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Die ganze Situation erinnert mich an einen Film von Fellini, meinte Nemo kühl, ohne auf Margaret einzugehen, ein filmetto, wie der Meister sich damals auszudrücken geruhte, ein Filmchen, welches das System der Verblendung auf den Punkt brachte: Orchesterprobe. Solcherlei Gespräche sind äußerst selten, und seltener noch, und vielleicht nie, werden sie verstanden.
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Seitenzahl: 287
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Solcherlei Gespräche sind äußerst selten, und seltener noch, und vielleicht nie, werden sie verstanden.
Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist.
Karl Valentin
Réveillon du Nouvel An 2024
Mon cher Nemo,
c'est la première loi de l'illumination: Si vous essayez d'attaquer un mal, il résistera à sa mise à nu par tous les moyens à sa disposition. Plus on creuse, plus on découvre ce qui est déjà enraciné. Si vous voulez enfin arracher la toile, vous serez attaqué par des centaines de milliers de parasites en colère, jusqu'à ce qu'il devienne clair: c'est eux ou c'est nous. Jusqu'à ce qu'il soit clair que c'est une question de vie ou de mort.
Les Danois disent, et c'est un peuple sage:
Det vigtigste er ikke hvad der er i gryderne, men hvem der sidder omkring bordet.
Le plus important n'est pas ce qu'il y a dans les pots, mais qui est assis à la table!
Pierre Aronnax1
1 Die vier Debattanten des folgenden Dialogs verbergen sich hinter Charaktermasken aus Jules Vernes Meisterwerk Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren (1869-70), ergänzt um den Autor und um Margaret
ERSTER TAG
ZWEITER TAG
DRITTER TAG
VIERTER TAG
Der Capitaine sprach als Erster. Worte aus Nietzsches Zarathustra las er uns vor2:
Ihr Prediger der Gleichheit, der Tyrannen-Wahnsinn der Ohnmacht schreit also aus euch nach «Gleichheit»: Eure heimlichsten Tyrannen-Gelüste vermummen sich also in Tugend-Worte!
Vergrämter Dünkel, verhaltener Neid, vielleicht eurer Väter Dünkel und Neid: Aus euch bricht's als Flamme heraus und Wahnsinn der Rache.
Was, wenn dieses Zitat bereits alles enthielte, was es über unsere Zeit zu sagen gibt? Weil darin erschöpfend bereits alles abgehandelt ist, und das ist es. Lohnte es sich noch zu debattieren? Vielleicht nicht, aber unterdrücken lässt sich die Debatte nicht. Wir führen sie ununterbrochen mit uns selbst in innerer Sprache. Geradeso gut könnten wir sie auch laut führen.
Es wird hart für den, der uns nicht in die Tiefe zu folgen versteht, dessen Schiffchen auf den Wogen schaukelt und im Sturm untergeht. Wir aber tauchen ab im Leibe von Nemos Nautilus, pfeilgleich in grässliche Tiefen, schießen vorüber an messerscharfen Klippen, große Untiere versperren uns die rasche Fahrt und greifen uns nicht selten todeswütig an. Doch glücklich ist, wer drinnen sitzt und durch die Glasaugen die Tiefe betrachtet, erhellt vom elektrischen Strahl des Geistes! Um den Preis lebenslanger Gefangenschaft freilich und vollkommener Isolation. Wer hält es aus? Nicht wenige Menschen. Lasst uns für sie reden!
Das Zerlegen des Fisches geriet an diesem Abend zur Arbeit, auch wenn es doch eigentlich leicht ist. Doch musste es gewissenhaft und mit wenig Handbewegung erledigt werden, sonst wären wir uns dumm vorgekommen. Den Kellner, der uns bestens kannte, wollten wir nicht bemühen, und so hatten wir unsere Pein. Verstörend, zumal sich am Nebentisch ein jüngeres Paar befand, das die gleiche Aufgabe mit Bravour bewältigte.
Wir vermögen diesen verdammten Fisch heute partout nicht fachgerecht zu zerlegen, spottete Conseil, doch die Welt, die wollen wir mit Links erklären können!
Nicht schlecht gesagt, erwiderte ihm Aronnax. Ich denke, das «mit Links» wird uns heute und morgen noch beschäftigen, freilich anders verstanden. Das Erklären der Welt ist oft einfacher als das Zerlegen eines Fisches. Am Fisch gescheitert, unterbrach ihn Conseil, doch die ganze Welt gemeistert? Er blickte ihn spöttisch von der Seite an. Beide legten sie ihre Bestecke auf den Tisch, lehnten sich zurück und lächelten. Warum, mein lieber Conseil, soll es einfach sein, die Welt zu erklären? setzte ihm Aronnax zu. Die Antwort lautet: Weil sie immer nur genau das ist, was wir erklären!
Du bist sehr schlau, lächelte Conseil, der seinen ehemaligen Herrn und Meister längst duzte. Aronnax fuhr unbeirrt fort: Die Welt zu erklären ist erstaunlich einfach. Doch nicht einmal einen Stein können wir erklären!
Wie das? staunte Conseil, das verstehe ich nicht. Ich kann dir den Stein in die Hand geben, meinte Aronnax. Mit der Welt hingegen kann ich das nicht. Scheint zunächst ein Handicap zu sein. Meine Erklärung des Steins kannst du bestätigen oder widerlegen, beide können wir uns dabei auf das beziehen, was wir in der Hand halten. Das scheint einfach zu sein, ist aber kompliziert. Aber es geht, über sieben Umwege.
Die Welterklärung hingegen funktioniert anders. Über sie kann ich dir buchstäblich n’importe quoi erzählen. Du bist dagegen machtlos. Wo ist sie denn, die Welt? Falls du mir widersprichst, erwidere ich dir, dass dein Widerspruch am Objekt vorbeiziele, es verfehle. Du wirst das zwar bestreiten. Doch wo ist das Objekt, wo ist die Welt als ein Objekt? Gibt es da irgendwo die Welt, wie es hier in meiner Hand den Stein gibt? Dort draußen gibt es nur Dinge, die sind wie Steine. Doch es gibt keine Welt dort draußen.
Ich ahne, dass du mir gleich sagen wirst, lächelte Conseil: Noch viel einfacher sei es, Gott zu erklären!
In der Tat, bestätigte ihm der erfreut lächelnde Aronnax den vermeintlichen Vorwurf. Gott nämlich kann jeder ohne weitere Beihilfe erschöpfend erklären. Selbst, wenn er sagt, er könne ihn nicht erklären, weil Gott einfach alles sei, so ist das doch eine sehr einfache Sache im Vergleich zur Erklärung eines Kieselsteins, wozu es einer technischen Höchstzivilisation mit ausgereiften Naturwissenschaften bedarf. Darum ist Gott von alters her das bevorzugte Beschäftigungsobjekt der Beschränkten und der sich um sie kümmernden Großbetrüger der Menschheit, genannt «die Propheten» und ihre Nachäffer, die Pfaffen.
Am Anfang stand «der Prophet», so heißt es doch, er sah Gott mit eigenen Augen, hörte seine Stimme mit den eigenen Ohren, sprach mit eigener Stimme mit ihm, der ihn tatsächlich gehört habe. Doch das alles wissen wir nur aus dem Mund des «Propheten». Als Kritiker bist du von Anfang an erledigt, denn dir ist Gott nicht erschienen. So ehrlich bist du, es zuzugeben. Doch Gott ward Stein, und der Stein sprach, vernahm und hörte! Der «Prophet» benötigt für die Erklärung dieses Steins keine Wissenschaft, denn dieser Stein sprach selbst.
Was für eine Perfidie! An sich wäre das Reden von Gott einfach, denn er ist kein Stein, er ist wie die Welt, obwohl er auch Stein sein kann, wenn er will. Denn so definieren wir ihn, als der, der alles ist und nichts. Solange Gott im Sinne seiner Definition Gott ist, kann jeder über ihn reden, wie er will, niemand kann sagen, ob es zutrifft oder nicht. Doch wenn einer behauptet, er sei ihm erschienen, dann war ihm Gott so, wie ihm ein Stein in die Hand gegeben ist. Und nun müsste dieser eine, der mit ihm gesprochen hat, eigentlich eine wissenschaftlich überprüfbare Erklärung vorlegen, doch das umgeht er, indem er sagt, diese Untersuchung sei in Wirklichkeit ein Dialog zwischen dem Untersucher und einer Person, die erscheine, wenn man seiner Gnade teilhaftig werde. So muss er uns nur vorlegen, was Gott zu ihm gesagt hat. Dadurch, dass er etwas gesagt hat, was aufgeschrieben wurde, ward Gott zur Schrift. Der Stein ist nun die Schrift, die Untersuchung betrifft die Schrift. Sie ist jetzt der Stein in meiner Hand.
Das war der früheste linguistic turn der Denkgeschichte, der erste Versuch, vom Objekt auf die Beziehung zwischen zwei Sprachebenen abzuheben. Genau das können wir mit allem anderen auch machen, selbst mit dem Stein in meiner Hand. Auch wenn du ihn in der Hand hältst, beziehst du dich nie auf ihn selbst. Das wäre naiv, denn du sprichst in Wahrheit in einer Sprache – der Metasprache - über eine Urverschriftlichung des Steins, eine Versprachlichung, über die Objektsprache oder ein «Protokoll». Der Stein löst sich auf in sein Protokoll und in das, was du über es sagst. Vermeintlich! Das meinen viele Philosophen und all die schlechten Schüler derselben, also beinahe alle, die überhaupt vom Problem wissen.
Dann sind wir aber doch alle solche «Propheten», erwiderte ihm Ned Land, das ist wirklich ein Dreh! Ja, wir halten den Stein in der Hand, so wie Moses mit Gott gesprochen hat, «live», sinnlich. Nur wir machen diese Erfahrung, keiner sonst. Somit ist alles «Protokoll» und gleichzeitig immer ein Reden «über» dieses. Ob ich den Stein, den ich in der Hand halte, auch «meine», wenn ich von ihm spreche, weiß außer mir keiner, so wie wir nicht wissen, ob Moses wirklich mit Gott gesprochen hat. Alles, was wir haben, ist ein Diskurs über das «Protokoll». Dieses ist im Fall eines Steins eine naturwissenschaftliche Beschreibung. Im Fall des Moses sind es zum Beispiel die «Zehn Gebote». Diese Gebote «sind» Gott, so wie die naturwissenschaftliche Erklärung der Stein «ist» - und wie der Quantenphysiker, zumindest nach Bohr, die Selbstbetrachtung des Atoms ist.
Doch benötigt man, für all das immer noch die universelle Einklagbarkeit durch die Mitglieder des zuständigen Expertenkollektivs, das in unserem Fall die Menschheit als Gattung ist. Welches Kollektiv jeweils zuständig ist, erfordert wieder einen neuen solchen Konsens, und dieser erfordert erneut einen - et in infinitum.
Das erinnert mich an die Tarski-Wahrheit, meinte Nemo, die man als endgültige Widerlegung einer wie auch immer gearteten Übereinstimmung zwischen intellectus et res betrachtet, als jener Ausdruck von Wahrheit, den Aristoteles vorgeschlagen hat. Es scheint, als sei es damit überall mehr oder weniger das Gleiche.
Ned Land meinte, dass die Darlegung mit der Notwendigkeit universeller Einklagbarkeit als dem letztinstanzlich gültigen Urteil in Wahrheitsangelegenheiten zeige, dass man zwischen Objekt- und Metasprache immer noch der Verifikation bedürfe, dass die Übereinstimmung im Sinne Tarskis auch selbst noch jener universellen Einklagbarkeit unterworfen ist und nicht «an sich» besteht, wie das Tarski-Kalkül vermuten lassen könnte. Das heißt aber, dass Wahrheit als Urteil im Grunde nur Statistik ist, oder wie es Russell ausgedrückt hat, dass derjenige als verrückt gilt, der von der Mehrheit der Menschen als verrückt bezeichnet wird, eröffne man ihnen die «Fakten», lege ihnen das «Protokoll» über den Gegenstand vor.
Pfifferling! meinte Aronnax, es hängt damit zusammen, was Quine als Holistik bezeichnet hat. Die Unerforschlichkeit der Referenz, die nichts anderes ist, als die Unerforschlichkeit dessen, worauf sich das «Protokoll» bezieht, weil dieses gleichsam die Vorsprachlichkeit ist, die, sobald sie benannt wird, zum «Protokoll» wird und somit im Grunde gerade nicht korrekt oder inkorrekt bezeichnet worden, sondern lediglich «getauft» worden ist, auf einen willkürlichen Namen, wodurch wir erneut den Vektor auf und als das Bezeichnete verloren haben. Diese Unerforschlichkeit führt dazu, dass wir im Verfahren des Bezeichnens gefangen bleiben, bis wir hypothetisch sämtliche uns zur Verfügung stehenden Wörter, und damit alle anderen Referenzen, die ja alle auch unerforschlich sind, im Bezeichnungsverfahren eines einzigen Objekts verbraucht haben, was wir als Holismus verstehen können, dass also alles, was sich bezeichnen lässt mit allem anderen, was sich bezeichnen lässt, unauflöslich verknüpft ist, so dass wir eigentlich durch die Bezeichnung von x stets das Ganze meinen, wollen wir wirklich verstehen, was wir bezeichnet haben.
Du, lieber Aktuar, hast das im «Kaleidon» am Beginn der Siebzigerjahre beschrieben. Und es war Parmenides im Gewande des Heraklit, meinte ich zu ihm.
Bei all dem gelangen wir aber nie auf die Ebene des Bezeichneten als ein Objekt, sondern hängen uns in der Sprache auf. Was uns zur Philosophie von Derrida bringt, oder zu gewissen Vorsokratikern wie Kratylos, die in der Summe behauptet haben sollen, dass wir nichts zu erkennen vermöchten, und wenn doch, dass wir es nicht vermitteln könnten, und wenn doch, dass uns niemand verstehen werde, oder, noch radikaler, dass sich der Mensch überhaupt der Rede enthalten solle, weil sie fundamental leer sei. Das ist auf eine verwinkelte Art und Weise alles dasselbe.
Und daraus macht nun der Teufel sein Geschäft, ergänzte Ned.
Aronnax gab zu bedenken, das sei die Ansicht auch Hegels gewesen, wenn er es auch nicht so ausgedrückt habe. Dialektik meine, dass sich nichts aus einer Sache entwickle, sondern dass umgekehrt die Sache aus dem Ganzen, aus der Totalität hervorgehe, und zwar durch Negation, durch das Sich-selbst-Isolieren ihr gegenüber, durch das, was wir vorhin «Protokoll» genannt haben, wenn ich es richtig verstehe, das im Grunde ein Taufschein ist. Ich taufe dich auf den Namen A. Die Sache sei nicht primär, die Totalität sei es. Die Sache selbst beinhalte eine Entscheidung, gegeben in einem Bewusstseinvon-etwas. Das Ganze sei aber nicht die Totalität aller Dinge, aller möglichen Objekte, sondern umgekehrt der Urgrund des Bewusstseins und damit des Objekts.
Das hattest du, sagte Aronnax zu mir, in deinem «Kaleidon»-Dialog, als Jüngling, wie du sagtest, entwickelt, ohne zu wissen, dass das im Grunde die Dialektik Hegels ist, und die ist im Grunde jene des Parmenides, die wiederum jene des Heraklit ist, und so weiter. Du meintest damals nämlich, es sei eine andere Art des Seins-Kalküls des Parmenides, und das ist auch so, denn Parmenides, Hegel, Quine, Tarski, alle tiefen Denker, so unterschiedlich ihre Lehren dem Unwissenden und dem Scholasten erscheinen mögen, beschreiben immer nur das Eine. Und dieses ist, wie Heraklit festhält, das Eine-in-sich-selbst-Unterschiedene, die Urform der dialektischen Totalität.
Aronnax sagte, nachdenklich geworden, das sei wohl so. Ned meinte, es gehe weiter, es sei im Grunde das, was die Quantenmechanik herausgefunden habe. Die Entscheidung, ob die Wellenfunktion kollabiere und sich die Teilchennatur zeige, hänge vom Beobachter ab, davon, ob dieser eine Messung mache. Auch das, so denken wir, sieht nur so aus, als sei es eine neue Erkenntnis. Es ist jedoch lediglich eine neue Erkenntnis in der wissenschaftlichen Naturbeschreibung der modernen Physik, eine neue Sicht auf das, was man Realität nennt. Philosophisch ist es nicht neu, es ist uralt. Es ist, was Parmenides und Heraklit formulierten, es sind Speculativa im Geist, doch ist das strukturell dasselbe, bezeichnet dasselbe Leere, tauft es auf den Namen.
Man könnte das auch für die Primordialität der Symmetrie halten, fuhr Aronnax fort, in eine unbestimmte Ferne blickend. Symmetrie ist das Grundmerkmal von allem, was wir entdecken, wenn wir nachforschen. Symmetrie meint die Unentschiedenheit der Sache selbst auf jeder Ebene der Betrachtung. Symmetrische Operationen sind invariante Operationen: vorher ist nachher. Das entspricht aber nicht unserer Erfahrung, denn diese kennt keine symmetrischen Verhältnisse. Sie kennt nur Dinge in Gestalt von «Protokollen», Diskretes, wo doch Kontinuität herrschen müsste.
Das heißt, irgendwie geht die Symmetrie zu Bruch, wie man sagt, im Takt der Momente, der Augenblicke. Jeder Augenblick ist ein Bruch der Symmetrie. Quantenmechanisch realisiert sich das durch die Beobachtung, wie in Schrödingers Katzengleichnis oder im Doppelspaltexperiment. Es braucht dazu den Beobachter, was nichts anderes meint, als dass das Ding Bewusstsein voraussetzt. Das sieht dann so aus, als würden wir lediglich «erkennen», was «da» ist, als sei Realität etwas, was uns, dem Bewusstsein, «voraus» eile und im Augenblick lediglich «eingeholt» würde. Doch ist das eine Täuschung. Damit ist es wie mit dem Bezeichnen, es hängt sich in einer Bewusstseinsewigkeit auf.
Quantenmechanik ist eine andere Form der Dialektik Hegels. Das entscheidende Problem ist, dass das Ganze, das in der Symmetrie verharrt, um das Ding entsteht, im «Augenblick» nämlich, wo die Symmetrie gebrochen wird.
Der Bruch enthält ein Urteil und ist nicht zufällig. Wäre er zufällig, würde sich keine interindividuelle Realität etablieren, mithin keine Realität. Das Urteil im Bruch der Symmetrie kommt aus dem Bewusstsein, als wisse dieses «etwas», was aber nicht der Fall sein kann. Diese Aporie nutzt Marx, allerdings ohne Bewusstsein. Wir werden sehen. Da ist nichts, was es wissen könnte, außer das, was es jetzt gerade entdeckt, und das ist der «Inhalt» des Augenblicks. Es nützt hier auch nicht, wie die heutigen Neurophilosophen glauben, auf ein Gehirn zu verweisen und auf «Gespeichertes», welches quasi die Entscheidung bahnen könnte. Denn all das wäre ein Psychologismus oder gar ein Biologismus an dafür zu grundsätzlicher Stelle.
Das hat seinerzeit Whitehead gesehen, darum war er gezwungen, seine anspruchsvolle «Prozessphilosophie» zu entwickeln, was er sonst nicht hätte tun müssen. Was ist es denn, was das Bewusstsein «weiß»? Das ist der Zentralpunkt all dieser Bemühungen, und er ist unbeantwortbar. Da ist nur die Taufe auf den Namen. Ich habe in meiner Androidentheorie, sagte ich, an dieser Stelle mysteriöserweise von der «Berührung mit dem Khalat» gesprochen. Das war ein Bild, nicht weniger und nicht mehr. Khalat, ein altindische Prunkmantel, bei dessen Berührung «etwas» entsteht.
Es ist auch hier so, dass sich die Frage nach dem Bewusstsein in sich selbst aufhängt und am Ende die Entscheidung - wenngleich nicht im Sinn der Kontingenz zufällig, so doch umgekehrt - sinnstiftend ist. Damit wäre die Realität also das «Sinnvolle, aus sich selbst Erschaffene, das Eine». Nichts ist «vorher», nichts «folgt nachher», alles «ist augenblicklich», bezieht sich nur auf sich selbst, so wie sich Wahrheit nur auf sich selbst beziehen kann, wenn man sie in Worte fassen will.
Ja, meinte Ned, ernst geworden. Das versteht niemand, und auch den Professor Aronnax verstehen wir inzwischen kaum noch. Du hast aber gewiss recht, in dieser Weise müssten wir sie fassen, die Sache, wenn wir könnten. Und so erweist sich das Reden über «Gott» als das Reden über die «Sache», als das Reden über «alles», und buchstäblich ist die Zahnbürste eins mit Gott und mir selbst, unauflöslich, aber in einer Abfolge von Worten, die wir wiederum nur als Ganzes, als «Augenblick» fassen, als «Eines». Gott können wir darum weder beweisen noch widerlegen oder gar überwinden, ebenso wenig ein beliebiges Ding auf unserem Weg.
Und so sind wir vom Stein zu Gott, von Gott zur Quantenmechanik, dann zum Augenblick und zum Einen gelangt, Ned, durch alle Philosophien hindurch den Pfad erblickend, der in sich selbst zurückführt. Und nun sage einer, die abendländische Philosophie sei dualistisch und jene der Asiaten monistisch! Nichts ist falscher als das. Es erscheint dem Unbedarften zwar so, wenn er noch nicht verstanden hat, was die großen Denker des angeblichen Dualismus gemeint haben, um auf jene Beschreibungen zu kommen, für die sie bekannt sind. Nimmt man diese Leute ernst, ist der Dualismus lediglich eine andere Form des Monismus - und umgekehrt. Was uns Richtung Zen oder Richtung Naturwissenschaft führt, ist die Folge des Symmetriebruchs. Er ist die Folge der Selbstentwicklung des Einen, des Einen-in-sich-selbst-Unterschiedenen, muss ich präzisieren.
An dieser Stelle schaltete sich Conseil ein, der inzwischen via sein Handy eine größere Finanztransaktion vorgenommen hatte, wie er uns berichtete. Die Summe sei obszön, aber das solle uns nicht beunruhigen, es seien Zahlen, Nullen und Einsen, in der Vorstellung und auf dem Display. Der Symmetriebruch sei erfolgt, die Zahl auf seinem Display habe sich verändert. Erfreulicherweise nach oben. Bravo! rief Margaret, endlich ein Realist unter euch zu spät gekommenen Vorsokratikern!
Nun, liebe Margaret, meinte Conseil maliziös, wir wollen dem nicht auf den Grund gehen, weil wir uns höchst wahrscheinlich in unserer Betrachtung aufhängen würden und dann am Ende wieder das Eine herauskommt. Den Vorsokratikern ist nicht zu entfliehen, jedenfalls nicht über Finanztransaktionen, lachte Conseil.
Nachdem er dies gesagt hatte, brachen wir in schallendes Gelächter aus, so dass uns die Gäste des Restaurants überrascht anstarrten. Oha, meinte ich, da wurde gerade wieder die Symmetrie gebrochen! Du hast es begriffen, meinte Aronnax. Doch die Leute wissen es nicht. Und lebt sie, die Schrödingerkatze? fragte Margaret. Nun, jedenfalls nicht in jedem dieser Menschen, schau sie dir an! In der Summe ist sie so tot wie lebendig, was wieder eine ganz neue Erkenntnis ist, dass Schrödinger vielleicht - bei aller Brillanz - gar nicht verstanden hat, was er mit seinem Katzenbeispiel in die Welt gesetzt hat. Denn immer, wenn die Katze lebt, stirbt sie und umgekehrt. Es bleibt sich notwendigerweise gleich, der Bruch ist keiner, die Symmetrie bleibt erhalten, obschon ganz offensichtlich gebrochen. Das nun auch noch zu begreifen, das ist die ultimative Herausforderung.
Darauf wollen wir verzichten, angesichts der Bedrohung durch den Kellner, der mit der Dessertkarte kommt, meinte Conseil und winkte ihn zu sich heran. Matthew, meinte er, was empfiehlst du uns? Du darfst die Symmetrie brechen! Der Kellner guckte verdutzt und wir brüllten vor Lachen. Nun, Matthew, so viel Spaß machen Philosophie und Physik in Wahrheit. Das sind keine drögen Wissenschaften. Es ist zum Totlachen. Ich weiß, das verstehst du nicht, denn du bist ein Sänger wie Orpheus.
Doch kehren wir zurück, zur Ur-Sache! Zurück zum Fisch. Haben wir ihn nun also zerlegt oder lediglich in eine Masse verwandelt, die sich häppchenweise verzehren lässt? Um den Fisch zerlegt zu haben, hätten wir ihn anatomisch genauestens kennen müssen. Um ihn in Häppchen zu zerstückeln, müssen wir dagegen nur wissen, was als ein Menschenmundhäppchen durchgeht. Mir scheint es offensichtlich, dass wir bestenfalls Letzteres getan haben. Die Welt jedoch, die erklären wir in jedem Moment im Handumdrehen! Einfach immer weiterschnippeln! Irgendwann beginnt die Sache zirkulär zu werden, dann sind wir mit ihr fertig. Boom!
Nun, fragte Conseil, haben wir also gar nicht den Fisch zerlegt, sondern die Welt erklärt, als wir ihn zu zerlegen vorgaben? Eine Welterklärung mit Messer und Gabel, keine Fischerklärung? Nun wird’s schwierig. Lassen wir es auf sich beruhen. Du hast uns für ein anderes Gespräch zusammengerufen, wenn ich dich richtig verstanden habe.
Ja, erwiderte mir Aronnax, es geht mir eigentlich um etwas ganz anderes.
Ich hatte einst ein Gedicht über Europa geschrieben, gewissermaßen über seine Werte, und du, Conseil, kennst es. Ich lese es euch zuliebe vom Handy ab:
Als einst dir Teiche glänzten vor den Schlössern, Als fern hinzog die Krähe durch dein Bauernland, Als gepuderte Gesellschaften wanderten An den Ufern des Sees, umstanden von Dienern, Und als die Mondnächte und der Wind noch Sie selbst waren und in den Kirchen noch Sang das Volk, da lebte ich nicht.
Doch nie hat die Liebe einer Frau durchdrungen das Herz
Eines Mannes wie meines die deine, Wohlgeraubte des Zeus!
In deine Bilder bist längst du vergangen, Entrissen der Fantasie und unfruchtbar geworden, Doch schwanger, o Wunder, mit Fremdheit, Europa!
Nur Menschen, Menschen bleiben, Fleisch, Geschrei, Verlangen.
Du meintest aber doch gewiss nicht diese Werte? fragte ihn nun Conseil. Es sind romantische Werte. Hier geht es um Kultur, um den Stein in der Hand, um Sitten, Bräuche, Kostüme, Diners, um Liebesverhältnisse, Dinge, die ein riesiges Ganzes ergeben, an dem alle Menschen zwingend jeden Tag teilhaben. Du meinst aber wahrscheinlich jene Werte, die in den letzten zwei Zeilen angesprochen werden:
Nur Menschen, Menschen bleiben, Fleisch, Geschrei, Verlangen.
Aronnax bestätigte das: «Der Mensch». Die sogenannten «westlichen Werte». Gott ward Mensch, und der Mensch stieg auf zum Gott. Und siehe, er war nackt, er war krank, war fremd, war böse, leer und doch voll mit Lastern. Er schrie und schrie und schrie: Gebt mir, was mir gehört! Mir gehört alles! Ihr habt an mir gesündigt über die Jahrtausende, nun will ich dafür bezahlt werden! Von denen, die von mir abgefallen sind, die sich über mich erhoben haben, die sich von mir entfernt haben, um all das erschaffen zu können, was mir gehört! Nichts von all dem, was sie erschufen, gehört ihnen, es gehört alles mir, der ich nichts erschaffe. Ich bin der Mensch, bevor er schafft. Nun habt ihr mich in eurem Haus, ich fläze in euren Sesseln, liege mit euch im Bett, ich beliege euch, ich fresse euren Fraß. Nun kümmert euch um mich! Ich bin zu eurer einzigen Aufgabe geworden!
Du erinnerst dich, ich schrieb:
Nur Menschen, Menschen bleiben, Fleisch, Geschrei, Verlangen.
Ja, und damit beginnt es. Was wir hier tun, ist eine bürgerliche Betrachtung. Wir rollen es vom Bürgertum her auf, das Ding, und was daran der Fehler ist, marxistisch betrachtet, werden wir sehen, und was am Marxismus der Fehler auch.
Der Mahlstrom in den Knallköpfen beginnt sich an dieser Stelle zu drehen. Mittelerde, so glaubt man, sei der Kontinent des Menschen, des Schlechthinigen, eines Gottes namens Mensch. Er, in seiner Einzelgestalt, throne in Mittelerde hoch über den schleimigen Strömen des Faschismus, in dem die übrige Welt ununterbrochen versinke. Ja, es ist der Glaube an die amerikanische Freiheitsstatue als Götzin, der Glaube an die Armen und die Gebeutelten dieser Erde, um ihretwillen es uns hier gebe, sagt man, als das Therapiezentrum der Spezies Homo sapiens sapiens. Et in summa miseriae! Nichts von dem, wovon wir träumten, das uns ergriff, an dem wir arbeiteten, was wir erschufen, was wir veredelten, verfeinerten, die Welt zum Wunder machend, gilt jetzt noch. Es wurde aufgehoben.
Europa steht in der geöffneten Tür ihres Tempels, wie einst Phoibos Apollon in der geöffneten Tür seines delphischen stand, den Bogen in der Linken und eine Schale in der rechten Hand. Vor dieser Tür steht jetzt der Geschundene, der Geächtete, der Verbrecher, der Idiot, die Hure, das Opfer von allem und jedem. Da steht Jesus Christus, im Fleisch eines beliebigen Bittstellers und Schutzsuchers, im Fleisch gar seines Erzfeindes. Nur in dieser ikonischen Gegenüberstellung habe etwas einen Wert, und aller Wert drehe sich heute um diesen Wert. Der Rest vom Kuchen käme später. Das heißt, er kommt nie, denn der Platz in dieser Tür ist nie verwaist, auf ihm, auf der Schwelle, im Torbogen steht immer «der Mensch». Da ist immer einer, der wartet.
Conseil gibt dem Kellner ein Zeichen. Noch eine Flasche, ruft er ihm entgegen, als er sich nähert. Mein Freund hier schwelgt vom «Menschen», einem Gott, der wie der Erzverbrecher aussieht, und er, mein Freund, ist Apollon in der Tempeltür, der diesen Menschen empfängt, in seinem Geist, in seinem Tempel hoch oben zu Delphi, unter der Schulter des Parnass, in der Gaststube auf der Hinteregg im oberen Emmental. Das verstehst du nicht, Matthew? Gib dir keine Mühe, wir alle verstehen es nicht, es ist ein göttliches Geschehen! Sieh ihn an, unseren Apollon! Ist er nicht großartig? Das ist er in der Tat, doch er weiß es nicht. Sieh seine Visage, wie dümmlich er dreinschaut, dabei ist er doch der Ferntreffer, der Gott der Kunst, der Gott des Todes, der Gott des Lichts, der Gott der Wahrheit! So, und nun bring uns den Wein, Matthew!
Ach, wie haben wir gelacht!
Matthew lachte mit, als habe er verstanden und geht nach der Flasche. Die Hinteregg! ruft Aronnax, wie kommst du jetzt auf die Hinteregg? Du hast recht, mein Lieber, dort saßen wir, in besseren Tagen, als wir jung waren und frisch.
Ja, meinte Conseil, dort in der Tür, standen einst die Schönheit, die Wahrheit, die Musik, die Melodie, die Logik, standen Honos et Virtus, standen Kunst und Architektur, stand der Tanz, stand der Gesang, stand die Kultur. Dort stand einst Europa sich selbst gegenüber, sich selbst empfangend, sich selbst kurierend, sich selbst helfend.
Doch das ist vorbei. Genauer: Es wurde verboten. Keiner kennt das Datum. Per göttlichem Ratschluss, im Tempel des Zeitgeists, eines minderen Dämons, ausgesprochen, ein Fluch über die Fluren und die Seelen und die Herzen, die noch romantisch fühlen. Schluss!
In jener Tür steht nun einzig «der Mensch», und vielleicht ein Frettchen, das ihm um die ungewaschenen Zehen spielt. Jetzt erst werden wir ganz zu Christen, außerhalb unserer Kirchen, die geschändet werden, hier und dort, immer häufiger, und immerdar stehen wir nun einem Christus, einem Gekreuzigten, einem Gesalbten, einem Auferstandenen gegenüber, der – horribile dictu - aussieht wie das Böse in Person. Christus empfangend, Christus werdend, so erfüllen wir den Auftrag, den letzten aller solchen.
Wir schließen die Kirchen und machen Europa zur Kirche. Wir fackeln die Kirchen ab, verjagen die Pfaffen und brennen als Kirchen und rasen als Pfaffen! Alle Türen stehen offen, die der Länder, die der Häuser, die der Herzen, die des Geistes, die des Körpers, auf dass hindurch- und hineingehe all das, was wir nicht sind, wovon wir uns abgetrennt hatten, bereits vor Jahrtausenden, irgendwann in der späten Steinzeit.
Demokratie, Freiheit, Rechtssicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechtlichkeit, Völkerrechtlichkeit, Meinungsfreiheit, Internationalismus, zählte Nemo die heiligen Monstranzen auf, die wir vor uns hertragen. Weniger gern herumgetragen werden die freie Marktwirtschaft, die direkte Demokratie, das Leistungsprinzip, Nation und Patriotismus, obschon unter ihren Bannern der größte allgemeine Wohlstand in der Geschichte für die erwirtschaftet worden ist, die solchen Götzen huldigen.
Jetzt ist all das «umstritten», kontaminiert, stinkt. Das Gift, der Schleim ist der des Faschismus, der uns umschwappt. Er hat etwas gar zu Taktiles, etwas viel zu Olfaktorisches, etwas körperlich höchst Unangenehmes an sich. Es riecht in seiner Umgebung förmlich nach Satan und jener Sünde unter all den anderen Sünden, die als einzige nicht mehr geht. Nase weg! Lautet die Botschaft an die Naiven in ihrer Selbstgerechtigkeit, meinte Nemo, der es zynisch meinte.
Unter Demokratie wurde bis gestern noch verstanden die strikte, die ausgereifte, Montesquieusche Gewaltentrennung im Staat, die Verfassungsstaatlichkeit, wurde Rechtsgleichheit, wurde der Bürger als der Souverän begriffen. Heute sieht die Sache anders aus. Man hat unter dem Mantel jener Titel eine Änderung ihrer Semantik vorgenommen.
Allgemein wurde der Zweck der Regeln verschoben. Früher sicherte der Staat dem freien Bürger zu, dass er ihn nie beherrschen werde, dass er, der Bürger, souverän bleibe, frei wie der Vogel im Himmelsraum. Heute sichert der Staat sich gegen diesen Vogel ab, weil er sichergehen will, ihm und seinen Flausen niemals zum Opfer fallen zu können. Denn nicht mehr der Staat rechtfertigt sich beim Vogel, dessen Raum er leider beanspruchen müsse, sondern der Vogel hat sich beim Staat zu entschuldigen, frei herumfliegen zu wollen, wie Gott ihn erschuf.
Der Mensch als die vermeintlich gelingende Quadratur des Kreises. Zeichnung von Leonardo da Vinci
Der Mensch als der Bezugspunkt seiner selbst, mustergültig nachvollzogen im aufgeklärten Menschenrecht. Der Mensch ist nicht bedroht und in Frage gestellt durch Aliens oder Dämonen, sondern durch sich selbst. Er muss vor sich selbst geschützt werden. Eine unerfüllbare Aufgabe. Und eine Aufgabe, die durch Übertreibung in ihr Gegenteil ausschlägt, wie der Wokismus – die Sammelbewegung aller neomarxistisch-kritischen Teilideologien unserer Epoche – beweist. Wenn der Mensch anfängt, sich selbst zu übertreiben, macht er sich zu Gott, übertrifft er sich selbst. Der Mensch als derjenige, der stets grösser sein will, als er ist. Doch einlösen kann er diesen metaphysischen Anspruch nicht, indem er ihn physikalisch werden lässt. Was passiert, wenn man Gott auf die Erde holt und sagt: Ich selbst bin Gott, zeigt sich als die Bankrotterklärung der Vernunft und die Totalmissachtung der Wirklichkeit, damit auch als die größte aller Ungerechtigkeiten, die im Mantel des Rechts daherkommen. Der Mensch ist nicht grösser, er ist genau umgekehrt: kleiner.
Was heißt das? Wieso kommt man auf die Idee, dass ein Bürger die Demokratie abschaffen könnte? Welcher Bürger? Gaius Julius? Es existiert eine unglaubliche Angst, zwar nicht der Gaius, aber doch der Adolf könne zurückkehren. Der hatte bekanntlich die Demokratie dazu benutzt, um sie abzuschaffen und durch sich selbst zu ersetzen. War der Adolf der letzte aller freifliegenden Vögel, wie Gott sie erschaffen hatte? Droht ein Comeback? Wieso denn? Es läuft ja wie geschmiert! Noch nie in der Geschichte verlief eine politisch-ökonomisch-kulturelle Entwicklung derart triumphal wie seit dem Ende des europäischen Tyrannen, genannt Adolf. Wer zum Kuckuck sollte sich denn den zurückwünschen?
Aronnax unterbrach an dieser Stelle Conseil, der all das nicht ohne Hinterlist gesagt hatte. Bester! Gefährlich nahe fliegst du an die lodernde Sonne heran und bedenkst doch des Ikarus’ Schicksal nicht! Deine Flügel sind mit Bienenwachs befestigt. Komm herunter zu Vater Dädalus! Doch halten wir einen Moment inne und betrachten wir diesen schrecklichen Teufelsvogel, den du angesprochen hast, Conseil!
Ich selbst, Professor Aronnax, habe viele Jahre lang darüber nachgedacht, was diese fliegende Echse eigentlich gewesen ist, abgesehen vom Verbrecher. Es gibt da keine Eindeutigkeit, auch wenn sie uns anschreit. Dieser Flugsaurier war weder progressiv noch konservativ, weder sozialistisch noch marktwirtschaftlich-bürgerlich. Seine Ausrichtung galt einem zeitlosen-überzeitlichen Spartanismus. In diesen war das Kollektivistische ebenso eingebettet wie das Erzkonservative, das Urarchaische wie das Technologisch-Modernistische. Er ist wie des Malers vollgekleckste Palette angesichts des Bildes, das entsteht in reiner Ordentlichkeit.
Psychologisch blieb er - und nur als psychologisches Phänomen lässt er sich meines Erachtens verstehen - der Sechzehnjährige als Beschützer der Mutter, die ihm irgendwann auf dem Heldenbild zu ganz Deutschland gerann. Doch das lebte er aus als der gehasste, als der eiskalte, der fantasierte und fanatisierte Vater, den er nun zwang, ganz anders als im Leben, sich nicht gegen, sondern für die Mutter einzusetzen, als könne die Hölle für den Himmel einstehen. Der Flugsaurier blieb, der er in Linz gewesen war, doch gleichzeitig wurde er zum eigenen Vater, der ihn täglich geschlagen hatte, eine Verwandlung, die sich ereignete, als er durch den Krieg erfahren musste, dass er sich selbst nur in dieser verhassten Gestalt aus den Schützengräben retten konnte und damit vom Tod, dass die verinnerlichte Mutter, deren Leib immer grösser wurde, am Ende ganze Europa bedeckend, nur durch das Opfer seiner Unschuld geschützt wird und sonst durch nichts. So ersetzte von da an das Verbrechen die verlorene Macht der Unschuld, und er sühnte das, indem er sich in den Vater stürzte als ins geöffnete Maul des innerlich brennenden Molochs.
Erst, wenn man die prägende Rolle seiner Eltern und die enorm wichtige der vier Jahre an der Westfront versteht, lässt sich dieser Unmensch irgendwie fassen, erklärte Aronnax. Sicher aber niemals als Sozialisten oder als einen Konservativen. Wenn ich es mir überlege, war er gar kein Faschist mussolinischer Art. Unser aller Scheusal kann nur psychologisch eingeordnet werden, und da zeigt er sich, meine ich, ohne selbst ein Psychologe zu sein, als die Verkörperung des spätdeutschen Ödipaldramas am Ausgang der Belle Époque, die wir so lieben, vielleicht, weil wir sie so gar nicht kennen. Dieses Freudsche Drama hat er bis zu seinem Tod mit der allergrößten Selbstverachtung und bewusst im größtmöglichen Rahmen vor aller Augen, aber noch mehr vor seinen eigenen abgewickelt. Doch Verstand hatte er keinen, er begriff nichts davon. Kein moderner Sophokles hätte dieses vormoderne Drama beschreiben können, nur die Geschichte konnte es.
Margaret unterbrach den Professor, der immer suggestiver wurde. Sie meinte, der Faschismus sei immer eine Gefahr, in jeder Gesellschaft, denn es gebe immer auf diese Weise Benachteiligte und es mangle ihnen stets am Verstand, das Ding zu begreifen.
Aber ist denn jeder Benachteiligte notwendig auch ein Faschist? fragte Conseil, skeptisch, wie es seine Art ist. Die Benachteiligung allein kann kein hinreichender Grund für den Faschismus sein. Der Grund liegt woanders und ist schwerwiegender, denke ich. Es hat nämlich ein heimlicher Ausschluss stattgefunden. Der Staat, der sich vom Faschismus bedroht sieht, wird von Menschen geleitet, die im Ganzen einer Projektion erlegen sind, ohne es zu merken. Also wären auch sie ohne Verstand, sagte Nemo, der mit ernster Miene zugehört hatte. Gewiss, der Unverstand ist ja die größte macht auf Erden, meinte Conseil. Diese nämliche Projektion besagt nun, der Faschismus könnte nicht nur zur Gefahr werden, er sei die Gefahr, er sei bereits da, wir müssten uns gegen ihn verteidigen, er stünde vor uns, leibhaftig, wir müssten die Zugbrücke hochziehen, wir müssten den durch lange Jahrzehnte des Nichtgebrauchs ausgetrockneten Wassergraben schleunigst fluten, wir sollten umgehend unsere inzwischen eingemotteten Geschütze flott machen und in Stellung bringen auf den Schanzen, damit die alte Burg nicht überrannt werde. Denn dort stehe er, in Rüstung und in geordneten Reihen, der Faschismus und verteilt, nach seinen Gesten zu folgern, bereits unser Hab und Gut. Er sei Fakt.