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Die neue Frauenbewegung stritt in den 1970er Jahren nicht nur für die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Bundesrepublik, sondern auch über den Umgang mit dem Nationalsozialismus. Sie näherte sich auf neue Weise der unbewältigten Vergangenheit und stellte das Gespräch und die Identifikation mit Frauen in den Mittelpunkt. Dabei bildete sie auch starke Erinnerungsbilder weiblicher Opferschaft heraus – die Jüdinnen und Schwarze Frauen in den 1980er Jahren vehement kritisierten. Sina Speit zeigt mit ihrer kulturwissenschaftlichen Analyse der feministischen Erinnerungskultur nach 1968 die Wurzeln von Konflikten einer gendered memory auf, die bis heute die Erinnerung an den Nationalsozialismus prägen.
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Seitenzahl: 965
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Sina Speit
Die neue Frauenbewegung und der Nationalsozialismus
Feministische Erinnerungskultur zwischen 1968 und 1994
Zugl. Dissertation, Universität Erfurt, 2023 mit dem Titel »Feministinnen in der Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre«.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Stiftung Zeitlehren.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de/ abrufbar.
© 2024 transcript Verlag, Bielefeld
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Umschlaggestaltung: Jan Gerbach, Bielefeld
Umschlagabbildung: »Dein Ja zum Leibe«, aufgenommen im Historischen Museum Frankfurt a.M. in der Ausstellung »Frauenalltag und Frauenbewegung 1890 1980«. Fotografie: Ute Schendel, 1980. Mit freundlicher Genehmigung der Fotografin und des Museums. Die Identität der abgebildeten Personen konnte leider nicht ermittelt werden.
Druck: Elanders Waiblingen GmbH, Waiblingen
https://doi.org/10.14361/9783839471098
Print-ISBN: 978-3-8376-7109-4
PDF-ISBN: 978-3-8394-7109-8
Buchreihen-ISSN: 2627-1907
Buchreihen-eISSN: 2703-0512
Dank
1.Einleitung
2.Beginn der neuen Frauenbewegung 1968 und Voraussetzungen für eine feministische Erinnerungskultur
2.1Generationsbedingte Prägung und Erinnerung an den Nationalsozialismus
2.1.1Generation, Herkunft, Erfahrung – Sozialisierung der Feministinnen
2.1.2Studentenbewegung um ›1968‹ und Erinnerung an den Nationalsozialismus – Politisierung der Feministinnen
2.1.3Alternativmilieu und feministische Öffentlichkeit
2.2Feministische Kultur der ›biografischen Selbstthematisierung‹ und Zugänge zur Erinnerung an den Nationalsozialismus in Gruppen und Praktiken der Frauenbewegung
2.2.1Die politische Praxis der kleinen Gruppe
2.2.2Die feministische Praxis der Selbsterfahrung und ihr Potential für biografische Erinnerung
2.2.3Referenzen zum Nationalsozialismus in feministischer biografischer Literatur
2.3Zusammenfassung
3.Die neue Frauenbewegung und der Nationalsozialismus – feministische Erinnerungskultur ab 1976
3.1Feministische Emanzipation von linker Faschismusanalyse und Entwürfe von »Frauen im Faschismus«
3.1.1Feministische Faschismusanalyse in der Zeitschrift Die Schwarze Botin (1976)
3.1.2Die feministische Rezeption von Maria-Antonietta Macciocchis »Jungfrauen, Mütter und ein Führer« (1976)
3.1.3Auftakt der historischen Frauenforschung zum Nationalsozialismus – Annemarie Trögers »Die Dolchstoßlegende der Linken« (1976/77)
3.1.4Die feministische Rezeption von Klaus Theweleits »Männerphantasien« (1977/78)
3.1.5Das nationalsozialistische Frauenbild in feministischen Broschüren und Materialsammlungen
3.2Feministische Erinnerungskultur im Austausch mit der Öffentlichkeit
3.2.1Faszinierender Faschismus – Die ›Renaissance‹ von Leni Riefenstahl
3.2.2Medienspektakel und Gesprächsangebot – Der Film »Holocaust« (1979)
3.2.3Frauen als Täterinnen – Der Majdanek-Prozess (1975–1981)
3.2.4Die Ausstellung »Frauenalltag und Frauenbewegung 1890–1980« im Historischen Museum Frankfurt (1980)
3.3Zusammenfassung
4.Identifikation und Selbsterzählung in der feministischen Erinnerungskultur
4.1Beginn der historischen Frauenforschung und Pionierprojekte feministischer Oral History
4.1.1Anfänge der Frauenforschung
4.1.2Konflikte um feministische Oral History
4.2Intergenerationelles Gespräch mit Lesben und Frauen aus dem politischen Widerstand
4.2.1Ältere Frauen in der feministischen Öffentlichkeit
4.2.2Gespräche mit bekannten Widerstandskämpferinnen
4.2.3Gespräche mit älteren Lesben
4.3Intergenerationelles Gespräch mit Frauen der eigenen Müttergeneration
4.3.1Mutterschaft als zentrales Thema der neuen Frauenbewegung und der (auto-)biografischen NS-Erinnerung
4.3.2Der Film »Deutschland, bleiche Mutter« (1980) – Bildgebend für die deutsche Müttergeneration
4.3.3Sonderheft der Courage »Alltag im 2. Weltkrieg« (1980) – selbsterzählte Kriegs- und Gewalterfahrungen deutscher Frauen
4.3.4»Serie Nachkrieg« in der Courage (1982) – feministische Forschung zu sexueller Gewalt und das Bild der Trümmerfrau
4.4Zusammenfassung
5.Rassismus, Antisemitismus, Täter*innen als Herausforderungen in der feministischen Erinnerungskultur
5.1Im Gespräch über Rassismus und Antisemitismus – Sintizze/Romnja und Jüdinnen in der feministischen Erinnerungskultur
5.1.1Sintizze und Romnja – ›Andere‹ in der feministischen Öffentlichkeit
5.1.2›Israelkritik‹, Antisemitismus, Jüdinnen*Juden in der deutschen Linken nach 1979
5.1.3Jüdinnen brechen ihr Schweigen – Antisemitismus-Debatten in feministischen Zeitschriften Anfang der 1980er Jahre
5.2Erinnerungsjahr 1983 – Neue Konzepte für Antisemitismus und Täterschaft von Frauen und eine erinnerungskulturelle Debatte
5.2.1Mittäterschaft von Frauen und ›weiblicher‹ Antisemitismus
5.2.2Das Verhalten der ›alten Frauenbewegung‹ im Jahr 1933 – eine erinnerungskulturelle Debatte
5.3Zusammenfassung
6.Ausblick: Feministische Erinnerungskultur ab 1984 – Akteurinnen, Kritiken, Diskussionen
6.1Marginalisierte Frauen und ihre Kritik an der feministischen Erinnerungskultur
6.1.1Die afro-deutsche Frauenbewegung und ihre erinnerungskulturelle Intervention
6.1.2Kritik und Provokation – der lesbisch feministische Schabbeskreis, Jüdinnen und Frauen gegen Antisemitismus
6.2Debatten in der Retrospektive auf Erinnernde und Erinnertes
6.2.1Frauenforschung zum oder Erinnerung an den Nationalsozialismus? Diskussionen über Konzepte und Akteurinnen
6.2.2Der Film »BeFreier und Befreite« (1992) – kontrovers diskutierter Blick auf weibliche Opferschaft im Krieg
6.3Zusammenfassung
7.Schluss
8.Literatur- und Quellenverzeichnis
Diese Publikation ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im August 2022 eingereicht und im Februar 2023 an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt im Fach Geschichtswissenschaften verteidigt habe.
Ich danke allen Mittelgebern für ihre Unterstützung: Die Studienstiftung des deutschen Volkes förderte mich mit einem Promotionsstipendium. Hinzu kam ein Förderbetrag der Stiftung Zeitlehren, der mich in der Abschlussphase meiner Arbeit unterstützte. Die Druckkosten dieser Publikation bezuschussten die Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und die Stiftung Zeitlehren.
Die Begutachtung der Dissertation haben Prof. Dr. Christiane Kuller (Universität Erfurt) und Prof. Dr. Martin Lücke (Freie Universität Berlin) vorgenommen. Ich danke ihnen für die jahrelange Begleitung meines Vorhabens und ihre Ratschläge. Ich danke auch den zahlreichen Kolleg*innen in den Kolloquien ihrer Professuren, mit denen ich Ideen und Textentwürfe diskutieren konnte. Besonders danke ich Karen Bähr, Juliane Wenke, Dr. Grit Bühler und Dr. Jan Schleusener. Dr. Florian Wagner war außerdem Mitglied der Prüfungskommission, deren Vorsitz Prof. Dr. Ilka Saal innehatte. Für die wertschätzende und anerkennende Durchführung meiner defensio Ihnen allen ganz herzlichen Dank.
Dr. Anna Hájková lud mich 2021 in die Feminist History Group an der University of Warwick (UK) ein, wo ich erste Ergebnisse vorstellen konnte. Sie vermittelte mir außerdem den Kontakt zu Dr. Tiffany N. Florvil (University of New Mexico/USA), mit der ich mich über ihre Forschung zur afro-deutschen Frauenbewegung austauschen konnte, und initiierte die Veröffentlichung unseres Gesprächs für das Online-Magazin »Geschichte der Gegenwart«. Außerdem ermöglichten mir Prof. Dr. Angelika Schaser und Prof. Dr. Kirsten Heinsohn 2019 die Teilnahme an der Tagung »Aufbrüche – Geschichte der Frauenbewegungen im 20. Jahrhundert« an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (in Kooperation mit der Universität Hamburg und dem Arbeitskreis für Historische Frauen- und Geschlechterforschung e.V.), sowie Apl. Prof. Dr. Carola Hilmes und Franziska Haug 2021 die Teilnahme an der Tagung »Die Schwarze Botin. Frauenhefte: radikal – provokant – aktuell« an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Aus beiden Tagungen ging jeweils eine Publikation von Teilergebnissen meiner Forschung hervor. Ich bedanke mich bei Ihnen allen für die Unterstützung und das Interesse an meiner Arbeit.
Der FrauenMediaTurm – Feministisches Archiv und Bibliothek, Köln sowie insbesondere das feministische Archiv FFBIZ, Berlin waren die wichtigsten Forschungsorte für mich; ihren Mitarbeiter*innen danke ich für Rat und Tat, besonders Roman Klarfeld und Dagmar Nöldge.
Bei der langwierigen und komplexen Arbeit an der Niederschrift war für mich die freundschaftlich-kollegiale Begleitung von Juliane Wenke, Karen Bähr und Henrike Höllein-Krause unverzichtbar. Ich bedanke mich herzlich! Neben ihnen gaben mir auf dem langen Weg des Promovierens viele weitere Kolleginnen, Freundinnen und Freunde sowie Familienmitglieder Zuspruch, Tipps und halfen bei der Endkorrektur. Meiner Familie danke ich für das selbstverständliche Vertrauen in meine Fähigkeiten, auch in Zeiten des Zweifelns.
Berlin, im Mai 2024Sina Speit
Im Januar 1979 bewegte ein »Geschichtssturm« die Bundesrepublik Deutschland. So notierte es der Philosoph Günther Anders in seinen Aufzeichnungen.1 Auslöser war der vierteilige Fernsehfilm »Holocaust«, der in Form einer Familiensaga das Schicksal der jüdischen Familie Weiss im nationalsozialistischen Deutschland auserzählte und an mehreren Abenden in den Dritten Programmen ausgestrahlt wurde.2 Hatten zuvor noch kritische Stimmen vor der US-Produktion als kitschige soap opera gewarnt, zeigte sich das bundesrepublikanische Publikum bewegt und aufgewühlt; die Einschaltquoten erhöhten sich von Abend zu Abend und die Fernsehanstalten erhielten tausende Telefonanrufe und Briefe. Endlich sprach man – in den Familien, am Arbeitsplatz und in Schulen – über die nationalsozialistischen Verbrechen und über das, was die älteren Bundesbürger*innen selbst miterlebt hatten. »Holocaust« hat »die Opfer des Völkermords ins Zentrum der Erinnerungskultur«3 gerückt, so lautet die Annahme darüber, wie die Perspektive auf die Verfolgten des Regimes die Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus seit Ende der 1970er Jahre dynamisierte. »Holocaust« gilt, wenn nicht als Zäsur, so doch als Katalysator dieses erinnerungskulturellen Wandels in der Bundesrepublik.4
In dieser Phase einer erinnerungskulturell sensibilisierten Öffentlichkeit führte die feministische Regisseurin Helma Sanders-Brahms ein Jahr später, im Februar 1980, ihren Spielfilm »Deutschland, bleiche Mutter« auf dem Filmfestival Berlinale vor.5 Sanders-Brahms war eine der wenigen Frauen, die sich im deutschen Autorenkino der 1970er Jahre einen Namen gemacht hatten. In »Deutschland, bleiche Mutter« erzählte sie die Geschichte ihrer Eltern, die zur Zeit des Nationalsozialismus junge Erwachsene waren. Sie richtete den Blick demnach nicht auf die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, sondern auf eine ›ganz normale Familie‹ aus der deutschen, nicht-verfolgten Mehrheitsgesellschaft. Sanders-Brahms, 1940 geboren, gehörte der ›68er-Generation‹ an, von der allgemein angenommen wird, dass diese die NS-Täter*innen angeklagt und mit den eigenen Eltern abgerechnet habe. Sanders-Brahms nahm in »Deutschland, bleiche Mutter« jedoch eine andere Position ein, die im Kontext einer stärkeren Thematisierung deutscher NS-Verbrechen seit »Holocaust« zunächst überraschend erscheint: Sie näherte sich der Geschichte ihrer Familie nicht anklagend, sondern fragend, verständnisvoll und mit einem spezifischen Blick auf weibliche Erfahrungswelten. Sanders-Brahms schrieb über diese Auseinandersetzung mit der Elterngeneration:
»Es ist wahr, und ich glaube ihnen, sie haben das alles nicht gewollt. Sie haben es auch nicht verhindert. Wir machen ihnen Vorwürfe, aber mit welcher Berechtigung? Worin sind wir besser, außer, daß wir den Vorteil haben, die Nachgeborenen zu sein? Unsere Selbstgerechtigkeit ist die desjenigen, der im Maul des Tigers lachend ruft: der Löwe wird mich nicht fressen. Ich erzähle die Geschichte meiner Eltern, weil ich sie kenne, weil sie mich betrifft, […] und weil diese Geschichte eine individuelle und zugleich kollektive ist.«6
Die Regisseurin blickte zärtlich und mit Wohlwollen auf ihre Eltern, die zwar der Täter*innengeneration angehörten, doch in ihrer Erzählung dem Zeitgeschehen wie ausgeliefert erscheinen. Während der Vater in der Wehrmacht dienen musste, blieb die Mutter zuhause, gebar das Kind und ging danach ganz in der Fürsorge und im alltäglichen (Über)Leben in Kriegszeiten auf. Sanders-Brahms erzählte von der gelebten Selbständigkeit der Frauen in Kriegs- und unmittelbarer Nachkriegszeit und dem schmerzhaften Verlust dieser Selbständigkeit, nachdem die Männer heimkehrten. Dieses intime Familienportrait verstand sie als exemplarische Geschichte einer ganzen Generation. Darüber hinaus deutete Sanders-Brahms diese Generationserfahrung als eine Voraussetzung für ihre eigene, feministische Lebensweise.
In der bundesdeutschen Presse erzeugte der Film ein gemischtes Echo, während er auf internationalen Festivals Auszeichnungen erhielt. Überschwängliches Lob erhielt »Deutschland, bleiche Mutter« auch in mehreren Zeitschriften der neuen Frauenbewegung. Viele Feministinnen7 griffen narrative und visuelle Motive aus »Deutschland, bleiche Mutter« auf, als sie sich eingehender mit den Erfahrungen deutscher, nicht-verfolgter Frauen auseinandersetzten. »Deutschland, bleiche Mutter« – nicht »Holocaust« – diente zahlreichen Feministinnen als erinnerungskulturelles Referenzwerk. Dieser Umstand weist darauf hin, dass es eine spezifische feministische Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus gab, die ich in dieser Arbeit eingehend untersuche.
Die neue Frauenbewegung in der Bundesrepublik ist eng mit dem politischen Protestgeschehen um ›1968‹ verknüpft. Im Zuge der Studentenbewegung und Außerparlamentarischen Opposition (APO) gründeten Studentinnen an den Universitäten in West-Berlin und Frankfurt a.M. erste Frauengruppen. Sie waren bewusst autonom, also an keine Institution gebunden. Mit der bundesweiten Kampagne gegen den Paragraphen 218, der einen Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellte, entwickelte sich die neue Frauenbewegung ab 1970 zur sozialen Bewegung.8 Spätestens mit dieser Kampagne vermochten die überwiegend studentischen Aktivistinnen weitere gesellschaftliche Gruppen zu mobilisieren, um an Aktionen für die Gleichberechtigung der Geschlechter teilzunehmen, darunter auch Frauengruppen von ›bürgerlichen‹ Verbänden und Parteien. Die autonomen Feministinnen verfolgten dabei eine Doppel-Strategie: Durch öffentlichen Protest sollte Aufmerksamkeit erzeugt, mobilisiert und politischer Druck ausgeübt werden, während daneben durch einen Bewusstseinswandel im Individuellen gesamtgesellschaftliche Veränderungen erzielt werden sollten.
In der feministischen Bewegungsöffentlichkeit setzten sich die Akteurinnen auch mit dem Nationalsozialismus auseinander. So suchten sie nach den Frauen, ihren Erfahrungen und ihren Handlungen in der Geschichte. Sie wollten verstehen, was das Leben im Nationalsozialismus für Frauen bedeutet hat. Sie fragten nicht mehr nach den ›großen Linien‹, sondern nach dem Erleben im Kleinen, in vermeintlich unbedeutenden und den Frauen zugeschriebenen Lebensbereichen. Sie fragten jedoch auch auf eine eigene Art und Weise, nämlich mit dem aktivistischen Impetus, auf Frauen hinzuweisen, die sie als unterdrückt begriffen. Sie wollten ihre Stimmen hörbar und ihre Anwesenheit sichtbar machen.
Ich frage in dieser Arbeit danach, welche Erinnerungen an den Nationalsozialismus Feministinnen in den 1970er und 1980er Jahren erzeugten und tradierten. Welche Debatten wurden geführt und gab es differierende Deutungskonzepte? Wer waren die Protagonistinnen dieser Auseinandersetzung? Dafür setze ich im Jahr 1968 an und stelle das Wirken der Akteurinnen und die feministische Bewusstseinsbildung von Anfang an in einen erinnerungskulturellen Kontext. Dabei analysiere ich, wie diese Erinnerung in einer sozialen Bewegung und in den zeithistorischen Horizont der 1970er und -80er Jahre eingebettet war, die in der Bundesrepublik in gesellschaftlicher und erinnerungskultureller Hinsicht von großer Dynamik gekennzeichnet waren. Damit führe ich die Perspektiven der Erforschung von Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus und der neuen Frauenbewegung als soziale Bewegung zusammen. Mit dieser Analyse erweitere ich gleichzeitig die Erforschung der ›Gedächtnisgeschichte‹ des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik, indem ich die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit durch Akteurinnen der neuen Frauenbewegung fokussiere. Mit diesem Vorgehen ziele ich nicht nur darauf, die Einschreibung von Frauen(geschichte) in die Erinnerungskultur zu untersuchen, sondern nehme die Feministinnen der 1970er und -80er Jahre als Erinnerung stiftende und tradierende Akteurinnen in den Blick.
Wenn Erinnerung als interaktive, soziale und kulturelle Praxis begriffen wird, kommt dem Raum der ›Öffentlichkeit‹ eine hervorgehobene Bedeutung für diese Aushandlungsprozesse zu.9 Neue soziale Bewegungen als Gestalterinnen sozialen Wandels nutzen die Öffentlichkeit zur Selbstvergewisserung und als Kommunikationsraum. Sie stellen darin auch historische Bezüge her oder nehmen auf gesamtgesellschaftlich verhandelte Themen Bezug.10 Um diese hybride Gestalt der Alternativöffentlichkeit der neuen Frauenbewegung zu beschreiben, hat die Soziologin Ilse Lenz das Konzept der feministischen Semiöffentlichkeit entwickelt.11 Diese erfüllte mehrere Funktionen: Sie diente erstens als Vergewisserungsraum für die autonome Bewegung selbst, wies zweitens eine Schnittmenge mit der Öffentlichkeit des alternativen Milieus auf und richtete sich drittens bewusst an die breite Gesellschaft.12
Aus diesen Annahmen ergeben sich eine Reihe konkreter Forschungsfragen: Welche Rolle spielt gender in der Erinnerung? Wie formen soziale, politische Bewegungen Erinnerung? Von welchem Vergangenheitsbild über den Nationalsozialismus gingen die Feministinnen aus? Wie waren sie von den Vergangenheitsbildern der 68er-Protestbewegung geprägt? Setzten Feministinnen der öffentlichen Erinnerungskultur des Nationalsozialismus (in der Bundesrepublik) eine feministische Erinnerungskultur entgegen? Lassen sich die Prämissen eines Generationenkonflikts und Bruchs mit der Elterngeneration, wie sie für die ›68er‹ festgehalten werden, auch auf die Akteurinnen der neuen Frauenbewegung übertragen? Für welche historischen (Selbst)Erzählungen über den Nationalsozialismus eignete sich die feministische Öffentlichkeit? Wer waren die Akteur*innen, die den erinnerungskulturellen Diskussionsraum bespielten? Wie interagierten sie miteinander? Welche Themen, Bilder und Erzählungen zeigen sich als dominant? Inwiefern wandelten sie sich? Wie bezog sich im Laufe der Zeit eine neue Generation Feministinnen auf die NS-Vergangenheit? Welche Stimmen hatten marginalisierte Gruppen – etwa im Nationalsozialismus Verfolgte oder ihre Nachfahren – bezüglich der feministischen Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus?
Erinnern dient dazu, sich als Gruppe von Individuen mit gemeinsamen Zielen und gemeinsamer Geschichte zu versichern. Diese Selbstvergewisserung in der neuen Frauenbewegung konstituierte sie als eine soziale Bewegung und trug dazu bei, eine kollektive Identität zu verhandeln.13 So ging es den Feministinnen zum Beispiel bei der Suche nach historischen Vorgängerinnen darum, sich zu vergewissern, dass die neue Frauenbewegung auf eine langjährige Tradition der Kämpfe um Frauenrechte zurückblicken konnte.14 Diese Geschichte nahmen die Feministinnen als verschüttet wahr, da Frauen und Frauenbewegungen weniger Eingang in das kulturelle Gedächtnis in Gesellschaften finden, die nach ihrer Analyse patriarchal – also von Männern dominiert – waren.15 Aus der Feststellung heraus, auf so wenige zugängliche Überlieferungen von etwaigen Vorgängerinnen zu stoßen, entwickelte sich in der neuen Frauenbewegung auch das Bedürfnis, das eigene Wirken zu dokumentieren. So gründeten Feministinnen in der Hochphase der autonomen Projekte auch überregionale Archive und schufen damit Orte gesammelten Wissens von der eigenen Bewegung. Und die Erkenntnis, dass die vermeintlich ›weiblichen‹ Sphären des ›Privaten‹ keine Wertschätzung und historische Beachtung gefunden haben,16 führte auch zu einer Suche nach ›neuem‹ Quellenmaterial wie persönlichen Zeugnissen und Interviews mit älteren Frauen.17 Diese Erinnerungsarbeit trug gleichzeitig zur Formierung des eigenen Bewegungskollektivs bei. Dabei gab es auch Exklusionsmechanismen, die in einer Analyse der Überlieferungen der neuen Frauenbewegung berücksichtigt werden müssen. Ilse Lenz fasst zusammen:
»Als sich die neuen Frauenbewegungen ab den späten 1960er Jahren auf ihren Weg machten, suchten sie in ihrer Erinnerungsarbeit auch danach, was und wer sie sein wollten. Es ging ihnen auch um ihr sich eben formierendes Selbst. Das Erinnern war nicht nur eine Frage ihres Wissensstands etwa über die vorige Frauenbewegung, sondern auch ihrer Herausbildung als kollektiver Akteur. Diese Konstruktion von Erinnerungen schließt Grenzziehungen um die eigene sich herausbildende Wir-Gruppe mit ein: Wer soll dazugehören, wer wird als außenstehend und wer als Gegner bezeichnet?«18
Die Geschichte des Nationalsozialismus ist für eine auf Identität zielende kollektive Erinnerung eine besondere Herausforderung. Dies betrifft die Erinnerung an die Frauenbewegung in besonderer Weise, denn der Nationalsozialismus verhinderte die Weiterführung der Frauenrechtsbewegung vor 1933 und beeinträchtigte damit entscheidend ihre Traditionsbildung. Aus Perspektive der Feministinnen nach 1968 verunmöglichte er außerdem eine vorbehaltlose positive Identifikation mit der alten Frauenbewegung, da das Verhalten einiger Protagonistinnen in den Jahren der nationalsozialistischen Machtübernahme kritisch beurteilt wurde.19
Doch den Feministinnen der 1970er und 1980er Jahre ist es frühzeitig gelungen, die von vielen Akteurinnen gefühlte »Geschichtslosigkeit« zu überwinden.20 Sie bezogen sich vielfältig, jedoch heterogen und selektiv auf Geschichte. Diese diente ihnen oft als politisches Argument, und die Klage über die eigene »Geschichtslosigkeit« war weiterhin präsent.21 Die neue Frauenbewegung hat so einerseits »den Topos des radikalen Neuanfangs« geschaffen und sich andererseits »in die Tradition einer weiblichen Protestkultur« eingeschrieben.22 Den Bedingungen, Motiven und Diskussionen dieser Erinnerungsarbeit in der feministischen Öffentlichkeit spüre ich in dieser Arbeit mit dem Fokus auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach.
Neben der Gebundenheit der feministischen Erinnerungskultur an ihre soziale Bewegung sind auch die Dimensionen ihrer soziokulturellen Zusammenhänge zu beachten. Dies betrifft besonders die Frage, wie die Frauen durch ihre Angehörigkeit zu einer bestimmten Generation und durch ihre familiäre Herkunft geprägt waren. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die Pionierinnen der neuen Frauenbewegung der sogenannten ›68er-Generation‹ angehörten und deswegen eine besondere Sozialisierung und Politisierung durchmachten, in die ich später eingehend einführe. Dabei begreife ich Generation als »Gedächtniskategorie«, anhand der »das Nachwirken ebenso wie die Rekonstruktion von Vergangenem« untersucht werden kann.23
Eine weitere Ebene für meine Analyse der feministischen Erinnerungskultur ist die der Öffentlichkeit und Medialität. Die Wahrnehmung von Erinnerungen hängt immer auch davon ab, »ob sie in einem öffentlichen Raum erzählbar und akzeptabel sind.«24 Dabei strukturieren Medienlogiken sowohl Formen als auch Inhalte von Erinnerung. Deswegen ist zu Beginn von grundlegender Bedeutung, wie genau Feministinnen zuerst einen öffentlichen Raum schufen, mit ihren eigenen Medien, und wie diese gestaltet und für wen zugänglich waren.
Nicht zuletzt ist auch die Überlieferungssituation als strukturierendes Moment zu beachten. Als Grundlage meiner Analyse dient zuvorderst das Angebot relevanter Quellen in den beiden Hauptarchiven der neuen Frauenbewegung. Diese sind der FrauenMediaTurm (FMT) in Köln (ursprünglich in Frankfurt a.M.) und das Frauenforschungs-, Bildungs- und Informationszentrum (FFBIZ) in Berlin. Diese stehen sowohl für die geografischen Zentren aus der Anfangszeit der neuen Frauenbewegung, Frankfurt a.M. und West-Berlin, als auch für die zwei wortstärksten Lager in der Hochzeit der autonomen Frauenbewegung.25
Die neue Frauenbewegung ist zu keinem Zeitpunkt als homogene Gruppe zu beschreiben. Ihre Akteurinnen unterschieden sich hinsichtlich ihrer eigenen Positionierung und Identität, sie spalteten sich in bewegungsinterne Lager, bildeten Kollaborationen und zerstritten sich. Dennoch gab es einflussreiche Stimmen, denen zwar nicht zwangsläufig in der Gesamtheit der Bewegung zugestimmt wurde, die jedoch aufgrund ihrer Reichweite von großer Bedeutung waren. Aus dieser Annahme heraus stelle ich die Hypothese auf, dass die konfliktvolle neue Frauenbewegung auch in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus Differenzen austrug. Diese Konflikte haben in der feministischen (Erinnerungs)Kultur auch eine konstituierende Bedeutung, deren Prozesse stets von einer »Produktivität des Streits« gekennzeichnet waren.26
Im Folgenden bette ich diese Arbeit in den Forschungsstand und weitere Forschungskontexte ein. Danach erläutere ich den theoretischen und methodischen Zugang, diskutiere die Überlieferungs- und Quellenlage und stelle den Aufbau der Arbeit vor.
Diese Arbeit ist in mehrere größere Forschungskontexte eingebettet: die historische Frauenbewegungsforschung, die zeithistorische Erforschung der Bundesrepublik, dabei insbesondere kulturhistorische Fragen zu ›1968‹, das Forschungsfeld zur Erinnerung an den Nationalsozialismus mit einer geschlechterhistorischen Perspektive sowie die historische Frauenforschung zum Nationalsozialismus, die ihre Wurzeln in der neuen Frauenbewegung selbst hat.
Die historische Frauenbewegungsforschung fragt nach Traditionalisierung und Gedächtnis innerhalb der deutschsprachigen Frauenbewegungen.27 Dabei muss sich kritisch damit auseinandergesetzt werden, dass die Akteurinnen der neuen Frauenbewegung die Historiografie ihrer eigenen Bewegung schon selbst schufen und somit auch Narrative vorgaben.28 Sie kamen dabei allerdings oft nicht ohne eine normative Deutung aus und hoben Teilbereiche der Bewegung hervor, während andere unterrepräsentiert blieben.29 Für die zeithistorische Forschung zur neuen Frauenbewegung ist die umfangreiche, kommentierte Quellenedition der Soziologin Ilse Lenz eine wichtige Grundlage.30 Darüber hinaus kann ich auf einzelne historische Studien zur westdeutschen neuen Frauenbewegung mit unterschiedlichen Schwerpunkten aufbauen. So vergleicht Kristina Schulz die ersten Jahre der Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich,31 während Elisabeth Zellmer in ihrer Regionalstudie die neue Frauenbewegung in München untersucht.32 Zellmer und Schulz ordnen sich dabei ausdrücklich der sozialen Bewegungsforschung nach dem Politikwissenschaftler Roland Roth und Soziologen Dieter Rucht zu.33 Sie stellen die Organisationsstruktur der Bewegung, die Akteurinnen(gruppen), ihre politischen Praktiken, Kampagneninhalte und politischen Erfolge in den Vordergrund. Annett Gröschner hat zuletzt eine Gesamtdarstellung der west- und ostdeutschen Frauenbewegungen in Berlin seit 1968 vorgelegt.34 Für die Entwicklung der etablierten Frauenverbandsarbeit in der Bundesrepublik ist die Studie von Angela Icken über den Deutschen Frauenrat maßgeblich.35
Einschlägige zeithistorische Studien zur Bundesrepublik behandeln die Kategorie Geschlecht zumeist nur am Rande oder unter einem Fortschrittsparadigma.36 Isabel Heinemann und Martina Steber kritisieren ausdrücklich: »So zentral sie auch sein mögen: In der Geschichtsschreibung zur bundesrepublikanischen Demokratie wurden Deutungskämpfe um die Ordnung der Geschlechter bislang kaum thematisiert – und wenn, dann verblieben sie in geschlechtergeschichtlichen Resonanzräumen.«37 Von diesem Defizit ausgehend soll diese Arbeit dazu beitragen, die Geschichte der Bundesrepublik, die »immer auch eine Nachgeschichte des NS-Regimes«38 ist, sowohl unter geschlechterhistorischen als auch erinnerungskulturellen Aspekten zu bereichern.
Die autonome Frauenbewegung nahm ihren Anfang in der Studentenbewegung der 1960er Jahre. Die Feministinnen der 1970er und 1980er Jahre sind somit auch aus dem Zusammenhang von ›1968‹ zu analysieren, in dem die Trägerinnen der Aufbruchsphase sozialisiert und politisiert worden sind.39 Somit ist das Forschungsfeld zu ›1968‹, dessen Ergebnisse über den gesellschaftlichen und politischen Wandel, die Ereignisse und Akteur*innen der Studentenbewegung der 1960er Jahre Auskunft geben, ein weiterer wichtiger Kontext dieser Arbeit.40 Von besonderem Interesse sind Forschungsarbeiten, die sich im Überschneidungsfeld von Sozial-, Politik- und Geschichtswissenschaften verorten lassen und über die Prägung von Feministinnen in der Studentenbewegung und im Umfeld der neuen sozialen Bewegungen Aufschluss geben.41 Hier sind die biografischen Studien von Christine Thon und Morvarid Dehnavi hervorzuheben, die die Generationserfahrungen von Feministinnen, ihre familiäre Herkunft und die Bedeutung ihres Engagements in der Studentenbewegung herausstellen konnten.42 Darüber hinaus sind Arbeiten mit kulturhistorischem Fokus eine wichtige Referenz. Diese untersuchen die Alltagspraxis der Studentenbewegung und des alternativen Milieus, für deren Beschreibung insbesondere die Werke von Sven Reichardt und Detlef Siegfried hervorzuheben sind.43 Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus spielte in der Protestkultur der 1960er bis 1980er Jahre eine besondere Rolle, weswegen sie in dieser Arbeit eine besondere Beachtung findet. In den wichtigen Studien hierzu dominiert die Interpretation des Generationenkonflikts zwischen den Eltern, die den Nationalsozialismus miterlebt hatten und über ihre Erlebnisse und mögliche Täterschaft schwiegen, und den aufbegehrenden Kindern. Dabei ist auch vielfach dargelegt worden, wie der Nationalsozialismus von den jüngeren Protestierenden funktionalisiert wurde, ohne dass eine fundierte Aufarbeitung der NS-Verbrechen geleistet worden wäre.44 So hat die Historikerin Christina von Hodenberg gängige Narrative über die ›68er-Generation‹ in Frage gestellt: ›1968‹ sei diverser und weiblicher gewesen, als es die medialen Repräsentationen bis heute darstellten, der Generationenkonflikt rund um die NS-Vergangenheit sei außerdem überbewertet.45 Diese These aufgreifend, ziele ich in dieser Arbeit darauf, den Anteil feministischer Akteurinnen in der erinnerungskulturellen Entwicklung nach, beziehungsweise auf Grundlage von ›1968‹ nicht nur aufzudecken, sondern in seiner Spezifität zu analysieren.
Ich setze mich darüber hinaus mit weiteren Forschungsergebnissen auseinander und überprüfe diese mit dem Fokus auf die feministische Alternativöffentlichkeit. So stellt unter anderen Knud Andresen heraus, dass die marxistisch und linksalternativ orientierte Studentenbewegung und ihre Nachfolgemilieus nicht frei von Antisemitismus waren und ihre Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus die Chiffrierung des Holocaust als universales Menschheitsverbrechen beförderte.46 Die Alternativmilieus waren aber auch Träger einer gesellschaftlichen Entwicklung, die in den 1980er Jahren zu einer ›Geschichtsbewegung von unten‹ führte.47 Sie schätzten Subjektivität hoch und fanden darüber auch den Zugang zur Opferschaft und Täterschaft Einzelner; eine Perspektive, die in den 1960er Jahren kaum eingenommen wurde.48
Ich kann mit dieser Arbeit außerdem auf impulsgebende wissenschaftliche Aufsätze aufbauen, die unter geschlechterhistorischen Fragestellungen einzelne erinnerungskulturelle Produkte oder Debatten seit 1945 untersuchen.49 Sie stellen vor allem heraus, wie sich Sexismus und Antisemitismus verschränken, und wie die Annahmen ›natürlicher‹ und ›universaler‹ Geschlechtseigenschaften eine Rezeption von weiblicher Opfer- oder Täterschaft strukturieren.50
Wichtige Ergebnisse liefert die Studie von Leonie Treber über die deutsche »Trümmerfrau« als »Erinnerungsort«.51 Sie stellt die These auf, dass die – von Treber allerdings pauschal »Frauengeschichtsschreibung« genannte – feministische Bewegung, Öffentlichkeit und historische Frauenforschung in den 1980er Jahren die Erinnerung an ›die Trümmerfrauen‹ aktualisierte.52 Sie zeigt in ihrer Untersuchung, dass die realhistorische Trümmerräumung nur in West-Berlin und in der Sowjetischen Besatzungszone zu einem Großteil von Frauen geleistet wurde. Das geschlechtersymbolisch stark aufgeladene Bild der ›Trümmerfrau‹ geht nach Treber auf eine gezielte Medienkampagne in der Nachkriegszeit zurück, die Bürger*innen zur Mitarbeit an der Enttrümmerung motivieren sollte. In der Bundesrepublik wurde das ikonische Bild der heldenhaften Frauen der Nachkriegszeit in den 1980er Jahren wieder prominent, woran auch das feministische Interesse an den Erfahrungen älterer Frauen ihren Anteil hatte.53
Ein weiterer wichtiger Kontext dieser Arbeit ist die historische Frauenforschung, deren Entwicklung seit ihren Anfängen in den 1970er Jahren nach wie vor nicht umfassend erforscht ist. Ich kann jedoch auf mehrere Publikationen zurückgreifen, die sich mit ihrer Genese auseinandersetzen und theoretische Ansätze und Entwicklungen sowie Pionierstudien vorstellen.54 Insbesondere die Aufschlüsselung von Bewegungspraxis und Ausdifferenzierung als akademische Disziplin bleiben werden nicht in der Tiefe analysiert.55 Dies liegt auch darin begründet, dass es in diesem Feld eine große Herausforderung ist, die verschiedenen Akteur*innen und ihre Wirkungsumfelder zu identifizieren und in den Blick zu nehmen. Ulla Bock hat anhand von Professorinnen der Frauen- und Geschlechterforschung die professionellen Biografien dieser »Pionierinnen« aufgezeigt.56 Mit diesem Ansatz bleiben jedoch einflussreiche Akteur*innen in der Bewegung und in den Anfängen der Frauenforschung außer Acht, die ihre akademische Karriere nicht weiterverfolgt haben.57 Eine weiteres Dilemma zeigt sich in dem Versuch von Angelika Schaser und Falko Schnicke, den Eingang der Frauen- und Geschlechtergeschichte in die Universitäten aufzuzeigen, indem sie die Vorlesungsverzeichnisse der historischen Institute an mehreren westdeutschen Universitäten analysierten.58 Die Pionierin der historischen Frauenforschung Gisela Bock entgegnete daraufhin, dass sich die feministische Frauengeschichte in ihren Anfängen zu einem Großteil ausgerechnet nicht an den historischen Instituten angefunden habe.59 Diese Beispiele zeigen, wie herausfordernd es ist, die Anfänge einer Disziplin zu untersuchen, die eng mit einer sozialen Bewegung verflochten war und sich in Teilen bewusst disziplinärer oder akademischer Einhegungen entzog. Die Soziologin Sabine Hark diskutiert diesen bis heute bestehenden grundsätzlichen Konflikt der »dissidenten Partizipation« der Frauen- und Geschlechterforschung.60
Die Debattenlinien in der feministischen NS-Geschichtsschreibung seit Mitte der 1980er Jahre und ihr Einfluss auf die NS-Forschung sind in einigen Publikationen nachgezeichnet.61 Sie alle zielen jedoch auf eine Hinführung zur aktuellen, wissenschaftlichen Verhandlung des Nationalsozialismus unter geschlechterhistorischen Fragestellungen und blenden den Raum der ›öffentlichen Geschichte‹ überwiegend aus.62 Die feministische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wurde in der Bewegung laufend diskutiert und war schon um 1990 Bestandteil von selbstkritischen und reflexiven Analysen.63 Die sich etablierende Frauen- und Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus musste sich mitunter mühevoll von diesen Diskussionen und Kontroversen aus der ›Bewegungszeit‹ der 1980er Jahre lösen.64 In diesen Debatten spielte auch der Vorwurf des Antisemitismus in der Frauenbewegung eine wichtige Rolle. Auf diesen wichtigen Aspekt in der feministischen Erinnerungskultur gehe ich in meiner Analyse ausführlich ein.65
Durch ihren zeitlichen und thematischen Zuschnitt berührt diese Arbeit weitere spezifische Forschungsfelder. Hierzu gehört die Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland, die Geschlechtergeschichte und der soziokulturelle Wandel in der Bundesrepublik, sowie die Medien- und Öffentlichkeitsgeschichte. Dort, wo diese Arbeit die entsprechenden Themen berührt, greife ich auf die jeweilige Forschungsdiskussion zurück. Dazu gehören insbesondere Studien zur medialen und öffentlichen Verhandlung der NS-Erinnerung, etwa in Film und Fernsehen, zur Geschichtspolitik oder zu der Berichterstattung über Strafprozesse gegen NS-Täter*innen.66
In theoretischer Hinsicht basiert diese Arbeit auf den Theorien des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses und bettet sich damit in das Feld der Diskussion über Erinnerungskultur und Nationalsozialismus. In die theoretischen Prämissen dieser Arbeit führe ich im Folgenden ein. Dabei sollen die verwendenden Grundbegriffe erklärt und der Zugriff meiner Analyse verständlich gemacht werden.
»Wenn es um Erinnerungsprozesse geht, reden wir auch über Sinnstiftung und Identitätsarbeit. Wer sich erinnert, will wissen, wer er ist. Das gilt nicht nur für das Individuum, sondern auch für soziale Gemeinschaften.«67 Anschließend an diese grundlegende Aussage von Ulrike Jureit über das Wesen des Erinnerns führe ich im Folgenden in die theoretischen und methodischen Überlegungen ein, auf die diese Arbeit aufbaut. Da ich mich für die Erinnerung im Kontext einer sozialen Bewegung und in der Alternativöffentlichkeit mit aktivistischen Rahmungen interessiere, stehen hier insbesondere die Hervorbringung von Gruppen- oder Teilgedächtnissen, bewusstem Gedächtnisaktivismus und die Erzeugung von Erinnerungsgemeinschaften im Fokus.
Ich untersuche Erinnern, Gedächtnis und Erinnerungskultur. Erinnern zeichnet sich durch zwei zentrale Merkmale aus: »Gegenwartsbezug und konstruktiver Charakter«.68 Astrid Erll und Mathias Berek erklären Erinnerung als aktiven Prozess, der in der Gegenwart stattfindet. In diesem Prozess wird Vergangenes ›hervorgeholt‹, es wird darauf Bezug genommen und es wird darüber kommuniziert.69 Dabei ist die »Aktualität« von Erinnerung wichtiger als ihre »Faktizität«, das heißt, entscheidend für Erinnerung ist weniger die tatsächliche Vergangenheit, als ihre mögliche gesellschaftliche Verhandlung in der jeweiligen Gegenwart.70Erinnerung, verstanden als (Re)Konstruktion von Vergangenheit, ist in gesellschaftliche Rahmen eingebettet (hierzu weiter unten). Der Begriff Gedächtnis wird hingegen gebraucht, um die Gesamtheit des Erinnerten zu erfassen. Es umfasst den ganzen Komplex und die Materialisierung von erinnerten Personen, Vorgängen, Umständen, Ereignissen, Bildern und Deutungen von Vergangenheit.71 Die Begriffe Erinnerungskultur und Gedächtnis werden oft synonym verwendet. So begreift Christoph Cornelißen Erinnerungskultur als einen »formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse«72. Mathias Berek verweist auf den stärker prozessorientierten Charakter der Erinnerung(skultur) und definiert Gedächtnis dagegen als Summe aller Ergebnisse dieser Prozesse.73 Der von Mathias Berek vorgenommenen Schärfung der Begriffe Erinnerungskultur und Gedächtnis schließe ich mich an, um Prozesse und Ergebnisse von Erinnerung spezifischer zu erfassen.
Nach Berek kann der Begriff Erinnerungskulturen im Plural verwendet werden, womit er auf die Gruppenbezogenheit des Begriffs verweist: »Im Plural bezieht sich der Begriff auf konkrete Erinnerungskulturen konkreter Kollektive in konkreten Gesellschaften.«74 Diese Auffassung ist sehr brauchbar, um die Erinnernden in ihrer Spezifität zu benennen. Ich konzipiere feministische Erinnerungskultur jedoch nicht über ein ›konkretes Kollektiv‹ im Sinne einer homogenen Akteurin – da die neue Frauenbewegung nur schwerlich als solche begriffen werden kann – sondern über ihren Aushandlungsraum. Wenn ich im Folgenden von feministischer Erinnerungskultur schreibe, so meine ich die Gesamtheit der Bezugnahmen auf die nationalsozialistische Vergangenheit in einem konkreten Aushandlungsraum, der feministischen Öffentlichkeit. Mit letzterer erfasse ich die Alternativöffentlichkeit, also Medien und Gesprächsräume der autonomen feministischen Bewegung und ihrer Akteurinnen in der Bundesrepublik ab 1968.75 Die in der feministischen Öffentlichkeit verhandelte Erinnerungskultur ist dabei von kritischen Aushandlungen geprägt, sie ist in ihrer Gesamtheit als streitbarer Prozess zu beschreiben. Die feministische Erinnerungskultur kann darüber hinaus mit anderen Erinnerungskulturen, etwa der geschichtspolitischen Erinnerungskultur in der Bundesrepublik, der Erinnerung von Verfolgtengruppen oder mit der Bezugnahme auf die nationalsozialistische Vergangenheit in der Studentenbewegung in Beziehung gesetzt werden.
Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses geht auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1877–1945) zurück.76 Er beschreibt, dass das individuelle Gedächtnis des Einzelnen von seinen sozialen Rahmen umgeben und beeinflusst sei. Er bezieht sich in dieser Theoriebildung vor allem auf Familien, Religionsgemeinschaften, Klassen und Milieus.77 Diese sozialen Rahmen ermöglichten die individuelle Gedächtnisbildung, die auf die Spiegelung und Kommunikation mit anderen angewiesen sei. Diese kollektive Prägung sei das, was ein kollektives Gedächtnis ausmacht. Träger der Erinnerung seien die Individuen, doch das Gedächtnis jedes Individuums sei nach Halbwachs durch seinen kollektiven Zusammenhang, also sein unmittelbares soziales Umfeld geprägt. Das Erinnern des Einzelnen sei auf diesen Gruppenzusammenhang angewiesen. Erst mit der Spiegelung durch die Menschen um das Individuum herum vermittelten sich die Vorstellungen von Raum, Zeit, Werten, Ereignissen und Erfahrungen.78 Entscheidende Modi für das Erinnern seien »Kommunikation« und »Identifikation« mit der eigenen Gruppe.79 Die sozialen Rahmen ermöglichten somit die Erinnerung, begrenzten sie aber auch, da – verkürzt ausgedrückt – das Kollektiv von einem »Homogenitätsdruck« gekennzeichnet sei.80 Dies verweist auf den oben genannten Gegenwartsbezug und Konstruktionscharakter von Erinnerung.
Maurice Halbwachs’ Theorie ist trotz einiger Leerstellen und der – auch schon zeitgenössisch geäußerten – Kritik aus verschiedenen Disziplinen die Grundlage für bis heute angewandte Konzepte des Erinnerns in den Kultur- und Geschichtswissenschaften.81 Ein Angriffspunkt für Kritiker*innen liegt in der Bezeichnung ›kollektives‹ Gedächtnis, die Missverständnisse produziert, was die Verortung von Gedächtnis angeht. Halbwachs meinte nie, dass Kollektive ein Gedächtnis ›haben‹.82 Die Kritikanfälligkeit dieses Konzepts zeigt umgekehrt aber auch auf, dass die Begriffe Gedächtnis, Erinnern, kollektive Identität und kollektives Gedächtnis oft unscharf verwendet werden.83 Allein der Begriff der Kollektivität verschleiere, so Sabine Moller, »die Vielfalt von Zugehörigkeiten und suggeriert eine Homogenität, die jene soziale Sinnstiftung initiiert, die der Begriff eigentlich analytisch aufschließen soll.«84 Die Verwendung des Begriffs ›kollektives Gedächtnis‹ setze somit voraus, dass diese irreführende Bezeichnung kritisch reflektiert und der Untersuchungsgegenstand sehr konkret definiert werde.85
Für die Kulturwissenschaften haben Jan Assmann und Aleida Assmann die Theorie des kollektiven Gedächtnisses nach Maurice Halbwachs aufgegriffen und in zweierlei Hinsicht erweitert.86 Während Halbwachs ein idealtypisches Familiengedächtnis beschrieb, das auf Medien weitgehend verzichtete und vor allem durch die Kommunikation seiner Mitglieder untereinander bestand, erweiterten Jan und Aleida Assmann erstens die Gruppe der Erinnernden: Sie verstehen sie als eine viel größere Gruppe zahlreicher Individuen, die außerdem über einen sehr großen Lebensraum verteilt sind. Zweitens erweiterten sie den Zeithorizont entscheidend, der in ihrer Theoriebildung weit über die Spanne eines Menschenlebens hinausreicht. Das, was Halbwachs kollektives Gedächtnis nannte, fassten sie in ihrer Definition des kommunikativen Gedächtnisses zusammen. Das kommunikative Gedächtnis ist ein lebendiges Gedächtnis, das sich in der Verständigung von Individuen über ihre eigenen Erfahrungen und Erinnerungen bildet. Es umfasst somit die aktuell lebenden Generationen und bezieht sich auf einen Zeitraum von etwa 80 bis 100 Jahren. Es benötigt keine Medien zur Transportation, sondern ›lebt‹ in den Zeitzeug*innen.87 Im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis ist das kulturelle Gedächtnis alltagsfern.88 Das kulturelle Gedächtnis braucht Medien, Rituale und Institutionen – Jan Assmann nennt sie »spezialisierte Traditionsträger«89 – in denen es sich verstetigt und durch die es lebendig gehalten wird. Es zeichne sich durch entscheidende Merkmale aus: Es sei identitätskonkret, das heißt soziale Gruppen leiten aus ›ihrem‹ kulturellen Gedächtnis ihre Identität ab; es sei außerdem rekonstruktiv, also eine Konstruktion mit Sinnhaftigkeit für die jeweilige Gegenwart; es sei geformt, zum Beispiel in festgelegten Medien; es sei insofern organisiert, als es institutionalisiert sei oder an spezifische Träger*innen gebunden; es sei verbindlich in seiner »Wertperspektive« und mit Vorgabe eines »Relevanzgefälle[s]«; es sei außerdem reflexiv, es vermag demnach, sich selbst und seine Bedeutung für die soziale Gruppe zu reflektieren.90
Mathias Berek stellt jedoch heraus, dass das kommunikative und kulturelle Gedächtnis nicht klar voneinander zu scheiden sind.91 Er schlägt vor, diese nicht als zwei abzutrennende Bereiche zu begreifen, sondern als zwei »Modi« des kollektiven Gedächtnisses. Er betont außerdem, dass das kollektive Gedächtnis »in allen seinen Varianten[,] kultureller Formung unterliegt«92, also auch das Erinnern in sozialer Interaktion und Kommunikation. Auf diese Interdependenz des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses in der Alltagspraxis hat auch der Soziologe Harald Welzer hingewiesen.93 Er stellt darüber hinaus fest, dass diese beiden Gedächtnisformen nur die absichtsvolle Konstruktion von Erinnerung meinen. Mit dem Konzept des sozialen Gedächtnisses versucht er demnach alles zu fassen, was Erinnerung beiläufig und nicht zielgerichtet erzeugt.94 Das soziale Gedächtnis hat demnach vier Medien: »Interaktionen, Aufzeichnungen, Bilder und Räume, und zwar jeweils solche, die im Unterschied zu ihrem Auftreten im kulturellen und kommunikativen Gedächtnis nicht zu Zwecken der Traditionsbildung verfertigt wurden, gleichwohl aber Geschichte transportieren und im sozialen Gebrauch Vergangenheit bilden.«95 Der nicht-intentionalen Erinnerung kommt insbesondere im Hinblick auf die Verwendung von visuellen Medien (wie historische Fotografien und andere Abbildungen) eine hohe Bedeutung zu. Visuelle Medien eignen sich durch ihre affirmative Kraft besonders dafür, Erinnerungen an ihnen zu verhandeln, zu repräsentieren und symbolhaft zu verdichten.96 Ihre Verwendung in der Erinnerungskultur findet deswegen eine besondere Beachtung.97 Insbesondere in Bezug auf den Nationalsozialismus muss berücksichtigt werden, dass das NS-Regime selbst sehr zielgerichtet Bilder inszenierte. Mit ihrer Verwendung in der Erinnerungskultur nach 1945, indem diese zum Beispiel in Zeitschriften, Filmen oder Ausstellungen reproduziert werden, stehen diese zwar in einem neuen Zusammenhang, lösen sich jedoch nicht zwangsläufig von ihrer bildimmanenten Suggestion.98 Die Verwendung von Bildern in der Erinnerungskultur unterliegt außerdem ihrer Verfügbarkeit, die an die jeweilige Überlieferung, Zugänglichkeit sowie Reproduzierbarkeit von visuellen Medien geknüpft ist, und der Auswahl durch Akteur*innen, die diese in die aktuelle Wahrnehmung einbringen. Zur zielgerichteten Verhandlung von Erinnerung gibt erweiternd der folgende Abschnitt Auskunft.
Aleida Assmann hat die Theorie des kulturellen Gedächtnisses in ihrer Arbeit über Erinnerungsräume weiter ausgearbeitet. So unterscheidet sie zwischen einem Speichergedächtnis und einem Funktionsgedächtnis.99 Das Speichergedächtnis sind im Wesentlichen Archive und Bibliotheken, die auch solche historischen Quellen und Überreste konservieren, die nicht jederzeit in der Gesellschaft angesehen und mit Bedeutung angereichert werden. Das Funktionsgedächtnis ist das, was dem Speichergedächtnis aktuell entnommen und in die gesellschaftliche Wahrnehmung gebracht wird, etwa im Museum oder durch die Veröffentlichung in klassischen Medien, mit der Aufnahme in politische Debatten und so weiter. Dieses Modell verweist auf die Möglichkeit der Wandlung und Beeinflussung des kulturellen Gedächtnisses.100 Denn das Speichergedächtnis ist auch eine »Ressource der Erneuerung kulturellen Wissens«101, da es das Material konserviert und bereithält, das in zukünftigen Funktionsgedächtnissen bedeutend werden könnte. Dafür braucht es Akteur*innen, die historische Quellen aus dem Speichergedächtnis auswählen und in funktionalen Umlauf bringen. Anschließend an dieses Konzept hat Susanne Kinnebrock dargestellt, wie wichtig Medienlogiken (wie Personalisierung, Dramatisierung und klassische Erzählmuster) dafür sind, was aus dem Speichergedächtnis genommen und im Sinne des Funktionsgedächtnisses medial verhandelt wird.102 Sie beschreibt auch den aktiven Akt des Gedächtnisaktivismus, nach dem bewusst historische Artefakte dem Speichergedächtnis hinzugefügt werden, um sie vor dem Vergessen zu bewahren, oder solche bewusst in das Funktionsgedächtnis eingebracht werden, um sie gesellschaftlich wirksam zu machen.103
Diese Vorstellung einer aktiven Beeinflussung des Gedächtnisses hebt die Bedeutung von denjenigen hervor, die aktiv damit ›arbeiten‹. Ihnen kommt dahingehend eine große Wirkmächtigkeit zu, Aspekte der Vergangenheit erinnerungsfähig zu machen. Welche das jeweils sind, ist somit stark von den Zielen und Bedürfnissen derjenigen Akteur*innen abhängig, die Gedächtnisaktivismus betreiben. Voraussetzung für einen erfolgreichen Gedächtnisaktivismus ist jedoch die Zugänglichkeit erstens zum Speichergedächtnis einer Gesellschaft und zweitens zu ihren Medien und Traditionsträger*innen, die im Sinne des Assmann’schen Funktionsgedächtnisses Erinnern ermöglichen.
Dieser theoretische Ansatz ist für diese Arbeit besonders brauchbar. Er betont die Wirkmächtigkeit einzelner Akteur*innen oder spezifischer Gruppen in der Erinnerungskultur, verweist aber auch darauf, dass ihre erinnerungskulturelle und -politische Gestaltungsmacht von bestimmten Voraussetzungen abhängt. Diese müssen in einer Analyse der feministischen Öffentlichkeit mitberücksichtigt werden. Damit kommt der Überlieferung feministischer Erinnerung und der Beschaffenheit der feministischen Alternativöffentlichkeit in den 1970er und -80er Jahren eine besondere Bedeutung zu. Es ist außerdem nach den konkreten Akteurinnen und Medien in der feministischen Öffentlichkeit zu fragen, sowie nach ihrer inneren Verfasstheit und jeweiligen programmatischen Ausrichtung.
Gerade auf die Erinnerung an den Nationalsozialismus bezogen wurde oft versucht, in einem nationalstaatlichen Kontext große Linien des erinnerungskulturellen Wandels in der Bundesrepublik nachzuzeichnen.104 Edgar Wolfrum hat den Begriff der Geschichtspolitik eingeführt, um die interessengeleitete Erinnerungskultur der politischen Eliten in seiner gesamtgesellschaftlichen Ausprägung zu beschreiben.105 Geschichtspolitik ist nach Wolfrum im Wesentlichen massenmedial vermitteltes, öffentlich-symbolisches Handeln und ihre Untersuchung macht die »Verschränkung von Geschichte und Politik sowie deren Bedeutung für den politischen Willensbildungsprozeß sichtbar«.106
Angelehnt an die lieux de mémoire des französischen Historikers Pierre Nora haben Étienne François und Hagen Schulze auch ein Werk zu den »Deutschen Erinnerungsorten« vorgelegt.107 Diese Erinnerungsorte sind geografische Orte, Denkmäler und Bauwerke, aber auch mythische Figuren, Lied- und anderes Kulturgut sowie geschichtsträchtige Daten und Ereignisse. Ihnen gemein ist, dass sie in ihrer Symbolhaftigkeit einen nationalen, identitätsstiftenden Charakter haben. Für diese Kollektividentitäten hat Benedict Anderson das Konzept der imagined communities entwickelt, mit der er in erste Linie den nationalstaatlichen Zusammenhalt unter Bezugnahme auf eine ›geteilte Geschichte‹ und ein gemeinsames Selbstbild beschreibt.108 Dieses Nationalgedächtnis bezieht sich oftmals auf Traditionen oder Bilder, die in einer zielgerichteten Erinnerung eben für jenen Zweck des nationalen Zusammenhalts ›erfunden‹, das heißt erinnerungskulturell verhandelt und mit entsprechender Bedeutung aufgeladen worden sind.109 Sowohl dieses Konzept der imagined communities von Benedict Anderson wie auch der invention of tradition von Eric Hobsbawn und Terence Ranger entstammen dem »Kontext der anglo-amerikanischen historischen Nationalismusforschung«110. Diese Ansätze können auch gewinnbringend auf andere Gruppen übertragen werden und sie stellen den Konstruktionscharakter und den Nutzen von Erinnerung für die gegenwärtigen Bedürfnisse einer Gesellschaft deutlich heraus.111 Sie erscheinen im vorliegenden Kontext jedoch nur als Kontrastfolie brauchbar, da sie von einem festen Kollektiv ausgehen, das ein sinnstiftendes Vergangenheitsbild für sich entwirft. Dies trifft in zweierlei Hinsicht auf die feministische Erinnerungskultur der 1970er und 1980er Jahre nicht zu: Erstens eignet sich die Erinnerung an den Nationalsozialismus in einer pluralen, demokratisch verfassten Gesellschaft wie der Bundesrepublik nur schwerlich für eine kollektivierende Sinnstiftung (hierzu auch weiter unten). Zweitens lebte die autonome neue Frauenbewegung von ihren Konflikten und Widersprüchen. In ihr waren Akteurinnen mit unterschiedlicher Positionierung aktiv, die auch miteinander stritten. Somit taugt die feministische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht zu einer einheitlichen, kollektiven Identitätsstiftung. Diesem Umstand wird mit einem prozessbetonten Begriff der feministischen Erinnerungskultur, wie ich oben ausgeführt habe, Rechnung getragen.
Jedoch sollte auch das in der breiten Öffentlichkeit dominierende kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft nicht als homogen und noch weniger als inklusiv verstanden werden. Erinnerungskultur ist immer dynamisch und wandelbar und von Konjunkturen abhängig, in denen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen ihre Deutungen von Vergangenheit zur Geltung bringen können. Sabine Moller verweist darauf, dass an der »öffentlichen Erinnerungskultur […] ablesbar« sei, welche Aspekte sich im »Kampf partikularer Erinnerungsgemeinschaften« durchgesetzt haben.112 Diese können dabei Ergebnisse sehr konfliktvoller Aushandlungen sein.113 Sie konstatiert auch: »Es gibt inoffizielle, widerstreitende Erinnerungsgemeinschaften, die sich politisch nicht durchsetzen konnten oder denen aus kulturellen oder politischen Gründen der Zugang zu Archiven oder die Archivierung der eigenen Geschichte bis dato verwehrt geblieben ist.«114 Diese Feststellung ist im Hinblick auf den feministischen Gedächtnisaktivismus sehr wichtig, in den ich oben eingeführt habe.
Eine überaus wichtige Erinnerungsgemeinschaft ist die Familie. Gerade die Untersuchungen von Familiengedächtnissen haben herausgestellt, dass ›private‹ und ›öffentliche‹ Erinnerungen an den Nationalsozialismus in hohem Maße voneinander abweichen. Mehrere Studien konnten außerdem zeigen, dass Erinnerung in Familien ganz eigenen Dynamiken unterliegt, außerdem oftmals von der massenmedialen Verhandlung von Geschichte beeinflusst ist.115 Diese Aspekte werden in dieser Arbeit insofern noch sehr wichtig werden, als die Feministinnen erstens von ihren eigenen Familiengedächtnissen geprägt waren und zweitens im Zuge des gestiegenen Interesses an individuellen Erinnerungen ein neues Gespräch mit ihrer Familie, insbesondere mit ihren Müttern, aufnahmen.116
Die Theoriebildung zur Erinnerungskultur und zum kollektiven Gedächtnis steht im engen Zusammenhang mit einem kulturellen und fachwissenschaftlichen Wandel, in dem die gesellschaftliche Verhandlung von Geschichte immer stärker betrieben wurde.117 Ein Hauptmotiv ist dabei die »Verarbeitung biographischer beziehungsweise kollektivbiographischer Erinnerung im 20. Jahrhundert unter den Vorzeichen […] von Krieg, Genozid, Vertreibung und Gewalt.«118 Die häufigen Bezugnahmen auf die Geschichte des Nationalsozialismus in theoretischen Erörterungen zu Erinnerung und Gedächtnis verweisen darauf, wie wichtig dieser historische Komplex und das Begreifen seiner Auswirkungen von der gesellschaftlichen bis hin zur individuellen Dimension sind.
Die Geschichte des Nationalsozialismus und seine Nachwirkungen sind für die Theorien des kulturellen Gedächtnisses und der Erinnerungskultur auch herausfordernd. Ulrike Jureit etwa kritisiert in dieser Hinsicht an dem Assmann’schen Konzept des kulturellen Gedächtnisses theoretische Mängel. In der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus käme die Vorstellung eines identitäts- und kollektivitätsstiftenden Gedächtnisses an seine Grenzen. Jureit stellt die Frage, wie eine Gesellschaft sich in Kontinuität zu einer vorgängigen »Tätergesellschaft« stellen und einen »Verbrechenskomplex« in seine Erinnerung miteinbeziehen könne.119 Ulrike Jureit und Christian Schneider beschreiben einen Effekt des ›gefühlten Opfers‹, der darin bestehe, dass sich die Nachgeborenen mit den Opfern des Nationalsozialismus identifizierten und sich selbst somit als Opfer ihrer Eltern (die der Täter*innengeneration angehören) imaginierten. Diese – oftmals weniger konkreten als aus dem Generationskollektiv imaginierten – Täter*innen werden aus der Erinnerungsgemeinschaft ausgeschlossen. Die Nachgeborenen schlossen sich selbst jedoch in diese universal und opferzentrierte Gedenkkultur mit ein.120 Christian Schneider hat diese ›Gegen-Identifikation‹ als spezifisches psychosoziales Phänomen der ›68er-Generation‹ herausgearbeitet.121 Aleida Assmann entgegnet, dass in den 1980er Jahren konkrete erinnerungskulturelle Praktiken etabliert worden seien, die das Annehmen der historischen Schuld miteinschlossen und eine empathische Begegnung mit den Opfern ermöglicht haben. Darin erkenne sie jedoch keine identifikatorische Gleichsetzung der Nachkommen der Täter*innen mit den Opfern, sondern eine Erinnerungskultur der »Opfer-Orientierung«.122
Diese Diskussionen beziehen sich schwerpunktmäßig auf die Entwicklungen und Dynamiken einer staatlich geförderten und massenmedial betriebenen Erinnerungskultur der mittleren 1980er bis Anfang der 2000er Jahre.123 Ich setze mit meiner Arbeit an einem früheren Punkt an, greife jedoch die Frage nach Ambivalenzen in der Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus auch für die 1970er und frühen 1980er Jahre auf.
Für diese Arbeit sind Vorstellungen von Geschlechtern und wie diese in Erinnerungskontexten zur Geltung kommen, besonders wichtig. Die Kategorie gender strukturiert soziale Beziehungen und bestimmt Praktiken, die die reproduktiven Unterschiede zwischen Körpern in soziale Prozesse überführt.124 Geschlecht bedingt auch Erinnerung in verschiedener Hinsicht. Als soziale Kategorie, die alltägliches Handeln und Vorstellungswelten strukturiert, nimmt gender Einfluss darauf, wie, werund von wem erinnert wird. Die Akteurinnen der neuen Frauenbewegung gingen von einem dualistischen Geschlechtermodell aus, darin »waren die zwei Geschlechter Mann und Frau biologisch-sozial festgelegt und standen sich tendenziell antagonistisch gegenüber«.125 Sie analysierten ihre Gegenwart und Vergangenheit als patriarchale Gesellschaften, in denen mächtige Männer den größten Einfluss auf das kulturelle Gedächtnis nahmen. In diesem Sinne sind einige Initiativen in der feministischen Erinnerungskultur wie oben ausgeführt als Gedächtnisaktivismus zu verstehen. Aber auch das Erinnern von marginalisierten Gruppen ist nicht davor gefeit, andere Marginalisierte zu ›vergessen‹. Astrid Erll schreibt: »Erinnern und Vergessen sind zwei Seiten – oder verschiedene Prozesse – desselben Phänomens: des Gedächtnisses.«126 Dieses Vergessen ›anderer‹, das heißt marginalisierter Erfahrungen und Erinnerungen, führte zu konfliktvollen Aushandlungen, die für eine Diversifizierung der Frauenbewegung in den 1980er Jahren von großer Bedeutung waren.127 Es waren vor allem Feministinnen aus der migrantischen community, Schwarze Frauen und women of color, aber auch nicht-akademisch gebildete Frauen sowie nicht-christliche Frauen und Feministinnen mit Behinderungen, die die Mehrheit der christlich-sozialisierten, überwiegend weißen, oftmals deutschen und akademisch-gebildeten Feministinnen damit konfrontierten, dass diese im Gegensatz zu ihnen in der Frauenbewegung sehr sprachmächtig waren und ›andere‹ Perspektiven und Identitäten folglich marginalisierten. Diese Kritik bezogen sie auch auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit. Die Konflikte in der feministischen Erinnerungskultur geben Auskunft über Sprachmächtigkeit, Diskriminierung und Ein- und Ausschlussmechanismen in der Gedächtnisbildung und sind auch in theoretischer Hinsicht erhellend. So schrieb die Historikerin und Soziologin Theresa Wobbe 1992, als sie auf die damals noch lebhaft geführten Diskussionen in der historischen Frauenforschung und in der Frauenbewegung mit Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit blickte:
»Diese Kontroversen in feministischen Kontexten thematisieren, wie bestimmte Überlieferungsmodi in politische und historische Konjunkturen verstrickt sind. Sie geben ebenfalls Auskunft darüber, welche Identifikationen hergestellt und welche Ausschlußverfahren praktiziert werden. Schließlich zeigen diese Debatten, welche Konstruktionsmechanismen des sozialen Gedächtnisses zur Verfügung stehen, um zu vergessen. Modi wie Verschiebung und Kompensation können beispielsweise dazu beitragen, daß man nicht über die sozial als unangenehm klassifizierten Teile der Vergangenheit der eigenen Gruppe spricht, sondern eher über die als negativ angesehene Vergangenheit anderer Gruppen.«128
Die feministische Erinnerungskultur konnte jedoch auch große Potentiale ausschöpfen. So haben Selma Leydesdorff, Luisa Passerini und Paul Thompson in ihrem Band zu »Gender and memory« auf das ›Aha-Erlebnis‹ der Pionier*innen der frauenhistorischen Oral History hingewiesen: »Oral historians have noted the gendered nature of memory from very early on.«129 Gerade den weiblichen Frauenforscherinnen habe sich mit der Befragung von Frauen nach ihren historischen Erfahrungen ein Wissensschatz aufgetan, der in den subjektiven Erzählungen und Identifikationsangeboten bestand.130 Sie weisen darauf hin, dass vergeschlechtlichte Erinnerung (gendered memory) in verschiedenen kulturellen Kontexten und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich sein kann. Sie sei an geschlechtsspezifische Erfahrungen und sprachliche Codes gebunden.131 Diese Dimension der gendered memory soll hier durchgehend Bestandteil meiner Analyse sein.
In dieser Arbeit analysiere ich unterschiedliche Quellen, die dem Raum der feministischen Öffentlichkeit zuzuordnen sind und Erinnerung an den Nationalsozialismus verhandeln. Dies sind neben Texten und Bildern in der Bewegungspresse auch Ausstellungen, Unterrichtsmaterialien, (Spiel)Filme und Veranstaltungsdokumentationen. Sie zeigen Bilder und Deutungen der nationalsozialistischen Geschichte und wie diese in der feministischen Erinnerungskultur diskutiert wurden. Ein Schwerpunkt meiner Analyse liegt auf der feministischen Zeitschriftenlandschaft zwischen 1976 und 1984. Bei der Analyse der feministischen Zeitschriften ist die Tatsache sehr wichtig, dass es den Prinzipien der linken Alternativöffentlichkeit entsprach, dass Leser*innen an den Diskussionen und der Veröffentlichung eigener Beiträge in großem Umfang teilhatten. Die Zeitschriftenredaktionen pflegten eine möglichst transparente Kritik- und Debattenkultur, zum Beispiel in der Form, dass sie auch umfangreiche Zuschriften und Entgegnungen abdruckten. Somit bilden die feministischen Zeitschriften ein Stück weit auch die Seite der Rezeption und Reaktion in der feministischen community mit ab. Eine Analyse der Zeitschriften lässt somit Aussagen darüber zu, welche erinnerungskulturellen Motive als wichtig erachtet wurden, welche Deutungen über den Nationalsozialismus weite Verbreitung fanden und welche Darstellungen eventuell besondere Zustimmung oder Widerspruch aus der Leser*innenschaft erzeugten.
Der Historiker Sven Reichardt zählt 383 feministische Zeitschriften im Zeitraum von 1970 und 1980.132 Diese hohe Zahl verweist eindrücklich auf die Pluralität des feministischen Blätterwaldes in der Hochphase der autonomen Bewegung. In zahlreichen Städten gaben Frauengruppen ab Mitte der 1970er Jahre Zeitschriften und ›Blätter‹ mit kleinerer Auflage heraus, etwa Gesche in Bremen, die Hamburger Frauenzeitung, das Frankfurter Frauenblatt, die Münchner Frauenzeitung, die Zeitschriften Lesbenstich, Tollkirsche oder Lila Distel. Zwischen 1973 und 1976 probierten die Akteurinnen der neuen Frauenbewegung eine kollaborativ organisierte, überregionale Zeitung aus. Diese Frauenzeitung – Frauen gemeinsam sind stark sollte der Bewegung zum ersten Mal einen übergreifenden öffentlichen Diskussionsraum geben.133 Nach ihrem Scheitern traten zwei neue Zeitschriften an ihren Platz und beanspruchten, ›die‹ mediale Vertretung der neuen Frauenbewegung zu sein. Im September 1976 erschien die Nullnummer der Courage. Im Februar 1977 die erste Ausgabe der Emma. Diese beiden Zeitschriften sollten in den kommenden Jahren der wichtigste Sammelpunkt und ›Sprachrohr‹ der Bewegung sein.134Courage und Emma verfolgten grundsätzlich ein ähnliches Konzept, nämlich als Zeitschrift »von Frauen und für Frauen« ausschließlich über ›frauenrelevante‹ und aus weiblicher Sicht gelesene Themen zu berichten. Sie luden ›alle Frauen‹ dazu ein, mit Zuschriften und Vorschlägen etwas beizutragen und verfolgten das Ziel, auch Frauen jenseits der aktiven Bewegungsszene zu erreichen.135 Die Zeitschriften unterschieden sich jedoch auch und nahmen die andere jeweils als Konkurrentin und Antagonistin wahr.
Emma, in Köln ansässig, war von Anfang an stark auf ihre Gründerin Alice Schwarzer und ihr feministisches Verständnis ausgerichtet. Emma richtete sich außerdem bewusst auf den etablierten Medienmarkt aus und wollte in der männlich dominierten Öffentlichkeit feministisch intervenieren.136 Mit einer Startauflage von 200.000 Exemplaren betonten Schwarzer und Kolleginnen diesen Anspruch, Emma sei »die erste Zeitschrift in Europa mit einer sechsstelligen Auflage […], die ausschließlich in der Hand von Journalistinnen ist.«137 Die beiden Zeitungen lieferten sich – so beschreibt es die Historikerin Kristina Schulz – einen »Wettstreit um die größten Auflagen, die höchsten Gewinne und den weitesten Verteilungsradius«138, den Emma für sich entschied. Die Frauen der Emma initiierten in den nächsten Jahren mehrere wichtige Kampagnen, etwa gegen Pornographie (Klage gegen das Magazin Stern 1978 und die PorNO!-Kampagne in den 1980er Jahren) und für »Frauen ins Militär«.139
Aus der feministischen Praxis der Selbsterfahrung wurde das Konzept einer »Selbstvertretungs-Öffentlichkeit«140, dem vor allem die Zeitschrift Courage folgte. Sibylle Plogstedt, eine der Gründerinnen, erinnerte sich: »Wir wollten die radikale Sicht, wir fanden, dass Frauen Expertinnen ihrer eigenen Sache waren«141. Die Gründungs-Redaktion war ein Frauenkollektiv, das sich im West-Berliner Frauenzentrum zusammengetan hatte. Es war basisdemokratisch und nach Gleichheitsprinzipien aufgebaut: Alle Frauen sollten an jedem Bereich mitarbeiten und alles mitentscheiden können. Die West-Berliner Zeitschrift Courage war sehr stark mit der autonomen feministischen Szene in der Stadt verflochten und bot den Gruppen und aktuellen Diskussionen in der Bewegung eine Plattform. Anfangs fanden auch monatlich öffentliche Redaktionssitzungen im Berliner Frauenzentrum statt, an der sich jede, die wollte, beteiligen konnte. Die Courage-Redaktion setzte damit einen »radikale[n] Gleichheitsanspruch«142 in die Tat um. Diese Praxis erwies sich als »unprofessionell und ineffizient«, orientierte sich jedoch an den Normen und Praktiken der feministischen Bewegung und nicht an kapitalistischer Verwertbarkeit.143 Die Arbeitsweise der Courage-Redaktion, interne Konflikte und finanzielle Probleme sorgten dafür, dass die Zeitschrift 1984 eingestellt werden musste.144 Trotzdem ist die Geschichte der Courage nicht als eine des Scheiterns zu erzählen. Das Journal war jahrelang ein Sammelpunkt für den regen feministischen Aktivismus und wurde somit auch Chronistin der neuen Frauenbewegung. In der Courage wurden Diskussionen ausgefochten, neue Themen und Probleme aufgebracht, aufsehenerregende Kampagnen gefahren und ästhetisch, journalistisch und stilistisch experimentiert. Zeitweise hatte sie eine – für eine Bewegungszeitschrift – hohe Auflage von 70.000 Exemplaren in den späten 1970er Jahren.145 Sie sollte »die Frauenbewegung in die hintersten Winkel der Republik [zu] tragen.«146 Die ›Courage-Frauen‹ waren in der autonomen feministischen Szene West-Berlins überaus anerkannt, so beschreibt es unter anderem Sigrid Fronius, die von 1976 bis 1978 Mitglied der Redaktion war.147
Beinahe hätte es keine zwei Zeitschriften gegeben, denn Alice Schwarzer hatte der Zeitungsgruppe im West-Berliner Frauenzentrum, die kurz darauf die Courage-Gründerinnen wurden, im Sommer 1976 eine Zusammenarbeit angeboten.148 Schwarzer unterschied sich mit ihrem Konzept einer »Publikumszeitschrift« jedoch zu sehr von den Ideen der Courage-Frauen.149 Außerdem hatte Alice Schwarzer in der Berliner Szene schon einen Ruf, sie galt als dominant und wenig kompromissbereit. 1975 hatte sich die »Kalendergruppe«, ein Kollektiv von fünf Frauen, die den ersten Frauenkalender ´75150 entwickelt und herausgegeben hatten, zerstritten. Zwei Frauen stiegen aus der »Kalendergruppe« aus, eine davon war Sabine Zurmühl, die 1976 die Courage mitgründete. Dieser Konflikt wurde öffentlich im West-Berliner Frauenzentrum ausgetragen.151 Einige Feministinnen warfen Alice Schwarzer außerdem vor, mit ihrem Konzept der Emma die Frauenbewegung zu kommerzialisieren und eine zu große Nähe zur konservativen Medienlandschaft einzugehen.152 Die Gründerinnen der Zeitschrift Die Schwarze Botin, die sich als intellektuelles Satiremagazin verstand und sich (etwas später) sowohl gegen Courage als auch gegen Emma positionierte, riefen im Herbst 1976 zu einem Boykott der Emma auf. Frauen sollten die Zusammenarbeit mit Schwarzer und ihren Mitstreiterinnen verweigern. Dem Boykottaufruf schlossen sich unter anderem das Lesbische Aktionszentrum (LAZ) und die FrauenbuchlädenLabrys und Lilith an.153 Doch es gab auch energische Gegendarstellungen, etwa in der Frauenzeitung Bremen, die die Lektüre der Emma empfahl.154
Die Debatte rund um die Gründungen von Courage 1976 und Emma 1977 zog viel Aufmerksamkeit auf sich und Diskussionen in der feministischen Öffentlichkeit richteten sich auch, als diese sich etabliert hatten, oft auf diese beiden Zeitschriften aus. Sie sind somit ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der feministischen Öffentlichkeit. Reichardt deutet diese Entwicklung so, dass die Bündelung von Informationen und Diskussionen in den beiden überregional ausgerichteten Journalen Courageund Emma die kleineren Magazine überflüssig gemacht habe, was darin resultierte, dass nach 1980 nur noch 40 der zuvor rund 380 dokumentierten feministischen Zeitschriften übriggeblieben seien.155 Dem ist hinzuzufügen, dass vielen feministischen Projekten nach wenigen Jahren ›die Puste ausging‹. Die Aktivistinnen, die eigene finanzielle Mittel und Arbeitskraft in die Projekte steckten, wandelten sie um oder stellten sie ein, wenn sie in ihrer anfänglichen Form nicht mehr tragbar waren. Die Frauen entwickelten sich auch persönlich weiter und verstetigten ihre berufliche Arbeit, mit der sie sich entweder von den autonomen Projekten abkoppelten oder diese in eine feste Organisation überführten. Die Hochzeit der autonomen feministischen Öffentlichkeit lag demnach in einem eng umgrenzten historischen Zeitraum.
Diese Perspektive der zeitgenössisch rezipierbaren feministischen Öffentlichkeit unterlege ich in meiner Quellenauswahl durch archivalische Unterlagen wie Positionspapiere, Vortragsentwürfe, Gesprächsprotokolle und Korrespondenzen. Das ermöglicht in ausgewählten Beispielen Aussagen darüber, ob und wie durch Einzelpersonen oder in Arbeitsgruppen über erinnerungskulturelle Themen diskutiert wurde. Ich berücksichtige außerdem thematische Sammlungen zum Thema Nationalsozialismus, die als solche in den beiden überregionalen Bewegungsarchiven, dem FrauenMediaTurm in Köln (FMT) und dem feministischen Archiv FFBIZ in Berlin, verzeichnet sind. Diese Überlieferung gibt auch ein Bild davon, was von Feministinnen rezipiert und mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht wurde. Dazu gehören zum Beispiel Ausschnitte aus Tageszeitungen oder Broschüren von lokalen Ausstellungsinitiativen oder Veranstaltungen zum Nationalsozialismus, die von den Frauen nicht strategisch besucht und ausgewertet, sondern – so vermute ich aufgrund der Überlieferungsstruktur – mehr oder weniger zufällig gesammelt wurden.
Für die Einordnung der Überlieferungssituation muss die Gründungsgeschichte der Bewegungsarchive mit in den Blick genommen werden, da ich diese nicht nur als Materialspeicher, sondern als Akteurinnen der neuen Frauenbewegung selbst begreife. Auch ihre Positionierung innerhalb der Bewegung ist mit zu beachten. Das älteste Bewegungsarchiv der autonomen Frauenbewegung ist das schon oben genannte Berliner Frauenforschungs-, Bildungs- und Informationszentrum (FFBIZ). In seiner Initiierungsphase hatten sich Frauen aus dem West-Berliner Frauenzentrum ab 1977 Verbündete gesucht und das FFBIZ schließlich 1978 in einer Ladenwohnung eröffnet. Wie die Frauenzentren und die Bewegungszeitschriften war das FFBIZ eine grassroots-Gründung, die vom großen persönlichen – ideellen wie materiellem – Engagement der Feministinnen abhing. Die Initiativgruppe bestand aus Frauen aus der autonomen Bewegung, die ein breites Bündnis mit konservativen Frauenverbänden und Parteien eingegangen waren. Sie verfolgte das (letztlich nicht verwirklichte) Ziel, die Bibliothek der Helene-Lange-Stiftung zu sichern und verfügbar zu machen.156 Damit stellte sich das FFBIZ von Anfang an in eine Kontinuitätslinie zur ›alten Frauenbewegung‹. Auch in ihrem Wunsch nach Institutionalisierung und Ringen um staatliche Förderung sahen sich die Gründerinnen in Tradition ihrer Vorgängerinnen.157 »Die Initiativgruppe knüpft bewußt an ihre Kämpfe an«, schrieben die langjährige Archivleiterin Ursula Nienhaus und Marga Duran de Oliveira Costa 1978.158 Das FFBIZ archivierte laufend Material aus der Bewegung und verfügt somit über einen großen Bestand zur West-Berliner Frauenbewegung. Das Archiv sammelt jedoch auch überregional und international, führt Zeitzeuginnen-Interviews und wirbt aktiv Nachlässe und Materialsammlungen von Protagonistinnen der Frauenbewegung an.159 In den 1970er und 1980er Jahren war das FFBIZ sowohl Begegnungs- und Arbeitsraum als auch Bildungsstätte und Keimzelle für feministische Projekte in West-Berlin. Zum Beispiel beherbergte es zahlreiche Arbeitsgruppen, die heute ihren entsprechend breiten Niederschlag im Archiv finden.160
Im Winter 1984 öffnete das Feministische Archiv und Dokumentationszentrum in Frankfurt a.M. seine Türen.161 Neben der Emma-Gründerin Alice Schwarzer saß auch die prominente Psychoanalytikerin und Publizistin Margarete Mitscherlich im Stiftungsvorstand, die Mittel hatte der Mäzen Jan Philipp Reemtsma bereitgestellt.162