Die Götter von Blut und Pulver: Sünden des Imperiums - Brian McClellan - E-Book

Die Götter von Blut und Pulver: Sünden des Imperiums E-Book

Brian McClellan

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Beschreibung

Tauchen Sie ein in eine vom Krieg zerrissene Welt, in der Magie und Schießpulver aufeinandertreffen. Eine Welt an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter … Die junge Nation Fatrasta ist ein unruhiges Land – ein Ort für Kriminelle, Glücksritter, mutige Siedler und Magier auf der Suche nach alten Artefakten. Nur der eiserne Wille der Kanzlerin und ihrer Geheimpolizei halten die Hauptstadt Landfall zusammen gegen die Bedrohungen durch die Unruhen eines unterdrückten Volkes und den Machenschaften von mächtigen Reichen. Die Aufstände, die Landfall bedrohen, müssen mit List und Gewalt niedergeschlagen werden – eine Aufgabe, die einem Spion namens Michel Bravis, dem verurteilten Kriegsheld Ben Styke und Lady Vlora Flint, einer Söldnergeneralin mit einer Vergangenheit, die so turbulent ist wie Landfalls Gegenwart, zufällt. Loyalitäten werden auf die Probe gestellt, als in diesem ungezähmten Land ein uraltes Schreckgespenst zu Tage gefördert wird, und die Bevölkerung von Landfall muss bald einsehen, dass eine Rebellion die kleinste ihrer Sorgen ist.

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Ins Deutsche übersetzt von

Johannes Neubert

Die deutsche Ausgabe von

DIE GÖTTER VON BLUT UND PULVER: SÜNDEN DES IMPERIUMS

wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Johannes Neubert;

verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Kerstin Feuersänger;

Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Thom Tenery;

Karten und Symbole: Isaac Stewart; Printausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o.,

CZ-69123 Pohořelice. Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

GODS OF BLOOD AND POWDER: SINS OF EMPIRE

Copyright © All material contained within copyright © Brian McClellan, 2017. All rights reserved.

Published by Arrangement with Brian McClellan

German translation copyright © 2022, by Cross Cult.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Print ISBN 978-3-96658-578-1 (April 2022)

E-Book ISBN 978-3-96658-848-5 (April 2022)

WWW.CROSS-CULT.DE

Für Marlene Napalo,

meine Englischlehrerin in der Highschool,

dafür, dass du meine schlechten, unoriginellen Frühwerke

voller Zwerge, Elfen und Drachen gelesen und mit mir besprochen hast,

obwohl du sicherlich weitaus Besseres zu tun hattest

über die Weihnachtsferien.

Und für William Prueter,

meinen Lateinlehrer in der Highschool,

dafür, dass du mir beigebracht hast,

um die Ecke zu denken und hart zu arbeiten.

Und weil ich weiß, dass es dich irritieren wird,

deinen Namen vorne in einem Fantasy-Roman zu sehen.

INHALT

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

KAPITEL 48

KAPITEL 49

KAPITEL 50

KAPITEL 51

KAPITEL 52

KAPITEL 53

KAPITEL 54

KAPITEL 55

KAPITEL 56

KAPITEL 57

KAPITEL 58

KAPITEL 59

KAPITEL 60

KAPITEL 61

KAPITEL 62

KAPITEL 63

KAPITEL 64

KAPITEL 65

KAPITEL 66

EPILOG

DANKSAGUNGEN

PROLOG

Der Privilegierte Robson hielt mit einem Fuß auf der matschigen Landstraße und dem anderen auf dem Trittbrett seiner Kutsche inne und reckte seine Hakennase in den heißen Wind der fatrastanischen Landschaft hinein. Die Luft war stickig und roch übel; der Gestank der weit entfernten Schornsteine der Stadt klebte an den Innenwänden seiner Nasenlöcher. Er dachte darüber nach, wie Außenstehende womöglich darüber tuscheln würden, dass er aussah wie ein Hund, der den Wind beschnüffelte – obwohl nur ein Narr einen Privilegiertenmagier in dessen Hörweite mit einem einfachen Köter vergleichen würde.

Privilegiertenmagie war auf die Elemente und das Els abgestimmt, wodurch sie Robson und jedem seiner Privilegiertenbrüder und -schwestern einen tiefen und unvergleichlichen Einblick in die Welt verlieh. Dieses Verständnis, eine Art sechster Sinn, bot ihm in einer Vielzahl von Situationen einen unschätzbaren Vorteil. Aber in diesem speziellen Fall fühlte Robson nicht mehr als ein unbestimmtes Unbehagen, eine vage Vorahnung, die seine Fingerspitzen zum Kribbeln brachte.

Er verbrachte fast eine ganze Minute in dieser Haltung auf dem Trittbrett, bevor er sich endlich auf den Boden hinabließ.

Die Gegend war leer, das hügelige Schwemm- und Ackerland erstreckte sich im Süden und Westen bis zum Horizont. Eine salzige Brise wehte vom Ozean im Osten herüber, und im Norden lag die fatrastanische Hauptstadt Landfall auf einer gewaltigen, sechzig Meter hohen Hochebene aus Kalkstein. Die Stadt war weniger als zwei Meilen entfernt, also förmlich in Spuckweite, und die Anwesenheit der Geheimpolizei der Kanzlerin bedeutete, dass es unwahrscheinlich war, dass sich aus dieser Richtung eine Gefahr nähern würde.

Robson blieb neben seiner Kutsche, während er sich seine Handschuhe anzog und seine Finger anspannte, um seinen Zugriff auf das Els zu prüfen. Es spürte das vertraute Knistern und Funken der Magie, die unmittelbar vor seinen Fingerspitzen lag und nur darauf wartete, gebändigt zu werden. Er erlaubte sich ein kleines Lächeln über das wohlige Gefühl, das es ihm verschaffte. Vielleicht machte er sich lächerlich. Das Einzige, was einen Privilegierten herausfordern konnte, war ein Pulvermagier, und von denen gab es keine in Landfall. Was sonst konnte so eine Unruhe auslösen?

Er suchte den Horizont ein zweites und ein drittes Mal ab und streckte seine Sinne aus. Dort draußen gab es nichts außer ein paar Bauern und den üblichen Verkehr auf der Landstraße, der auf der anderen Seite seiner Kutsche vorbeizog. Mit einem Zucken des Mittelfingers zupfte er am Els; er zog an dem unsichtbaren Faden, bis er genügend Kraft in diese Welt gebracht hatte, um einen Schild aus verhärteter Luft um seinen Körper zu formen.

Man konnte nie vorsichtig genug sein.

»Es dauert nur einen Moment, Thom«, sagte er zu seinem Kutscher, der bereits auf dem Kutschbock einnickte.

Robsons Stiefel schmatzten, während er einem matschigen Pfad folgte, der weg von der Landstraße zu einer Ansammlung von verdreckten Zelten führte. Ein paar Hundert Meter von der Straße entfernt war ein Arbeitslager aufgebaut worden, das auf einer kleinen Anhöhe in der Mitte eines platt getrampelten Baumwollfeldes lag, und eine kleine Armee an Arbeitern schleppte Erde aus einer Grube im Zentrum des Lagers.

Robsons Unbehagen wurde immer stärker, je näher er dem Lager kam. Er schob es beiseite und zwang ein kaltes Lächeln auf seine Lippen, als ihm ein älterer Mann aus dem Kreis von Zelten entgegenkam, um ihn zu begrüßen.

»Privilegierter Robson«, sagte der Mann und verbeugte sich mehrmals, bevor er ihm seine Hand entgegenstreckte. »Mein Name ist Cressel. Professor Cressel. Ich leite die Ausgrabung. Haben Sie vielen Dank, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.«

Robson schüttelte Cressels Hand und bemerkte, wie der Professor zurückzuckte, als er den verzierten Stoff von Robsons Handschuhen berührte. Cressel war ein dünner Mann, der gebückt ging vom jahrelangen Beugen über Bücher. Er trug eine eckige Brille auf der Nasenspitze, und von seinem Haar war nur noch ein Büschel grauer Haare übrig. Mit seinen über sechzig Jahren war er fast zwanzig Jahre älter als Robson und ein angesehenes Fakultätsmitglied an der Universität von Landfall. Robson überragte ihn förmlich.

Cressel riss seine Hand zurück, sobald er konnte, ballte seine Faust und öffnete sie wieder, während er nachdenklich in Richtung Landstraße schaute. Er war, allem Anschein nach, ein furchtbar zerstreuter Mann.

»Mir wurde gesagt, dass es sich um etwas Wichtiges handle«, sagte Robson.

Cressel starrte ihn einige Augenblicke lang an. »Oh. Ja! Ja, es ist sehr wichtig. Zumindest glaube ich das.«

»Sie glauben es? In zwei Stunden treffe ich mich mit der Kanzlerin höchstpersönlich zum Abendessen, und Sie glauben, dass es wichtig ist?«

Eine Schweißperle bildete sich auf Cressels Stirn. »Es tut mir so leid, Privilegierter Robson. Das wusste ich nicht, ich …«

»Jetzt bin ich bereits hier«, unterbrach Robson den alten Professor. »Kommen Sie einfach zum Punkt.«

Als sie sich dem Lager näherten, stellte Robson fest, dass etwa ein Dutzend mit Musketen und Knüppeln bewaffnete Wachen eine lose Absperrkette um den Bereich bildeten. Drinnen waren weitere Wachen, die an ihren gelben Jacken erkennbar waren und die Arbeiter beaufsichtigten.

Robson war nicht unbedingt ein Befürworter von Arbeitslagern. Die Arbeiter waren für gewöhnlich unzuverlässig, langsam und geschwächt durch Unterernährung, aber Landfall war eine Grenzstadt, und viele Verbrecher und Verurteilte wurden aus den Neun herübergeschifft. Kanzlerin Lindet hatte vor langer Zeit entschieden, dass es das einzig Sinnvolle war, sie sich ihre Freiheit in den Lagern verdienen zu lassen. So hatte die Stadt genügend Arbeitskräfte für die Dutzende öffentliche Bauprojekte und konnte sie an private Einrichtungen vermieten, wie in diesem Fall die Universität von Landfall.

»Wissen Sie, was wir hier tun?«, fragte Cressel.

»Wie ich gehört habe, buddeln Sie wieder eins dieser Dynize-Relikte aus.« Diese verdammten Dinger waren überall: uralte Zeugnisse einer vergangenen Zivilisation, die sich lange, bevor irgendjemand aus den Neun hier angekommen war, von diesem Kontinent zurückgezogen hatte. Sie ragten aus der Mitte von Parks hervor, bildeten die Grundmauern für Gebäude, und wenn man einigen Gerüchten Glauben schenken konnte, lag eine ganze Stadt an Steinbauten unter dem Schwemmland, das Landfall umgab. Einige der Artefakte wiesen noch Spuren uralter Magie auf, was das besondere Interesse von Gelehrten und Privilegierten weckte.

»Natürlich. Aber natürlich. Kommen wir zum Punkt.« Cressel rang mit den Händen. »Der Punkt ist, Privilegierter Robson, dass sechs unserer Arbeiter verrückt geworden sind, seit wir die Zwölf-Meter-Marke des Artefakts erreicht haben.«

Robson riss seine Gedanken von der Logistik des Lagers los und warf Cressel einen Blick zu. »Verrückt geworden, sagen Sie?«

»Vollkommen wahnsinnig«, bestätigte Cressel.

»Zeigen Sie mir das Artefakt.«

Cressel führte ihn zur Mitte des Lagers, wo sie eine gewaltige Grube vorfanden. Sie war etwa zwanzig Meter breit und fast genauso tief, und in ihrer Mitte stand ein zweieinhalb mal zweieinhalb Meter dicker Obelisk, der von Gerüsten umgeben war. Unter einer abblätternden Matschschicht bestand der Obelisk aus glattem, hellgrauem Kalkstein, der zweifellos aus dem Steinbruch in der Mitte der Landfall-Hochebene stammte. Robson erkannte, dass es sich bei den Schriftzeichen an der Seite des Obelisken um Alt-Dynize handelte, was bei den Ruinen, die über die Stadt verstreut waren, kein seltener Anblick war.

Robson spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Die Magie, die am Rand seiner Sinne knisterte, schien zurückzuweichen, so als würde sie von der bloßen Anwesenheit des Obelisken abgestoßen. »Es sieht vollkommen gewöhnlich aus«, sagte er, während er ein Taschentuch hervorholte und sich die Nase schnäuzte, um das Zittern in seinen Fingern zu verbergen. »Nur ein weiterer Stein, den die Dynize zurückgelassen haben.«

»Genau das denken wir auch«, stimmte Cressel ihm zu und rückte seine matschbefleckte Brille zurecht. »Es gibt sehr wenig, was einzigartig an diesem Artefakt ist, abgesehen von dem Umstand, dass es so weit entfernt von dem alten Stadtzentrum liegt.«

»Wenn nichts Besonderes daran ist, wieso machen Sie sich dann die Mühe, es auszugraben?«, fragte Robson gereizt.

»Es ist im weichen Untergrund des Schwemmlands versunken. Wir haben gedacht, dass es leicht sein würde, es auszugraben, abgesehen von dem Wasser.«

»Und ist es das?«

»Bis jetzt schon.« Cressel zögerte. »Zumindest bis der Wahnsinn eingesetzt hat«, sagte er dann.

»Was ist passiert?«

»Die Arbeiter.« Cressel zeigte zu dem Strom an Arbeitern, die körbeweise Geröll die hölzernen Rampen an den Rändern der Ausgrabungsstätte hochschafften. »Wir schätzen, dass das Artefakt etwa fünfundzwanzig Meter hoch ist – wahrscheinlich das größte seiner Art in der Stadt. Letzte Woche haben wir in etwa achtzehn Meter Tiefe, beziehungsweise sechs bis sieben Meter vom Boden des Artefakts, eine ungewöhnliche Beschriftung gefunden. Am selben Tag wurde einer unserer Arbeiter wahnsinnig.«

»Korrelation ist nicht gleich Kausalität«, sagte Robson und machte sich nicht die Mühe, die Ungeduld in seiner Stimme zu verbergen.

»Das ist wahr. Wir haben zunächst angenommen, dass es einfach nur ein Hitzschlag war. Aber am nächsten Tag ist es wieder passiert. Und dann am nächsten. Und seitdem an jedem Tag. Am sechsten Tag haben wir uns entschieden, uns an Sie zu wenden, da Sie, nun, Sie sind ein begeisterter Unterstützer der Universität, und wir haben gedacht …«

»Dass ich Ihnen einen Gefallen tun könnte«, beendete Robson säuerlich den Satz. Er machte eine mentale Notiz, seine jährliche Spende an die Universität um ein paar Tausend Krana zu verringern. Besser, nicht den Eindruck zu erwecken, er sei übermäßig großzügig. Er mochte die Universität und war fasziniert von ihrem Streben nach Wissen über die Vergangenheit und Zukunft, aber diesmal waren sie zu weit gegangen. Er war ein vielbeschäftigter Mann. »Was meinen Sie mit ›ungewöhnlicher Beschriftung‹?«, fragte er.

»Es handelt sich nicht um Alt-Dynize. Tatsächlich konnte niemand an der Universität die Schrift wiedererkennen. Hier, Sie sollten mit runterkommen und es sich anschauen.« Cressel fing sofort an, eine der Rampen, die zur Ausgrabungsstätte führten, hinabzugehen. »Ich würde die Perspektive eines Privilegierten in dieser Sache sehr zu schätzen wissen.«

Robson lief ein Schauer über den Rücken, und er blieb an Ort und Stelle stehen, während sich das Grauen in seiner Magengrube breitmachte. Er konnte nicht genau sagen, woher dieses ungute Gefühl kam. Alte Ruinen auf diesem Kontinent hatten immer Schriftzeichen auf Alt-Dynize. Es mochte für Historiker bedeutsam sein, auf einem dieser Obelisken eine andere Sprache zu finden, aber eine Übersetzungsangelegenheit sollte doch nicht so eine Beklommenheit in ihm auslösen.

Er fragte sich, ob seine Sinne versuchten, ihn vor etwas zu warnen. Es wäre ein Leichtes, Cressel Nein zu sagen. Er könnte die Ausgrabungen stoppen und den Obelisken mit Schießpulver oder Magie zerstören lassen.

Aber Privilegierte wahrten ihren Ruf nicht damit, dass sie sich von Angst leiten ließen, also folgte er Cressel in die Tiefen der Ausgrabungsstätte.

Arbeiter gingen ihnen aus dem Weg, als Cressel Robson über das wackelige Gerüst führte, bis sie neben dem Obelisken standen und auf eine Stelle starrten, die sich nur etwa einen Meter über dem Boden der Grube befand. Auf einer der glatten Oberflächen des Steins befand sich eine verschlungene Inschrift. Sie war sorgfältig von Erdresten befreit worden, sodass eine beinahe weiße Oberfläche zum Vorschein kam. Sie war mit verschnörkelten Schriftzeichen bedeckt, die Robson vollkommen fremd vorkamen.

Er betrachtete die Schriftzeichen einige Momente lang eingehend. »Gab es bei dem Wahnsinn irgendwelche Muster?«, fragte er abwesend. Hinter ihnen hallte der leise, dumpfe Klang der Arbeiter, die mit Hacken und Schaufeln den Boden bearbeiteten, durch die Grube.

»Er scheint nur diejenigen zu befallen, die den Großteil des Tages hier unten verbringen«, sagte Cressel. »Als der dritte Fall auftrat, habe ich es Fakultätsmitgliedern und Lagerwachen untersagt, in die Grube zu steigen, es sei denn, es handelt sich um einen Notfall.«

Aber nicht den Arbeitern, dachte sich Robson. Tja. Irgendjemand musste schließlich leiden im Streben nach Wissen.

Robson legte den Kopf schief und begann, Muster in den verschnörkelten Schriftzeichen zu erkennen. Wie Cressel gesagt hatte, handelte es sich hier in der Tat um irgendeine Schrift. Aber in welcher Sprache? Ein Privilegierter in Robsons Alter war in einer breiten Auswahl von Fächern so gelehrt wie die meisten Professoren in ihren Fachgebieten, aber so etwas hatte Robson noch nie gesehen.

Die Schrift war uralt. Älter als das Alt-Dynize, von dem sie umgeben war, was eine der ältesten bekannten Sprachen der modernen Linguistik war. Langsam und zögerlich hob Robson seine Hand. Er streckte sich nach dem Els aus und griff nach der wilden Magie jenseits dieser Welt. Wieder wich sie vor diesem Ort zurück, und er musste sich anstrengen, um sie nah bei sich zu behalten, falls er sie brauchen sollte. Der Obelisk hatte etwas Unheimliches, und Robson hatte nicht vor, sich kalt erwischen zu lassen.

Als er sich sicher war, sich gegen jegliche Gegenreaktion gewappnet zu haben, berührte er die Schrift mit seinen behandschuhten Fingerspitzen.

Eine Vision durchstach Robsons Geist. Er sah einen Mann, ein vertrautes Gesicht umrahmt von goldenen Locken, der seine Hände ausstreckte, als wolle er die Welt in seinen Armen wiegen. Die Figur war von strahlendem, unerbittlichem Weiß umgeben, und Robson war sich nicht sicher, ob der Mann das Weiß erschuf oder davon verzehrt wurde.

Robson zog seine Fingerspitzen zurück, und die Vision verschwand. Er stellte fest, dass er heftig zitterte und seine Kleidung schweißgetränkt war. Cressel starrte ihn schockiert an.

Robson rieb seine Hände aneinander, und ihm fiel auf, dass die Fingerspitzen seines rechten Handschuhs weggeschmort waren, seine Finger aber unverletzt. Er ließ Cressel mit offenem Mund auf dem Gerüst stehen und rannte eine der Rampen hoch und durch das Lager. Er legte den gesamten Weg zu seiner Kutsche im Sprint zurück.

»Thom!«

Der Kutscher, der ein Nickerchen gemacht hatte, wachte mit einem Ruck auf. »Mylord?«

»Thom, Sie müssen der Kanzlerin eine Nachricht überbringen. Überbringen Sie sie ihr persönlich, ohne dass jemand dabei ist.«

»Jawohl, Mylord! Wie lautet die Nachricht?«

»Sagen Sie ihr, dass ich es gefunden habe.«

Thom kratzte sich am Kopf. »Das ist alles?«

»Ja!«, sagte Robson. »Zu Ihrer eigenen Sicherheit ist das alles, was Sie wissen müssen. Und jetzt los!«

Er schaute zu, wie die Kutsche quer über die Landstraße fuhr, dabei beinahe eine Gruppe von Maultieren von der Straße drängte und einen fluchenden Händler zurückließ. Robson holte sein Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn ab. Danach stellte er fest, dass sein Taschentuch ebenfalls vor Schweiß triefte.

»Privilegierter!«

Robson drehte sich um; der alte Professor hatte ihn eingeholt.

»Privilegierter«, keuchte Cressel. »Was ist los? Geht es Ihnen gut?«

»Ja, ja, mir geht es gut.« Robson winkte ihn ab und fing an, schnellen Schrittes wieder auf das Lager zuzugehen. Cressel schloss zu ihm auf.

»Aber Sir, Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen!«

Robson dachte über die kurze Vision nach; er runzelte die Stirn, während er ein paar Momente lang darüber sinnierte. »Nein«, sagte er schließlich. »Keinen Geist. Ich habe Gott gesehen.«

KAPITEL 1

Fort Samnan lag in Trümmern.

Samnans über sechs Meter hohe Palisade aus gespaltenen Zypressenstämmen war die größte Befestigungsanlage am westlichen Arm des Tristanflusses, sie umschloss eine ansehnliche Handelsstadt und eine Motte aus Holz, in der sich ein Bürgerhaus und mehrere Verwaltungsgebäude befanden. Zwölf Meter hohe Türme überblickten den Fluss auf der einen und mehrere Hundert Morgen an gerodetem, trocken gelegtem Ackerland auf der anderen Seite.

Das Fort war ein zivilisatorisches Monument inmitten des größten Stück Sumpflandes der Welt, weshalb es Vlora nur noch trauriger stimmte, es in seinem momentanen Zustand zu sehen.

Die mächtigen Tore lagen aufgebrochen im Inneren der Mauern, die an ein Dutzend Stellen von Artilleriefeuer durchschlagen worden waren. Von den meisten Türmen war nichts mehr übrig als schwelende Ruinen, und die Motte war zu Splittern zerbombt worden. Rauch stieg über dem Fort auf; die dunkle Säule erstreckte sich mehrere Hundert Meter hoch in den heißen, feuchten Nachmittagshimmel.

Die Nachwirkungen einer Schlacht lösten nur selten Entsetzen in Vlora aus. Kein Karrieresoldat konnte Schlacht um Schlacht mitansehen und dabei lange bei Verstand bleiben, aber für Vlora lag immer eine Art Melancholie in der Luft, die den Schock maskierte. Sie nagte in ihrem Hinterkopf und unterdrückte das Verlangen danach, den gut gewonnenen Kampf zu feiern.

Vlora schmeckte den vertrauten, scharfen Geschmack von Rauch auf ihrer Zunge und spuckte in den Schlamm, während sie dabei zusah, wie Soldaten in ihren blutrot-blauen Jacken durch den Dunst huschten. Die Männer bargen die Toten, machten Inventur von den Waffen, errichteten Lazarette und zählten die Gefangenen. Das alles passierte schnell und effizient, ohne Plündern, Vergewaltigungen oder Morde, was Vlora mit einem Funken Stolz erfüllte. Aber ihre Augen blieben auf die Leichen gerichtet; sie fragte sich, wie viele Verluste beide Seiten des Konflikts wohl davongetragen hatten.

Vlora arbeitete sich durch die Überreste des Torhauses. Sie stieg über die zerstörten Balken, die mal das Tor des Forts gebildet hatten, und hielt inne, um zwei Soldaten vorbeizulassen, die zwischen sich eine Bahre trugen. Sie leckte sich nervös über die Zähne, als sie zum ersten Mal einen Blick auf die Handelsstadt innerhalb des Forts werfen konnte. Ein paar der Gebäude hatten das Bombardement überstanden, aber dem Rest war es kaum besser ergangen als der Motte.

Forts im Grenzland waren dafür gebaut, dass moderne Waffen und leichte Artillerie drinnen und Palo-Pfeile und veraltete Musketen draußen blieben. Und nicht andersherum.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie einen Soldaten, der sich mit einer kleinen Kiste unter dem Arm aus einem halb zerstörten Gebäude schlich. Sie legte den Kopf schräg und wurde mehr als nur ein bisschen wütend. Sie versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern. »Gefreiter Dobri!«, rief sie endlich.

Der Soldat, ein kleiner Mann mit übergroßer Nase und langen Fingern, machte einen fast einen halben Meter hohen Satz in die Luft. Er wirbelte zu Vlora herum und versuchte, die Kiste hinter seinem Rücken zu verstecken.

»Ma’am!«, antwortete er und salutierte ihr zackig. Dabei fiel ihm allerdings die Kiste hin. Ein paar Trinkbecher und jede Menge Silberbesteck verteilten sich über die Straße.

Vlora musterte ihn einen langen Moment, um ihn ein wenig in seinem eigenen Unbehagen zappeln zu lassen. »Suchen Sie nach dem Besitzer dieser feinen Silberwaren, Dobri?«

Dobri machte große Augen. Er salutierte ihr weiterhin und hielt die Augen nach vorne gerichtet, aber Vlora konnte sein leichtes Zittern erkennen. Sie ging seitlich auf ihn zu, ignorierte das Silber und umkreiste ihn einmal schnell. Er trug dieselbe Uniform wie sie, blutrote Jacke und Hose mit dunkelblauen Streifen und Umschlägen. Die Jacke hatte goldene Knöpfe und einen Kupferanstecker am Revers, gekreuzte Musketen hinter einem Tschako – das Abzeichen der Riflejack-Söldnerkompanie. Die Uniform war verstaubt und hatte Schmauchspuren an der Hose und den Ärmeln. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und stieß dann einen geschlagenen Seufzer aus. »Nein, Lady Flint. Ich war dabei, sie zu stehlen.«

»Nun«, sagte Vlora. »Immerhin haben Sie sich daran erinnert, wie wenig ich Lügner mag.« Sie dachte ein paar Momente lang über die Situation nach. Die Schlacht war kurz, aber heftig gewesen, und Dobri war einer der Ersten ihrer Soldaten gewesen, die durch die Mauern gestürmt waren, nachdem ihre Artillerie das Tor eingeschossen hatte. Er war ein tapferer Soldat, auch wenn er ein Langfinger war. »Geben Sie das Silber dem Quartiermeister, damit er davon Inventur machen kann, und sagen Sie dann Oberst Olem, dass Sie sich für die nächsten drei Wochen freiwillig zum Latrinendienst melden. Ich schlage vor, Sie erzählen ihm nicht, warum, es sei denn, Sie wollen vor einem Erschießungskommando landen.«

»Jawohl, Lady Flint.«

»Die Riflejacks stehlen nicht«, sagte Vlora. »Wir sind Söldner, keine Diebe. Wegtreten.«

Sie schaute zu, wie Dobri das Silber aufsammelte und sich auf den Weg zum Zelt des Quartiermeisters vor den Fortmauern machte. Sie fragte sich, ob sie an ihm ein Exempel hätte statuieren sollen – schließlich musste sie ihrem Namen, »Flint«, Ehre machen. Aber die Männer waren jetzt seit fast einem Jahr im Grenzland unterwegs. Mitgefühl und Disziplin mussten zu gleichen Teilen walten, sonst hätte sie am Ende noch eine Meuterei am Hals.

»General Flint!«

Sie drehte sich um und sah einen jungen Sergeant, der aus der Richtung der zerstörten Motte auf sie zukam. »Sergeant Padnir, wie kann ich Ihnen helfen?«

Der Sergeant salutierte. »Oberst Olem erbittet Ihre Anwesenheit, Ma’am. Er sagt, es sei dringend.«

Vlora runzelte die Stirn. Trotz der Hitze war Padnir blass, und sein Blick wirkte nervös. Er war ein besonnener Mann in seinen späten Zwanzigern, nur ein paar Jahre jünger als sie, und einer der vielen Soldaten unter ihrem Kommando, die sich während des Adro-Kez-Krieges bewiesen hatten. Irgendetwas musste schiefgelaufen sein, dass er so aufgeregt war. »Aber natürlich. Ich mache nur meine Runden. Ich komme sofort mit.«

Sie folgte dem Sergeant die Hauptstraße des Städtchens entlang. Sie hielt einmal an, um die Reihe an Gefangenen in Augenschein zu nehmen, die alle neben der Straße knieten und von einer Handvoll Soldaten bewacht wurden. Jeder von ihnen war ein Palo – Ureinwohner von Fatrasta, die hellrote Haare und blasse Haut voller Sommersprossen hatten. Auf den ersten Blick konnte sie sehen, dass sie Dorfbewohner waren, keine Krieger.

Diese Gruppe hatte Fort Samnan eingenommen und verkündet, dass das Fort auf ihrem Land läge und es der fatrastanischen Regierung verboten sei, Fuß auf das Gebiet zu setzen. Sie hatten ein paar Dutzend Siedler getötet und ein paar Bauernhäuser niedergebrannt, aber sonst war nicht viel passiert. Eine recht glimpfliche Angelegenheit, was Aufstände anging.

Die fatrastanische Regierung hatte gekontert, indem sie Vlora und die Riflejack-Söldnerkompanie ausgesandt hatte, um die Rebellen niederzuschlagen. Es war nicht das erste Mal, dass Vlora einen Aufstand im Grenzland beendet hatte – schließlich bezahlten die Fatrastaner gut –, und sie war sicher, dass es auch nicht das letzte Mal gewesen sein würde.

Ein paar der Gesichter schauten mit leeren Blicken zu ihr hoch. Einige starrten sie böse an, andere stießen Flüche auf Palo aus, während sie vorbeiging. Sie ignorierte sie.

Sie kämpfte nicht gern gegen die Palo, die meistens leidenschaftlich, unterfinanziert und schlechter bewaffnet waren. Das bedeutete viele Guerillakämpfe, bei denen Anführer wie die schwer fassbare Rote Hand unverhältnismäßig großen Schaden anrichteten bei den fatrastanischen Armeen, die das Pech hatten, von ihnen als Ziel auserkoren zu werden. Offene Schlachten – wie die Belagerung von Fort Samnan – endeten in einem blutigen Massaker für die andere Seite.

Aus Vloras Sicht hatten die armen Narren durchaus recht. Das hier war ihr Land. Sie waren hier, seit die Dynize diesen Ort vor fast tausend Jahren verlassen hatten, lange bevor die Kressianer aus den Neun herübergekommen waren und angefangen hatten, Fatrasta zu kolonisieren. Pech für die Palo war nur, dass sie es sich nicht leisten konnten, die Riflejacks anzuheuern, während die fatrastanische Regierung es konnte.

Vlora ließ die Gefangenen zurück und fand Oberst Olem nur ein paar Augenblicke später auf der anderen Seite der zerstörten Motte. Mit fünfundvierzig konnte man dem Oberst sein Alter langsam an den grauen Strähnen ansehen, die seinen sandfarbenen Bart durchzogen. Vlora fand, dass er dadurch würdevoll aussah. Er trug dieselbe rot-blaue Uniform wie seine Kameraden, der einzige Unterschied war der einzelne silberne Stern, der auf der gegenüberliegenden Seite von den gekreuzten Musketen und dem Tschako sein Revers zierte und seinen Rang auswies. Eine unangezündete Zigarette hing ihm aus dem Mundwinkel.

»Oberst«, sagte Vlora.

»Flint«, antwortete Olem, ohne hochzuschauen. Technisch gesehen war er Vloras zweiter Offizier. In Wirklichkeit waren sie beide Generäle der adronischen Armee im Ruhestand und Mitbesitzer der Riflejack-Söldnerkompanie, sodass sie beide gleichrangig waren. Er bevorzugte es formhalber, einfach nur »Oberst« Olem zu sein, aber sie fügte sich seiner Einschätzung genauso häufig wie er ihrer.

Olem saß in der Hocke, die Hände auf den Knien, und schaute verwirrt aus der Wäsche.

Die Leiche eines alten Palo lag ausgestreckt vor ihm. Der Körper lag angewinkelt da, mit sommersprossiger Haut, die runzlig war wie eine Dörrpflaume, und blutete noch aus mehreren Schuss- und Bajonettwunden. Mindestens zwei Dutzend Leichen in Riflejack-Uniformen lagen um die Leiche verteilt. Kehlen und Bäuche waren aufgeschlitzt. Zwei Gewehre waren glatt entzweigebrochen.

»Was ist hier passiert?«

»Das weiß ich genauso wenig wie du«, sagte Olem. Er stand auf und entzündete ein Streichholz an seinem Gürtel. Er schirmte die Flamme vor dem Wind ab, steckte seine Zigarette an und paffte grimmig vor sich hin, während er die Leiche des alten Mannes vor ihren Füßen betrachtete.

Vlora schaute zu den Leichen ihrer Soldaten. Sie sagte ihre Namen leise in ihrem Kopf auf – Forlin, Jad, Wellans. Die Liste ging immer weiter. Sie alle waren Gefreite, und sie kannte keinen von ihnen besonders gut, aber sie waren immer noch ihre Männer. »Wer ist dieser Hurensohn?« Sie machte eine Geste zu der Palo-Leiche.

»Keine Ahnung.«

»Hat er das angerichtet?«

»Sieht danach aus«, sagte Olem. »Wir haben bereits fünfzehn Verwundete weggeschafft.«

Vlora musste diese Information einen Moment lang verdauen und versuchen, sie zu verarbeiten. Das ergab keinen Sinn. Die Palo waren häufig kampflustige Krieger, aber sie fielen genauso wie alle anderen gegen ausgebildete Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten. »Wie hat« – sie rechnete kurz nach – »ein einzelner alter Mann der besten verdammten Infanterie auf dem Kontinent fast vierzig Verluste zugefügt?«

»Das«, sagte Olem, »ist eine sehr gute Frage.«

»Und …?« Sie schenkte ihm einen langen, verärgerten Blick. Es war die Art von Blick, der die meisten ihrer Männer in die Flucht jagte. Olem wirkte wie gewöhnlich ungerührt.

»Die Jungs sagen, dass er sich zu schnell bewegt hat, um ihm mit bloßem Auge folgen zu können. So wie …« Olem hielt inne und schaute ihr in die Augen. »So wie ein Pulvermagier.«

Vlora streckte ihre magischen Sinne aus und griff nach dem Els. Als Pulvermagierin konnte sie jede Pulverladung und jedes Pulverhorn im Umkreis von Hunderten von Metern spüren, sie sah sie vor ihrem inneren Auge wie Punkte auf einer Karte. Sie konzentrierte sich auf die Leiche. Der alte Mann hatte kein Gramm Pulver an sich, aber sie konnte eine Art subtile Magie spüren, die ihn umgab, von einer Sorte, wie sie sie noch nie gefühlt hatte. Eine genauere Betrachtung verursachte ihr Kopfschmerzen, und sie schloss ihr drittes Auge wieder.

»Tja«, sagte sie Olem. »Er war kein Pulvermagier. Es ist irgendetwas … Magisches an ihm, aber ich kann nicht genau sagen, was.«

»Ich habe es nicht gefühlt«, gab er zurück. Er hatte seine eigene Begabung, eine geringfügige magische Fähigkeit, die es ihm erlaubte, nicht schlafen zu müssen. Aber sein Vermögen, ins Els zu schauen, war nicht so stark ausgeprägt wie das ihre.

Vlora kniete sich neben die Leiche und schaute sie sich noch mal an, diesmal ohne Magie. Das Haar des alten Mannes war vor langer Zeit von Rot zu Weiß übergegangen, und seine knorrigen Hände hielten immer noch zwei polierte Knochenäxte. Die meisten Palo zogen sich ihrer Umgebung entsprechend an – Wildlederkleidung im Grenzland, Anzüge oder Hosen in der Stadt. Dieser Krieger trug allerdings dickes, dunkles Leder, das nicht von einem Säugetier stammte. Die Haut war furchig, hart und hatte eine Textur wie Schlangenhaut.

»Hast du jemals gesehen, dass irgendjemand so was getragen hat?«

»Das ist Sumpfdrachenleder«, bemerkte Olem. »Ich habe Tornister und Stiefel daraus gesehen, aber das Zeug ist verdammt teuer. Schwer zu gerben. Niemand trägt einen ganzen Anzug daraus.« Er aschte seine Zigarette ab. »Und ich habe definitiv noch nie gesehen, wie ein Palo so kämpft. Das könnte ein Anlass zur Sorge sein.«

»Vielleicht«, sagte Vlora. Plötzlich fühlte sie sich erschüttert. Es war schlimm genug, mit den Sumpfdrachen, Schlangen, Insekten und Palo im Sumpf festzustecken. Aber hier draußen waren die Riflejacks immer an der Spitze der Nahrungskette gewesen. Bis jetzt. Sie fuhr mit den Fingern über das Leder. Das Material schien eine effektive Rüstung zu bieten, es war dick genug, um ein Messer oder vielleicht sogar einen Bajonetthieb abzuwenden. »Sieht aus wie eine Uniform«, murmelte sie.

»Es werden Gerüchte umgehen«, sagte Olem. »Soll ich das Geschwätz unterbinden?«

»Nein«, sagte Vlora. »Lass die Männer ruhig Gerüchte austauschen. Aber gib ihnen einen Befehl. Wenn sie jemanden sehen, der solche Kleider trägt, sollen sie in Formation gehen und ihn mit ihren Bajonetten auf Distanz halten. Und jemanden losschicken, der mich holt.«

Olem legte die Stirn in Falten. »Glaubst du, du kannst es mit jemandem aufnehmen, der sich durch so viele Infanteristen metzeln kann?«, fragte er.

»Keine Ahnung. Aber ich soll verdammt sein, wenn ich zulasse, dass sich irgendein Palo-Hinterwäldler durch meine Männer schneidet wie durch einen Festtagsschinken. Ich kann ihm immerhin aus dreißig Schritt Entfernung eine Kugel in den Kopf jagen.«

»Und was, wenn es mehr als einer ist?«

Vlora funkelte ihn an.

»Na gut«, sagte Olem. Er rauchte seine Zigarette zu Ende und zertrat die Kippe unter seinem Stiefel. »Linie formen und nach General Flint rufen.«

Vlora und Olem standen mehrere Minuten lang in Stille da und schauten zu, wie der Rest der Leichen weggeschafft und die Feuer endlich von der Eimerkette gelöscht wurden. Boten brachten Olem Berichte, und auf einem der wenigen verbliebenen Forttürme wurde ein Flaggenmast errichtet. Die fatrastanische Flagge, sonnenblumengelb mit grünen Rändern, wurde gehisst, zusammen mit der kleineren, rot-blauen Standarte der Riflejacks.

Vlora schaute zu, wie eine Frau auf einem Pferd durch das zerstörte Forttor ritt und das Tier durch die Menge und das Chaos der Aufräumarbeiten manövrierte. Die Frau betrachtete ihre Umgebung mit abgestumpfter, beiläufiger Miene, allerdings bedachte sie die gefangenen Palo, die neben der Straße knieten, mit einem höhnischen Lächeln. Vlora kannte die Frau nicht, aber sie kannte ihre gelbe Uniform umso besser – es war dasselbe Gelb wie auf der Flagge, die ihre Männer gerade gehisst hatten. Fatrastanisches Militär.

Die Reiterin kam vor Vlora und Olem zum Stehen und schaute mit finsterem Gesichtsausdruck zu ihnen herunter. Sie salutierte nicht. Sie grüßte sie nicht mal.

»Sie sind General Flint?«, fragte die Frau.

»Wer will das wissen?«, gab Vlora zurück.

»Eine Nachricht von Kanzlerin Lindet«, sagte die Frau. Sie zog einen Umschlag aus ihrer Jacke und hielt ihn hin. Olem nahm ihn ihr ab, riss ihn mit einem Finger auf und strich das Papier gegen seinen Bauch flach. Die Frau drehte wortlos ihr Pferd herum und ritt sofort wieder die Straße entlang auf das Forttor zu.

Fatrastanische Soldaten neigten dazu, arrogante Ärsche zu sein, aber Vlora hatte selten solche Unhöflichkeit erlebt. Sie tippte gegen den Griff ihrer Pistole. »Wäre es furchtbar unprofessionell von mir, ihr den Hut vom Kopf zu schießen?«

»Ja«, sagte Olem, ohne von dem Brief aufzusehen.

»Die verdammte fatrastanische Armee sollte den Leuten mehr Respekt zollen, die ihre Drecksarbeit erledigen.«

»Tröste dich damit, dass du viel mehr Geld verdienst als sie«, sagte Olem. »Hier, das solltest du dir anschauen.«

Vlora richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Brief in seiner Hand. »Was gibt es?«

»Ärger in Landfall«, sagte er. »Wir werden zurückgerufen. Wir sollen uns sofort auf den Weg zur Stadt machen.«

Vloras erster Impuls war es, einen kleinen Tanz aufzuführen. Landfall mochte zwar heiß sein und stinken, aber immerhin war es eine moderne Stadt. Sie konnte eine richtige Mahlzeit essen, ins Theater gehen und sogar ein Bad nehmen. Sie hatte genug von diesem verdammten Sumpf und – sie warf einen Blick auf die Leiche des kleinen, alten Mannes, die gerade weggeschafft wurde – seinen Drachenhaut tragenden Palo.

Ihre Erleichterung wurde jedoch schnell von einem schleichenden Verdacht überlagert. »Was für Ärger?«, fragte sie.

»Steht hier nicht.«

»Natürlich nicht.« Vlora kaute auf ihrer Unterlippe. »Wir räumen hier fertig auf«, sagte sie, »und schicken die Gefangenen mit einem Regiment unserer Jungs nach Planth. Sag allen anderen, dass wir bei Tagesanbruch abziehen.«

Vlora wartete am Ufer des Tristanflusses, während ihre Männer die wartenden Kielboote bestiegen, die losgeschickt worden waren, um sie abzuholen. Wenn sie flussabwärts mit den Kielbooten fuhren, würden sie Landfall in wenigen Tagen erreichen, aber sie fragte sich, was so dringend sein konnte, dass sie auf diese Weise zurückbeordert werden mussten. Es machte sie nervös, aber sie verdrängte den Gedanken fürs Erste und wandte sich der Schachtel in ihrem Schoß zu.

Es war eine alte Hutschachtel, eine, die sie gehabt hatte, seit sie ein Teenager gewesen war, und sie war gefüllt mit Briefen eines ehemaligen Geliebten, der längst tot und begraben war. Taniel Zwei-Schuss war ein Kindheitsfreund, ein Adoptivbruder, eine Zeitlang sogar ihr Verlobter gewesen, aber er war auch ein Held der Fatrastanischen Revolution. Vor elf Jahren hatte er in genau diesen Sümpfen für die fatrastanische Unabhängigkeit gegen die Kez gekämpft und sich mit seiner Muskete durch die Kanäle geschlichen, um Privilegierte und Offiziere zu töten.

Sie waren beide Adroner, Fremde in diesem Land, und die Erfahrungen, von denen Taniel ihr berichtet hatte, waren eine reiche Quelle an Informationen für ihre eigene Söldnerkarriere auf diesem verdammten Kontinent.

»Sie haben uns nur genügend Kielboote für die Infanterie geschickt«, sagte plötzlich eine Stimme.

Vlora sprang auf und wollte die Briefe verstecken, hielt sich aber davon ab. Es war nur Olem, und sie hatten keine Geheimnisse voreinander. »Und was machen wir mit unseren Dragonern und Kürassieren?«

Olem zertrat seine Zigarettenkippe unter seinem Stiefel und warf einen Blick auf die Hutschachtel in ihrem Schoß. »Major Gustar soll sie begleiten. Sie werden etwa eine Woche länger brauchen, um in Landfall anzukommen, wollen wir also hoffen, dass wir sie nicht eher brauchen. Sind das Taniels Briefe?«

»Ja«, sagte sie und blätterte sie abwesend durch. Der Verlust ihrer Kavallerie, selbst für eine Woche, war ein irritierender Gedanke. »Ich schaue nach, ob er jemals irgendwelche verrückten Palo-Krieger erwähnt hat, die Sumpfdrachenleder tragen.«

»Man sollte meinen, dass einem so etwas aufgefallen wäre«, sagte Olem. Er setzte sich neben sie ins Gras und schaute zu, wie ein neues Kielboot anlegte, um mehr Soldaten einzuladen. Hinter ihnen schwelte Fort Samnan immer noch.

Vlora überkam eine Welle von Nostalgie. Die Briefe waren eine ständige Erinnerung an ein vergangenes Leben – für sie und für Olem. »Das habe ich auch gedacht, aber ich wollte trotzdem noch mal nachsehen.«

»Ist wahrscheinlich eine gute Idee«, stimmte Olem zu. »Die Palo haben ihn gemocht, nicht wahr?«

»Er ist immer noch eine verdammte Legende, selbst nach all den Jahren«, sagte Vlora. Sie hoffte, dass sie nicht zu verdrießlich klang. Jede Erwähnung von Taniel reizte sie. Ihre gemeinsame Vergangenheit war … turbulent gewesen.

»Meinst du, er hätte für die Unabhängigkeit von Fatrasta gekämpft, wenn er gewusst hätte, dass die Fatrastaner die Palo dann so behandeln würden?«, fragte Olem und zeigte mit dem Kopf auf Fort Samnan.

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Vlora hatte ihre Bedenken über das, womit sie ihren Lebensunterhalt bestritt. Aber als Söldner konnte man es sich nicht immer leisten, wählerisch zu sein. »Er ist in diesen Krieg gegangen, um Kez zu töten. Und als er zurückkam …« Vloras Augen verengten sich unweigerlich, als sie sich an die rothaarige Begleiterin erinnerte, die Taniel von seinen Reisen mitgebracht hatte. »Tja.« Sie klappte die Hutschachtel zu. »Hier steht nichts Nützliches drin, zumindest was diesen Palo-Krieger angeht.« Sie rappelte sich auf und bot Olem ihre Hand an. »Auf nach Landfall.«

KAPITEL 2

Michel Bravis saß um sechs Uhr morgens im hinteren Bereich einer leeren Kneipe und nippte an einem warmen Bier. Draußen konnte er bereits hören, wie die örtlichen Fuhrmänner Baumwolle und Korn zum Hafen schafften und mit jedem zweiten Atemzug über die Hitze fluchten. Er fragte sich, ob es überhaupt eine einzige Person gab, die den Sommer in Landfall tatsächlich mochte, aber er entschied, dass so etwas ein Affront wäre gegen jeden Gott, der je existiert haben mochte.

Er hatte den Großteil seines Lebens in Landfall verbracht. Er war während der Revolution zum Mann herangewachsen, hatte während des Wiederaufbaus am Hafen Händler und Touristen um ihr Geld betrogen, und jetzt, wo er auf die dreißig zuging, diente er in der Geheimpolizei der Kanzlerin – den Blackhats, wie sie gemeinhin genannt wurden. Man sollte meinen, dachte er sich verbittert, dass ich inzwischen gelernt hätte, im Sommer nach Norden zu gehen.

Er nahm einen tiefen Schluck von dem Bier und schaute auf seine Taschenuhr. Elf Minuten nach. Früher Morgen, Sommer und Leute, die zu spät kamen. Das perfekte Dreiergespann, um ihm die Laune zu verhageln.

Und wenn er bei dieser verdammten Hitze erst einmal schlechte Laune hatte, würde das den Rest des Tages auch so bleiben.

Er zwang sich ein Grinsen aufs Gesicht und blickte auf die leere Kneipe. »Du musst keine schlechte Laune haben«, sagte er. »Kopf hoch. Es könnte schlimmer sein. Du könntest draußen sein.«

»Guter Punkt«, antwortete er sich selbst und setzte eine ernste Miene auf. »Außerdem gibt es hier drinnen Bier vom Fass, und der Besitzer taucht erst gegen Mittag auf.«

»Du«, sagte er mit seiner glücklichen Stimme, als er den Rest seines Bieres austrank und sich hinter die Bar begab, um sein Glas nachzufüllen, »wirst sehr betrunken sein.«

»Ja. Ja, das werde ich.«

Er fragte sich häufig, was die Leute wohl dachten, wenn sie mitbekamen, wie er Selbstgespräche führte. Wahrscheinlich, dass er ein Irrer war. Aber als junger Mann war er viel allein gewesen, und Dinge laut auszusprechen, half ihm, seine Gedanken zu ordnen und die Langeweile in den langen, heißen fatrastanischen Nächten zu bekämpfen. Außerdem war es in seinem Beruf besser, die Leute auf Abstand zu halten.

Er war bereits bei seinem dritten Bier, als die Tür endlich aufging und ein junger Mann auftauchte. Zögerlich warf er einen Blick in die Kneipe, die Beine angespannt, als würde er gleich davonlaufen wollen. Er warf einen Blick über die Schulter, bevor er rief: »Hallo?«

»Ja, ich bin hier drüben«, sagte Michel und winkte. »Du bist zu spät.«

»Ich konnte den Ort nicht finden.«

»Dumme Ausrede.«

»Wie bitte?«

Michel hielt sein Bier hoch und betrachtete den jungen Mann durch das Glas. Den jungen Mann? Den Jungen, das traf es eher. Er konnte nicht älter als sechzehn sein, er hatte kaum Haare am Kinn. Er war klein für sein Alter und ein bisschen übergewichtig, aber er hatte die Art von Allerweltsgesicht, mit der er in der Menge untertauchen konnte. Ganz ähnlich wie Michel, was keine Überraschung war. Immerhin war das das Erste, wonach die Blackhats bei einem Spion Ausschau hielten.

»Eine dumme Ausrede«, wiederholte Michel. Der junge Mann trug eine Hose mit hohem Bund, eine kurz geschnittene Jacke und einen Schal, den er wie eine billige Version eines Halstuchs trug. Solche Aufmachung war seit drei Jahren aus der Mode, und es irritierte Michel. »Wenn du eine Adresse nicht finden kannst, wirkst du entweder wie ein Idiot oder wie ein Arschloch. Beides kann hin und wieder nützlich sein, aber nicht so häufig, wie man denken würde. Niemand mag einen Idioten oder ein Arschloch, und zuallererst musst du sympathisch rüberkommen, sonst wirst du überall auffallen.«

Der junge Mann warf einen verwirrten Blick durch die Kneipe; seine Augen waren ein wenig geweitet, so als sei er gerade in die Höhle eines Verrückten gestolpert. »Du bist Mikkel?«, fragte er.

»Michel«, korrigierte ihn Michel, wobei er die zweite Silbe seines Namens betonte. »Mie-Kell. Mein Name reimt sich nicht mit ›Pickel‹.«

»Alles klar«, sagte der junge Mann langsam. »Ich bin Dristan. Bist du der Kerl, der mir beibringen soll, wie man ein Spion wird?«

»Sympathische Menschen«, fuhr Michel fort und ignorierte die Frage, »sind informiert. Sie sagen Bitte und Danke. Sie fragen nach dem Weg. Sie sind pünktlich. Du wirst all das sein, weil du sonst deine Arbeit nicht machen können wirst. Im besten Fall werden dich die Leute, die du observieren sollst, abweisen. Im schlimmsten Fall finden sie heraus, dass du nicht der bist, der du behauptest zu sein, und sie töten dich sehr langsam.« Michel seufzte. Er trank sein Bier aus und sagte sich, dass es sein Letztes gewesen sein sollte. »Du bist kein Spion«, sagte er. »Du wirst etwas sein, das wir einen ›passiven Informanten‹ nennen. Du wirst jemand anders werden und in ein völlig anderes Leben eintauchen, das nicht dein eigenes ist, und Informationen über Unruhen, Verbrechen und Verschwörungen gegen die Regierung an deinen Vorgesetzten weiterleiten.«

Dristan wirkte mehr als nur ein wenig nachdenklich. Er blieb verunsichert stehen und wirkte immer noch so, als würde er jeden Moment davonlaufen wollen.

Michel fuhr fort: »Zieh dich nicht an wie ein Dandy aus der Unterschicht. Dadurch fällst du auf, und du willst nur selten auffallen. Trage eine kurze Hose und ein Hemd in einer hellen Farbe. Vielleicht eine Schiebermütze. Du kannst nie damit falschliegen, dich wie ein einfacher Arbeiter zu kleiden.« Michel wedelte mit dem Finger in die Richtung von Dristans Kopf. »Dieses Gesicht, das du machst: dieser zögerliche, nervöse Ausdruck. Du solltest anfangen, daran zu arbeiten, das nicht zu machen. Das ist verdächtig. Also, sag mir, wie du heißt.«

»Habe ich doch schon gesagt, ich heiße Dristan.«

»Nein«, sagte Michel und schlug mit der Handfläche auf den Tisch. Dristan zuckte zusammen. »Sag mir, wie du heißt.«

»Ich heiße Dris…« Dristan hielt inne. »Ich heiße, äh, Plinnith.«

Er hat das schneller durchschaut als die meisten, denen ich das beibringe. »Plinnith? Was ist denn Plinnith für ein Name? Das ist ein dämlicher Name.«

Dristan starrte ihn an, so als würde er sich fragen, was genau er hören wollte, als seine Augen plötzlich aufblitzten. »Oh, Oh! Plinnith. Das ist brudanisch.«

»Kommst du aus Brudania?«, befragte ihn Michel weiter.

»Nein. Meine, äh, meine Mutter ist Brudanierin. Sie kommt aus einem Fischerdorf in Brudania.«

»Ach ja? Mein bester Freund kommt aus einem Fischerdorf in Brudania. Vielleicht kommen sie aus demselben Ort.«

»Ich weiß nicht mehr, wie der Ort hieß.«

»Oh, das ist wirklich schade. Was machst du hier in Landfall, Plinnith?«

»Mein Vater war ein Bauer, draußen bei Redstone. Er ist letzten Herbst gestorben, also hat mich meine Mutter in die Hauptstadt geschickt, um Arbeit zu finden.«

Michel stellte dem Jungen fast fünf Minuten lang Frage um Frage, einschließlich Details, für die normale Leute sich niemals interessieren würden, bevor er es endlich gut sein ließ. Er beendete das Spielchen und zapfte sich noch ein Bier. »Gar nicht so schlecht«, sagte er.

Der Junge strahlte ihn an.

»Auch gar nicht so gut«, fuhr Michel fort. »Ich habe kein verdammtes Wort davon geglaubt.«

»Aber du weißt schon, dass ich kein Bauernsohn namens Plinnith bin«, protestierte Dristan.

»Tue ich das?« Michel zuckte mit den Schultern. »Du hast keine Ahnung, was ich weiß. Es ist deine Aufgabe, mich davon zu überzeugen, dass du der bist, der du behauptest zu sein.« Er schwenkte das Bier im Glas herum und wünschte sich zum tausendsten Mal, dass es einen besseren Weg gäbe, das hier zu tun. Ständig kamen Straßenkinder, die den Blackhats beitreten wollten. Die meisten von ihnen wurden einfache Schläger, die jeden aufmischten, der sich gegen die Kanzlerin aussprach. Die intelligenten wurden vielleicht politische Vermittler oder Bürohengste. Der Rest wurde Informant und spionierte eben die Bevölkerung aus, die von der Kanzlerin regiert wurde.

Informanten hatten die gefährlichste Aufgabe und bekamen die wenigste Ausbildung. Welchen Nutzen hatte schließlich ein Informant, der dabei gesehen wurde, wie er sich mit einem bekannten Blackhat traf? Das Beste, worauf sie hoffen konnten, waren ein paar Tage an einem abgelegenen Ort mit jemandem wie Michel – einem erfahrenen Informanten, der lange genug am Leben geblieben war, um ein Bürokrat zu werden. Die Leute wussten natürlich, dass Michel ein Blackhat war. Sie wussten nur nicht, dass er die Karriereleiter erklommen hatte, indem er seine Nachbarn verraten hatte.

»Pass auf«, sagte Michel. »Es geht darum, eine Beziehung zu den Leuten aufzubauen.«

»Was bedeutet das?«, fragte Dristan.

»Du und ich, wir beide sind Kressianer, richtig? Ich meine, wir nennen uns Fatrastaner, aber auch wenn wir hier geboren wurden, unsere Großeltern wurden in den Neun geboren. Folgst du mir noch?«

»Ich denke schon?«

»Also, vielleicht haben unsere Großeltern auf dem alten Kontinent sich gehasst. Vielleicht kamen deine aus Kez, meine waren Adroner. Todfeinde. Aber sobald sie den Ozean überquert hatten, hatten sie etwas gemeinsam. Sie haben ihren alten Hass begraben und nennen sich jetzt einfach nur noch Fatrastaner. Nicht wahr?«

Dristan wirkte nicht beeindruckt. »Ich denke …«

Michel fiel ihm ins Wort. »Sie haben eine Beziehung zueinander. Sie haben herausgefunden, was sie gemeinsam haben, und haben zusammengearbeitet. Während der Revolution haben sich alle von uns, die sich als Fatrastaner gesehen haben, mit den Palo zusammengetan, um gegen die Kez zu kämpfen. Noch ein Beispiel dafür, wie man eine Beziehung über einen gemeinsamen Feind aufbaut.«

»Aber die Fatrastaner und die Palo hassen sich jetzt.«

»Stimmt. Weil sich Gefolgschaften ändern, sobald sie nicht mehr nützlich sind. Denk dran, Informanten müssen unauffällig sein. Du musst so tun, als stündest du auf derselben Seite wie die Leute um dich herum. Das erfordert ein wenig Schauspiel, und ein guter Schauspieler wird dir sagen, dass der beste Weg, sich in einen Charakter hineinzuversetzen, der ist, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, selbst wenn der Charakter der Bösewicht ist. Um Informationen über Staatsfeinde zu sammeln, muss man selber wie ein Staatsfeind denken, sich wie einer verhalten.« Er machte eine ausschweifende Geste. »Das ist die Spionagekunst, im Großen und Ganzen.«

»Ich dachte, wir sind keine Spione.«

»›Informantenkunst‹ ist kein Wort«, sagte Michel. Er kniff die Augen zusammen, schaute zur Theke und überlegte, ob er sich noch etwas zu trinken holen sollte. Vielleicht nur ein halbes Glas.

»Du wirkst älter, als du aussiehst«, bemerkte Dristan.

Michel ging um die Theke herum zum Zapfhahn. »Das liegt daran, dass ich weiß, wovon ich rede. Bring dir Selbstbewusstsein bei – oder wenigstens, wie man es vortäuscht –, und jeder wird dich für zehn Jahre älter halten, als du es bist. Es hilft auch, sich auf sein Handwerk zu verstehen, und in diesem Fall ist es mein Handwerk, ein Auge zu haben auf das Volk unserer Kanzlerin.« Michel hielt das Glas an das Fass und wartete ein paar Momente, bevor er den Zapfhahn aufdrehte.

Dristan schien ein guter Junge zu sein. Vielleicht war er gerade clever genug, um ein paar Jahre Spionage zu überstehen. Michel würde ihn noch ein, zwei Tage lang ausbilden, aber er hatte sich bereits entschieden, gegenüber Silberrose Salacia – der Person, die Dristans Berichte entgegennehmen würde – eine Empfehlung für den Jungen auszusprechen. Leider war in seiner Branche die Methode »Schmeiß sie ins kalte Wasser und hoffe, dass sie schwimmen können« die effizienteste Ausbildung. »Was hast du von dem Ganzen?«, fragte er. Er füllte ein zweites Glas und schob es den Tresen hinunter zu Dristan.

»Ich bekomme eine Rose, oder nicht?«

Die Rosen waren die Dienstabzeichen der Blackhats, die Medaillen, die ihnen ihre Namen gaben – eine Eisen- oder Bronzerose bedeutete einen niedrigen Rang, Messing oder Silber waren mittlere Ränge, und Gold – nun, Goldrosen bildeten die Elite der Blackhats, die in alle Geheimnisse und Machenschaften der fatrastanischen Regierung eingeweiht waren. Sie führten das Land im Namen der Kanzlerin und hatten das Vermögen des Kontinents in der Hand. Jeder wollte eine Goldrose haben. Nur wenige bekamen eine.

Aber selbst eine Eisenrose konnte einen riesigen Aufstieg bedeuten für jemanden wie Dristan, der aus den Slums kam. Wenn Dristan ein, zwei Missionen überlebte, würde er vielleicht direkt zur Messingrose aufsteigen.

»Abgesehen von der Rose«, sagte Michel.

Dristan nahm einen Schluck und schaute einen langen Moment auf seine Hände. »Die Blackhats werden sich um meine Schwestern kümmern«, sagte er dann. »Sie werden dafür sorgen, dass sie genug zu essen haben, ein Dach über dem Kopf haben und nicht im Hurenhaus landen. Selbst wenn ich sterbe, werden sie sich um sie kümmern, solange ich loyal bleibe.«

Michel nickte. Das hörte man häufig genug. Es gab eine Menge furchtbarer Geschichten über die Blackhats – wovon das meiste stimme –, aber sie kümmerten sich um ihre Leute. »Einen Rat habe ich für dich«, sagte er. »Du hast gerade ein Leben, eine Familie, glückliche Erinnerungen?« Er streckte seine Hand aus und zeigte auf unsichtbare Dinge in seiner Handfläche.

»Ja.«

»Wenn du deine Mission beginnst, musst du jemand komplett anderes werden. Denk nicht mal für eine Sekunde an dein altes Leben, sonst verrätst du dich vielleicht in einem schwachen Moment. Iss, schlaf, atme und denk sogar wie Plinnith, der Bauernsohn, oder wer auch immer du sein wirst.« Er ballte die Faust. »Nimm all diese schönen Erinnerungen, steck sie in eine kleine Murmel in der hintersten Ecke deines Gehirns und würdige sie keines Blickes, bis die Mission erledigt ist. Ich bin kein Informant mehr – nur ein mittlerer Blackhat, der im Dienste der Kanzlerin steht –, aber ich habe mal in deinen Schuhen gesteckt. Der Murmeltrick hat mir geholfen, es durchzustehen.«

»Du warst ein Spion – ich meine, ein Informant?«

»Was meinst du, warum ich hier sitze und dir das alles erzähle? Ich war dreimal ein verdeckter Informant, was zweimal zu viel ist für jemanden, der nur in einer einzigen Stadt operiert. Es ist ein Wunder, dass mich beim zweiten und dritten Mal niemand wiedererkannt hat. Aber das heißt auch, dass ich mit diesem Kram viel Erfahrung habe, weshalb ich ein paar Stunden Zeit bekomme, meine Erfahrung an jemanden wie dich weiterzugeben.«

»Warum hast du es gemacht?«

Michel dachte einen Moment lang über die Frage nach. »Ich habe es für die Rose gemacht, wie du.« Er steckte seinen Daumen durch das Band um seinen Hals und zeigte Dristan das silberne Medaillon, das jederzeit gegen seine Brust baumelte. »Ich habe es auch für Fatrasta getan«, sagte er aufrichtig. »Weil ich einen Unterschied machen wollte.«

»Hast du einen Unterschied gemacht?«

»Komm mich besuchen, wenn du deine erste Mission erledigt hast, und dann erzähle ich dir von der Pulvermagier-Affäre.« Michel schaute sich sein halbvolles Glas an und stellte es auf der Theke ab. Er ärgerte sich mehr als nur ein bisschen über sich selbst. Vier Gläser Bier vor sieben Uhr morgens waren zu viel, selbst für seine Verhältnisse.

Plötzlich gab es ein dumpfes Geräusch, und als Michel den Kopf drehte, wurde die Kneipentür plötzlich aufgeworfen.

Ein vertrautes Gesicht schaute herein. Es gehörte einem Mann, der ein schwarzes, langärmliges Hemd mit einer Reihe schwarzer Knöpfe an der linken Brust und eine passende schwarze Hose trug – die übliche Uniform der Geheimpolizei der Kanzlerin. An seinem linken Ärmelaufschlag fehlte ein Knopf, was Michel furchtbar irritierte. Er trug eine Messingrose, die gut sichtbar an seinem Hemd prangte. »Agent Bravis, Sir«, sagte er.

»Da soll mich doch … Verdammt noch mal, Warsim, das hier ist ein sicherer Unterschlupf. Hier bilde ich Informanten aus. Wenn die Leute dich hier reinkommen sehen, in dem Aufzug und um diese Uhrzeit …« Michel stieß mehrere Flüche aus. Seine schlechte Laune war endlich dabei, sich zu bessern, und dann musste Warsim auftauchen und seinen Lieblingsunterschlupf unbrauchbar machen. »Was zur Grube gibt’s denn?«

Warsim senkte den Kopf und verzog das Gesicht. »Tut mir leid, Sir. Ich hatte keine andere Wahl. Sie haben eine Vorladung zum Büro des Großmeisters erhalten. Fidelis Jes will Sie sehen.«

»Warum?« Michel war völlig perplex. Er war keine Goldrose. Er hatte nichts mit dem Großmeister zu schaffen. Kalter Schweiß lief ihm über den Rücken. »Er will mich sehen? Er hat namentlich nach mir gefragt?«

»Das wurde mir so gesagt.«

Michel schob sein Bier von sich und hoffte verzweifelt, dass er genug Zeit haben würde, um nüchtern zu werden. Zur Grube, er war schon wieder nüchtern. Ins Büro des Großmeisters gerufen zu werden, war, wie in die Bucht geworfen zu werden. »In Ordnung. Um wie viel Uhr?«

»Sie haben einen Termin um acht Uhr fünfzehn.«

Michel schaute auf seine Uhr und dann hinüber zu Dristan. »Raus mit dir«, sagte er. »Der Unterricht ist abgesagt.«

»Soll ich morgen wiederkommen?«

»Nein. Wenn alles glattläuft, werde ich dich bald finden kommen, und dann machen wir weiter mit deiner Ausbildung.«

»Und wenn es nicht glattläuft?«

Michel schaute noch mal auf die Uhr. Der Großmeister. Verdammte Grube. »Dann vergiss, dass wir uns je getroffen haben.«

KAPITEL 3

»Fortschritt.«

Es war ein unscheinbares Wort, das nicht einmal besonders gut auf der Zunge lag, aber es wurde so häufig in der Zeitung abgedruckt, dass man meinen könnte, dass es der Name des neuen Gottes von Fatrasta war. Als ob Fatrasta, ein Land von zerstrittenen Immigranten, eine zweimal gestohlene Nation aufgebaut auf industrialisierter Ausbeutung, jemals seinen eigenen Gott hervorbringen könnte. Landfall, die Hauptstadt von Fatrasta, würde einen Gott durchkauen und wieder ausspucken, und es würde kaum in den Zeitungen stehen.

Styke saß eingezwängt auf einer unbequemen Holzbank in einem engen Gang. Ein halbes Dutzend andere saßen auf derselben Bank – gebrochene, geschlagene Männer, die zwanzig Jahre älter aussahen, als sie waren. Sie starrten den Boden oder die Decke an, um Blickkontakt zu vermeiden, und beteten entweder oder waren in ihren eigenen, verzweifelten Gedanken versunken. Durch ein hohes, vergittertes Fenster strömte Licht herein, und in einem Raum in der Nähe hustete sich jemand die Lunge aus dem Leib.

Auf Stykes Schoß lag eine zerlesene, vier Monate alte Zeitung, auf deren Titelseite das Wort FORTSCHRITT in Großbuchstaben gedruckt war. Er dachte mehrere Minuten über das Wort nach und überlegte, ob er die Zeitung zerreißen solle, um seiner Abscheu Luft zu verschaffen, aber es war schwierig genug, in den Arbeitslagern eine Zeitung zu bekommen, und für diese hatte er eine ganze Wochenration Tabak getauscht.

Stattdessen holte er ein halb fertig geschnitztes Stück Holz hervor und packte es, so fest er konnte, mit seiner verstümmelten linken Hand. Er fing an, das Holz mit seiner Rechten mit einem kleinen Messer zu bearbeiten, das er aus dem Speisesaal gestohlen hatte. Mit dem Daumen auf dem Rücken der Klinge schabte er mechanisch Stücke ab, während er las.

Die Zeitung berichtete, dass adronische Söldner schwer damit beschäftigt waren, das »Grenzland zu zähmen«. Drei weitere Arbeitslager wurden in Landfall eröffnet, um Platz zu schaffen für die Verurteilten, die aus den Neun herübergeschifft wurden. Im Palo-Viertel waren Unruhen ausgebrochen nach der Hinrichtung eines jungen Radikalen. Der Handel mit Kez hatte sich immer noch nicht wieder normalisiert, obwohl ihr Bürgerkrieg vor sechs Jahren geendet hatte.

Styke grunzte. Dem Inhalt jeder Zeitung nach zu urteilen, die er in die Hände bekam, hatte sich die Welt in den zehn Jahren seit seiner Verhaftung nur wenig verändert. Sie war immer noch voller Gier, Gewalt, Armut, Wut und wenig sonst. Er richtete seine Aufmerksamkeit von der Zeitung zu dem Stück Holz in seiner Hand und verbrachte die nächsten paar Minuten damit, Details in das weiche Kiefernholz zu schnitzen.

Er hielt sein Werk hoch und betrachtete es im Morgenlicht. Kein schlechtes kleines Kanu, befand er. Es war schmal, glatt und so lang wie seine Handfläche, und die Außenseite war mit Palo-Zeichen verziert. Er pustete die Späne von seinem Arm, dann faltete er die Zeitung zusammen und zwang sich, aufzustehen. Er machte ein finsteres Gesicht, als sein rechtes Bein ein paar Sekunden zu lange brauchte, um seinem Befehl zu gehorchen.

Er ging zu der Tür, die zum Hof führte, und öffnete sie einen Spalt. Direkt vor der Schwelle wartete ein junges Mädchen, obwohl man sie unter der Maske aus Dreck und Schmutz, die ein Leben in einem Arbeitslager mit sich brachte, leicht für einen Jungen hätte halten können. Sie war barfuß und trug ein altes Hemd von Styke, das sie am Hals und der Hüfte zusammengebunden hatte, damit es nicht herunterfiel. Sie sah aus wie ein verhungernder Spatz, dem man die Hälfte seiner Federn ausgerissen hatte.

»Celine«, flüsterte er.

Das Mädchen hob den Kopf und drehte sich zu ihm. »Ben! Bist du rausgekommen?«, fragte sie aufgeregt.

Styke schüttelte den Kopf. »Bin noch nicht mal drinnen gewesen«, antwortete er. »Hier.« Er schob das Kanu durch den Spalt, bevor eine Wache bemerken konnte, dass die Tür offen war. »Könnte ein paar Stunden dauern.«

»Ich warte.«

Styke schloss die Tür leise und humpelte zurück zu seinem Platz. Er unterdrückte ein Stöhnen, als er sich wieder auf die harte Bank setzte. Einer der anderen Sträflinge warf einen Blick zur Tür, dann zu ihm, senkte dann aber schnell wieder seinen Blick.

Nur ein paar Minuten vergingen, bis eine Tür am anderen Ende des Ganges aufging und eine Wache erschien. Styke konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, aber er wusste, dass er damals vor dem Krieg in der Militärpolizei der Kez-Armee gedient hatte. Er war ein großer Mann, größer als die meisten, und hatte Unterarme, die so dick waren wie Pulverfässer. Der Wachmann schaute sich den armen Haufen auf der Bank an und ließ dabei seinen Prügel abwesend kreiseln. Wie die anderen Wachen trug er einen sonnenblumengelben Überwurf, der den fatrastanischen Militärjacken nachempfunden war, die Styke selbst vor langer Zeit getragen hatte.

Der Wachmann funkelte Styke an. »Du da«, sagte er. »Sträfling 10642. Du bist dran.«

Styke rappelte sich auf und hinkte auf den Wachmann zu.

»Beeil dich mal ein bisschen«, sagte der Wachmann. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

Ich frage mich, dachte Styke im Stillen, wie du wohl ohne Arme aussehen würdest.

»Zur Grube«, keuchte der Wachmann, als Styke endlich neben ihm stand, »du bist ganz schön groß, was?«

Styke wandte seinen Blick ab. Er wusste, welche Art von Aufmerksamkeit seine Größe auf sich zog. Niemals die gute Art, zumindest nicht hier drinnen. Die Wachen neigten dazu, an den größten Sträflingen ein Exempel zu statuieren, damit niemand aus der Reihe tanzte.

Ich könnte dich zerquetschen wie einen Käfer. Der Gedanke kam ungebeten, und Styke unterdrückte ihn schnell. Hier drinnen war kein Platz für solche Gedanken. Er war ein Vorzeigesträfling und würde das auch weiterhin bleiben, bis er seine Zeit abgesessen hatte, sonst müsste er sich hier zu Tode arbeiten. Kurz blitzte eine Erinnerung vor seinem geistigen Auge auf – blutbefleckte Panzerhandschuhe um seine Fäuste, ein Schwert in der Hand und ein Ulanenlied, das er aus voller Kehle sang, während er sich zu Fuß durch die feindlichen Grenadiere kämpfte, von denen jeder Einzelne so groß war wie dieser arrogante Wachmann. Er blinzelte, und die Vision war verschwunden.

Endlich machte der Wachmann einen Schritt zurück und hielt Styke die Tür auf. Er wies ihm den Weg zu einem weiteren staubigen Gang, in dem es nur ein einziges Fenster gab. »Erste Tür rechts.«

Styke folgte seinen Anweisungen und fand sich schnell in einem kleinen Raum mit Backsteinwänden wieder. Er erinnerte ihn an den Beichtstuhl in einer Kresim-Kirche, doch anstelle des geflochtenen Sichtschutzes befand sich zwischen ihm und dem nächsten Raum ein schweres Eisengitter über dem Fenster. Darüber war ein Schild angebracht, auf dem in großen Buchstaben BEWÄHRUNG stand. Der Raum war gut beleuchtet, wahrscheinlich damit der Richter sich das Monster gut anschauen konnte, das er auf die Welt loslassen würde.

»Setzen Sie sich bitte«, sagte eine Stimme hinter dem Eisengitter.

Styke setzte sich auf einen niedrigen Holzschemel und hörte nervös, wie er unter seiner Masse ächzte.

Es folgten mehrere Momente der Stille, bis Styke seinen Blick vom Boden hob, um durch das Eisengitter zu schauen. Er hatte diesen ganzen Prozess schon zweimal durchgemacht, er wusste also, wie das Spielchen lief. Bewährungsrichter war immer derjenige hochrangige Lagerverwalter, der gerade Zeit hatte, was bedeutete, dass die Entscheidung zwischen Freiheit und zwei weiteren Jahren Knochenarbeit gewaltig davon abhing, ob die Person heute Morgen mit dem richtigen Fuß aufgestanden war.

Was Styke auf der anderen Seite des Gitters sah, brachte sein Herz zum Singen.

»Raimy?«, fragte er.