Die neuesten Geschichtslügen - Kanner, Heinrich - kostenlos E-Book

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Heinrich, Kanner

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Project Gutenberg's Die neuesten Geschichtslügen, by Heinrich KannerThis eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and withalmost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away orre-use it under the terms of the Project Gutenberg License includedwith this eBook or online at www.gutenberg.orgTitle: Die neuesten GeschichtslügenAuthor: Heinrich KannerRelease Date: February 5, 2014 [EBook #44830]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE NEUESTEN GESCHICHTSLÜGEN ***Produced by Reiner Ruf, Sandra Eder and the OnlineDistributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (Thisfile was produced from images generously made availableby The Internet Archive/American Libraries.)

Vorwort

3

I. Die Vorbereitung des Ultimatums

7

II. Das Ultimatum an Serbien

16

III. Die Berliner Vermittlungstätigkeit

22

IV. Der aufgezwungene Krieg

29

V. Das Ende der Kriegslügen

38

DR. HEINRICH KANNER

GEW. CHEFREDAKTEUR DER WIENER TAGESZEITUNG „DIE ZEIT“

DIE NEUESTEN GESCHICHTSLÜGEN

„Die Wahrheit kann nur Eine sein“Ranke

„Das ‚gute Gewissen‘ in der Lüge“Nietzsches Charakteristik des „christlichen Junkers“

HUGO HELLER & CIE. WIEN UND LEIPZIG

1921

Alle Rechte vorbehalten Copyright by Hugo Heller & Co., Wien und Leipzig

Druck der Offizin der Waldheim-Eberle A. G., Wien

Vorwort

Die scharfe Kritik, die auf den folgenden Blättern an den Rechtfertigungsschriften der deutschen Staatsmänner und damit auch an ihrer Politik vor dem Ausbruch des Weltkrieges geübt wird, zwingt den Verfasser zu einigen Worten persönlicher Einführung. Es ist nachträglich sehr leicht, das Verhalten von Staatsmännern zu kritisieren, wenn der Erfolg sein unzweideutiges Urteil gefällt hat, so wie es nicht viel Scharfsinn erfordert, Rätsel zu lösen, wenn man vorher die Lösungen nachgesehen hat. Diese bequeme, aber auch unfruchtbare Art der Kritik ist dem Geschichtsschreiber gestattet, ihr Ergebnis nennt man das „unbestechliche Urteil der Geschichte“. Dem zeitgenössischen Publizisten verwehrt man diesen Treppenwitz, mit Recht, weil seine Aufgabe eine höhere, fruchtbarere und um deswillen schwierigere ist. Jetzt, nach dem Abschlusse des Weltkrieges, weiß natürlich jeder, wie es im Juli 1914 und in den Jahren vorher besser hätte gemacht werden sollen, und gar mancher Publizist tut sich heute auf dieses nachträgliche Besserwissen etwas zu Gute, der es in den entscheidenden Tagen, Wochen und Jahren auch nicht besser gewußt hat als die jetzt durch ihren Mißerfolg verurteilten Staatsmänner. Die vorliegende Schrift hat mit dieser den Ereignissen nachhinkenden Art von Weisheit nichts gemein. Ihr Verfasser hat die Verfehltheit und Gefährlichkeit jener Politik der beiden Zentralmächte die zum Weltkrieg geführt hat, schon vor Jahren, mindestens seit der bosnischen Annexionskampagne 1908/9, in seinem Blatte, der damaligen Wiener Tageszeitung „Die Zeit“, bloßgestellt und insbesondere im Juli 1914 vor der Gefahr des Weltkrieges aufs Eindringlichste gewarnt, sich auch während des Weltkrieges mitten im herrschenden Kriegstaumel seine ablehnende und kriegsfeindliche Haltung bewahrt und, soweit es die Zensur zuließ, publizistisch vertreten. Er hat dadurch das Mißfallen der beiden zentralstaatlichen Regierungen und Heeresleitungen in einem so hohen Maße erregt, daß er sich auf unweigerliches Verlangen der deutschen Obersten Heeresleitung im Dezember 1917 genötigt sah, seine publizistische Tätigkeit einzustellen. Wenn er nun in der vorliegenden Broschüre die Wirksamkeit und die Rechtfertigungsschriften der deutschen Staatsmänner des Kriegsausbruches scharf kritisiert, kann ihn der Vorwurf des „Treppenwitzes“ nicht treffen. Was auf diesen Blättern steht, ist nur eine konsequente Weiterentwicklung der Anschauungen, die der Verfasser schon zu einer Zeit gehegt und öffentlich ausgesprochen hat, wo die Kritik noch hätte fruchtbar wirken können, wenn die Kritisierten auf sie hätten hören wollen, wo noch manches hätte gerettet werden können, was heute unwiederbringlich verloren ist.

* * *

Die Kriegspropaganda, die in den anderen kriegführenden Ländern schon längst zum Schweigen gekommen ist, wird von den deutschen Staatsmännern des Kriegsausbruches nach dem Kriege mit vermehrtem Eifer fortgesetzt. Res venit ad Triarios. Nicht mehr untergeordneten Hilfskräften, beamteten „Preßleitern“, willfährigen Schriftstellern, abhängigen Journalisten, die im Kriege ihre öffentlichen Anwälte waren, überlassen sie die publizistische Vertretung ihrer Sache, sie treten in eigener Person in Büchern, die sich den Anschein von Memoiren geben, vor das Publikum, um mit wirkungsvollen, mit dem wirkungsvollsten Mittel ihrer eigenen amtlichen Autorität das Werk der Irreführung des deutschen Volkes fortzusetzen, das die so hoher Autorität entbehrende Propaganda während des Krieges schon mit so traurig großem Erfolg betrieben hat.

Memoiren deutscher Staatsmänner! Man weiß, wie das auf den Untertanengeist des deutschen Lesers wirkt! Ist ihm schon jedes Wort heilig, das im täglichen Lauf der Staatsgeschäfte aus amtlichem Munde zu ihm dringt, wie ehrfurchtsvoll nimmt er erst ein Buch zur Hand, das einer seiner Staatsmänner, fern vom Zwang der Staatsgeschäfte, in der Freiheit des Ruhestandes geschrieben hat, um aus der vom Deutschen jederzeit so bereitwillig angestaunten Fülle seiner Kenntnis aller Amtsgeheimnisse heraus den deutschen Staatsbürgern über Ereignisse der Vergangenheit jene letzten Aufklärungen zu geben, die während seiner Amtswirksamkeit zu gewähren die hohe Staatsraison ihm verboten hatte. Nur wenige deutsche Staatsmänner haben bisher Memoiren veröffentlicht — weit weniger als die englischen und französischen — und zumeist auch erst zu einer Zeit, wo die Ereignisse, an denen sie mitzuwirken hatten, schon längst jede nähere Beziehung zur Gegenwart verloren hatten. Jetzt aber treten die hohen und höchsten Beamten des Deutschen Reiches, die noch an dem letzten großen Ereignis, am Weltkrieg, mitgewirkt haben, in den Tagesstreit über die Ursachen des Kriegsausbruches mit Büchern ein, in welchen sie anscheinend die letzte Scheu vor dem Amtsgeheimnis abgestreift haben, die sonst dem deutschen Beamten zeitlebens den Mund verschließt: der Reichskanzler Herr v. Bethmann Hollweg, der Staatssekretär des Äußern Herr v. Jagow, der Staatssekretär der Marine Herr v. Tirpitz, der Staatssekretär der Finanzen und Vizekanzler Herr Dr. Helfferich. Fünf schwere Kriegsjahre hindurch hat die ganze Welt die Erschließung der deutschen Akten über den Kriegsausbruch verlangt, erhofft, ersehnt, nachdem die gegnerischen kriegführenden Staaten, Engländer, Franzosen, Russen, Belgier, Italiener, Serben ihr Aktenmaterial, ohne erst eine Nachfrage abzuwarten, gleich bei Beginn des Krieges dem Urteil der Öffentlichkeit vorgelegt hatten. Auf die deutschen Akten hatte man fünf Jahre lang vergebens gewartet. Und nun kommen statt dessen im Frühjahr 1919 die deutschen Staatsmänner selbst hervor und bieten der Welt statt toter Aktensammlungen lebendige Bücher dar, die schon um deswillen weitere Wirkungsmöglichkeiten haben als Aktensammlungen, weil sie die Dinge im Zusammenhang erzählen, die von ihnen selbst geschaffenen Tatsachen gleich mit dem Kommentar versehen, der ein authentischer ist, da er von ihnen, den Handelnden, selbst herrührt. Wer aber dürfte es wagen, in die Ehrlichkeit eines deutschen Staatsmannes bei der Wiedergabe von Tatsachen, in seine Zuverlässigkeit bei ihrer Ausdeutung Zweifel zu setzen?

Es hat's auch bisher, in Deutschland wenigstens, niemand gewagt. Das deutsche Volk hat nicht einmal an Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ gerührt, obzwar kein Geringerer als Bismarcks langjähriger vertrauter Mitarbeiter, der auch des Meisters „Gedanken und Erinnerungen“ zu Papier gebracht und druckreif gemacht hat, Lothar Bucher selbst, in rücksichtslosester Wahrheitsliebe ihre Unzuverlässigkeit und Unaufrichtigkeit aufgedeckt hat. Hier aber stellen sich vier Erinnerungsbücher deutscher Staatsmänner ein, denen kein Lothar Bucher einen moralischen Steckbrief nachgeschickt hat, die das Verhalten der deutschen Staatsmänner in den Tagen des Kriegsausbruches so glänzend rechtfertigen und alles Anklagematerial, das die feindlichen — eben nur die feindlichen! — Aktensammlungen gegen sie aufgebracht haben, so wahrhaft autoritativ widerlegen.

Da sind aber Ende 1919 ganz andere Aktensammlungen erschienen, keine feindlichen, nein, die Sammlungen der eigenen Akten der deutschen wie der österreichisch-ungarischen Staatsmänner des Kriegsausbruches, von ihren Nachfolgern herausgegebene Zeugnisse, deren Beweiskraft höher steht als die irgend einer noch so autoritativen Selbstrechtfertigungsschrift irgend eines noch so hoch stehenden Staatsmannes. Und diese Zeugnisse zeugen wider ihre Urheber selbst und wider deren Memoirenbücher. Sie sind nicht wie diese Surrogate, seien es auch noch so gefällig ausgestattete Surrogate der amtlichen Akten, es sind die Akten selbst, die gegen die Surrogate sprechen, wenn auch diese Aktensprache nicht so flüssig läuft, wie die der Memoirenwerke. Aber wir müssen in diese Sprache eindringen, wir müssen sie von ihrer Schwere befreien, wir müssen sie mit der der Memoirenbücher vergleichen, wenn wir endlich die so lange gesuchte Wahrheit über den Ausbruch des Weltkrieges erfahren wollen, der das deutsche Volk sich auf die Dauer nicht entziehen kann und der es niemals hätte entzogen werden sollen.

* * *

Die Grundgedanken der Kriegsbücher der deutschen Staatsmänner, die sie jetzt jeder mit neuen Beweisgründen und mit dem ganzen Aufwand seiner dialektischen Kraft zu stützen beflissen sind, lassen sich in drei Thesen formulieren:

1. Daß die deutsche Regierung das österreichisch-ungarische Ultimatum an Serbien nicht vor seiner Überreichung gekannt habe.

2. Daß sie in den kritischen zwölf Tagen, die auf das Ultimatum folgten, auf Wien mäßigend eingewirkt und bei diesem Druck sogar bis an das äußerste Maß des Zulässigen gegangen sei.

3. Daß sie von Rußland, England und Frankreich überfallen worden sei, die diesen Krieg prämeditiert, provoziert, ihr „aufgezwungen“ haben.

Nun, diese Behauptungen sind jetzt endgültig widerlegt durch die eigenen amtlichen Dokumente der Berliner und Wiener Kriegsregierungen.

I. Die Vorbereitung des Ultimatums

Die Berliner Regierung des Herrn v. Bethmann ist nicht, was sie später den anderen Mächten gegenüber vorgab, von der Wiener Regierung mit dem Ultimatum im Juli 1914 ebenso überrascht worden wie unter Bülow im Oktober 1909 mit der Annexion Bosniens. Denn von der Annexion hat diese tatsächlich erst gleichzeitig mit den anderen Mächten und dasselbe wie diese erfahren, an deren Vorbereitung auch in keinerlei Weise mitgearbeitet, wie sich aus dem Rotbuch des Grafen Aehrenthal und allen seitherigen Äußerungen der Beteiligten ergibt, zuletzt auch aus einem Brief des Kaisers Wilhelm II. an den Zaren vom 8. Jänner 1909[1]. Daß aber die Wiener Regierung nach der Mordtat von Sarajevo, 28. Juni 1914, etwas, und zwar etwas Entscheidendes zu unternehmen beabsichtige, hat die Berliner Regierung schon am 2. Juli 1914 aus einem vom 30. Juni datierten Bericht ihres Wiener Botschafters Herrn v. Tschirschky erfahren, der besagte, man wünsche in Wien „einmal mit den Serben gründlich abzurechnen[2]“. In einer Unterredung mit dem Kaiser Franz Joseph vom 2. Juli stellte sich Herr v. Tschirschky bereits auf den Standpunkt, „daß Deutschland geschlossen hinter der Monarchie zu finden“ sein werde, „sobald es sich um die Verteidigung ihrer Lebensinteressen handle. Die Entscheidung darüber, wann und wo ein solches Lebensinteresse vorliege, müsse Österreich selbst überlassen bleiben[3]“. Das ließ sich hören. Eine Kooperation unter solchen einseitigen Bedingungen, eine Art Löwenvertrag zu seinen Gunsten, bei dem er unternehmen durfte, was ihm beliebte, der andere aber von vorneherein verpflichtet war, blind seinen Schritten zu folgen, war ganz nach dem Geschmack Franz Josephs. In seinem Handschreiben vom selben Tage an Kaiser Wilhelm II., das diesem mit einem Memorandum Berchtolds am 5. Juli überreicht wurde, rückte er denn auch mit der Sprache ziemlich deutlich heraus, indem er die „Isolierung und Verkleinerung Serbiens“ als Programm seiner Regierung erklärte und nichts weniger verlangte, als daß „Serbien als politischer Machtfaktor am Balkan ausgeschaltet“ werde[4], und er hatte die Genugtuung, daß die Berliner, Kaiser wie Reichskanzler, ganz im Sinne des Herrn v. Tschirschky, auf sein Ansinnen ohneweiters eingingen. „S. M.“ — telegraphierte der Reichskanzler am 6. Juli an Tschirschky — „könne zu den zwischen Österreich-Ungarn und diesem Lande (Serbien) schwebenden Fragen naturgemäß keine Stellung nehmen, da sie sich seiner Kompetenz entzögen. Kaiser Franz Joseph könne sich aber darauf verlassen, daß S. M. im Einklang mit seinen Bündnispflichten und seiner alten Freundschaft treu an Seite Österreich-Ungarns stehen werde“, und Wilhelm II. selbst schrieb am 14. Juli an Franz Joseph, „daß Du auch in den Stunden des Ernstes mich und mein Reich in vollem Einklang mit unserer altbewährten Freundschaft und unseren Bündnispflichten treu an Euerer Seite finden wirst. Dir dies an dieser Stelle zu wiederholen, ist mir eine freudige Pflicht[5]