Die Pflegefamilie als sichere Basis für vernachlässigte und misshandelte Kinder. Kinderschutz und bindungstheoretische Aspekte - Ann-Kathrin Klose - E-Book

Die Pflegefamilie als sichere Basis für vernachlässigte und misshandelte Kinder. Kinderschutz und bindungstheoretische Aspekte E-Book

Ann-Kathrin Klose

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Beschreibung

Vernachlässigung und psychische, körperliche oder sexuelle Misshandlung traumatisieren jedes Jahr tausende Kinder in Deutschland. Der letzte Ausweg ist oft die Inobhutnahme durch das Jugendamt. Nach einer solchen Inobhutnahme wird am häufigsten die Pflegefamilie als adäquate Unterbringung für traumatisierte Kinder genutzt. Diese Publikation untersucht die Frage, inwieweit die Pflegefamilie eine ‚sichere Basis‘ für vernachlässigte oder misshandelte Kinder darstellt. Sie berücksichtigt besonders die Bindungstheorie nach John Bowlby. Die Autorin Ann-Kathrin Klose zeigt darüber hinaus die Grundlagen der Pflegekinderhilfe auf und thematisiert Herausforderungen und Unterstützungsmöglichkeiten für Pflegefamilien beim Umgang mit vernachlässigten oder misshandelten Kindern. Sie spricht dazu Aspekte wie Beziehungsnetzwerk und Qualifikation von Pflegefamilien, die Bindungsdynamik bei traumatisierten Kindern und die Theorie der Integration an. Zusätzlich geht sie im Detail auf das Thema Kindswohlgefährdung sowie den staatlichen Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII ein. Aus dem Inhalt: - Kindswohlgefährdung; - Pflegefamilien; - Bindungstheorie; - Kindesmisshandlung; - Bindungsdynamik; - Jugendhilfe

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Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Kinderschutz bei Kindeswohlgefährdung

2.1 Kinderschutz

2.2 Kindeswohl

2.3 Grundbedürfnisse von Kindern

2.4 Kindeswohlgefährdung

2.4.1 Trias der Kindeswohlgefährdung

2.4.2 Entstehungsbedingungen von Kindeswohlgefährdung

2.4.3 Folgen von Kindeswohlgefährdung

2.5 Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII

3 Grundlagen der Pflegekinderhilfe

3.1 Statistische Daten zum Pflegekinderwesen

3.2 Strukturelle Aspekte der Pflegekinderhilfe

3.3 Rechtliche Grundlagen und Formen der Vollzeitpflege

3.4 Beziehungsnetzwerk von Pflegefamilien

3.4.1 Die Pflegekinder und ihre beiden Familien

3.4.2 Das jugendhilferechtliche Dreiecksverhältnis

4 Relevanz von Bindungen für die kindliche Entwicklung

4.1 Grundlagen der Bindungstheorie

4.1.1 Bindungsentwicklung

4.1.2 Konzept der Feinfühligkeit

4.1.3 Bindungsqualität des Kindes

4.2 Bindungsdynamik traumatisierter Kinder

4.3 Bindungsdynamik bei Pflegekindern

5 Herausforderungen und Unterstützungen für die Pflegefamilie im Umgang mit vernachlässigten oder misshandelten Kindern

5.1 Umgang mit traumatisierten Kindern

5.2 Entwicklung von Beziehungen in Ersatzfamilien – Theorie der Integration

5.2.1 Anpassungsphase

5.2.2 Phase der Wiederholung früherer Beziehungsformen in der Übertragungsbeziehung

5.2.3 Regressionsphase

5.2.4 Scheiternde Pflegeverhältnisse in den Integrationsphasen

5.3 Effekte einer sicheren Bindung – Resilienzforschung

5.4 Qualifizierung von Pflegefamilien

5.5 Unterstützungen für die Pflegefamilie

6 Resümee: Die Pflegefamilie – Eine sichere Basis?

Literaturverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Die "staatlichen Wächter" (vgl. Meysen 2012, S.20)

Abbildung 2: Bedürfnispyramide nach Maslow (Eigene Darstellung/ vgl. Schrapper 2012, S.61/ Alle 2012, S.72)

Abbildung 3: Kindeswohlgefährdung nach § 1666 Abs. 1 BGB (vgl. Meysen 2012, S.24)

Abbildung 4: Institutionelle Zuständigkeiten für Pflegekinder und Pflegefamilien (vgl. Helming et al. 2011c, S.109/ DJI/ DIJuF 2006, S.16)

Abbildung 5: Institutionelle Zuständigkeiten für die Herkunftseltern (vgl. Helming et al. 2011c, S.109/ DJI/ DIJuF 2006, S.16)

Abbildung 6: Das jugendhilferechtliche Dreiecksverhältnis bei Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 SGB VII (vgl. Küfner 2011g, S.71)

Abbildung 7: Phasen der Bindungsentwicklung nach Bowlby (vgl. Lohaus/ Vierhaus 2013, S.99)

Abbildung 8: Hilfen des Jugendamts je nach Gefährdungsgrad (Kunkel 2006, S.12)

Abbildung 9: Berlineinheitliche Indikatoren / Risikofaktoren zur Erkennung und Einschätzung von Gefährdungssituationen (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2007, S.30-33)

Abbildung 10: Elemente und Merkmale einer Risikoeinschätzung (Eigene Darstellung/ vgl. Alle 2012, S.57)

Abbildung 11: Überblick "Erzieherische Hilfen" (vgl. Statistisches Bundesamt 2008, S.4)

Abbildung 12: "Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung" < > "Angelegenheiten des täglichen Lebens" (vgl. Küfner 2011c, S.67-70)

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Drei Gruppen häufiger Kurzzeitfolgen von Kindesmisshandlung (vgl. Moggi 2005, S.95)

Tabelle 2: Typische Langzeitfolgen von Kindesmisshandlung im Erwachsenenalter (vgl. Moggi 2005, S.99)

Tabelle 3: Hilfe zur Erzeihung außerhalb des Elternhauses (Eigene Darstellung/ vgl. Statistisches Bundesamt 2013d)

Tabelle 4: Volle Fachkraftstelle im Verhältnis zur Zahl der betreuten Pflegekinder (vgl. DJI/DIJuF 2006, S.18)

Tabelle 5: Familienstand der Eltern nach Altersgruppen des Kindes bei Beginn der Hilfe (vgl. Statistisches Bundesamt 2011, S.9)

Tabelle 6: Wirtschaftliche Situation der Herkunftsfamilie bei Beginn der Hilfe (vgl. Statistisches Bundesamt 2011, S.17)

Tabelle 7: Gründe für die Hilfegewährung (vgl. Statistisches Bundesamt 2011, S.29f)

1 Einleitung

Im Jahr 2012[1] führten die Jugendämter in Deutschland knapp 107 000 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls durch (vgl. fortlaufend: Statistisches Bundesamt 2013a). „Eine Gefährdungseinschätzung wird vorgenommen, wenn dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines/einer Minderjährigen[2] bekannt werden und es sich daraufhin zur Bewertung der Gefährdungslage einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind beziehungsweise Jugendlichen sowie seiner Lebenssituation macht“ (Statistisches Bundesamt 2013a). An dieser Statistik lässt sich außerdem ablesen, dass bei 16% (17 000) der Kinder eine eindeutige Kindeswohlgefährdung („akute Kindeswohlgefährdung“) vorlag und bei 20% (21 000) eine Gefährdung des Kindes nicht ausgeschlossen werden konnte („latente Kindeswohlgefährdung“). Unterschieden wird hierbei auch die Art der Kindeswohlgefährdung[3], wobei die Verteilung bei akuter sowie latenter Gefährdung ähnlich ist: Zwei von drei (67%) dieser Kinder wurden vernachlässigt. 24% der Fälle wiesen Anzeichen für psychische Misshandlung und 26% für körperliche Misshandlung auf. In 5% der Verfahren konnten Anzeichen für sexuelle Gewalt festgestellt werden. Um die derzeitige Situation der Kinder- und Jugendhilfe im Bereich Kindeswohlgefährdung vergleichbar darzustellen, eignen sich die Zahlen der Inobhutnahmen (vgl. fortlaufend: Statistisches Bundesamt 2013b). Während im Jahr 2007 noch 28 200 Inobhutnahmen statistisch erfasst wurden, waren es im Jahr 2012 bereits 40 200. Das bedeutet, dass die Zahl der Inobhutnahmen in den letzten 5 Jahren um 43% gestiegen ist. Für 32% dieser Kinder begann anschließend eine Hilfe zur Erziehung, wovon drei von vier Fällen außerhalb der Familie untergebracht wurden. Vor diesem Hintergrund scheint die Konzentration auf den Kinderschutz im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe nachvollziehbar. Salgo (vgl. 2007) gibt diesbezüglich an, dass seit einigen Jahren Kindesmisshandlung, Kindesvernachlässigung sowie sexueller Missbrauch von Kindern stärker in den Fokus geraten sind als jemals zuvor. Im Folgenden wird bei Kindern, welche Misshandlung-, Vernachlässigungs- oder Missbrauchserfahrungen machen mussten, auch von Kindern mit traumatischen Erlebnissen gesprochen. Um den Begriff des Traumas nicht inflationär zu benutzten, wird folgende Definition den Ausführungen dieser Arbeit zu Grunde gelegt.

Zur Bestimmung traumatischer Erfahrungen sind nach Scheuerer-Englisch folgende Merkmale wesentlich:

„Es handelt sich um eine einmalige oder fortdauernde Erfahrung,

die zu einer psychischen Verletzung führt,

die für das Kind überwältigend und mit seinen psychischen und physischen Möglichkeiten nicht kontrollierbar ist,

die Todesangst und Angst vor Vernichtung des physischen oder psychischen Selbst auslöst,

und bei der das Kind in der Situation auf niemanden zugreifen kann, bei dem es Schutz oder Hilfe erfährt.“ (Scheuerer-Englisch 2008, S.67)

Im Folgenden geht es weniger um einmalige, traumatische Ereignisse, als um länger andauernde traumatische Beziehungsmuster, ausgelöst durch die anwesenden Bezugspersonen (vgl. Scheuerer-Englisch 2008, S.68). Das heißt, dass defninitionsgemäß überwältigende Einzelerfahrungen, wie zum Beispiel ein Unfall, eine Naturkatastrophe oder auch die Erkrankung wichtiger Bezugspersonen traumatische Ereignisse verkörpern, diese jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit sind. Es geht dagegen um die zentrale Bedeutung von Vernachlässigung, körperlicher und seelischer Misshandlung sowie sexuellen Missbrauch, denn insbesondere Gewalterfahrungen „werden in ihrer nachhaltigen und zerstörerischen Wirkung auf das Kind immer noch massiv unterschätzt“ (Hopp 2012). Jedes Kind ist von Geburt an auf eine verfügbare sowie verlässliche Bezugsperson angewiesen, wobei „diese Bindungsbeziehung die Aufgabe [hat], dem Kind in Situationen von Gefahr, Belastung und Überforderung Sicherheit und Vertrauen zu geben“ (Scheuerer-Englisch 2008, S.71). Sind jedoch die leiblichen Eltern des Kindes nicht in der Lage die Erziehung entsprechend dem Wohl des Kindes zu gewährleisten, so haben sie Anspruch auf Hilfe zur Erziehung (§ 27 Abs.1 Satz 1 SGB VIII[4]). „Wenn die ambulante Beratung von vernachlässigten, misshandelten, missbrauchenden Eltern erfolg- oder aussichtlos ist, muss (ggf. nach Inobhutnahme) unverzüglich das Familiengericht mit dem Ziel angerufen werden, das Kind in einem geeigneten Heim oder noch besser in einer dafür qualifizierten Pflegefamilie unterzubringen“ (Eberhard/ Malter 2006). Die Pflegefamilie wird als adäquate Unterbindung für traumatisierte Kinder am häufigsten genutzt. Diesbezüglich gilt im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII: Eine Pflegeperson ist, „wer ein Kind oder einen Jugendlichen über Tag und Nacht in seinem Haushalt aufnehmen will“. Die vorliegende Arbeit wurde vorrangig aus der Sicht der Pflegekinder und Pflegefamilien verfasst. Auf Grund dessen sind ihre Situationen und ihre Perspektiven besonders zu berücksichtigen. Hopp zeigt die Sicht der Welt eines Kindes, geprägt durch die traumatischen Erfahrungen wie folgt auf:

„Diese [traumatisierten] Kinder haben kein Vertrauen zu Erwachsenen – im Gegenteil, sie misstrauen allem und allen. Sie haben erfahren, dass die Welt nicht verlässlich ist, dass das Leben bedroht wird, dass Hilfe kaum zu erwarten ist, dass man auf sich allein gestellt ist, dass es eigentlich nur gilt, das hier und jetzt zu überleben und zu bewerkstelligen. Das Leben ist ein Kampf.“ (Hopp 2012)

Wie bereits erläutert braucht ein traumatisiertes Kind zunächst Sicherheit und wenigstens eine stabile Bezugsperson, „die aufgrund ihres Verhaltens dem Kind das Vertrauen gibt, dass es tatsächlich vor erneuten traumatischen Erfahrungen geschützt wird“ (Scheuerer-Englisch 2008, S.80). Denn „Sicherheit erlaubt Autonomie und gesunde Selbstständigkeit“ (Scheuerer-Englisch/ Suess/ Pfeifer 2003, S.12). Um dieses lebensnotwendige Gefühl zu erlangen, benötigt das Kind als „sichere Basis“ bzw. „sicheren Hafen“ eine verlässliche sowie feinfühlige Bindungsperson (vgl. Niestroj o.J.). „Die mit der Bindungsperson verbundenen positiven Erfahrungen führen dann zu Bindungssicherheit“ (Niestroj o.J.) und dies ermöglicht dem Kind in den neuen Beziehungen zu den Pflegeeltern korrigierende Erfahrungen zu machen und so eine gesunde Basis für seine Entwicklung zu schaffen (vgl. Tenhumberg/ Michelbrink 2008, S.114). Die vorliegende Arbeit geht auf Grund dessen der Frage nach, ob die Pflegefamilie eine ‚sichere Basis‘ für das vernachlässigte oder misshandelte Kind darstellt und unter welchen Bedingungen dies geschehen müsse. Besondere Berücksichtigung in der Ausarbeitung finden bindungstheoretische Aspekte nach John Bowlby.

Vor diesem Hintergrund wird anfänglich Bezug auf die unterschiedlichen Begrifflichkeiten genommen, welche in Hinblick auf eine Kindeswohlgefährdung von Bedeutung sind. Innerhalb des zweiten Kapitels wird außerdem der Stand der Kinderschutz-Debatte in Deutschland erläutert, mit Bezug darauf, dass Grundlage jeglicher Überlegungen das Kindeswohl ist. Um diesem Terminus Rechnung zu tragen werden die Grundbedürfnisse von Kindern expliziert, da diese zur Sicherung des Kindeswohls ausreichend und angemessen befriedigt werden sollten. Kommt es allerdings nur zu einer unzureichenden Erfüllung der sog. „basic needs“, kann es zu einer Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 BGB kommen. Durch die präzise Darstellung der Formen von Kindeswohlgefährdung – Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch – soll anschließend die Dynamik, ergo die Entstehungsbedingungen sowie die Folgen verdeutlicht werden. Abschließend geht dieses Kapitel auf den Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII ein, welcher den Kinderschutz weiter verschärfen soll.

Im Folgenden werden die Grundlagen der Pflegekinderhilfe näher erläutert, um eine theoretische Basis zu schaffen (Kapitel 3). Neben einigen statistischen Daten zum Pflegekinderwesen wird vor allem auf die strukturellen Aspekte eingegangen. Besonders zu erwähnen sind hierbei die verschiedenen Zuständigkeiten für die unterschiedlichen Akteure innerhalb des Prozesses der Inpflegenahme. Eine besondere Form der Hilfen außerhalb des Elternhauses bildet die Vollzeitpflege. Da diese Grundlage der folgenden Ausführungen ist, wird insbesondere auf die Pflegefamilie als Ersatzfamilie eingegangen und den zugrundeliegenden Prozess vom Beginn des Pflegeverhältnisses bis hin zu dessen Beendigung. Wie bereits erläutert, sind mehrere Akteure Teil dieses Prozesses. Während diese einerseits gesondert dargestellt werden, wird andererseits das sog. jugendhilferechtliche Dreiecksverhältnis von Jugendamt, Pflegesorgeberechtigten und Pflegeeltern beschrieben. Besondere Berücksichtigung findet in diesen Ausführungen die Forderung nach einer erhöhten Partizipation aller Beteiligten – vor, während und nach dem Prozess der Inpflegenahme.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, herauszufiltern, inwieweit die Pflegefamilie eine ‚sichere Basis‘ für das vernachlässigte oder misshandelte Kind darstellt. Besondere Berücksichtigung innerhalb dessen findet die Bindungstheorie nach John Bowlby. In Kapitel 4 sollen diese bindungstheoretischen Grundlagen näher gebracht werden, mit der Absicht, den Blick für traumatisierte Kinder innerhalb von Pflegefamilien weiter zu schärfen. Zu Beginn werden diesbezüglich die Annahmen der Bindungstheorie erläutert, die allgemeine Bindungsentwicklung, das Konzept der Feinfühligkeit sowie die unterschiedlichen Bindungsqualitäten von Kindern. In der Arbeit mit Pflegekindern ist insbesondere das Konzept der Feinfühligkeit von Bedeutung, da Kinder Bindungen speziell dann ausbilden, wenn deren Bedürfnisse in feinfühliger, angemessener und verantwortlicher Weise berücksichtigt werden. Um den Bogen zur vorliegenden Thematik zu spannen, wird anschließend einerseits die Bindungsdynamik traumatisierter Kinder und andererseits die Bindungsdynamik von Pflegekindern näher beleuchtet.

Im Nachstehenden sollen die erarbeiteten Grundlagen und Ansatzpunkte verknüpft werden (Kapitel 5). Anfänglich wird insbesondere der Umgang mit traumatisierten Kindern in Pflegefamilien thematisiert, da dieser durch vielzählige Herausforderungen gekennzeichnet ist. Nienstedt und Westermann haben für die Integration von Kindern in Ersatzfamilien ein Konzept entworfen, welches im Folgenden Gegenstand der Ausführungen ist. Diese Idee der Sozialisation eines Pflegekindes gilt innerhalb der vorliegenden Arbeit als grundlegend, da besonders die möglichen Schwierigkeiten aufgezeigt werden, die bei vernachlässigten oder misshandelten Kindern auftreten können. Innerhalb dessen wird auch darauf eingegangen, warum es zum Scheitern von Pflegeverhältnissen kommen kann und wie vor allem Pflegeeltern einem Abbruch entgegen wirken können. Neben der Integration eines Kindes in die Pflegefamilie ist es auch von Bedeutung, dem Kind bestimmte Schutzfaktoren für seine Entwicklung zu vermitteln, damit es im Sinne des Resilienzkonzepts widerstandsfähiger wird. Für die Pflegefamilie sind in diesem Zusammenhang speziell schützende, also resilienzfördernde Faktoren von Bedeutung. Ein traumatisiertes Kind benötigt bedingungslos viel Zuwendung und Aufmerksamkeit. Dabei stellt sich auch die Frage der Qualifizierung der Pflegefamilie bzw. der Pflegeeltern. Ein weiterer Punkt, welcher zu einer besseren Integration des Kindes in die Ersatzfamilie sowie zu einer Erleichterung im Umgang mit dem traumatisierten Kind beitragen kann, sind die unterschiedlichen Unterstützungsmaßnahmen, welche den Pflegeeltern zur Verfügung stehen.

Abschließend wird die Frage „Die Pflegefamilie – Eine sichere Basis?“ im Hinblick auf die vorliegende Thematik beantwortet und mögliche Perspektiven für die Weiterentwicklung des Feldes der Pflegekinderhilfe aufgezeigt.

Zu beachten ist dabei, dass allgemeine Aussagen nie alle Facetten eines Einzelfalls erfassen können. Daher ist es notwendig, die Individualität der Kinder, Herkunftseltern sowie Pflegeeltern im Hinterkopf zu behalten.

Schließlich soll folgendes Zitat von John Bowlby, dem Begründer der Bindungstheorie, die Notwendigkeit der Auseinandersetzung von Kindeswohlgefährdungen im Hinblick auf die Unterbringung in Pflegefamilien sowie die bindungstheoretische Betrachtung, in die vorliegende Masterarbeit einleiten:

„Gipfelstürmer brauchen ein Basislager.“

2 Kinderschutz bei Kindeswohlgefährdung

Um sich näher mit den Themen der Bindungsfähigkeit von misshandelten oder vernachlässigten Kindern in Vollzeitpflegeverhältnissen beschäftigen zu können, ist es substanziell notwendig, sowohl die Grundlagen der Kinderschutzgesetze als auch der Formen, Ursachen und Folgen von Kindeswohlgefährdungen zu kennen. Einige statistische Werte wurden bereits erwähnt. Demzufolge liegt die häufigste Gefährdung des Kindeswohls in der Form der Vernachlässigung und jedes vierte Kind (25%), für welches ein Verfahren durchgeführt wurde, hatte das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet (vgl. Statistisches Bundesamt 2013a). Besonders hier lässt sich der Bezugspunkt des Kinderschutzes deutlich erkennen. Im Folgenden soll dies näher verdeutlicht werden.

2.1 Kinderschutz

„Kinder haben ein Recht auf Schutz vor Misshandlung und Vernachlässigung. Wir alle sind gefordert, uns dafür einzusetzen, dass Kinder geschützt werden und das Recht auch umgesetzt wird.“ (Von der Leyen 2006, S.1)

Mit dieser Aussage macht die ehemalige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung in Bezug auf Kindeswohlgefährdung aufmerksam. Zudem wird in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG klar definiert, dass „Pflege und Erziehung der Kinder […] das natürliche Recht der Eltern [sind] und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ darstellen. Das bedeutet, dass die Eltern das Recht sowie die Pflicht besitzen, an erster Stelle für ihr Kind zu sorgen. Damit wird den Eltern die grundsätzliche Elternverantwortung eingeräumt (vgl. Alle 2012, S.15). Das Grundgesetz geht somit davon aus, dass dieses Eltern-Kind-Verhältnis in der Regel zum Wohl des Kindes beiträgt. Gleichzeitig ist man sich allerdings auch bewusst, dass nicht alle Eltern dieser Pflicht ausreichend nachkommen können oder wollen. Auf Grund dessen wurde Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG durch: „Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“ ergänzt. Kinder sind, wie Erwachsene, Träger von Grundrechten, können diese allerdings aus unterschiedlichen Gründen, etwa aus Alters- und Entwicklungsgründen, aber auch auf Grund der spezifischen Dynamik der Eltern-Kind-Beziehung, kaum selbst einfordern und durchsetzen (vgl. Urban 2004, S.31). Sie haben daher Anrecht auf Schutz nach Art. 6 Abs. 2 GG, formuliert als staatliches Wächteramt. „Die staatliche Gemeinschaft wacht über die Ausübung des Elternrechts und ist zu Eingriffen befugt, wenn Eltern ihrer Verantwortung für das Kindeswohl nicht gerecht werden“ (ebd.).

Auch das Achte Sozialgesetzbuch [SGB VIII] – Kinder- und Jugendhilfe – nimmt die Forderung sowie das Dreieck Kindeswohl-Elternrecht-Wächteramt des Grundgesetzes in § 1 und § 2 auf und stellt damit das Recht des Kindes auf „Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 Abs.1 SBG VIII) in diesen Zusammenhang. Mit „staatlicher Gemeinschaft“ ist der Staat mit seinen Institutionen gemeint (vgl. Wiesner 2002, S.593). Besondere Bedeutung kommen hier dem Familiengericht (§ 1666(a) BGB)[5], dem Jugendamt und den ihm nach dem SGB VIII[6] obliegenden Aufgaben zu.

Abbildung 1: Die "staatlichen Wächter" (vgl. Meysen 2012, S.20)

Am 1. Januar 2012 ist das neue Bundeskinderschutzgesetz [BKiSchG] in Kraft getreten. „Ziel ist das frühzeitige Erkennen von Risiken und Belastungen in Familien mit jungen Kindern, die Verstärkung der Schnittstellen Kinder- und Jugendhilfe mit der Gesundheitshilfe als auch die Vernetzung von Angeboten im Rahmen der Primär- und Sekundärprävention zum Kinderschutz“ (Alle 2012, S.19). Vor allen Dingen erhofft man sich durch die neuen sowie erweiterten Regelungen, den Kinderschutz in Deutschland dauerhaft qualifizieren zu können (vgl. Kreft/Weigel 2012, S.11).

Die Eckpfeiler des Bundeskinderschutzgesetzes sind (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012a, S.2):

Aktiver Kinderschutz durch Frühe Hilfen und verlässliche Netzwerke

Aktiver Kinderschutz durch mehr Handlungs- und Rechtssicherheit

Aktiver Kinderschutz durch verbindliche Standards

Aktiver Kinderschutz durch belastbare statistische Daten

Den vorangegangenen Ausführungen folgend, ist das Kindeswohl Ausgangspunkt jeglicher kinderschutzorientierten Betrachtung. Demzufolge wird dieser Terminus nachfolgend präzisiert.

2.2 Kindeswohl

Der Begriff des Kindeswohls kann nicht eindeutig definiert werden und erfordert auf Grund dessen stets eine Konkretisierung am Einzelfall. Dettenborn kritisiert in diesem Zusammenhang, dass „nirgends im rechtlichen Regelwerk gesagt [wird], was unter Kindeswohl zu verstehen ist“, obgleich der Terminus als „Orientierungs- und Entscheidungsmaßstab familiengerichtlichen bzw. kindschaftsrechtlichen Handelns genutzt wird“ (Dettenborn 2007, S.47ff). Die besondere Schwierigkeit, den Begriff zu präzisieren, lässt sich in den unterschiedlichen Herangehensweisen sowie Dimensionen finden (vgl. Froning 2010, S.54).

Eine Möglichkeit ist, die Grundrechte des Kindes oder des Jugendlichen als zentrale Bezugspunkte für eine Definition des Kindeswohls heranzuziehen (vgl. Schmid/ Meysen 2006, S.2-2). Die Verfassungsordnung besagt:

Das Kind/ der Jugendliche ist eine Person

mit eigener Menschenwürde (Art.1 Abs.1 Satz 1 GG),

mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art.2 Abs.2 Satz 1 GG),

mit dem Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art.2 Abs.1 i.V.m. Art.1 Abs.1 GG),

die den Schutz ihres Eigentums und Vermögens genießt (Art.14 Abs.1 GG).

Das aus den Grundrechten abzuleitende Kindeswohl umfasst einerseits den Ist-Zustand des Kindes, andererseits allerdings auch den Prozess der Entwicklung zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit und beinhaltet somit zwei grundlegende Aspekte: Förderung und Schutz (vgl. Schmid/ Meysen 2006, S.2-2.). Wie bereits erwähnt, wird die primäre Verantwortung diesbezüglich den Eltern zugewiesen, da die „Pflege und Erziehung der Kinder […] das natürliche Recht der Eltern [sind] und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ (Art.6 Abs.2 Satz 1 GG)[7]. Dahingehend besagt die gängige Rechtsauffassung, dass letztendlich die Eltern das Kindeswohl ihrer Kinder definieren und somit auch die Entscheidung über die Art und Weise, wie sie diese Verantwortung wahrnehmen wollen, fällen.