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Die Powder-Mage-Trilogie bietet epische Fantasy in einer von den Umbrüchen Europas im 19. Jahrhundert inspirierten Welt. Schwerter wurden durch Musketen und Pistolen ersetzt, Leibeigene sind in Gewerkschaften organisiert und die alten Regeln der Magie werden durch Pulvermagier herausgefordert: eine Zunft von Scharfschützen, die durch das Schnupfen von Schwarzpulver außerordentliche Fähigkeiten erhält. Eine Mischung aus Brandon Sanderson mit einem Hauch Naomi Novik. Die fantastische Romansaga wird derzeit als TV-Serie umgesetzt.
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Seitenzahl: 905
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Ins Deutsche übersetzt vonStephanie Pannen
Die deutsche Ausgabe von DIE POWDER-MAGE-CHRONIKEN 1: BLUTSCHWUR wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,
Übersetzung: Stephanie Pannen; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Jana Karsch; Korrektorat: André Piotrowski; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Cover-Illustration: Gene Mollica und Michael Frost; Printausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice. Printed in the Czech Republic.
Titel der Originalausgabe: THE POWDER MAGE TRILOGY, BOOK 1: PROMISE OF BLOOD
Copyright © 2013 by Brian McClellan
Cover © 2014 Hachette Book Group, Inc
German translation copyright © 2018, by Amigo Grafik GbR.
Print ISBN 978-3-95981-668-7 (September 2018)
E-Book ISBN 978-3-95981-669-4 (September 2018)
WWW.CROSS-CULT.DE
Für Dad,dafür dass du nie daran gezweifelt hast,dass ich es so weit schaffen würde.Selbst wenn solche Zweifeldurchaus berechtigt gewesen wären.
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
EPILOG
DANKSAGUNGEN
Adamat trug seinen Mantel dicht am Körper und bis zum Kragen zugeknöpft, um die feuchte Nachtluft abzuhalten, die nebelschwer auf ihn eindrang und ihn zu ertränken versuchen schien. Er zog an seinen Ärmeln, um ihnen ein wenig mehr Länge zu entlocken, und zupfte an der Vorderseite des Mantels, der ihm an der Taille viel zu eng war. Ein halbes Jahrzehnt war vergangen, seit er diesen Mantel das letzte Mal getragen hatte, doch als der König ihn zu dieser späten Stunde zu sich hatte rufen lassen, war ihm keine Zeit mehr geblieben, seinen guten vom Schneider zu holen. Unglücklicherweise bot dieser Sommermantel keinerlei Schutz gegen die Kälte, die durch das Kutschenfenster hereinkroch.
Es war nicht mehr lange hin bis zum Morgen, doch dem Sonnenaufgang würde es schwerfallen, den Kampf gegen den zähen Nebel zu gewinnen. Adamat konnte es spüren. In Adopest hatte der Frühling gerade erst begonnen, doch selbst für diese Jahreszeit war es feuchter als erwartet und kälter als Novis eisige Ausläufer. Die Wahrsager in Noman’s Alley hielten das für ein schlechtes Omen. Doch wer hörte heutzutage noch auf Wahrsager? Adamat vermutete, dass das grässliche Wetter ihm höchstens eine Erkältung bescheren würde, und er fragte sich, warum man ihn in einer solch ungemütlichen Nacht herbeizitiert hatte.
Die Kutsche näherte sich dem Eingangstor von Skyline und fuhr hindurch, ohne anzuhalten. Adamat krallte die Finger in seine Hosenbeine und spähte aus dem Fenster. Die Wachen standen nicht an ihren Posten. Und was noch seltsamer war: Der breite, von Springbrunnen gesäumte Pfad, dem sie folgten, war unbeleuchtet. Skyline verfügte über so viele Laternen, dass es selbst in der nebligsten Nacht von der Stadt aus gesehen werden konnte. Doch heute Nacht lagen die Gärten im Dunkeln.
Dagegen hatte Adamat nichts einzuwenden. Manhouch hatte schon genug Steuergelder für sein persönliches Vergnügen verschwendet. Adamat starrte in Richtung der Gärten, wo sich ab und an Lücken in der düsteren Hecke auftaten. Es waren Eingänge zu den Heckenlabyrinthen, die sich wie Mäuler voll gähnender Schwärze im Dunkeln abzeichneten. Adamat meinte, Gestalten zu erkennen, die dahinter über den Rasen huschten. Was war … ah, nur eine Skulptur. Adamat lehnte sich zurück und atmete tief durch. Sein Herz klopfte wie wild und sein Magen hatte sich beinahe schmerzhaft zusammengezogen. Vielleicht hätte man die Gartenlaternen doch lieber anzünden sollen …
Ein kleiner Teil von ihm, der Teil, der einst Polizeiinspektor gewesen war und in genau solchen Nächten in dunklen Gassen Gauner und Taschendiebe gejagt hatte, lachte innerlich. Beruhige dich, alter Mann, sagte er zu sich selbst. Früher warst du es, der aus der Dunkelheit zurückstarrte.
Mit einem Ruck kam die Kutsche zum Stehen. Adamat wartete darauf, dass der Kutscher die Tür öffnete, doch da hätte er sicher die ganze Nacht lang warten können. Der Kutscher donnerte mit der Faust aufs Dach. »Wir sind da«, verkündete eine unwirsche Stimme.
Wie unhöflich.
Adamat stieg aus der Kutsche und hatte gerade noch Zeit, seinen Hut und Gehstock an sich zu reißen, bevor der Kutscher die Zügel schnalzen ließ und klappernd in der Nacht verschwand. Adamat fluchte dem Mann leise hinterher, sah sich um und hob dann den Blick zu Skyline.
Der Adel nannte den Skyline-Palast »das Juwel von Adro«. Er lag auf einem Hügel östlich von Adopest, sodass die Sonne jeden Morgen direkt über seinen Dächern aufging. Eine besonders kühne Zeitung hatte den Prachtbau mit einem Diamantring am Finger eines hungernden Bettlers verglichen. In diesen mageren Zeiten war das ein angemessener Vergleich. Der Stolz eines Königs vermochte es nicht, die Bäuche seiner Untertanten zu füllen.
Er befand sich am Haupteingang. Bei Tage war dies eine breite Allee, geschmückt mit diversen Springbrunnen und durchzogen von Wegen aus Marmorplatten, die alle zu einer gigantischen versilberten Doppeltür führten. Das enorme Eingangsportal selbst erschien angesichts der imposanten Fassade des größten Gebäudes in Adro beinahe winzig. Adamat lauschte nach den leisen Schritten von Hielmännern, die hier üblicherweise patrouillierten. Es hieß, dass die Leibgarde des Königs überall in diesen Gärten unterwegs war und mit ihren grau-weißen Schärpen, den stets geladenen Musketen und angriffsbereiten Bajonetten jeden noch so abgelegenen Winkel überwachte. Doch es waren keine Schritte zu hören und die Springbrunnen führten kein Wasser. Er hatte einmal gehört, dass die Springbrunnen nur dann ihr munteres Plätschern einstellten, wenn den König der Tod ereilt hatte. Aber wenn Manhouch gestorben wäre, hätte man ihn wohl sicher nicht herbeordert. Er strich die Vorderseite seines Mantels glatt. Hier neben dem Gebäude brannten einige Laternen.
Aus der Dunkelheit tauchte eine Gestalt auf. Adamat verstärkte den Griff um den Knauf seines Gehstocks und machte sich bereit, den darin versteckten Degen zu ziehen.
Es war ein Mann in Uniform, doch im schwachen Licht war es unmöglich, Einzelheiten auszumachen. Er trug eine Feldmütze mit steifem Schirm und hielt ein Gewehr oder eine Muskete in der Hand, wobei der Lauf der Waffe in Adamats Richtung zeigte. Nur eines war sicher … dies war kein Hielmann. Ihre großen, federbewehrten Hüte waren leicht zu erkennen und sie waren niemals ohne ihre extravagante Kopfbedeckung anzutreffen.
»Sind Sie allein?«, fragte eine Stimme.
»Ja«, sagte Adamat. Er hob beide Hände und drehte sich um.
»In Ordnung. Kommen Sie mit.«
Der Soldat ging vorwärts und zerrte an einer der großen silbernen Türen. Sie öffnete sich nur langsam und äußerst schwerfällig, obwohl der Mann sich mit aller Kraft ins Zeug legte. Adamat kam näher und betrachtete die Uniformjacke des Soldaten. Sie war von dunkelblauer Farbe und mit silbernen Litzen besetzt. Eindeutig ein Angehöriger des adronischen Militärs. Theoretisch unterstand das Militär dem König. Doch in Wahrheit gehorchte es nur einem einzigen Mann: Feldmarschall Tamas.
»Treten Sie zurück, Freund«, sagte der Soldat. Es lag eine Spur von Ungeduld in seiner Stimme, ein Hauch von Anspannung – aber das konnte auch am Gewicht der Tür liegen. Adamat tat, wie ihm gesagt worden war, und bewegte sich erst wieder vorwärts, um sich durch die schmale Öffnung zu quetschen, als der Soldat ihn mit einer Geste zum Eintreten aufforderte.
»Gehen Sie geradeaus«, wies ihn der Soldat an. »Am Diadem biegen Sie rechts ab und durchqueren die Halle der Diamanten. Dann weiter, bis Sie den Saal der Antwort erreichen.« Die Tür wurde hinter ihm zugeschoben und schloss sich mit einem dumpfen Laut.
Nun war Adamat allein in der Vorhalle des Palasts. Das adronische Militär, überlegte er. Warum sollte sich ein Soldat auf dem königlichen Anwesen aufhalten, und das auch noch, wo von der königlichen Leibgarde jede Spur fehlte? Die erschreckendste Antwort kam ihm zuerst in den Sinn: ein Machtkampf. War das Militär in den Palast gerufen worden, um eine Rebellion niederzuschlagen? Innerhalb von Adro gab es eine ganze Reihe mächtiger Fraktionen: die Söldner, die sich die Flügel von Adom nannten, der königliche Kabal, die Bergwacht und die großen Adelsfamilien. Jede dieser Gruppen könnte Manhouch Ärger machen. Allerdings ergab nichts davon Sinn. Wenn es einen Machtkampf gegeben hatte, hätte das gesamte Anwesen ohne Zweifel einem Schlachtfeld geglichen oder wäre vom königlichen Kabal vollkommen zerstört worden.
Adamat kam am Diadem vorbei – einer riesigen Nachbildung der adronischen Krone – und stellte fest, dass das Kunstwerk genauso geschmacklos wirkte, wie die Gerüchte besagten. Er betrat die Halle der Diamanten, wo die Wände und der Boden in einem tiefen Scharlachrot gehalten und mit Blattgoldakzenten verziert waren. An der Decke glitzerten Tausende winziger Edelsteine, die dem Raum seinen Namen gaben, im Schein eines einzelnen Kerzenleuchters. Die winzigen Flammen der Kerzen flackerten, als würde ein unsteter Lufthauch ihnen zu schaffen machen, und der Raum war kalt.
Adamats Unbehagen wuchs, als er sich dem anderen Ende der Wandelhalle näherte. Hier gab es keine Spur von Leben und das einzige Geräusch waren seine eigenen hallenden Schritte auf dem Marmorboden. Er entdeckte ein zerbrochenes Fenster, das die Kälte im Raum erklärte. Das Ergebnis eines der berühmt-berüchtigten Wutanfälle des Königs? Oder etwas anderes? Sein eigener Herzschlag pulsierte laut in seinen Ohren. Dort, hinter einem Vorhang. War das ein Paar Stiefel? Adamat hob eine Hand und fuhr sich damit über die Augen. Sicher war es nichts weiter als eine optische Täuschung, ein Spiel des Lichts. Er ging zum Vorhang, um sich davon zu überzeugen, und zog den schweren Stoff beiseite.
In den Schatten lag ein lebloser Körper. Adamat beugte sich darüber und berührte die Haut. Sie war noch warm, doch der Mann war mit absoluter Sicherheit tot. Er trug eine graue Hose mit einem weißen Streifen an der Seite und eine dazu passende Jacke. Ein paar Schritte entfernt lag ein großer Hut mit einer weißen Feder. Ein Hielmann. Unter dem Spiel der Schatten offenbarte sich ein junges, glatt rasiertes Gesicht, das einen friedlichen Ausdruck trug. Gebrochen wurde dieser Eindruck allein durch das Loch an seiner Schläfe und den nassen dunklen Fleck auf dem Boden.
Er hatte recht gehabt. Irgendein Konflikt war ausgebrochen. Hatten die Hielmänner rebelliert und man hatte das Militär hinzugezogen, um sich um die Aufrührer zu kümmern? Das ergab allerdings keinen Sinn. Die Hielmänner dienten dem König mit fanatischer Ergebenheit, und wenn es innerhalb des Skyline-Palasts ein Problem gegeben hätte, hätte sich der königliche Kabal dessen ohne Umschweife angenommen.
Adamat fluchte leise. Jede Frage, die er sich stellte, brachte eine ganze Schar weiterer mit sich. Er vermutete allerdings, dass er schon bald Antworten finden würde.
Adamat ließ den Toten hinter dem Vorhang liegen. Er hob seinen Gehstock und drehte am Knauf, bis ein paar Zentimeter nackten Stahls zum Vorschein kamen. Dann trat er auf einen hohen Durchgang zu, der von zwei Skulpturen flankiert wurde. Beide trugen Umhänge mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen, die ihr Gesicht verhüllten, und schwere Zepter in den Händen. Er blieb zwischen den antiken Statuen stehen und atmete tief ein. Dabei ließ er seinen Blick über die arkanen Schriftzeichen schweifen, die über den Eingang gekritzelt worden waren. Schließlich trat er ein.
Der Saal der Antwort ließ die Halle der Diamanten geradezu winzig wirken. Rechts und links von ihm erstreckte sich je eine Treppe, so breit wie drei Kutschen nebeneinander. Sie führten zu einer Galerie, die sich zu beiden Seiten des Raums hoch oben an der Wand entlangzog. Abgesehen vom König und seinem Kabal privilegierter Magier war es nur wenigen gestattet, diesen Raum zu betreten.
Im Zentrum stand ein einziger Stuhl auf einem Podium, das kaum mehr als eine Handbreit vom Boden aufragte. Davor befand sich eine Reihe von Kissen, die dazu dienten, die Knie der Kabalisten zu polstern, wenn sie ihrem Herrscher Respekt zollten. Der Raum war hell erleuchtet, obwohl keine direkte Lichtquelle auszumachen war.
Auf den Stufen der Treppe zu seiner Rechten saß ein Mann. Er war älter als Adamat, Anfang sechzig, mit silbernem Haar und einem ordentlich geschnittenen Schnurrbart, der sich eine Spur von Schwarz bewahrt hatte. Sein Kinn war markant, aber nicht besonders groß und seine Wangenknochen waren deutlich ausgeprägt. Die Haut war sonnengebräunt, tiefe Falten umrahmten Mund und Augen. Er trug eine dunkelblaue Soldatenuniform mit einem silbernen Abzeichen über dem Herzen, das ein Schwarzpulverfass darstellte, und neun goldenen Dienststreifen auf der rechten Brust. Jeder davon stand für fünf Jahre im Dienst des adronischen Militärs. Seiner Uniform fehlten die Schulterklappen eines Offiziers, doch der erschöpfte Ausdruck in den braunen Augen des Mannes ließ keinen Zweifel daran, dass er Armeen auf dem Schlachtfeld ins Gefecht geführt hatte. Auf der Stufe neben ihm lag eine Pistole, der Hahn gespannt. Er stützte sich auf ein kurzes Schwert und beobachtete, wie ein stetes Rinnsal von Blut die Stufen herabtröpfelte und dabei eine dunkle Linie über den gelblich weißen Marmor zog.
»Feldmarschall Tamas«, sagte Adamat. Er steckte seinen Stockdegen zurück in den Schaft und drehte ihn, bis er mit einem dumpfen Klicken einrastete.
Der Mann sah auf. »Ich glaube nicht, dass wir uns schon mal begegnet sind.«
»Doch, das sind wir«, sagte Adamat. »Vor vierzehn Jahren. Auf einem Wohltätigkeitsball von Lord Aumen.«
»Ich habe ein schreckliches Gedächtnis, was Gesichter angeht«, erklärte der Feldmarschall. »Bitte entschuldigen Sie.«
Adamat konnte den Blick nicht von dem Rinnsal Blut lösen. »Sir, ich wurde hier herbeordert. Mir wurde nicht gesagt, von wem oder aus welchem Grund.«
»Ja«, sagte Tamas. »Ich habe Sie rufen lassen. Auf die Empfehlung eines meiner Gezeichneten hin. Cenka. Er sagte, Sie hätten gemeinsam bei der Polizei im zwölften Distrikt gedient.«
Adamat rief sich das Aussehen von Cenka in Erinnerung. Ein kleiner Mann mit buschigem Bart und einer Schwäche für Wein und gutes Essen. Das letzte Mal hatte er ihn vor sieben Jahren gesehen. »Ich wusste nicht, dass er ein Pulvermagier ist.«
»Wir versuchen immer, die Leute mit dem entsprechenden Talent dafür so schnell wie möglich zu finden«, sagte Tamas, »doch Cenka war ein Spätentwickler. Wie dem auch sei …« Er machte eine vage Handbewegung. »Wir sind auf ein Problem gestoßen.«
Adamat blinzelte. »Sie … brauchen meine Hilfe?«
Der Feldmarschall zog eine Augenbraue hoch. »Ist das eine so ungewöhnliche Bitte? Sie waren ein ausgezeichneter Polizeiermittler, ein guter Diener Adros, und Cenka sagte mir, dass Sie über ein perfektes Gedächtnis verfügen würden.«
»Noch immer, Sir.«
»Was?«
»Ich bin noch immer ein Ermittler. Nicht bei der Polizei, aber ich nehme nach wie vor Aufträge an.«
»Ausgezeichnet. Dann ist es also nicht allzu absonderlich, wenn ich Sie um Ihre Dienste bitte?«
»Nun, nein«, erwiderte Adamat. »Aber, Sir, dies ist der Skyline-Palast. In der Halle der Diamanten liegt ein toter Hielmann und …« Er deutete auf das Rinnsal von Blut auf den Stufen. »Wo ist der König?«
Tamas legte den Kopf zur Seite. »Er hat sich in der Kapelle eingeschlossen.«
»Sie haben einen Putsch durchgeführt«, sagte Adamat. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr und entdeckte einen Soldaten, der am oberen Treppenabsatz erschien. Der Mann war ein Deliv, ein dunkelhäutiger Nordländer. Er trug die gleiche Uniform wie Tamas, mit acht goldenen Streifen auf der rechten Brust. Auf der linken Seite prangte ein silbernes Pulverfass, das Erkennungszeichen der Gezeichneten. Ein weiterer Pulvermagier.
»Es gibt noch eine ganze Menge Leichen, die wir wegschaffen müssen«, sagte der Deliv.
Tamas warf seinem Untergebenen einen flüchtigen Blick zu. »Ich weiß, Sabon.«
»Wer ist das?«, fragte Sabon.
»Der Inspektor, den Cenka angefordert hat.«
»Es gefällt mir nicht, dass er hier ist«, sagte Sabon. »Seine Anwesenheit könnte alles in Gefahr bringen.«
»Cenka hat ihm vertraut.«
»Sie haben einen Putsch durchgeführt«, wiederholte Adamat mit Gewissheit in der Stimme.
»Ich komme gleich, um mit den Leichen zu helfen«, sagte Tamas. »Ich bin alt, ich brauche ab und zu einen Augenblick Ruhe.« Der Deliv nickte kurz und verschwand.
»Sir!«, sagte Adamat. »Was haben Sie getan?« Er verstärkte seinen Griff um den Stockdegen.
Tamas schürzte die Lippen. »Manche sagen, dass Adro mit seinen königlichen Kabalisten unter den Neun Nationen nur von Kez übertroffen wird, was die Anzahl mächtiger Privilegierter Magier betrifft«, sagte er leise. »Und doch habe ich gerade jeden einzelnen von ihnen abgeschlachtet. Glauben Sie ernsthaft, ein alter Inspektor und sein Stockdegen würden mir da Schwierigkeiten bereiten?«
Adamat löste seinen Griff. Ihm war übel. »Wohl kaum.«
»Cenka hat mir den Eindruck vermittelt, Sie seien pragmatisch. Wenn das zutrifft, würde ich gern Ihre Dienste in Anspruch nehmen. Wenn nicht, werde ich Sie auf der Stelle töten und nach einer anderen Lösung suchen.«
»Sie haben einen Putsch durchgeführt«, wiederholte Adamat erneut.
Tamas seufzte. »Müssen wir immer wieder darauf zurückkommen? Ist das so schockierend? Sagen Sie mir eines: Wenn Sie all die Fraktionen innerhalb Adros aufzählen, die einen Grund haben, den König zu stürzen, würden Sie es schaffen, auf eine Zahl unter einem Dutzend zu kommen?«
»Ich hätte nicht gedacht, dass auch nur eine davon das nötige Können besitzt«, erwiderte Adamat. »Oder die Kühnheit.« Sein Blick fiel wieder auf das Blut auf den Stufen, bevor seine Gedanken zu seiner Frau und seinen Kindern wanderten, die zu Hause in ihren Betten schliefen. Er betrachtete den Feldmarschall. Seine Haare waren wirr, auf seiner Jacke war Blut – sogar eine ganze Menge, wie Adamat feststellte, als er genauer hinsah. Es wirkte beinahe, als wäre Tamas in einen blutigen Regenschauer geraten. Unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab und aus seinem Gesicht sprach eine Erschöpfung, die mit seinem Alter allein nicht zu erklären war.
»Ich werde nicht blindlings irgendeinen Auftrag annehmen«, sagte Adamat. »Sagen Sie mir, was Sie wollen.«
»Wir haben sie im Schlaf getötet«, erklärte Tamas ohne Umschweife. »Es gibt keinen leichten Weg, um einen Privilegierten zu töten, aber dies war der beste. Doch jemand beging einen Fehler und es kam zum Kampf.« Einen Moment lang wirkte Tamas gequält und Adamat vermutete, dass dieser Kampf nicht so gut verlaufen war, wie der Feldmarschall sich gewünscht hätte. »Wir haben gesiegt. Doch auf den Lippen aller Sterbenden lagen die gleichen Worte.«
Adamat wartete.
»›Du kannst Kresimirs Versprechen nicht brechen‹«, sagte Tamas. »Das haben die sterbenden Magier zu mir gesagt. Sagt Ihnen das etwas?«
Adamat strich nachdenklich über die Vorderseite seines Mantels und durchforstete sein Gedächtnis. »Nein. ›Kresimirs Versprechen‹ … ›Brechen‹ … ›Gebrochen‹ … Einen Moment – ›Kresimirs gebrochenes Versprechen.‹« Er sah auf. »Das war der Name einer Straßenbande. Vor zwanzig … zweiundzwanzig Jahren. Cenka konnte sich nicht daran erinnern?«
»Es kam ihm bekannt vor«, meinte Tamas. »Er war davon überzeugt, dass Sie sich erinnern würden.«
»Ich vergesse nie etwas«, sagte Adamat. »Kresimirs gebrochenes Versprechen war eine Straßenbande mit dreiundvierzig Mitgliedern. Sie alle waren jung, manche von ihnen kaum mehr als Kinder, und der Älteste war noch keine zwanzig. Wir versuchten, ein paar der Anführer zu erwischen, um eine Diebstahlserie zu beenden. Das war ein seltsamer Haufen – sie brachen in Kirchen ein und raubten Priester aus.«
»Was wurde aus ihnen?«
Adamat konnte nicht anders, als wieder das Blut auf der Treppe anzustarren. »Eines Tages verschwanden sie, jeder Einzelne von ihnen – einschließlich unserer Informanten. Ein paar Tage später fanden wir sie wieder, dreiundvierzig Leichen, die jemand in einen Abflusskanal gestopft hatte wie eingelegte Schweinsfüße. Sie waren durch einen mächtigen Zauber getötet worden, und zwar mit zügelloser Brutalität. Das Erkennungsmerkmal des königlichen Kabals. Dort endete die Ermittlung.« Adamat unterdrückte einen Schauder. So etwas war ihm bis zu jenem Tag noch nie unter die Augen gekommen und seither auch nicht mehr begegnet. Er war bei Hinrichtungen zugegen gewesen, hatte Aufstände miterlebt und Tatorte grausamer Morde besucht, doch nichts hatte ihn mit mehr Entsetzen erfüllt als die damalige Gewalttat.
Am oberen Ende der Treppe erschien erneut der Deliv-Soldat. »Wir brauchen Sie«, sagte er zu Tamas.
»Finden Sie heraus, warum diese Magier mit ihrem letzten Atemzug genau diese Worte geäußert haben«, forderte Tamas. »Vielleicht gibt es eine Verbindung zu Ihrer Straßenbande. Vielleicht auch nicht. So oder so, finden Sie eine Antwort. Ich mag keine Rätsel der Toten.« Er kam rasch auf die Beine und bewegte sich dabei wie ein Mann, der zwanzig Jahre jünger war. Festen Schrittes eilte er die Stufen hinauf zum Deliv. Dabei trat einer seiner Stiefel in das Blut auf dem Marmor und hinterließ rote Abdrücke auf den Stufen. »Eine Sache noch«, rief er über seine Schulter. »Bewahren Sie Stillschweigen über das, was Sie hier gesehen haben, zumindest so lange, bis die Hinrichtung vorbei ist. Sie wird gegen Mittag beginnen.«
»Aber …«, sagte Adamat, »wo soll ich anfangen? Kann ich mit Cenka sprechen?«
Tamas blieb am oberen Absatz der Treppe stehen und drehte sich um. »Wenn Sie mit den Toten sprechen können, dann nur zu.«
Adamat biss die Zähne zusammen. »Wie genau haben sie die Worte ausgesprochen?«, fragte er. »Klang es wie eine Anweisung, eine Feststellung oder …?«
Tamas runzelte die Stirn. »Ein inständiges Flehen. Ganz so, als sei das Blut, das im letzten Moment ihres Lebens aus ihren Wunden strömte, nicht ihre größte Sorge. Ich muss nun gehen.«
»Eine Sache noch«, sagte Adamat.
Tamas schien beinahe am Ende seiner Geduld angelangt zu sein.
»Wenn ich Ihnen helfen soll, sagen Sie mir, warum das alles?« Er deutete auf das Blut auf den marmornen Stufen.
»Es gibt wichtige Dinge, die meine Aufmerksamkeit erfordern«, warnte Tamas.
Adamat spürte, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten. »Haben Sie es aus Machtgründen getan?«
»Ich habe es für mich getan«, sagte Tamas. »Und für ganz Adro. Damit uns Manhouch durch das Abkommen mit Kez nicht allesamt in die Sklaverei verkauft. Ich habe es getan, weil diese murrenden Philosophiestudenten an der Universität immer nur so tun, als würden sie eine Rebellion beginnen. Das Zeitalter der Könige ist tot, Adamat, und ich bin sein Mörder.«
Adamat studierte Tamas’ Gesicht. Das Abkommen mit dem König von Kez hätte Adro auf einen Streich von all seinen Schulden befreit, im Gegenzug allerdings harte Steuern und Vorschriften mit sich gebracht und Adro damit zu kaum mehr als einem Vasallenstaat von Kez degradiert. Der Feldmarschall hatte sich stets entschieden gegen das Abkommen ausgesprochen. Dies war aber zu erwarten gewesen, da die Kez Tamas’ Ehefrau hingerichtet hatten.
»So ist es«, sagte Adamat.
»Dann beschaffen Sie mir ein paar verfluchte Antworten.« Der Feldmarschall wirbelte herum und verschwand oben im Gang.
Adamat erinnerte sich noch genau an den Anblick der ermordeten Mitglieder der Straßenbande, als sie einer nach dem anderen aus dem stinkenden Morast des Abflusses gezogen worden waren, an den Schrecken in ihren toten Gesichtern. Die Antworten werden mit ziemlicher Sicherheit verflucht sein.
»Lajos liegt im Sterben«, sagte Sabon.
Tamas betrat die Gemächer, die vor Kurzem noch einem Privilegierten namens Zakary der Büttel gehört hatten. Er eilte durch den Salon und kam ins Schlafgemach – einen Raum, der größer war als die meisten Kaufmannshäuser. Die Wände waren Indigoblau und mit bunten Gemälden bedeckt, die verschiedene Büttel aus der Geschichte des königlichen Kabals von Adro zeigten. Türen führten zu weiteren Räumen wie Toilette und Küche. Die Tür zum privaten Bordell des Büttels war herausgerissen worden und lag nun in Form winziger Splitter im ganzen Zimmer verteilt.
Das Bett des Büttels war von allen Laken befreit und seine Leiche achtlos beiseitegeworfen worden, um Platz für einen verwundeten Pulvermagier zu schaffen.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Tamas.
Lajos stieß ein schwaches Husten aus. Gezeichnete waren widerstandsfähiger als andere und dank dem Schwarzpulver, das Lajos zu sich genommen hatte und das jetzt durch sein Blut strömte, spürte er wahrscheinlich kaum noch Schmerzen. Doch dieses Wissen spendete Tamas nur wenig Trost, während er seinen Freund betrachtete. Von Lajos’ rechtem Arm fehlte die Hälfte: Wo vormals Fleisch und Muskeln gewesen waren, zog sich nun eine grausame Wunde von der Schulter bis hinab zu den blutigen Resten seiner Hand. Und in seinem Bauch prangte ein Loch von der Größe einer Melone. Es war ein Wunder, dass er so lange überlebt hatte. Sie hatten ihm ein halbes Horn voll Pulver verabreicht. Das allein hätte ihn umbringen können.
»Ich habe mich schon besser gefühlt«, brachte Lajos mit brüchiger Stimme hervor. Er hustete erneut und ein Rinnsal aus Blut quoll aus seinem Mundwinkel.
Tamas zog sein Taschentuch und tupfte das Blut weg. »Es dauert nicht mehr lange«, sagte er.
»Ich weiß«, erwiderte Lajos.
Tamas drückte die Hand seines Freundes.
Lautlos formten Lajos’ Lippen ein Wort: »Danke.«
Tamas atmete tief ein. Mit einem Mal fiel es ihm schwer, klar zu sehen. Er blinzelte, bis sein Blick sich wieder klärte. Lajos’ rasselnder Atem kam zum Erliegen. Tamas wollte seine Hand wegziehen, als Lajos sie plötzlich fest drückte und die Augen öffnete.
»Schon gut, mein Freund«, wisperte Lajos. »Du hast getan, was getan werden musste. Mach deinen Frieden damit.« Sein Blick richtete sich ins Leere und erstarrte. Er war tot.
Tamas fuhr mit den Fingerspitzen über das Gesicht seines Freundes, um dessen Augen zu schließen, und drehte sich dann zu Sabon um. Der Deliv stand am anderen Ende des Zimmers und musterte die Haremstür, oder was davon übrig war. Tamas gesellte sich zu ihm und warf einen Blick in den Raum dahinter. Die Frauen waren vor einer Stunde von seinen Soldaten fortgebracht worden, in einen anderen Teil des Palasts mit dem Rest der Huren der Privilegierten.
»Der Zorn einer Frau«, murmelte Sabon.
»In der Tat«, sagte Tamas.
»Wir hatten keine Chance, das hier vorauszusehen.«
»Sag ihnen das«, erwiderte Tamas. Er nickte in Richtung der vier Toten am Boden und wies auf den fünften, der sich bald zu ihnen gesellen würde. Fünf Pulvermagier. Fünf Freunde. Und das alles nur wegen einer einzigen Privilegierten, mit der sie nicht gerechnet hatten. Es war geschehen, als Tamas dem Büttel – einem Mann, dem er oft die Hand geschüttelt und mit dem er regelmäßig gesprochen hatte – gerade eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Tamas’ Gezeichnete hatten um ihn herumgestanden, nur für den Fall, dass sich der alte Mann wehrte. Auf die andere Privilegierte, die sich im Harem versteckt gehalten hatte, waren sie nicht vorbereitet gewesen. Sie war durch die Tür gebrochen wie eine Guillotine, die durch eine Melone schnitt. Mit Handschuhen der Privilegierten an den Händen hatte sie ihre Finger tanzen lassen, bis ihre Zauberkraft Tamas’ Pulvermagier allesamt in Stücke gerissen hatte.
Pulvermagiern war es möglich, eine Kugel über eine Meile weit schweben zu lassen und dabei jedes Mal ins Schwarze zu treffen. Mit reiner Gedankenkraft konnten sie diese Kugel um Ecken steuern, außerdem konnten sie Schwarzpulver verzehren, um stärker und schneller zu werden als andere Männer. Aus kurzer Distanz hatten sie der Magie der Privilegierten jedoch nicht viel entgegenzusetzen.
Tamas, Sabon und Lajos waren die Einzigen gewesen, denen genug Zeit zum Reagieren geblieben war, um den Angriff um Haaresbreite abwehren zu können. Die Privilegierte war geflohen und hatte eine Spur magischer Zerstörung hinter sich zurückgelassen – wahrscheinlich nichts weiter als eine Ablenkung, um sie davon abzuhalten, ihr durch den Palast zu folgen. Es war ihr letzter Schuss gewesen, der Lajos tödlich verwundet hatte, doch der Treffer war reiner Zufall gewesen. Genauso gut hätte Sabon oder sogar Tamas selbst das Opfer der Attacke werden können, um dann auf dem Bett in diesen Gemächern sein Leben auszuhauchen. Der Gedanke jagte Tamas einen eiskalten Schauer über den Rücken.
Er wandte sich von der Tür ab. »Wir müssen ihr folgen. Sie finden und töten. Solange sie auf freiem Fuß ist, stellt sie eine Gefahr dar.«
»Eine Aufgabe für den Magiebrecher?«, fragte Sabon. »Ich habe mich schon gefragt, warum du ihn in deiner Nähe behalten hast.«
»Ein Notfallplan, auf den ich nicht zurückgreifen wollte«, antwortete Tamas. »Ich wünschte, ich hätte einen Magier, der ihn begleiten könnte.«
»Seine Partnerin ist eine Privilegierte«, sagte Sabon. »Ein Magiebrecher und eine Privilegierte sollten einer einzigen Privilegierten aus den Reihen der königlichen Kabalisten mehr als gewachsen sein.« Er deutete auf die zerstörte Tür.
»Ich kämpfe nicht gern fair, wenn es um den königlichen Kabal geht«, sagte Tamas. »Und denk dran, es besteht ein Unterschied zwischen einem Mitglied des Kabals und einem angeheuerten Schläger.«
»Wer war sie?«, fragte Sabon. In seiner Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit, vielleicht ein Vorwurf.
»Ich habe keine Ahnung«, blaffte Tamas. »Ich kannte jeden einzelnen Kabalisten des Königs persönlich. Ich habe sie getroffen, mit ihnen gespeist. Sie war eine Fremde.«
Sabon nahm Tamas’ Verärgerung kommentarlos hin. »Eine Spionin für einen anderen Kabalistenzirkel?«
»Unwahrscheinlich. Die Bordellmädchen werden alle überprüft. Sie sah nicht wie eine Hure aus. Sie wirkte stark und wettergegerbt. Vielleicht die Geliebte des Büttels. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.«
»Könnte der Büttel heimlich jemanden ausgebildet haben?«
»Lehrlinge sind niemals geheim«, erwiderte Tamas. »Privilegierte sind viel zu misstrauisch, um das zuzulassen.«
»Ihr Misstrauen ist oftmals wohlbegründet«, sagte Sabon. »Es muss einen Grund für ihre Anwesenheit gegeben haben.«
»Ich weiß. Wir werden uns schon noch um sie kümmern.«
»Wenn die anderen dabei gewesen wären …«, begann Sabon.
»Wären noch mehr von uns tot«, sagte Tamas. Wieder zählte er die Leichen, als ob es inzwischen weniger geworden sein könnten. Fünf. Von siebzehn seiner Magier. »Genau aus diesem Grund haben wir uns in zwei Gruppen aufgeteilt.« Er wandte sich von den Toten ab. »Hat Taniel sich schon gemeldet?«
»Er ist in der Stadt«, antwortete Sabon.
»Ausgezeichnet. Ich werde ihn gemeinsam mit dem Magiebrecher losschicken.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Sabon. »Er ist gerade erst aus Fatrasta zurückgekehrt. Er braucht Zeit, um sich auszuruhen, seine Verlobte zu sehen …«
»Ist Vlora bei ihm?«
Sabon zuckte mit den Schultern.
»Lass uns hoffen, dass sie bald hier sein wird. Unsere Arbeit ist noch nicht getan.« Er hob eine Hand, um jeglichen Protest im Keim zu ersticken. »Und Taniel kann sich nach dem Putsch ausruhen.«
»Was getan werden muss, wird getan werden«, sagte Sabon leise.
Schweigend betrachteten sie ihre gefallenen Kameraden. Einige Augenblicke vergingen, bevor Tamas sah, wie sich ein Lächeln auf Sabons faltigem schwarzen Gesicht ausbreitete. Der Deliv wirkte erschöpft und verhärmt, doch seine Züge konnten einen Hauch von Freude nicht verhehlen. »Wir haben es geschafft.«
Erneut betrachtete Tamas die toten Körper seiner Freunde – seiner Soldaten. »Ja«, sagte er. »Das haben wir.« Dann zwang er sich wegzusehen.
In einer Ecke des Zimmers stand ein Gemälde, eine Monstrosität in einem vergoldeten Rahmen, auf einer silbernen Staffelei – ein Kunstwerk, das eines Herolds des königlichen Kabals würdig war. Tamas musterte das Bild für einen kurzen Moment. Es zeigte Zakary in seinen besten Jahren als starken jungen Mann mit breiten Schultern und einem ernsten Gesichtsausdruck.
Der Anblick war weit entfernt von dem alten, gekrümmten Körper in der Ecke. Die Kugel war so tief in sein Hirn eingedrungen, dass sie ihn sofort getötet hatte, und trotzdem hatte seine leblose Kehle die gleichen Worte ausgestoßen wie all die anderen: »Ihr könnt Kresimirs Versprechen nicht brechen.«
Cenkas Gesicht war so bleich geworden wie das weiß bemalte Antlitz eines Pantomimen, nachdem die ersten der Privilegierten diesen Satz geäußert hatten. Er hatte verlangt, dass Tamas Adamat hierherkommen ließ, ins Herz ihres Verbrechens. Tamas hoffte, dass Cenka sich geirrt hatte. Er hoffte, dass der Ermittler nichts finden würde.
Tamas verließ den Palastflügel der Kabalisten, Sabon dicht hinter sich.
»Ich brauche einen neuen Leibwächter«, sagte Tamas im Gehen. Es schmerzte ihn, davon zu sprechen, während Lajos’ Leichnam noch nicht ganz kalt war.
»Einen Gezeichneten?«, fragte Sabon.
»Ich kann keinen entbehren. Nicht jetzt.«
»Ich habe da schon seit einer Weile einen Begabten im Auge behalten«, sagte Sabon. »Ein Mann namens Olem.«
»Ein Soldat?«, fragte Tamas. Er meinte, den Namen wiederzuerkennen. Er hob eine Hand bis auf eine Höhe knapp unterhalb seiner Augen. »Etwa so groß? Strohblonde Haare?«
»Ja.«
»Was ist seine Begabung?«
»Er schläft nicht. Niemals.«
»Praktisch«, erwiderte Tamas.
»Durchaus. Außerdem verfügt er über ein starkes drittes Auge, um nach Privilegierten Ausschau zu halten. Ich werde ihn einweisen lassen, damit er bei der Hinrichtung an deiner Seite stehen kann.«
Ein Begabter würde nicht so hilfreich sein wie ein Pulvermagier. Begabte waren verbreiteter und ihre Fähigkeiten entsprachen eher einem Talent als tatsächlicher magischer Macht. Aber wenn er sein drittes Auge einsetzen konnte, um Magie zu erkennen, würde er ihm dennoch von Nutzen sein.
Tamas näherte sich der verriegelten Doppeltür der Kapelle. Zwei von Tamas’ Soldaten lösten sich aus den Schatten an der Wand und kamen mit erhobenen Musketen auf sie zu. Tamas bedachte sie mit einem kurzen Nicken und deutete auf die Tür.
Einer der Soldaten zog ein langes Messer aus seinem Gürtel und steckte es durch den Spalt zwischen den beiden Türen. »Er hat den Riegel des Diözels umgelegt«, sagte der Soldat, während er mit dem Messer herumfuhrwerkte. »Aber er hat sich nicht mal die Mühe gemacht, etwas vor die Tür zu schieben. Nicht sehr einfallsreich, wenn Sie mich fragen.« Er hob den Riegel an und stieß gemeinsam mit seinem Kameraden die Tür auf.
Die Kapelle war groß, so wie alle Räume des Palasts. Doch anders als dem Rest des Gebäudes waren ihr die Renovierungen erspart geblieben, die der König je nach Laune und Saison durchführen ließ, sodass ihr jetziges Aussehen größtenteils immer noch dem von vor zweihundert Jahren glich. Die Kuppeldecke war unglaublich hoch, mit Logen für den Adel in mittlerer Höhe zwischen Säulen, die breit waren wie Ochsenkarren. Der Boden war mit Marmorplatten von unterschiedlicher Form und Größe in kunstvollen Mustern gefliest, während an der Decke Abbildungen der Heiligen zu sehen waren, die unter dem väterlichen Blick des Gottes Kresimir die Neun Nationen gründeten.
Im vorderen Teil der Kapelle standen zwei Altäre, etwas höher als die Bänke, neben einer Kanzel aus Schwarzholz. Der erste Altar, dessen geringere Größe die Nähe zum Volk symbolisieren sollte war Adom, dem Gründungsheiligen von Adro, gewidmet. Der zweite, größere Altar, mit Marmor verkleidet und mit Satin überzogen, war Kresimir geweiht. Neben diesem kauerten Manhouch XII., Herrscher von Adro, und seine Frau Natalija, Herzogin von Tarony. Natalijas Blick war starr auf einen Punkt über dem Altar gerichtet und ihre Lippen bewegten sich in einem stillen Gebet an Kresimirs Seil. Manhouch war kreidebleich, seine Augen gerötet und seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er sprach in einem verzweifelten Flüstern mit dem Diözel, verstummte jedoch, als Tamas sich näherte.
»Wartet«, rief der Diözel mit erhobener Hand, während der König die Stufen zum Altar hinabeilte und entschlossenen Schrittes auf Tamas zuhielt. Anspannung zeichnete sich auf dem Gesicht des alten Diözels ab und sein Gewand war vollkommen zerknittert, nachdem er in größter Hast zur Kapelle gerannt war.
Tamas beobachtete, wie Manhouch auf ihn zumarschierte. Er bemerkte, dass der Monarch eine Hand hinter seinem Rücken verborgen hielt. Außerdem nahm er Notiz von der Wut, die sich auf dem aristokratischen, jung wirkenden Gesicht widerspiegelte. Dank der Magie seiner königlichen Kabalisten wirkte Manhouch kaum älter als siebzehn, auch wenn er in Wirklichkeit schon längst die dreißig überschritten hatte. Es sollte die Alterslosigkeit der Monarchie symbolisieren, doch Tamas war es immer schwergefallen, einen so jung aussehenden Mann ernst zu nehmen. Der Feldmarschall blieb stehen und musterte den König, dessen entschlossener Schritt immer zögerlicher wurde, während er sich näherte.
Fünf Schritte entfernt kam Manhouch zum Stehen und brachte mit einer geübten Handbewegung eine Pistole zum Vorschein. Auf diese Reichweite fiel es ihm leicht zu zielen – schließlich war es Tamas selbst gewesen, der dem König das Schießen beigebracht hatte. Allerdings demonstrierte dieser Versuch nur allzu deutlich, wie einfältig und weltfremd Manhouch tatsächlich war. Er drückte den Abzug.
Mithilfe seiner mentalen Kräfte absorbierte Tamas die Wucht der Schwarzpulverexplosion. Er spürte, wie die Energie ihn durchdrang und seinen Körper wärmte wie ein Schluck guten Branntweins. Er leitete die Wucht des Schusses in den Boden um, wo sie harmlos verpuffte und lediglich eine der Marmorfliesen zu Füßen des Königs zerbrach. Manhouch wich vor dem Riss zurück. Die Kugel rollte aus der Mündung seiner Pistole, fiel mit einem dumpfen Klirren zu Boden und kullerte direkt bis vor die Stiefelspitzen von Tamas.
Der Feldmarschall trat vor und nahm dem König die Pistole ab. Er spürte kaum, wie der metallene Lauf der Waffe seine Hand verbrannte.
»Wie kannst du es wagen?«, stieß Manhouch entrüstet hervor. Sein Gesicht war gepudert, seine Wangen mit Rouge bedeckt. Sein seidenes Nachtgewand war zerknittert und schweißgetränkt. »Wir haben darauf vertraut, dass du uns beschützt.« Ein leichtes Zittern durchlief seinen Körper.
Tamas blickte an Manhouch vorbei zum Diözel, der nicht von seinem Platz neben dem Altar gewichen war. Der alte Priester lehnte sich gegen die Wand. Seine große, bestickte Kappe, Zeichen seines Amtes, saß gefährlich schief auf seinem Kopf. »Ich nehme an«, sagte Tamas und hob die Pistole, »dass er die hier von Ihnen hat?«
»Dafür war sie nicht gedacht«, schnaufte der Diözel. Er hob trotzig das Kinn. »Sondern für den König selbst. Damit er sich ehrenhaft das Leben nehmen kann, statt von einem gottlosen Verräter niedergestreckt zu werden.«
Tamas sandte seine Sinne aus und suchte nach weiteren Schwarzpulverladungen, fand jedoch keine. »Sie haben nur eine Pistole mit einer einzigen Kugel mitgenommen?«, fragte Tamas. »Es wäre gnädiger gewesen, zwei mitzubringen.« Er wandte den Blick zur Königin, die nach wie vor ihre Gebete an Kresimirs Seil richtete.
»Sie würden doch nicht …«, begann der Diözel.
»Wird er nicht!«, unterbrach ihn Manhouch. »Er wird uns nicht töten. Das kann er nicht. Wir sind Gottes Auserwählte.« Er tat einen tiefen, zittrigen Atemzug.
Tamas empfand einen Anflug von Mitleid für den König. Er wusste, dass Manhouch älter war, als er aussah, doch in Wahrheit war er nichts weiter als ein Kind. Nicht alles war seine Schuld. Gierige Ratsmitglieder, idiotische Privatlehrer, viel zu nachsichtige Magier. Es gab unzählige Gründe, warum er ein schlechter – nein, furchtbarer – König gewesen war. Dennoch war er König. Tamas brachte sein Mitleid zum Schweigen. Manhouch würde sich den Konsequenzen stellen müssen.
»Manhouch der Zwölfte«, sagte Tamas mit erhobener Stimme. »Ich verhafte Euch wegen äußerster Vernachlässigung Eures Volks. Euch wird wegen Verrats, Betrugs und Mordes durch Verhungern der Prozess gemacht.«
»Ein Prozess?«, flüsterte Manhouch.
»Euer Prozess beginnt jetzt«, sagte Tamas. »Ich bin Euer Richter und Geschworener. Ihr wurdet vor dem Volk und vor Kresimir für schuldig befunden.«
»Geben Sie nicht vor, in Gottes Namen zu sprechen!«, zischte der Diözel. »Manhouch ist unser König! Von Kresimir selbst gesegnet.«
Tamas lachte bitter. »Es fällt Ihnen nicht schwer, sich auf Kresimir zu berufen, sobald es Ihnen passt. Denken Sie auch an ihn, wenn Sie sich mit einer Konkubine in Ihren seidenen Laken wälzen oder wenn Sie ein Mahl von Köstlichkeiten verspeisen, das allein fünfzig Bauern satt gemacht hätte? Sie sprechen nicht länger für Gott, Diözel. Die Kirche hat diesen Staatsstreich gebilligt.«
Der Diözel riss die Augen auf. »Das würde ich wissen.«
»Glauben Sie wirklich, die Erzdiözelen würden Ihnen alles mitteilen? Ich denke nein.«
Manhouch sammelte all seinen Mut zusammen und starrte Tamas an. »Du hast keine Beweise! Keine Zeugen! Das hier ist kein Prozess.«
Tamas riss den Arm hoch und deutete zur Seite. »Meine Beweise sind da draußen! Das Volk ist arbeitslos und hungert. Eure Adligen huren herum, sie jagen und füllen ihre Teller mit Fleisch und ihre Gläser mit Wein, während der gemeine Bürger in der Gosse verreckt. Zeugen? Ihr habt vor, mit dem Abkommen nächste Woche unser gesamtes Land an Kez zu verkaufen. Nur um Eure Schulden zu begleichen, würdet Ihr uns alle ohne Zögern zu Vasallen einer fremden Macht machen.«
»Haltlose Behauptungen eines Verräters«, flüsterte Manhouch mit schwacher Stimme.
Tamas schüttelte den Kopf. »Ihr werdet zur Mittagsstunde hingerichtet, zusammen mit Euren Ratsmitgliedern, Eurer Königin und vielen Hunderten Eurer Verwandten.«
»Mein Kabal wird dich vernichten!«
»All seine Mitglieder wurden bereits exekutiert.«
Der König wurde noch blasser und begann unkontrolliert zu zittern, während er zu Boden sank. Der Diözel trat langsam vor. Tamas blickte einen Moment auf Manhouch herab und hatte plötzlich das ungebetene Bild eines jungen Prinzen im Kopf, der mit sechs oder sieben Jahren jauchzend auf seinen Knien geritten war. Er schob die Szene beiseite.
Der Diözel erreichte Manhouch und kniete sich neben ihn, bevor er zu Tamas aufsah. »Tun Sie das alles wegen Ihrer Frau?«
Ja. Laut sagte Tamas: »Nein. Ich tue dies, weil Manhouch bewiesen hat, dass das Schicksal einer ganzen Nation nicht von den Launen eines einzigen, inzuchtgeschädigten Narren abhängen sollte.«
»Sie wollen wirklich einen von Gott auserwählten Herrscher vom Thron stoßen und sich selbst zum Tyrannen erheben und behaupten dennoch, Adro zu lieben?«, fragte der Diözel.
Tamas bedachte Manhouch mit einem flüchtigen Blick. »Gott unterstützt das hier nicht länger. Wenn Sie dank Ihrer goldgesäumten Gewänder und jungen Konkubinen nicht derart verblendet wären, würden Sie das erkennen. Für das, was er Adro angetan hat, wird er in die Grube kommen.«
»Dort werden Sie beide sich wiedersehen«, meinte der Diözel giftig.
»Daran habe ich keinen Zweifel, Diözel. Ich schätze, die Gesellschaft dort wird alles andere als langweilig sein.« Tamas ließ die entladene Pistole zu Boden fallen, wo sie klappernd vor Manhouchs Füßen landete. »Ihr habt bis zum Mittag, um Euren Frieden mit Gott zu machen.«
Auf der obersten Stufe zum Haus des Adels hielt Taniel inne. So früh am Morgen war das Gebäude dunkel und still wie ein Grab. Auf der Treppe, der Straße und an jeder Tür waren Soldaten stationiert. Er erkannte die Männer von Feldmarschall Tamas an ihren dunkelblauen Uniformen. Viele von ihnen wussten, wer er war. Den restlichen Soldaten fiel es nicht schwer, ihn dank des silbernen Pulverfassabzeichens an seinem Wildledermantel zu identifizieren. Einer von ihnen hob eine Hand zum Gruß. Taniel erwiderte die Geste, zog dann eine kleine Dose aus der Tasche, streute eine schmale Spur aus schwarzem Pulver auf seinen Handrücken und schnupfte sie.
Durch das Pulver fühlte er sich munter und belebt. Es schärfte seinen Geist und seine Sinne gleichermaßen, ließ sein Herz schneller schlagen und beruhigte seine zerrütteten Nerven. Für die Gezeichneten war das Pulver die Essenz des Lebens.
Taniel spürte eine Hand auf seiner Schulter und wandte sich um. Seine Begleiterin war einen ganzen Kopf kleiner als er und ihr Körper so schmal wie der eines Jugendlichen. Sie trug einen langen Reisemantel, der ihrer Figur ein wenig mehr Fülle verlieh und sie warm hielt, sowie einen breitkrempigen Hut, der ihr Gesicht größtenteils verbarg. Die morgendliche Frühlingsluft war noch frisch und Ka-poel stammte von einem viel wärmeren Ort.
Mit einer kleinen, mit Sommersprossen übersäten Hand deutete sie fragend auf das Bauwerk vor ihnen. Taniel rief sich ins Gedächtnis, dass sie ein Gebäude wie das Haus des Adels nie zuvor gesehen hatte. Der Regierungssitz von Adro war sechs Stockwerke hoch, so breit wie ein Schlachtfeld und damit groß genug, um die Geschäftsräume aller Adligen und ihrer Angestellten zu beherbergen.
»Wir sind da.« Taniels Stimme wirkte in der Stille des Morgens ungewöhnlich laut. »Hier haben uns seine Soldaten hingeschickt. Er selbst hat hier kein Büro. Ist es heute Nacht geschehen? Ich hätte wohl einen besseren Zeitpunkt wählen können …« Seine Stimme verlor sich.
Sein Geplapper, das sich zu allem Überfluss an eine Stumme richtete, verriet seine Nervosität. Tamas würde außer sich sein vor Wut, wenn er von Vlora erfuhr. Natürlich würde er Taniel die Schuld geben. Taniel bemerkte, dass er immer noch die Schnupfdose hielt. Seine Hände zitterten. Er schüttete eine weitere dunkle Linie auf seinen Daumen, schnupfte das Pulver und legte den Kopf zurück, während sein Herz schneller schlug. Umrisse in der Dunkelheit wurden schärfer, Geräusche lauter und die Behaglichkeit, die das Pulver ihm schenkte, ließ ihn seufzen. Er hob eine Hand ins Licht der Straßenlaterne. Sie zitterte nicht mehr.
»Pole«, sagte er zu der jungen Frau an seiner Seite. »Ich habe Tamas schon lange nicht mehr gesehen. Den meisten Leuten gegenüber zeigt er sich als strenger, harter Mann. Ausnahmen gibt es da nur wenige. Sabon. Lajos. Das sind seine Freunde. Ich selbst bin für ihn nichts weiter als ein Soldat.« Grüne Augen musterten ihn eingehend aus dem Schatten der breiten Hutkrempe heraus. »Verstanden?«, fragte er.
Ka-poel nickte.
»Hier«, sagte Taniel. Er griff in seinen Mantel und zog sein Skizzenbuch heraus. Es war in verblichenes Kalbsleder gebunden, abgenutzt durch regen Gebrauch und lange Reisen. Er blätterte darin, bis er ein Bild von Feldmarschall Tamas gefunden hatte, und reichte es Ka-poel. Es handelte sich um eine verblasste Kreidezeichnung, aber das ernste Gesicht des Feldmarschalls war gut zu erkennen. Ka-poel studierte die Skizze einen Moment, bevor sie ihm das Buch zurückgab.
Taniel drückte eine der riesigen Türen auf und betrat die große Eingangshalle. Bis auf einen kleinen Lichtkreis neben einer Treppe zur Taniels Linken war es stockfinster. Die einsame Laterne, die an der Wand hing, beleuchtete eine Gestalt, die zusammengesunken auf einem Stuhl döste.
»Wie ich sehe, hat es Tamas ganz schön weit gebracht.«
Taniel lauschte dem Echo seiner eigenen Stimme in der großen Halle und beobachtete zufrieden, wie Sabon kerzengerade in die Höhe schoss. Auf dem dunklen Gesicht des Mannes zeigten sich Falten, die Taniel nur dank der Pulvertrance sehen konnte. Sabon wirkte, als wäre er in den zwei Jahren, die seit ihrer letzten Begegnung vergangen waren, um mindestens zehn Jahre gealtert.
»Mir gefällt’s hier nicht«, fügte Taniel hinzu, nahm sein Gewehr und den Tornister von der Schulter und legte beides auf dem vornehmen roten Teppich ab. Dann beugte er sich vor, um seine Beine zu reiben, in denen er nach zwanzig Stunden Kutschfahrt kaum noch Gefühl hatte. »Zu kalt im Winter, zu einsam im Sommer. Und so viel Platz lädt nur unerwünschte Hausgäste ein.«
Sabon schmunzelte, während er näher kam. Er ergriff Taniels Hand und zog ihn in eine Umarmung. »Wie steht es um Fatrasta?«
»Offiziell? Immer noch im Krieg gegen die Kez«, berichtete Taniel. »Inoffiziell bitten die Kez um Frieden und bis auf ein paar Regimenter sind alle in die Neun zurückgekehrt. Fatrasta hat seine Unabhängigkeit gewonnen.«
»Hast du den einen oder anderen Privilegierten aus Kez für mich umgelegt?«, fragte Sabon.
Taniel hielt sein Gewehr ins Licht. Sabon fuhr mit dem Finger über ein paar Kerben am Schaft und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Sogar ein paar Hüter«, sagte Taniel.
»Die sind schwer zu töten«, erwiderte Sabon.
Taniel nickte. »Für die Hüter habe ich mehr als eine Kugel gebraucht.«
»Taniel Zwei-Schuss«, sagte Sabon. »Du warst ein Jahr lang in aller Munde. Der königliche Kabal war starr vor Angst. Die wollten, dass Manhouch dich zurückpfeift. Ein Gezeichneter, der Privilegierte tötet, selbst wenn es sich um Privilegierte aus Kez handelt, ist ein schlechtes Beispiel.«
»Zu spät, nehme ich an?«, fragte Taniel und ließ die Augen durch die dunkle Halle huschen. Sonst wäre er schließlich nicht hier. Wenn alles nach Plan verlaufen war, hatte Tamas den königlichen Kabal abgeschlachtet und Manhouch gefangen genommen.
»Es ist vor ein paar Stunden über die Bühne gegangen«, sagte Sabon.
Taniel meinte, in den Augen des alten Soldaten eine gewisse Härte zu sehen. »Lief es nicht gut?«
»Wir haben fünf Männer verloren.« Sabon rasselte eine Liste von Namen herunter.
»Mögen sie in Kresimirs Armen ruhen.« Noch während er die Worte aussprach, erkannte Taniel, wie hohl das Gebet in seinen Ohren klang. Er verzog das Gesicht. »Und Tamas?«
Sabon seufzte. »Er ist … erschöpft. Manhouch zu stürzen, war nur der erste Schritt. Vor uns liegt immer noch die Hinrichtung, das Einsetzen einer neuen Regierung, wir müssen uns um die Kez kümmern, um die Hungersnot, um die Armen. Die Liste ist scheinbar endlos.«
»Rechnet er mit Problemen vonseiten des Volkes?«
»Tamas rechnet mit nahezu allem. Es wird mit Sicherheit einige Royalisten geben. In einer Millionenstadt wie Adopest wäre es dumm, nicht davon auszugehen. Wir wissen nur nicht, wie viele oder wie organisiert sie sein werden. Tamas braucht dich – dich und Vlora. Sie hat dich nicht begleitet?« Taniel warf Ka-poel einen Blick zu. Sie war die einzige andere Person in der Halle. Sie hatte Taniels Ausrüstung in einem Haufen auf den Boden gelegt und drehte eine langsame Runde durch den weitläufigen Raum, um die Gemälde an den Wänden zu betrachten, die im schwachen Licht kaum zu erkennen waren. Ihren eigenen Rucksack trug sie dabei über eine Schulter geschlungen.
Taniel spürte, wie sich sein Kiefer anspannte. »Nein.«
Sabon trat einen Schritt zurück und nickte in Ka-poels Richtung.
»Meine Dienerin«, erklärte Taniel. »Eine Dynize.«
»Eine Wilde, was?«, meinte Sabon. »Hat das Imperium von Dynize endlich seine Grenzen geöffnet? Das sind wirklich große Neuigkeiten.«
»Nein«, sagte Taniel. »Im Westen Fatrastas gibt es ein paar Dynizestämme.«
»Sieht mehr aus wie ein Junge.«
»Sei vorsichtig, wen du einen Jungen nennst«, sagte Taniel. »So was hört sie gar nicht gern.«
»Meinetwegen«, sagte Sabon und warf Taniel einen schrägen Blick zu. »Kann man ihr vertrauen?«
»Ich habe ihr öfter das Leben gerettet als sie mir«, erwiderte Taniel. »Wilde nehmen solche Dinge sehr ernst.«
»So wild sieht sie gar nicht aus«, murmelte Sabon. »Tamas wird wissen wollen, warum Vlora nicht hier ist.«
»Darum werde ich mich schon kümmern.« Tamas würde nach Vlora fragen, bevor er sich nach Fatrasta erkundigte. Wie Taniel wusste, würde sich das auch nach zwei Jahren nicht geändert haben. Zwei Jahre. Zur Grube! War es wirklich so lange her? Vor zwei Jahren war Taniel zu einer kurzen Reise aufgebrochen, um die Kez-Kolonie Fatrasta zu besuchen. Das sollte ihm Zeit geben, »einen klaren Kopf zu bekommen«, wie Tamas es ausgedrückt hatte. Eine Woche nachdem Taniel eingetroffen war, hatte Fatrasta seine Unabhängigkeit von Kez erklärt und er war gezwungen gewesen, sich für eine Seite zu entscheiden.
Sabon nickte. »Dann bringe ich dich jetzt zu ihm.«
Der Deliv nahm die Laterne vom Haken, während Taniel seine Sachen zusammenklaubte. Ka-poel hielt sich ein paar Schritte hinter ihnen, als sie durch die dunklen Korridore gingen. Das Haus des Adels war riesig und unheimlich. Dicke Teppiche dämpften ihre Schritte, sodass sie sich beinahe so lautlos wie Geister fortbewegten. Taniel mochte die Stille nicht. Sie erinnerte ihn zu sehr an den Wald, wenn sich dort Feinde auf Beutezug befanden. Sie bogen um eine Ecke und betraten einen weiteren Gang. Aus einem Raum am Ende drangen Licht und erhobene Stimmen zu ihnen herüber. Es klang nach einem Streit.
Taniel blieb im Türrahmen eines hell erleuchteten Raums stehen – es handelte sich wohl um das Vorzimmer des Geschäftsraums irgendeines Adligen. Drinnen, vor einem pompösen Kamin, standen sich zwei Männer mit geballten Fäusten gegenüber und schienen kurz davor, handgreiflich zu werden. Ein dritter Mann, ein Leibwächter mit beeindruckender Ausstrahlung und dem ramponierten Gesicht eines Boxers, stand daneben und wirkte ratlos, als wüsste er nicht so recht, ob er eingreifen sollte.
»Du wusstest es!«, verkündete der kleinere der beiden Männer aufgebracht. Sein Gesicht war rot angelaufen. Er hatte sich aufgeplustert und er reckte den Nacken, um der Größe des anderen Paroli zu bieten. Mit harscher Geste schob er seine Brille die Nase hinauf, doch sie rutschte sofort wieder herunter. »Sag die Wahrheit: Hast du das von Anfang an geplant? Wusstest du, dass der Zeitplan vorverlegt werden würde?«
Taniel beobachtete, wie Feldmarschall Tamas beruhigend die Hände hob. »Natürlich wusste ich das nicht«, sagte er. »Ich werde am Morgen alles erklären.«
»Bei der Hinrichtung! Was für ein Putsch …« Der kleine Mann bemerkte Taniel und verstummte abrupt. »Raus!«, sagte er. »Dies ist eine private Unterhaltung.«
Taniel lehnte sich gegen den Türrahmen und nahm seinen Hut ab, um sich damit lässig Luft zuzufächeln. »Aber es wurde doch gerade interessant«, sagte er.
»Wer ist dieser Junge?«, wollte der kleine Mann von Tamas wissen.
Junge? Taniel warf dem Feldmarschall einen Blick zu. Tamas hatte ihn heute Nacht sicher nicht erwartet, doch auf seinen Zügen war keinerlei Überraschung zu lesen. Tamas war niemand, dem man seine Gefühle ansehen konnte. Manchmal fragte sich Taniel, ob der Feldmarschall überhaupt irgendwelche Gefühle hatte.
Tamas seufzte. »Schön, dich zu sehen, Taniel.«
War es das? Tamas wirkte alles andere als glücklich. Sein Haar war in den letzten zwei Jahren schütter geworden und in seinem Schnurrbart zeigte sich nun deutlich mehr Grau als Schwarz. Tamas wurde alt. Taniel erwiderte die Begrüßung des Feldmarschalls mit einem bedächtigen Nicken.
»Vergib mir«, sagte Tamas nach einer kurzen Pause. »Taniel, dies ist Ondraus, der Vogt. Ondraus, das ist der Gezeichnete Taniel, einer meiner Magier.«
»Dies ist kein Ort für einen Jungen …« Ondraus entdeckte Ka-poel, die hinter Taniel stand. Er kniff die Augen zusammen. »… und einen Wilden«, beendete er den Satz. Dann kniff er erneut die Augen zusammen, als ob er nicht sicher wäre, ob sein Blick ihn getrogen hatte. Er murmelte etwas Unverständliches.
Tamas hatte Taniel als Pulvermagier vorgestellt. Mehr war er also für den Feldmarschall nicht? Nur irgendein Soldat?
Tamas öffnete den Mund, doch Taniel sprach zuerst.
»Sir«, sagte er. »Ich bin Hauptmann der Armee von Fatrasta, ein Gezeichneter im Dienste Adros und ich weiß alles über den Putsch. Ich kann mit einem einzigen Schuss auf eine Meile Entfernung zwei Privilegierte gleichzeitig töten und habe genau das auch mehrfach getan. Man kann mich wohl kaum als Jungen bezeichnen.«
Ondraus schnaubte. »Ah ja, Tamas. Das ist also Ihr berühmter Sohn.«
Taniel spielte mit der Zunge an seinen Zähnen herum und beobachtete seinen Vater. Das bin ich, nicht wahr? Wie nett, dass Sie ihn daran erinnern, Ondraus. Er vergisst das nämlich gern.
»Taniel hat das Recht, hier zu sein«, sagte Tamas.
Ondraus musterte Taniel eingehend. Der Zorn auf seinen Zügen wich allmählich einem Ausdruck kühler Berechnung. Er atmete tief durch. »Ich will feste Zusagen«, sagte er zu Tamas. Jegliche Emotion war aus seiner Stimme verschwunden. Nun ging es allein ums Geschäft – in gewisser Hinsicht wirkte dieses Kalkül bedrohlicher als sein vorheriger Zorn. »Die anderen werden ebenso wütend sein wie ich, aber wenn Sie mir die königlichen Kassenbücher geben, sage ich Ihnen meine Unterstützung zu.«
»Zu freundlich«, erwiderte Tamas trocken. »Sie sind der Vogt des Königs. Sie haben die königlichen Bücher doch bereits.«
»Nein«, sagte Ondraus in einem Tonfall, als müsste er die Sache einem Kind erklären. »Ich bin der Stadtvogt. Ich will Manhouchs private Finanzen. Seit zehn Jahren wirft er mit Geld um sich wie eine Edelhure im Schmuckladen und ich habe vor, seine Bücher abzuschließen.«
»Wir waren uns doch einig, seine Kasse den Armen zu öffnen.«
»Nachdem ich die Bücher abgeschlossen habe.«
Tamas dachte einen Moment darüber nach. »Einverstanden. Sie haben bis zur Hinrichtung am Mittag Zeit.«
»In Ordnung.« Ondraus ging Richtung Tür und stützte sich dabei schwer auf seinen Stock. Er bedeutete dem großen Mann, ihm zu folgen. Beide drängten sich an Taniel vorbei und bewegten sich den dunklen Gang entlang. Ihre Schritte hallten auf dem Marmorboden.
»Und nicht ein Wort der Verabschiedung«, meinte Taniel. »Wie unhöflich.«
»Für Ondraus besteht die Welt aus nichts weiter als Zahlen und Arithmetik«, sagte Tamas und winkte ab. Er bedeutete Taniel, den Raum zu betreten, und kam auf ihn zu. Sie gaben sich die Hand. Taniel studierte die Augen seines Vaters und überlegte, ob er ihn in eine Umarmung ziehen sollte, wie er es mit Kameraden tun würde, die er lange nicht gesehen hatte. Doch Tamas blickte an ihm vorbei in Richtung Wand und war mit den Gedanken offensichtlich woanders, also verwarf Taniel den Gedanken wieder.
»Wo ist Vlora?«, fragte Tamas, während er neugierig Kapoel betrachtete. »Hast du sie auf dem Weg hierher nicht in Jileman besucht?«
»Sie nimmt eine andere Kutsche«, erwiderte Taniel. Er bemühte sich, seinen Tonfall neutral zu halten. Das Erste, wonach Tamas fragte. Natürlich.
»Setz dich«, sagte Tamas. »Es gibt so viel zu bereden. Lass uns damit anfangen. Wer ist sie?«
Ka-poel hatte Taniels Tornister und Gewehr in einer Ecke abgestellt und untersuchte nun interessiert das Zimmer und die Vorhänge. Ihre Aufenthalte in den Städten der Neun waren stets nur von kurzer Dauer gewesen, während Taniel und sie eine Kutsche nach der anderen genommen hatten und schlafend gereist waren, um Adopest zu erreichen.
»Ihr Name ist Ka-poel«, antwortete Taniel. »Sie ist eine Dynize, von einem Stamm in Westfatrasta. Pole«, sagte er dann an die junge Frau gewandt, »nimm den Hut ab.« Er schenkte seinem Vater ein entschuldigendes Lächeln. »Ich bin dabei, sie die Sitten von Adro zu lehren. Ihre Gebräuche unterscheiden sich stark von unseren.«
»Das Imperium von Dynize hat seine Grenzen geöffnet?« Tamas schien skeptisch.
»Eine Reihe von Eingeborenen, die in der fatrastischen Wildnis leben, ist mit den Dynize verwandt, aber die Meerenge zwischen Dynize und Fatrasta bewahrt sie vor dem Isolationismus ihrer Vettern.«
»Scheren sich die fatrastischen Generäle überhaupt um Dynize?«
»Scheren? Der bloße Gedanke bereitet ihnen Sodbrennen. Aber der Bürgerkrieg in Dynize ist weiterhin in vollem Gange. Sie werden noch lange mit sich selbst beschäftigt sein.«
»Und die Kez?«, fragte Tamas.
»Als ich abreiste, hatten sie bereits begonnen, erste Friedensangebote zu machen.«
»Eine Schande. Ich hatte gehofft, dass Fatrasta sie noch eine Weile ablenken würde.« Tamas musterte Taniel von Kopf bis Fuß. »Wie ich sehe, trägst du noch immer Grenzkleidung.«
»Und was ist falsch daran? Ich habe mein gesamtes Geld für die Reise nach Hause ausgegeben.« Taniel zupfte am Revers seines Wildledermantels. »Für die Grenze ist das hier die beste Kleidung. Warm, widerstandsfähig. Ich hatte vergessen, wie verdammt kalt Adro sein kann. Ich bin froh, sie zu haben.«
»Ich verstehe.« Tamas trat vor Ka-poel und musterte sie ebenfalls. Sie hielt ihren Hut in beiden Händen und erwiderte Tamas’ Blick ohne eine Spur von Furcht. Ihr Haar war feuerrot und ihre helle Haut mit aschgrauen Sommersprossen bedeckt – eine Seltenheit in den Neun. Ihr Körperbau war klein und zierlich. Sie entsprach nicht gerade dem Bild großer, wilder Krieger, das sich die Neun von den Dynize machten.
»Faszinierend«, sagte Tamas. »Wie bist du über sie gestolpert?«
»Sie war die Kundschafterin unseres Regiments«, antwortete Taniel. »Sie hat uns in der fatrastischen Wildnis geholfen, Kez-Privilegierte aufzuspüren. Sie wurde meine persönliche Späherin und ich habe ihr ein paarmal das Leben gerettet. Seitdem ist sie mir nicht mehr von der Seite gewichen.«
»Spricht sie Adronisch?«
»Sie ist stumm. Aber sie versteht uns.«
Tamas lehnte sich vor und sah in Ka-poels Augen. Dann untersuchte er ihre Wangen und Ohren, als wäre sie ein Gaul auf einer Viehauktion. Taniel fragte sich, ob Tamas sich als Nächstes ihr Gebiss ansehen würde. Dafür würde Ka-poel ihn beißen. Beinahe hoffte er, dass der Feldmarschall es versuchen würde.
Taniel sagte: »Sie ist eine Zauberin, ein Knochenauge. Die Dynizeversion eines Privilegierten, auch wenn ihre Magie ein wenig anders ist, soweit ich das verstanden habe.«
»Wilde Zauberer«, sagte Tamas. »Ich habe schon mal davon gehört. Sie ist ziemlich klein. Wie alt ist sie?«
»Vierzehn«, antwortete Taniel. »Glaube ich zumindest. Alle ihres Volkes sind in der Regel von kleiner Statur, aber auf dem Schlachtfeld regelrechte Dämonen. Und auch mit dem Gewehr ganz passabel. Ah«, sagte er, als ihm plötzlich etwas einfiel. »Ich wollte dir noch etwas zeigen.«
Er deutete auf sein Gewehr. Ka-poel löste den Knoten, mit dem die Waffe an seinem Tornister befestigt war, und brachte es herüber. Taniel grinste und streckte seinem Vater das Gewehr entgegen.
»Ist das …? Ist es das Gewehr, mit dem dir dieser Schuss gelungen ist?«, fragte Tamas.
»Das ist es.«
Tamas packte das Gewehr am Lauf, drehte es herum und seufzte. »Schrecklich lang. Gutes Gewicht. Wendelförmige Laufwandung und eine Pfannenabdeckung am Steinschloss. Wunderschön gearbeitet.«
»Schau dir mal den Namen unterm Lauf an.«
»Ein Hrusch. Sehr schön.«
»Nicht nur sein Entwurf«, sagte Taniel. »Es wurde von Hrusch höchstpersönlich gefertigt. Ich habe einen Monat in Fatrasta mit ihm verbracht. Er hat ziemlich lange daran gearbeitet und es mir schließlich geschenkt.«
Tamas riss die Augen auf. »Ein Original? Ich kenne keine besseren Gewehre. Wir haben vor einem Jahr die Rechte an dem Patent gekauft und diese Waffen für die Armee produziert, aber ich habe erst ein einziges gesehen, das vom Schöpfer persönlich hergestellt wurde.«
Das Staunen seines Vaters erfüllte Taniel mit einer ungewohnten Wärme. Endlich etwas Neues. Etwas, auf das Tamas vielleicht stolz sein würde. »Die Kez haben ebenfalls versucht, das Patent zu kaufen«, berichtete Taniel.
»Wirklich? Obwohl sie gegen Fatrasta Krieg führten?«
»Natürlich. Das Hrusch-Gewehr hat ihnen an der Grenze den Hintern versohlt. Kaum Fehlzündungen, selbst unter schlimmsten Witterungsbedingungen. Hrusch weigerte sich, an sie zu verkaufen, weder für eine Truhe voll Gold noch für die Grafenwürde. Und die Büchsenmacher von Kez können seine Arbeit nicht reproduzieren.«
»Das kann niemand, der nicht von Hrusch persönlich unterwiesen wurde.« Tamas untersuchte das Gewehr ein paar Minuten lang eingehend, bevor er es zurückgab.
»Es gefällt dir?«, fragte Taniel.
»Es ist erstaunlich.« Unvermittelt schien sein Interesse nachzulassen und seine Gedanken begannen erneut zu wandern.
Taniel zögerte. »Dann wird dir das hier auch gefallen.« Er streckte Ka-poel eine Hand entgegen. Sie brachte ihm eine Schatulle, ein wenig länger als der Unterarm eines Mannes, gefertigt aus poliertem Mahagoniholz.
»Ein Geschenk«, sagte Taniel.
Tamas stellte das längliche Kästchen auf einen Tisch und klappte den Deckel auf. »Unglaublich!«, keuchte er.
»Duellpistolen mit Sägegriff«, erklärte Taniel. »Gefertigt von Hruschs ältestem Sohn – von dem es heißt, er sei ein besserer Büchsenmacher als sein Vater. Ein präzisiertes Steinschloss mit regenfester Pfanne und ein Kugellager an der Stahlfeder. Ein Glattrohr, aber zielgenauer als die meisten anderen.« Taniel spürte die Wärme zurückkommen, als das Gesicht seines Vaters aufleuchtete.