie ich »aufwachen sollte«, weil er mir etwas sagen wolle. Außerdem sang er mit einer oberpeinlichen, knurrenden, kratzenden Stimme und verzog dabei sein Gesicht, als würde er versuchen, Rasierklingen zu verschlucken! Im Ernst: Wer begegnet einem vollkommen Fremden und fängt dann an zu singen?

Als er fertig war, zeigte er mit beiden Zeigefingern auf mich, als würde er eine Waffe auf mich richten. Ich starrte ihn nur an. Echt. Denn ich versuchte verzweifelt, Antworten auf die Fragen zu finden, die in meinem Kopf brodelten. Fragen wie:

Erwartet er, dass ich ihm applaudiere?

Gibt es vielleicht eine Form des Tourette-Syndroms mit Gesang, von der ich noch nichts wusste?

Hatte jemand mein Leben in ein Musical verwandelt, ohne es mir zu sagen?

Sollte ich die hiesige Irrenanstalt informieren, dass einer ihrer gefährlichsten Insassen frei herumlief?

Ich betrachtete prüfend sein Gesicht. Er schien keinen Schaum vor dem Mund zu haben. Das nahm ich als gutes Zeichen. Aber dann fing er an zu sprechen, und die Worte, die aus seinem Mund kamen, hätten auch Schaum sein können, denn sie ergaben für mich überhaupt keinen Sinn.

»Rod Stewart.«

»Hä? Bitte was?«

»Rod Stewart.«

»Aber … Ich dachte, Sie hätten gesagt, Ihr Name wäre … Danny.«

»Nein, nicht mein Name. Dieses Lied … ein Song von Rod Stewart.«

Ich nickte. Keine Ahnung, warum. Ich hatte nämlich keinen Schimmer, wovon er sprach. Das bremste ihn allerdings nicht. Oooooooooh nein.

»Aus den Siebzigerjahren. Lange vor deiner Zeit. Aber ein großartiger Song. Ich spiele in einer Coverband, und wir arrangieren die verschiedensten Songs. Eine Art Hobby.«

»Aha.«

»Over Dub.«

»Hä?«

»So heißt die Band. In der ich spiele.«

»Toll …«

»Im Sinne von Spuren überschneiden, Tonspuren, verstehst du?«

Ich nickte immer noch. Nicht, dass ich irgendwas verstanden hätte. Ich hatte nur einfach eine Art Rhythmus gefunden und konnte irgendwie nicht aufhören.

»Maggie May.«

Warum warf dieser merkwürdige Mensch dauernd mit irgendwelchen Namen um sich? Hielt er einen imaginären Appell ab? Sah er tote Menschen?

»Was?«

Ich hörte auf zu nicken.

»Das ist der Titel dieses alten Rod-Stewart-Stücks. Das ich gesungen habe. Es heißt Maggie May.«

Ich nickte nicht mehr und starrte ihn verständnislos an.

»Maggie May?«, sagte er noch einmal. »Du weißt schon … Maggie? Wie dein Name.«

Und endlich ging mir im Schneckentempo ein Licht auf.

»Oh, oh, ja! Jetzt kapier ich. Richtig. Ja. Maggie. Mein Name.«

Das sagte ich, aber ich dachte: Oh, oh, ja! Jetzt kapier ich. Richtig. Du bist total verrückt, genau, ein verrückter Sänger!

Ich warf einen Blick in den Flur und hoffte, dass Mum auftauchte, um mich zu retten. Leider hatte ich kein Glück. Ich saß in der Falle.

»Äh, würden Sie gern … äh … reinkommen … und drinnen warten?«

Siehst du. Immer noch unglaublich freundlich und verständig – sogar angesichts eines verrückten Sängers. Geradezu unfassbar, wie freundlich und verständig ich war!

Er schenkte mir noch ein hinterlistiges Lächeln, das mich verwirrte.

»Drinnen? Na ja, ich habe den Grundkurs ›Stubenrein‹ noch nicht ganz abgeschlossen, aber, hey, lass es uns riskieren.«

»Hä? Bitte was?«

»Nichts. Sehr gerne. Nach dir.«

Er lächelte mich immer noch an. Das machte mich ein bisschen wahnsinnig. Ich führte ihn direkt ins Wohnzimmer, damit ich ihn dort absetzen und flüchten konnte.

»Mum kommt bestimmt gleich. Keine Ahnung, wo sie bleibt. Ich geh schnell und schau nach.«

Er nickte, und ich stürmte in die Freiheit. Endlich! Aber dann sah ich mich auf dem Weg hinaus im Wohnzimmerspiegel. Nur dass ich es eigentlich gar nicht war. Ich konnte es nicht sein! Es war jemand, der wie ich aussah, aber aus irgendeinem Grund einen Waschbär auf dem Kopf trug. Einen Waschbär, der von Taarsheebah, der Haar-Mörderin, traktiert worden war!

Das scheußliche Spiegelbild sorgte dafür, dass ich stehen blieb. Dass ich den verrückten Sänger im Zimmer hinter mir vergaß. Dass ich näher an den Spiegel trat und laut aufstöhnte. Dass ich an störrischen Haarsträhnen und -büscheln zog und sie niederdrückte und laut Scheiße! Scheiße! Scheiiiiiiißeeeee! sagte.

Bis hinter mir eine Stimme ertönte.

»Probleme?«

Ich wirbelte herum. SCHEIßE! Da stand ein fremder Mann in unserem Wohnzimmer! Nein, stop. Das war nur der verrückte Sänger.

»Etwas nicht in Ordnung?«, fragte er.

»Nicht in Ordnung? Nur das«, sagte ich und wedelte mit den Händen in Richtung meines Kopfes.

Er sah verwirrt aus.

»Stimmt irgendwas nicht … mit dem Raum um deinen Kopf?«

Jetzt war es offensichtlich für mich, dass er nicht nur verrückt und blind war, sondern auch dumm wie Brot! Ich musste wohl deutlicher werden.

»Meine Frisur! Die ist nicht in Ordnung.«

Er legte den Kopf schräg und kaute ein bisschen auf dem Rand seiner Unterlippe.

»Und … das Problem … ist …«

Mein Gott. Ich musste es ihm nicht nur sagen. Ich musste es ihm buchstabieren – jeden einzelnen Buchstaben!

»Das Problem? Alles! Das ist das Problem! Die Länge. Der Schnitt. Die Form. Der Style. Der Look. Die Farbe. Es ist eine einzige Katastrophe. Die Klassenfotos stehen an, und ich sehe … grässlich aus! Ich hätte bei meiner alten Frisur bleiben sollen. Ich wusste es. Sie war so viel besser.«

Jetzt runzelte der verrückte Sänger die Stirn.

»Hmmm. Fällt mir ein bisschen schwer, das zu beurteilen«, sagte er, »weil ich nicht genau weiß, welche Frisur du vorher hattest.«

Und dann machte ich einen großen Fehler. Und ich meine einen wirklich GROSSEN FEHLER. Ohne nachzudenken, zeigte ich auf das gerahmte Foto auf dem kleinen Tisch hinter ihm. Er drehte sich um und nahm es in die Hand. Es war ein Bild von mir mit meinem alten Haarschnitt, das vor ein paar Monaten aufgenommen worden war. Ein Porträt. Ich sehe okay aus. Muss irgendwie mit dem Licht zusammenhängen.

Der verrückte Sänger betrachtete das Foto eine Weile und brachte es dann mit zu der Stelle, wo ich stand.

»Was dagegen?«, sagte er, und bevor ich kapierte, worum er mich bat, hielt er das Foto direkt neben meinen Kopf, und seine Augen wanderten zwischen dem Foto und mir hin und her.

NEIN, DAS FÜHLTE SICH NICHT IM GERINGSTEN GRUSELIG ODER PEINLICH ODER KOMISCH AN!

Nachdem ich dort noch weitere unerträgliche Sekunden gestanden und mich innerlich gewunden hatte, sagte er endlich etwas.

»Weißt du, was ich denke?«, sagte er.

Ich schüttelte den Kopf. Aber eigentlich wusste ich es. Wirklich. Also machte ich mich darauf gefasst, eine aufgewärmte, lahme Version des Mülls zu hören, den meine Mutter schon von sich gegeben hatte. Also etwa: »Ist doch gar nicht so schlecht. Eigentlich gefällt es mir. Passt zu dir!«

Ich wartete.

Er kaute ein bisschen auf seiner Unterlippe und nickte.

Jetzt kommt es, dachte ich.

»Jap. Ich denke, du hast recht.«

Was zum …?

Diese Frage (oder ein Teil davon) poppte in diesem Augenblick in meinem Kopf auf. Aber aus meinem Mund kam nichts, obwohl er offen stand.

»Ja, ich bin ganz deiner Meinung. Im Vergleich dazu ist dieser neue Haarschnitt was ganz anderes. Ich glaube, ›grässlich‹ ist ein bisschen stark. Aaaaaaber andererseits …«

Was zum …? Ich wiederhole WAS ZUM …!

Ich fasste es nicht. Was ist das für ein Mensch, der einem bei der ersten Begegnung was vorsingt und einen dann beleidigt?

Aber, Moment, er war noch nicht fertig. Er hatte sich sogar erst aufgewärmt.

Jetzt zeigte er auf mein Foto und tippte auf das Glas.

»Erstaunlich. Dieser neue Haarschnitt scheint deine ganze Gesichtsstruktur verändert zu haben. Sie mal, auf diesem Foto hier mit der alten Frisur leuchten deine Augen und funkeln, und dein Mund lächelt total freundlich, und du siehst, na ja … reizend aus. Aber jetzt mit diesem neuen Schnitt …«

Dann stellte er das Foto ab, damit er mit seinen Händen einen Rahmen um mein Gesicht bilden konnte. »Die neue Frisur hat alles verändert. Unglaublich. Sie lässt deine Augen zusammengekniffen und total feindselig aussehen, fräst diese Falte in deine Stirn und verwandelt deinen Mund in einen … flachen Schlitz. Und, schau nur, jetzt schiebt sie sogar deine Unterlippe nach vorn.«

Genau da wusste ich, dass ich ihn umbringen wollte. Er war verrückt, er sang und beleidigte mich, und dafür musste er büßen. Das war Fakt. Ich musste nur noch herausfinden, wann und wie und auf welche möglichst grausame und schmerzhafte Art und Weise.

Ach ja, und wie ich die Leiche loswerden würde.

Aber bevor ich diesen verlockenden Gedanken weiterverfolgen konnte, erschien Mum. Endlich!

»Ach, wie ich sehe, habt ihr euch bekannt gemacht. Und wie kommt ihr klar?«

»Wie Topf und Deckel«, log der verrückte Sänger. »Wir haben gerade unsere Meinungen über Maggies neuen Haarschnitt ausgetauscht.«

Mum verdrehte die Augen und legte sich die Hand auf die Brust.

»Ach das«, sagte sie. »Sie hört einfach nicht auf mich, hoffentlich hast du ihr den Kopf zurechtgerückt.«

Ha! Gleich würde die Wahrheit ans Licht kommen. Ich warf dem verrückten Sänger, der mich beleidigt hatte, einen wütenden Blick zu. Mal sehen, wie du da wieder rauskommst, Freundchen.

»Klar«, sagte er. »Wir sind beide der Meinung, dass die Frisur eine ›komplette Katastrophe‹ ist. Ich wollte ihr eigentlich gerade vorschlagen, dass es eine gute Idee wäre, wenn sie sich eine feste Papiertüte oder einen blickdichten Sack über den Kopf ziehen würde, falls sie die Absicht hätte, bei Tageslicht vor die Tür zu gehen, damit kleine Kinder sich nicht erschrecken, die Immobilienpreise in der Nachbarschaft nicht in den Keller rauschen oder die Kühe keine Milch mehr geben.«

NEIN, ICH DENKE MIR DAS NICHT AUS! GENAU DAS HAT ER GESAGT!

Ich feuerte meinen besten Todesblick auf ihn ab.

Das war gerade wirklich passiert. Warnung vor figurativer Sprache! Er hatte gerade nicht nur meine Mutter und mich beleidigt, sondern das ganze Haus angezündet.

Ich wirbelte zu Mum herum. Ihr Gesicht war in einem erstaunten Ausdruck erstarrt. Ich hielt die Luft an. Das würde total geil werden! Jeden Augenblick würde sie wie Sigourney Weaver in Alien zu meiner Verteidigung herbeieilen, laut »Lass sie in Ruhe, du Mistkerl« kreischen und diesem singenden und beleidigenden, verrückten Monster volle Kanne die Meinung geigen.

Und genau das … machte sie nicht.

Sondern sie lachte. Sie lachte dieses peinliche schnaubende Lachen und sagte: »Danny, du bist einfach schrecklich! Glaub ihm kein Wort, Maggie. Er zieht dich nur auf. Was soll ich bloß mit ihm machen?«

Mit ihm machen? Nun, wie wär’s für den Anfang damit, laut LASS SIE IN RUHE, DU MISTKERL! zu kreischen und IHM DANN VOLLE KANNE DIE MEINUNG ZU GEIGEN?

Leider Fehlanzeige. Stattdessen trat sie zu dem singenden und beleidigenden Verrückten, legte die Hand auf seinen Arm und lächelte.

Meine Güte, vielen Dank, Sigourney! Weiter so, ihr beiden, macht ruhig Witze auf meine Kosten. Und sorgt euch bloß nicht um mich. Ich bleibe einfach hier, eingewickelt in einen Todeskokon, und warte, dass die schleimigen Alien-Babys mit den spitzen Zähnen schlüpfen und mich bei lebendigem Leib auffressen, ja?

Mum nahm ihre Handtasche vom Couchtisch und sagte: »Okay, wir gehen nur ins Kino und danach gleich nach Hause, es wird also nicht spät.«

Dann kam sie herüber und stellte sich direkt vor mich.

»Ich hab den Schlüssel und mein Handy. Pass auf, dass alle Türen zu sind und ruf an, wenn’s ein Problem gibt. Egal was, verstanden? Tschüss, Süße.«

Nach einer kurzen Umarmung und einem Kuss auf die Wange ging sie los, gefolgt von dem singenden und beleidigenden Verrückten, der mir zuwinkte, mich hinterlistig anlächelte und sagte: »Bis dann.«

Ich lächelte nicht, und ich sagte auch nichts, sondern schlurfte nur ein paar Schritte hinter ihnen her wie Maggie von den Walking Dead. Als sie die Haustür erreichten, hielt der singende und beleidigende Verrückte meiner Mutter die Tür auf, und sie verschwand nach draußen. Er blieb jedoch stehen, drehte sich um und schaute mich an.

»Ich hoffe wirklich, dass alles gut endet. Du weißt schon, mit deiner Frisur und dem Klassenfoto und allem«, sagte er.

Klar. Sicher. Tschüss.

»Und wenn es für dich in Ordnung ist, erzähle ich Rosie von deiner Frisuren-›Katastrophe‹. Sie findet das bestimmt spannend.«

»Rosie?«, fragte ich und bereute es auf der Stelle.

»Ja. Eines der Kids unten in der Klinik, wo ich arbeite. Sie ist in deinem Alter. Hatte fast das ganze Jahr Chemo wegen ihres Krebses. Ihr sind alle Haare ausgefallen. Jedes einzelne. Sogar an den Augenbrauen. Ich dachte, sie freut sich vielleicht, wenn sie hört, wie nervig es sein kann, wenn man Haare hat. Muntert sie vielleicht auf, wenn ihr klar wird, was sie für ein Glück hat, dass ihr all diese grässlichen Unannehmlichkeiten erspart bleiben, mit denen du dich rumschlagen musst.«

Dann schaute er mich einfach eine Sekunde lang an und sagte: »Mach’s gut, Maggie May.«

Und als die Tür hinter ihm zufiel, hatte sich der singende und beleidigende Verrückte in die Nervensäge verwandelt.

Ich spürte schon jetzt, wie sehr er mich nervte.

Empörende Doppelmoral

Arme Mum! Ich musste die Nervensäge nur ein paar Minuten ertragen, aber sie musste ganz alleine über Stunden hinweg mit ihm zurande kommen. Das war unmenschlich und grausam! Diese Gedanken gingen mir kurz vor dem Einschlafen in meinem Zimmer durch den Kopf.

Nachdem ich mich am nächsten Morgen aus dem Bett gequält hatte, fand ich Mum am Küchentisch vor einer Tasse Kaffee und einer Schale voller Müsli, Joghurt, Honig und kleingeschnittener Banane. Offensichtlich aß sie, um die Schrecken des gestrigen Abends zu vergessen. Ich setzte mich ihr gegenüber und versuchte vorsichtig, mich unauffällig dem heiklen Thema ihrer Verabredung zu nähern.

»Also, gestern Abend im Kino, das war wahrscheinlich das Allerletzte, oder, Mum?«

Ihr Kopf fiel nach vorn, und sie stöhnte.

»So schlimm?«

»Erinnere mich nicht, Liebes. Ich versuche, es aus meinem Gedächtnis zu löschen. Was soll ich sagen? Schrecklich. Furchtbar. Miserabel. Ein Flop. Ein Reinfall. Eine Katastrophe.«

An diesem Punkt hatte ich das Gefühl, sagen zu müssen: »Sag bloß! Was hast du erwartet? Das hast du ganz allein dir selbst zuzuschreiben, weißt du. Was hast du dir nur dabei gedacht? Mit so einem auszugehen. Ich meine, ich hätte es vielleicht verstanden, wenn ein Psycho dir eine Waffe an den Kopf gehalten oder deine Familie als Geisel genommen hätte oder wenn böse Außerirdische dein Gehirn kontrolliert hätten – aber freiwillig! Was soll das?«

Mum schloss die Augen und nahm langsam einen Schluck Kaffee. Dann sah sie mich an und schüttelte den Kopf.

»Der schlechteste Film, den ich je gesehen habe – keine Frage. Der allerschlechteste. Zuerst dachte ich wirklich, ich würde eine Zombie-Geschichte sehen. Aber dann merkte ich, dass die Schauspieler einfach wie hirntot spielten. Und erst die Dialoge. Brrrrrrr! Nervtötend kindisch und grottenschlecht!«

»Du warst also nicht begeistert, wenn ich dich richtig verstehe?«

»Ganz und gar nicht. Ich geb dem Film einen halben Stern, und zwar dafür, dass es tatsächlich irgendwer geschafft hat, die Kamera in die richtige Richtung zu halten. Ich kann nur von Glück sagen, dass Danny dabei war.«

LANGSAM! WARTE! Pause und zurück. Ich kann nur von Glück sagen, dass Danny dabei war? ERKLÄRUNG BITTE!

»Er? Warum? Was hat er gemacht?«

»Also, wenn Danny nicht gewesen wäre, hätte ich den Abend komplett abschreiben können. Wenn ich mich durchgesetzt hätte, wären wir sofort wieder gegangen. Aber Danny sagte die ganze Zeit, wir müssten ›der Sache eine Chance geben‹. Und das taten wir. Aber, meine Güte, es wurde immer schlimmer.«

Mum nahm ihren Löffel und spielte mit ihrem Müsli. Auf ihrem Gesicht lag ein leicht verträumtes Lächeln.

»Aber dann fing Danny mit diesen komischen Bemerkungen und Witzen an und flocht seine eigenen Dialoge ein. Einfach total blödsinnig.«

Sie kicherte in sich hinein und zeigte dann mit dem Löffel auf mich.

»Zum Beispiel bei dieser schmalzigen Stelle, als das hohlköpfige Mädchen zu ihrem Muskelprotz von Freund so was sagt wie ›Ich kann nicht ohne dich leben, Warren‹, beugte Danny sich zu mir und flüstert: ›Weil du der Einzige bist, der meine Eiserne Lunge bedienen kann!‹ Es war zum Schreien komisch!«

Komisch? Entschuldigung, aber das finde ich keineswegs. Wenn man einen schlechten Geschmack hat, vielleicht. Ganz sicher eher so, dass man genervt aufstöhnt. Aber nur, wenn ich super großzügig bin.

»Und das hat er dann die ganze Zeit gemacht. Blödsinnige Kommentare abgegeben. Dann hab ich natürlich auch damit angefangen, und im Handumdrehen haben wir uns weggeschmissen vor Lachen und konnten nicht mehr aufhören. Wir haben uns buchstäblich die Tränen aus dem Gesicht gewischt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal so gelacht habe.«

Dann gab meine Mutter einen komischen Summton von sich und ließ beiläufig einen zusätzlichen Informationsschnipsel fallen.

»Und dann mussten wir das Kino verlassen.«

WIE BITTE?

»Ihr musstet das Kino verlassen?«

»Ja, der Geschäftsführer persönlich hat uns rauskomplimentiert. Obwohl, Geschäftsführer ist gut – er sah aus wie zwölf. Offenbar waren wir für schuldig befunden worden, ›die anderen Besucher zu stören‹. Kannst du das glauben?«

Nein. Das konnte ich in der Tat nicht glauben. Ich schaute meine Mutter unverwandt an. Meine Mutter, die angeblich die VERANTWORTLICHE Erwachsene in unserer Zwei-Personen-Familie war. Meine Mutter, die jetzt kichernd vor mir saß.

»Man hat euch rausgeworfen?«

»Hm-hm.«

»Der Geschäftsführer?«

»Du hast’s erfasst.«

Was ging hier ab? Meine Mutter hatte mir gerade erzählt, dass sie aus einem Kino geworfen wurde, und jetzt saß sie einfach da, mampfte vergnügt ihr Müsli und lächelte in die Schüssel, als hätte sie einen Preis gewonnen. Das war zu viel!

»Mum, wie kannst du einfach so dasitzen und grinsen? Du bist aus einem Kino geflogen, weil du rumgealbert hast!«

»Ich weiß, Liebes. Ich war ja dabei. Zumindest am Anfang … bis ich rausflog.«

NOCH MEHR GEKICHER!

»Aber was ist mit letztem Jahr, als ich in der Schule Probleme bekam, weil ich während einer langweiligen Shakespeare-Aufführung ein Buch las? Als du davon erfahren hast, bist du an die Decke gegangen. Als ›unreif, verantwortungslos und unhöflich‹ hast du mich bezeichnet. Nichts würde mich interessieren außer mir selbst. Und am Ende saß ich ein ganzes Wochenende lang in Einzelhaft in meinem Zimmer.«

Mum wedelte mit der Hand in meine Richtung.

»Ja, du und Nelson Mandela, ihr habt unglaublich viel gemeinsam. Aber sei’s drum, das war was anderes.«

»Was anderes? Wie was anderes?«

»Du warst Shakespeare gegenüber respektlos. Dem unsterblichen Dichter! Der Film gestern Abend war eine Beleidigung unserer Intelligenz.«

»Aber das macht euer Verhalten nicht besser. Ihr habt euch allen anderen im Kino gegenüber ›respektlos‹ verhalten. Ihr habt ›die anderen Besucher gestört‹.«

Meine Mutter machte ein ernstes Gesicht und wackelte mit ihren Löffel hin und her.

»Maggie, pass mal auf. Wenn diesen Leuten gestern Abend der Film wirklich gefallen hat, dann waren sie schon vorher gestört.«

Und dann besaß sie die Frechheit, über ihren ARMSELIGEN NICHTWITZ schnaubend zu lachen.

Hatte sie den Verstand verloren? War sie auf Drogen? Sah sie nicht, dass hier ihrerseits ein klarer Fall von empörender Doppelmoral vorlag? Was war los mit ihr? Ich musste tiefer bohren.

»Also gut. Egal. Der böse, gemeine Kinder-Geschäftsführer hat euch also aus dem Kino geworfen und euch den ganzen Spaß daran verdorben, unhöflich und anstößig zu sein und die anderen Besucher zu stören. Und was war dann?«

»Eigentlich nicht viel.« Mum starrte vor sich hin, als ob sie sich das ganze »nicht viel«, das sie nicht gemacht hatte, vorstellen würde. »Wir sind nur ein bisschen spazieren gegangen. Haben uns einen Kaffee geholt. Und sind dann über den River Walkway gebummelt. Haben eine Bank gefunden. Die Lichter der Stadt betrachtet. Den Fähren beim Vorbeifahren zugeschaut. Geredet.«

»Geredet?«

»Ja. Eine halbe Ewigkeit. Und gelacht. Ziemlich viel sogar, wenn ich jetzt so darüber nachdenke.«

»Ihr habt auf einer Bank gesessen und geredet und gelacht?«

Mum schaute nicht mehr vor sich hin, sondern nahm stattdessen mich ins Visier.

»Ja, Maggie. Wir saßen tatsächlich auf einer Bank und haben geredet und gelacht. Das ist kein Verbrechen, wie du weißt.«

Nicht? SOLLTE ES ABER SEIN! Vor allem, wenn eine der Personen, die da sitzt, redet und lacht, zufälligerweise MEINE MUTTER ist, und die andere Person DIE NERVENSÄGE! Ich musste mich sehr zusammenreißen, um das nicht quer über den Tisch zu schreien.

»Egal, eines verspreche ich dir.« Mum zeigte wieder mit ihrem Müsli verschmierten Löffel auf mich. »Das nächste Mal wähle ich den Film aus. Das werde ich in meinen Vertrag aufnehmen!«

Das NÄCHSTE MAL? Es würde ein NÄCHSTES MAL geben? So lief das aber nicht. Bei den letzten Verabredungen von Mum hatte es nie ein NÄCHSTES MAL gegeben.

»Also dann denkst du, dass du … noch mal … mit ihm … ins Kino gehst?«

»Möglicherweise.«

Das hörte sich schon ein bisschen besser an. Möglicherweise klang nicht ganz so entschieden.

»Aber nicht am nächsten Wochenende. Nächstes Wochenende machen wir irgendwo ein Picknick. Die Einzelheiten habe ich aber noch nicht organisiert.«

Mein Blick klebte am Gesicht meiner Mutter.

»Ein Picknick?«

»Ja. Du kannst uns gern begleiten, wenn du magst.«

Hä? »Uns«? Sie bezeichnete sich selbst und die Nervensäge als »uns«. Aber das ist nicht richtig. Sie sind nicht »uns«. Wir sind »uns«. Mum und ich. Die einzigen Bewohner innerhalb der hohen, undurchdringlichen Mauern von BURG BUTT.

»Ääääh, nein danke. Ich muss … an meiner Macbeth-Hausarbeit arbeiten.« (Eine bequeme Entschuldigung. Schade nur, dass es stimmte.)

»Musst du wissen, Liebes.« Meine Mutter ließ im Spülbecken Wasser über ihr Frühstücksgeschirr laufen und verließ dann die Küche, um sich anzuziehen.

Ein Picknick? Draußen auf dem Land? Den ganzen Tag? Und mit der Nervensäge als einziger Gesellschaft?

Zuerst machte ich mir Sorgen, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto ruhiger wurde ich. Ich meine, jeder konnte ein paar Stunden normal erscheinen, besonders, wenn sich der größte Teil des Zusammenseins in einem überfüllten Kino abspielte. Aber einen ganzen Tag lang mit jemandem zu picknicken, war eine ganz andere Geschichte. In diesem Szenario würde der wahrhaft nervende Charakter einer gewissen Person sehr nervend zum Vorschein kommen.

Ich schnappte mir die Müslischachtel, die Mum auf dem Tisch stehen gelassen hatte, und schüttete mir vergnügt einen Berg davon in eine Schüssel. An die Nervensäge würde ich keinen weiteren Gedanken verschwenden. Er war nur ein vorübergehendes kleines Ärgernis und lohnte nicht, sich Sorgen zu machen. Außerdem gab es viele andere Dinge in meinem Leben, um die ich mir wirklich Sorgen machen musste.

Und all diese Dinge passierten in der Schule.

Das Jahr des Butt

Die fragliche Schule war die Mädchenschule St Brenda’s.

Trotz des Namens ist St Brenda’s keine komplett jungenfreie Zone. Denn die Schule liegt direkt gegenüber der Jungenschule St Gregory’s, und die beiden Schulen veranstalten Diskussionsrunden, Exkursionen, Musicals und andere Aktivitäten oft gemeinsam. Außerdem gibt es eine gemeinsame Bibliothek und ein gemeinsames Lehrmittelzentrum. Die liegen auf der Seite von St Brenda’s, sind aber durch eine überdachte Brücke mit St Greg’s verbunden.

Ich kam in der neunten Klasse auf die St B’s. Und meine schulische Laufbahn dort war nicht gerade eine Erfolgsgeschichte.

Und eigentlich kann ich die Schuld daran nicht einmal auf die Schule schieben. Das hatte mehr damit zu tun, dass mein Vater vor ein paar Jahren abgehauen war und meine Eltern sich hatten scheiden lassen. Damals mussten wir unser Haus verkaufen und in ein kleineres in einer weniger teuren Gegend ziehen. Inzwischen arbeitete Mum Vollzeit als Schönheitsberaterin und Make-up-Spezialistin im hiesigen Einkaufszentrum, um die Rechnungen zahlen zu können, und ich musste meine alte Schule verlassen, wo ich einigermaßen glücklich und ausgeglichen war. Und an der neuen Schule (ebenjener St Brenda’s) war ich fest entschlossen, beides nicht zu sein: weder glücklich noch ausgeglichen.

Und diese Entschlossenheit zeigte richtig gute Ergebnisse.