Die Pension Eva - Andrea Camilleri - E-Book
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Andrea Camilleri

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Beschreibung

Leichfüßig. Erotisch. Sizilianisch. «Pension Eva» – so heißt das Bordell in der sizilianischen Stadt Vigàta. Hier hat der junge Nenè schon viele Stunden verbracht. Aber nicht, um mit den Frauen zu schlafen, sondern um sich ihre Geschichten erzählen zu lassen. Denn sie lehren ihn, das Leben zu verstehen. Und es gibt viel zu lernen für einen jungen Mann im kriegsgeplagten Sizilien der vierziger Jahre. «Ein bizarrer, sehr komischer Bildungsroman.» (Der Spiegel) «Kein Krimi, und doch ein echter Camilleri.» (NDR)

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Andrea Camilleri

Die Pension Eva

Roman

 

 

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn

 

Über dieses Buch

Leichfüßig. Erotisch. Sizilianisch.

 

«Pension Eva» – so heißt das Bordell in der sizilianischen Stadt Vigàta. Hier hat der junge Nenè schon viele Stunden verbracht. Aber nicht, um mit den Frauen zu schlafen, sondern um sich ihre Geschichten erzählen zu lassen. Denn sie lehren ihn, das Leben zu verstehen. Und es gibt viel zu lernen für einen jungen Mann im kriegsgeplagten Sizilien der vierziger Jahre.

 

«Ein bizarrer, sehr komischer Bildungsroman.» Der Spiegel

 

«Kein Krimi, und doch ein echter Camilleri.» NDR

 

«‹Die Pension Eva› zeugt von einer solchen erzählerischen Leichtigkeit, ja Glückseligkeit, dass feststeht: Der Fall Camilleri ist – trotz des weltweiten Erfolgs – noch lange nicht abgeschlossen.» Corriere della Sera

Vita

Andrea Camilleri wurde 1925 in Porto Empedocle, Sizilien, geboren. Er war Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur und lehrte über zwanzig Jahre an der Accademia d’Arte Drammatica Silvio D’Amico. Seit 1998 stürmte jeder Titel des Autors die italienische Bestsellerliste. Mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk hat er sich auch einen festen Platz auf den internationalen Bestsellerlisten erobert. Im Kindler Verlag sind etliche seiner Werke erschienen. Andrea Camilleri war verheiratet, hatte drei Töchter und vier Enkel und lebte in Rom. Er starb am 17. Juli 2019 im Alter von 93 Jahren in Rom.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel «La pensione Eva» bei Arnoldo Mondadori Editore SpA.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2024

Copyright © 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«La pensione Eva» Copyright © 2006 by Arnoldo Mondadori Editore SpA, Milano

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Coverabbildung Lee Frost/Trevillion Images, Araldo de Luca/Corbis via Getty Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-30003-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Die Pension Eva

Erstes Kapitel: Gradus ad Parnassum

Recht lang ist der Weg,welcher zum Parnasse hinanführt, und er bedarf täglichen Übens … 

MUZIO CLEMENTI, Gradus ad Parnassum

Kurz vor seinem zwölften Geburtstag verstand Nenè endlich, was zwischen den Männern und den Frauen in der Pension Eva vor sich ging.

Seit er die Grundschule beendet hatte, erlaubte seine Mutter ihm, allein zum Hafen zu gehen, wo sein Vater arbeitete; und von da an war seine Neugier geweckt.

Er musste an der dreistöckigen kleinen Villa vorbeigehen, die gleich hinter der Ostmole lag. Die Fassade wirkte immer wie frisch gestrichen, und die grünen, stets verschlossenen Fensterläden glänzten, als wären sie eben erst bemalt worden. Eine hübsche Villa, mit Blumen auf dem einzigen Balkon im ersten Stockwerk, dessen hohes Fenster ebenfalls niemals geöffnet wurde.

Oft stellte Nenè sich vor, dass in diesem Haus gute Feen wohnten, die diejenigen retteten, die sich schuldig gemacht hatten und verzweifelt nach ihnen riefen:

«Ihr Feen, ihr lieben Feen, so helft mir doch!», und dann kamen sie, schwangen ihren Zauberstab, und der Wolf, der schwarze Mann oder der Einbrecher war verschwunden. Die Haustür blieb immer halb offen, und auf einem goldenen Messingschild daneben stand:

 

Pension Eva

 

Nenè wusste, was eine «Pension» war, er hatte seinen Cousin gefragt, der in Palermo zur Universität ging: Eine Pension war ein bisschen besser als ein Gasthof und ein bisschen schlechter als ein Hotel.

In Vigàta gab es ein Hotel und drei Gasthöfe, in denen Seeleute auf der Durchreise, Handelsreisende, Reedereivertreter, Eisenbahner und Lastwagenfahrer Station machten.

Warum aber war in der Pension überhaupt nichts los? Nie hatte er, wenn er am Tag dort vorüberging, auch nur eine Menschenseele gesehen.

Einmal, kurz nach seinem achten Geburtstag, war er so neugierig gewesen, dass er sich an die Haustür wagte. Sie war ein ganz kleines bisschen weiter geöffnet als sonst. Vorsichtig blickte er sich um und beugte sich, als niemand auf der Straße zu sehen war, ganz langsam vor, sodass er gerade den Kopf hineinstecken konnte. Aber sein Herz pochte laut, und die Sonne blendete ihn, und so sah er überhaupt nichts. Er hörte nur zwei Frauen in einem Zimmer lachen und laut reden, verstand aber nicht, was sie sagten. Er wagte sich noch einen kleinen Schritt vor, reckte den Kopf, und der Duft von Seife und Parfum drang ihm in die Nase – es roch wie bei einem Barbier.

Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Tür noch ein kleines Stück weiter aufzumachen.

Gerade wollte er hineingehen, als ihn jemand am Kragen packte. Der Mann trug eine Seemannsuniform, Nenè kannte ihn nicht. Der Uniformierte sah ihn wütend und zugleich vergnügt an. Er sprach italienisch.

«Ganz schön frühreif, was? Meinst du nicht, du bist noch zu jung für diese Wonnen des Lebens, Bürschchen? Verschwinde auf der Stelle!»

Nenè verstand zwar nicht, was der Mann da gesagt hatte, schämte sich aber mit einem Mal sehr und rannte schnell weg.

Als er in die vierte Klasse ging, erzählten ihm seine Schulkameraden, die zum größten Teil Taugenichtse, Söhne von Fuhrleuten, Hafenarbeitern und Seeleuten waren, alles über die Pension. Sie redeten alle durcheinander, legten ihm die Einzelheiten und Gepflogenheiten der Villa dar, so, als hätten sie ihr ganzes Leben dort zugebracht.

Und er lächelte zustimmend, als hätte er alles verstanden. In Wirklichkeit aber verstand er gar nichts, er war eher noch verwirrter.

So kam es, dass er sich eines Tages, als er mit seinem Vater an der Pension vorbeiging, ein Herz fasste und sagte:

«Papà, stimmt es, dass man sich in diesem Haus nackte Frauen mieten kann?»

So viel immerhin hatte er den Ausführungen seiner Klassenkameraden entnehmen können – er hatte auch verstanden, dass man die Pension Eva «Freudenhaus» oder «Puff» nannte und die Frauen, die dort wohnten, «Nutten». Aber «Puff» und «Nutten» waren schmutzige Wörter, die ein anständiger Junge nicht benutzen durfte.

«Ja», antwortete sein Vater mit unbewegter Miene.

«Mietet man die Frauen für ein Jahr?»

«Nein, für eine Viertelstunde, eine halbe Stunde … »

«Und was macht man dann mit ihnen?»

«Man kann sie ansehen», sagte sein Vater.

Das genügte ihm. Eine Zeitlang gab er sich mit dieser Erklärung zufrieden, denn nur der liebe Gott allein wusste, wie gerne er den Rock seiner zwei Jahre älteren Cousine Angela hochheben würde, um nachzusehen, wie es darunter aussah!

 

Als er zwölf war, erlaubte seine Mutter ihm endlich, auf den Dachboden zu klettern und mit den alten Sachen, die dort herumlagen, zu spielen. Vorher hatte sie ihm die immer gleiche Antwort gegeben:

«Nein, du bist noch zu klein, du könntest dir wehtun.»

Glücklich berichtete Nenè Angela davon, die im selben Haus wohnte wie er und so lange herumzeterte, bis auch sie mitdurfte.

Auf dem Dachboden schreckten sie die Tauben auf, die sich dort niedergelassen hatten. Sie schlugen heftig mit den Flügeln und wirbelten dabei so viel Staub auf, dass Nenè meinte zu ersticken. Was für ein Plunder! Was für ein Durcheinander! Alte Möbel, kaputte Stühle, Jutesäcke, vollgestopft mit Papier, Säcke mit Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, Koffer, in denen die Kleider und Anzüge der längst verstorbenen Großeltern und Urgroßeltern ordentlich zusammengelegt waren, andere mit Priestergewändern, ein Pianola, das noch funktionierte, Porzellanpuppen, denen ein Fuß fehlte oder eine Hand, mit Kordeln zugeschnürte Koffer, kleine Wasserkrüge, große Tonkrüge, Strumpfbänder, zwei Säbel, ein Fotoapparat mit Stativ und Haube, Vasen, Petroleumlampen und sogar ein riesiges Wandtelefon und ein demoliertes Grammophon.

All das beflügelte Nenès Phantasie, der mit fünf Jahren lesen gelernt hatte und schon die Romane von Emilio Salgari kannte.

Mit ein paar Kleidern und bunten Tüchern verkleidete sich Angela mal als Perle von Labuan, mal als Tochter des Schwarzen Korsaren, während er mal zu Sandokan, mal zu Yanez wurde, am häufigsten verkleidete er sich als Tremal-Naik, der große Tigerjäger. Im Nu hatte sich der Dachboden in einen geheimnisvollen, gefährlichen Ort verwandelt, wie Mompracem. Die Vorstellung, dass der Säbel und die Pistole, die er in Händen hielt, echte Waffen waren, die irgendwann einmal im Krieg zum Einsatz gekommen waren, ließ ihn vor Freude ganz außer sich sein.

Eines Tages entdeckten sie einen schwarzen Koffer, den sie bisher übersehen hatten. Er musste Onkel ’ntonio gehört haben, der Arzt gewesen war. Inmitten zahlloser stinkender Arzneifläschchen fanden sie ein hölzernes Stethoskop, das noch die Form einer Hörmuschel hatte, und ein Thermometer.

«Also, ich bin der Arzt und du bist meine Patientin, und ich muss dich untersuchen», sagte Nenè, als er die beiden Instrumente sah.

«O ja!», rief Angela begeistert.

Und sie legte sich auf das verstaubte Sofa, das wackelte, weil ihm ein Fuß fehlte. Sie schoben einen Stapel Bücher darunter, damit es fest stand.

 

Von da an stiegen sie oft auf den Dachboden und spielten dort immer Arzt und Patient.

Bei der dritten Untersuchung zog Angela sich Kleid und Schlüpfer aus, ohne dass Nenè sie darum gebeten hätte. Sie sagte keinen Ton, während er sie abtastete und mal auf den Bauch, mal auf den Rücken drehte. Irgendwann sagte Angela, während sie sich wieder anzog, mit entschlossener Stimme:

«Morgen machen wir’s umgekehrt.»

«Wie meinst du das?»

«Dann bist du der Patient und ich die Krankenschwester.»

Am nächsten Tag eilte Nenè, kaum dass sie auf den Dachboden geklettert waren, zum Sofa und legte sich auf den Rücken.

«Zieh dich aus», sagte Angela.

Er spürte, wie er rot wurde, und rührte sich nicht. Es hatte ihm besser gefallen, als Angela sich ausgezogen hatte. Er versuchte, mit ihr zu verhandeln.

«Alles?»

«Alles», befahl die Cousine streng.

 

Angela ließ ihn von da an nicht mehr den Arzt spielen, Nenè war jetzt immer der Patient. Er merkte allerdings bald, dass der Rollentausch ihm eigentlich recht war; denn es gefiel ihm sehr, wenn Angela ihn anfasste, vor allem, wenn sie ihm das Thermometer zwischen die Pobacken klemmte.

Und als dann die Junihitze den Dachboden in einen Glutofen verwandelte, sodass sogar die weißen Tauben die Flucht ergriffen, machte die Krankenschwester es sich zur Angewohnheit, sich ebenfalls die Kleider auszuziehen und neben Nenè zu legen. So kam es, dass ihre Lippen sich zuerst hauchzart und fast wie zufällig berührten, dann aber lange aufeinander ruhten.

Damit veränderte sich alles. Das Spiel wurde ernst. Sie umarmten sich, küssten sich wild und bissen einander blutig, sie streichelten und kratzten sich, leckten sich, umwanden sich wie zwei Schlangen oder glitten am anderen ab wie zwei Fische, und ihre Haut schäumte vor Schweiß.

Wie ist es möglich, fragte sich Nenè, als sie eine kurze Pause machten, um wieder zu Atem zu kommen, dass sich die erwachsenen Männer in der Pension Eva damit zufriedengeben, die nackten Frauen einfach nur anzuschauen? Oder machen sie, was Angela und ich machen? Oder etwas ganz anderes, was ich noch nicht kenne?

 

Über das andere, was er noch nicht kannte, belehrte ihn eines Tages der Pfarrer, zu dem er zur Vorbereitung auf die erste heilige Kommunion geschickt wurde. Nenè ging später als die anderen Kameraden zur Kommunion: Seine Mutter hatte Papà lange überreden müssen, denn er hatte etwas dagegen. Er wollte mit der Kirche nichts zu tun haben.

Samstags nach der Faschistenversammlung ging Nenè in seiner Jungmatrosenuniform zu Padre Nicolò in die Sakristei, wo dieser ihm den Katechismus erläuterte.

Als Padre Nicolò zu dem Gebot kam, das besagt, man solle keine unkeuschen Dinge tun, weder allein noch mit jemand anderem, wusste Nenè sofort, dass das, was seine Cousine und er auf dem Dachboden taten, gegen ebendieses Gebot verstieß. Als Strafe drohte die ewige Hölle – mit Teufeln, Feuer und Pech. Nenè erschrak gewaltig.

Sie hatten eine Todsünde begangen. Damit war nicht zu scherzen. Aber wie war es möglich, dass Angela, die doch zwei Jahre älter war als er und schon vor langer Zeit zur Kommunion gegangen war, nichts davon gewusst hatte? Warum hatte sie ihm nichts gesagt?

Verstört ging er nach Hause.

Um die heilige Kommunion zu empfangen, würde er nicht mehr mit Angela auf den Dachboden dürfen. Aber es war doch so schön! Und dann fragte er sich, wieso der Pfarrer eigentlich davon zu wissen brauchte.

 

Am folgenden Tag, es war Sonntag, machten Angela und Nenè mit der Familie einen Ausflug auf das Landgut des Großvaters. Zum Mittagessen gab es Pasta mit Käse überbacken, Zicklein im Rohr und Wein, und danach waren alle so erschöpft, dass sie sich erst einmal ausruhen mussten. Angela und Nenè versteckten sich in einem Strohschober. Dort konnte man sich zwar in Ruhe unterhalten, aber für Doktorspiele war es nicht der geeignete Ort, weil jeden Augenblick einer der Landarbeiter vorbeikommen konnte.

«Weißt du eigentlich, dass wir auf dem Dachboden schmutzige Dinge tun und dass das eine Todsünde ist?», sagte Nenè hastig.

«Wer sagt das?», fragte Angela ungerührt.

«Padre Nicolò hat es mir gestern gesagt.»

«Da irrt er sich. Wir beide spielen nur. Schmutzige Dinge tun nur erwachsene Männer und Frauen.»

Nenè dachte einen Augenblick über Angelas Worte nach und sagte dann:

«Das heißt, wenn wir nur spielen, brauche ich dem Pfarrer auch nichts davon zu erzählen?»

«Nein. Dem Pfarrer kannst du ohnehin erzählen, was du willst, der kann doch gar nicht wissen, was stimmt und was nicht.»

Plötzlich kam ihm Angela verändert vor, sie wirkte so erfahren und so erwachsen. Er konnte gar nicht glauben, dass sie nur zwei Jahre älter war als er.

«Gehen wir morgen wieder auf den Dachboden?»

«Natürlich.»

 

Am nächsten Tag, als er sich aufs Sofa legte und Angela sich auszuziehen begann, war er mit einem Mal verlegen. Es war ihm plötzlich peinlich, sich auszuziehen. Was war los mit ihm? Wieso schämte er sich? Wieso empfand er Scheu, auch wenn Angela inzwischen selbst schon nackt vor ihm stand? Wahrscheinlich war das alles die Schuld dieses verdammten Pfarrers, der ihm einredete, dass ihre Spiele Sünde waren.

«Was ist los, bist du zur Salzsäule erstarrt, oder was?», fragte Angela ungeduldig.

Schließlich zog er sich doch aus und ließ sich von seiner Cousine berühren, aber er empfand nichts dabei. Es gab da eine Frage, die er Angela unbedingt stellen wollte. Sie kannte sich ja in diesen Dingen offenbar besser aus als er.

Als sie eine kurze Pause einlegten, setzten sie sich eng nebeneinander aufs Sofa. Da dachte Nenè, der richtige Augenblick sei gekommen, und fragte:

«Weißt du, was es bedeutet, Unzucht zu treiben?»

Angela lachte laut auf.

«Was ist denn?», fragte Nenè verwirrt.

«Ich lache über diesen Ausdruck: Unzucht treiben! Das sagen vielleicht die Geistlichen, weil es so in der Bibel steht, aber die Erwachsenen sagen etwas anderes dazu.»

«Wie sagen die denn dazu?»

«Das ist ein unanständiges Wort.»

«Was sagen sie?»

«Vögeln. Aber das darfst du nicht zu Hause sagen, sonst gibt deine Mutter dir eine Ohrfeige. Und wenn’s dir trotzdem rausrutscht, dann sag bloß nicht, dass du es von mir hast!»

«Vögeln» kam ihm wirklich unanständig vor, es hörte sich ungeheuer schweinisch an.

«Kann man nicht auch anders dazu sagen?»

«Man kann auch sagen ‹Liebe machen›.»

«Liebe machen» schien ihm der bessere Ausdruck.

«Und wie macht man Liebe? Weißt du’s?»

Angela sah ihn genervt an.

«Ich weiß es, aber ich hab keine Lust, es dir zu erklären. Frag doch einen von deinen Freunden.»

«Du bist meine beste Freundin.»

Angela deutete mit dem Zeigefinger zwischen Nenès Schenkel und dann zwischen ihre.

«Wenn der da in die hier reingeht, bedeutet das, man macht Liebe», sagte sie schnell und verschluckte dabei fast die Wörter.

Nenè sah sie verwirrt an. Was war das? Ein Rätsel? Was sollte das: da, hier? Er hatte überhaupt nichts kapiert.

«Was heißt das?»

«Ich habe es dir doch gerade erklärt.»

«Aber …  wozu soll das gut sein?»

«Um Spaß zu haben und um Kinder zu machen.»

«Aber wenn man so Kinder macht, warum ist es dann eine Todsünde?»

«Es ist Sünde, wenn es zwei tun, die nicht verheiratet sind, oder wenn sie’s tun, ohne dass sie Kinder machen wollen.»

Nenè dachte nach. Ihm war der Unterschied nicht klar. Da half nur, es auszuprobieren.

«Zeigst du mir, wie man das macht?»

Angela fing wieder an zu lachen.

«Das geht nicht.»

«Und wieso nicht? Weil es Todsünde ist?»

«Nein, weil du’s nicht kannst.»

«Aber du kannst es?»

«Ich schon.»

«Und wieso ich nicht?»

«Weil deiner zu klein ist.»

Nenè erstarrte.

Plötzlich verschwand das Sonnenlicht vom Dachboden. Sie waren mit einem Mal am Nordpol, es herrschte arktische Kälte, und es war tiefe Nacht.

Ja, das war der Grund, warum er beim Wettkampf mit den Jungen aus der dritten Klasse von vornherein ausgeschieden war! In einem alten, verlassenen Schwefellager hatten sie die Unterhosen heruntergelassen und Länge und Dicke gemessen und dann miteinander verglichen. Und er hatte nicht einmal mitmachen dürfen! Was für eine Schmach!

Wieso hatte ausgerechnet er dieses furchtbare Schicksal zu tragen? Lieber wäre er mit einer Behinderung gestraft, seinetwegen mit zwei Buckeln, statt einen so Kleinen zu haben, dass er nicht einmal Liebe machen konnte!

Erschöpft, ohne dass sich noch ein Muskel oder Nerv in ihm regte, glitt er langsam vom Sofa. Es fehlte nicht viel, und er wäre in Tränen ausgebrochen.

«Was hast du denn?», fragte Angela.

«Nichts.»

«Los, sag schon!»

«Wenn du sagst, dass ich einen so Kleinen habe …  bedeutet das doch, dass ich nie … »

Er konnte nicht mehr an sich halten: Tränen so groß wie Erbsen rannen ihm über das Gesicht.

«Was denkst du denn, du Dummkopf? Wenn du groß bist, hast du einen wie alle anderen erwachsenen Männer auch.»

Es war durchaus möglich, dass Angela die Wahrheit sagte. Warum sollte sie ihn auch anlügen?

Und plötzlich schien wieder die Sonne.

«Schwörst du’s?»

«Bei meiner Mutter.»

Jetzt fühlte Nenè sich besser. Angela hatte einen feierlichen Eid geleistet. Er wollte sich gerade wieder aufs Sofa setzen, als ihm etwas einfiel. Regungslos stand er da.

«He!», rief Angela.

Er hörte sie nicht. Das war es also, was die erwachsenen Männer mit den nackten Frauen in der Pension Eva machten!

 

Eines Tages wurde Angela krank. Sie bekam nachts Fieber, und alle dachten, es sei eine Grippe, die nach drei, vier Tagen vorbeigehen würde.

Doch das Fieber blieb, und Angela wurde ins Spital von Montelusa eingeliefert. Sie hatte etwas an der Lunge.

Nach einer knappen Woche ohne Angela wurde Nenè traurig. Nicht nur, weil sie jetzt nicht mehr gemeinsam auf den Dachboden gehen konnten – das war ohnehin nicht mehr das Gleiche, nach dem, was der Pfarrer ihm erzählt hatte –, sondern weil er sie brauchte. Er sehnte sich nach ihrer Stimme, nach ihren Augen. Er wollte sie unbedingt sehen, und sei es nur für fünf Minuten, also fragte er seine Mutter, ob sie ihn das nächste Mal mitnehmen würde, wenn sie Angela besuchen ging. Doch seine Mutter sagte ihm, das solle er sich aus dem Kopf schlagen. Sie könne ihn nicht mitnehmen, Angelas Krankheit sei ansteckend.

 

Es half alles nichts, er musste unbedingt in Erfahrung bringen, ob in der Pension Eva wirklich vor sich ging, was er glaubte!

Schon seit einiger Zeit lernte er immer zusammen mit seinem Freund Ciccio Bajo, der in der Schule neben ihm saß, mal bei ihm zu Hause, mal bei sich. Über schmutzige Dinge hatten sie allerdings noch nie geredet.

Eines Nachmittags, als sie wieder einmal zusammen über den Büchern hockten, flogen zwei Fliegen auf Ciccios Schulheft, und die eine setzte sich auf die andere. Nenè schlug mit flacher Hand auf die Insekten. Ciccio sah ihn wütend an.

«Das Heft hast du mir versaut!»

«Entschuldige, ich mach’s ja sofort weg.»

«Kannst du mir vielleicht mal sagen, was die beiden Fliegen dir getan haben? Die wollten doch nur vögeln.»

Vögeln! Ciccio hatte das versaute Wort benutzt! Offenbar wusste er Bescheid.

«Hör mal», sagte Nenè, während er das Heft mit dem Taschentuch sauber machte, «weißt du, was die Pension Eva ist?»

«Klar. Das ist ein Puff.»

«Und weißt du, wie man da an eine Frau kommt?»

«Man geht rein, sucht sich eine aus, die einem gefällt, vögelt mit ihr, und danach zahlt man die Hurenmarke. Aber es ist Zeitverschwendung, jetzt darüber nachzudenken.»

«Wieso?»

«Weil wir noch zu jung dafür sind. Man muss mindestens achtzehn sein.»

Du lieber Gott, das war ja noch eine Ewigkeit!