Die Presse zur Schräglage der Nation - Rainer Nowak - E-Book

Die Presse zur Schräglage der Nation E-Book

Rainer Nowak

4,8

Beschreibung

„Mögest Du in interessanten Zeiten leben!“, lautet ein Spruch aus dem alten China. Er ist als Fluch gemeint. Gegenwärtig, in allgemeiner Weltunordnung, scheint er sich dramatisch zu bestätigen. „Die Presse“ versucht, das Wesentliche aus dem Fluss des Aktuellen herauszufiltern. Sie zieht täglich Bilanz. In „Die Presse-Schau“ aber halten zwanzig Spitzenjournalisten aus der Redaktion essayistisch fest, was sie längerfristig besonders bewegt. Sie nehmen den „Essay“ wörtlich: als Versuch zu verstehen, was gegenwärtig in Politik, Wirtschaft und Kultur aufregt und uns auch künftig intensiv beschäftigen wird.

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INHALT

Cover

Titel

Rainer Nowak: VORWORT

1. Anneliese Rohrer: UNGEHORSAM

2. Florian Asamer: GESPALTEN

3. Christian Ultsch: TELLERRAND

4. Friederike Leibl-Bürger: RÜCKZUG

5. Norbert Rief: HEIMAT

6. Oliver Pink: NATION

7. Bernadette Bayrhammer: KLASSENKAMPF

8. Dietmar Neuwirth: SCHLUSSAKORD

9. Wolfgang Böhm: ORIENTIERUNGSLOS

10. Benedikt Kommenda: RECHTHABERER

11. Mirjam Marits: WIDERSTAND

12. Erich Kocina: RADIKALISMUS

13. Josef Urschitz: STAATSBANKROTT

14. Nikolaus Jilch: AUFGEBLASEN

15. Gerhard Hofer: GERECHTIGKEIT

16. Karl Gaulhofer: GEMÜTLICHKEIT

17. Bettina Eibel-Steiner: LECKER

18. Wilhelm Sinkovicz: KULTURNATION

19. Thomas Kramar: MELANGE

20. Norbert Mayer: AL-CHWARIZMI

Weitere Bücher

Impressum

VORWORT

VON RAINER NOWAK

Wird’s besser? Wird’s schlimmer? Mit Prognosen sollten sich Journalisten, die sich so nahe am Geschehen zu befinden glauben, zurückhalten. Es ist schwer genug, Sachverhalte und Dinge zu bewerten, die eben erst stattgefunden haben. Tageszeitungen leben noch immer von der Aktualität. Ihre größte Herausforderung besteht darin, ganz nah heranzukommen an die Ereignisse und Phänomene, sie zu filtern und so für ihre Leser zu entscheiden, was wichtig oder weniger wichtig, was wahr oder falsch ist.

In der „Presse“ zum Beispiel, für die ich seit mehr als zwanzig Jahren schreibe und deren Chefredakteur ich seit 2012 bin, arbeiten an die hundert Redakteure täglich daran, aus vielfältigen Informationen das Wesentliche in die strenge Form der digitalen und gedruckten Zeitung zu transformieren. Die Aufgaben dieses liberalen und konservativen Blattes haben sich seit 1848 im Kern nicht verändert – über das Neueste berichten, den Hintergrund zum laufenden Geschehen liefern, enthüllen, unterhalten und täglich beweisen, dass Macht Kontrolle braucht.

Wird’s besser? Wird’s schlimmer? Darauf kann man ehrlicherweise nur mit einem kollektiven Gefühl antworten. Für die meisten Journalisten scheint es ausgemacht, dass wir uns in einer Wendezeit befinden – nicht nur wegen der großen Flüchtlingsströme, die nun auch Europa voll erfasst haben, nicht nur wegen immer häufigeren atypischen Wahlen, die Bewährtes auf den Kopf zu stellen scheinen, ob nun beim Kampf um die Hofburg in Österreich oder um das Weiße Haus in den USA. Der politische Umgangston wird rauer, zugleich scheint es bei der Problembewältigung eher Stillstand als Fortschritt zu geben. Bewegen wir uns auf ein Zeitalter der Reaktion zu? Seien wir nicht voreilig. Aber auf emotionaler Ebene scheint 2016/17 ein Déjà-vu-Erlebnis von 1989/90 zu bieten. Allerdings mit negativen Vorzeichen. Damals wurde ausgiebig über das positive „Ende der Geschichte“ diskutiert. Die neue Weltordnung bedeutete für Optimisten des Westens einen Sieg des Kapitalismus und der Demokratie. Wer damals vom „Kampf der Kulturen“ sprach, galt als hyperventilierender Außenseiter. Die Geschichte wird so oder so fortgeschrieben. Wir sollten aus ihr lernen und uns vor Kurzschlüssen hüten.

Wie gelingt einem das im profanen Tagesgeschäft des Journalismus? Durch die digitale Revolution sind die Herausforderungen an meinen Beruf (so wie in den meisten anderen Branchen) rasant gewachsen. Das Tempo und Ausmaß des Informationsflusses wurde seit der Einführung des World Wide Web kontinuierlich gesteigert, neue anschauliche Formen des Journalismus sind im Entstehen. Wir Medienleute leben immer „in interessanten Zeiten“, mitten im Umbruch. Und gerade eben wirklich intensiv. Nur mit einer erfahrenen Redaktion und ihren speziellen Fertigkeiten gelingt es, solch dynamische Prozesse zu bewältigen. Zugleich aber raten misstrauische Chefredakteure ihrem Team immer auch, ein wenig auf Distanz zu gehen, um die Dimension einer Geschichte besser einschätzen zu können. Deshalb hat ein Angebot von Matthias Opis, dem Chef der Verlagsgruppe Styria, bei mir sofort großes Interesse geweckt. Ob die Redaktion der „Presse“ einen Band mit kurzen Essays verfassen wolle, den Beginn einer Reihe im wiedererweckten Molden Verlag? Feuilletonistisch sollten zwanzig Themen behandelt werden, die dieses Land bewegen.

Wir stellen uns dieser Aufgabe. Sie ist auch eine freiwillige Selbstkontrolle. Mein Mitherausgeber Norbert Mayer und ich haben sie den Kolleginnen und Kollegen so präsentiert: Schreibt doch bitte einmal ausführlicher als im Tagesgeschäft über ein Thema, das ihr seit Langem verfolgt, von dem ihr annehmt, dass es euch auch künftig intensiv beschäftigen wird. Ihr dürft auch gerne etwas spekulativ und verspielt werden. Das noble Wort „Essay“ bedeutet doch ursprünglich „Versuch“. Für diesen Band sollte Österreich unsere kleine Versuchsstation sein, in der die große Welt ihre Probe hält.

Das Ergebnis, liebe Leserinnen und Leser, liegt nun vor Ihnen, eine Vielfalt pointierter Texte aus Politik, Chronik, Wirtschaft und Feuilleton, die Leibthemen von zwanzig Mitgliedern unserer Redaktion. Was bewegt sie? Ich muss gestehen, dass mich viele dieser Betrachtungen von Menschen, mit denen ich seit Jahren täglich in Redaktionskonferenzen über alles nur Denkbare intensiv diskutiere, überrascht hat – positiv, weil die Essays lehrreich sind. Vor allem aber sind sie auch ernüchternd. Deshalb haben wir uns auch dazu entschlossen, unser Buch mit dem herausfordernden Titel „Zur Schräglage der Nation“ zu versehen. Es gibt, so glauben wir, Handlungsbedarf.

Anneliese Rohrer, Doyenne der Politik-Redaktion, durch deren Schule viele der jüngeren Kollegen, wie auch ich, gegangen sind, mahnt von den Bürgern mehr Selbstständigkeit ein. Sie sollten sich von den Fesseln der Gnadenpolitik befreien. Wie nötig dieser Gesinnungswandel wäre, analysiert sie in gewohnter Schärfe. Mein Stellvertreter Florian Asamer fragt sich, ob dieses Land tatsächlich so gespalten sei, wie es sich bei der Wahl des Bundespräsidenten gezeigt habe. Sein Wunsch: Der kommende Nationalratswahlkampf möge doch wieder mehr klassisch-politische statt bloß emotionelle Themen auf die Tagesordnung bringen. Christian Ultsch, Chef der Außenpolitik und der „Presse am Sonntag“, argumentiert schlüssig, warum sich Österreich nicht der Illusion hingeben dürfe, eine Insel der Seligen zu sein, warum es angebracht sei, über den Tellerrand hinaus zu schauen. Besonders unsere kleine Welt sei so intensiv vernetzt mit der großen, dass sie sich Alleingänge nicht leisten könne. Vom Rückzug ins Private schreibt unsere Chefin vom Dienst, Friederike Leibl-Bürger: „Die Welt retten will keiner mehr, die Erwartungen werden tiefer gesteckt“, lautet ihre Kritik an der jüngeren Generation. Die flüchte aber nicht vor der Realität, sondern vollzöge einen Rückzug von Träumen und Idealen. Also doch Biedermeier in unserer kleinen Welt, in der die große ihre Probe hält? Unser Chef vom Dienst Norbert Rief, Reporter aus Leidenschaft und langjähriger „Presse“-Korrespondent in den USA, untersucht den Begriff Heimat, der im längsten Präsidentschaftswahlkampf der Zweiten Republik eine wesentliche Rolle gespielt hat, komparativ. Innenpolitiker Oliver Pink wagt ein Plädoyer für den demokratischen Nationalstaat, während sein Kollege Dietmar Neuwirth unter dem Titel „Schlussakkord“ die Stichwahl zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer zum Ausgangspunkt nimmt, um zu prognostizieren, dass die rot-schwarze Hegemonie in Österreich bald unwiederbringlich vorbei sein werde.

Zu negativ? Bewegt sich die Politik nicht doch noch ein wenig, zumindest auf Sachebene? Bildungs-Redakteurin Bernadette Bayrhammer erörtert den Klassenkampf an unseren Schulen. Sie ist bis in die Randbereiche gegangen und besonders dort hat sie Tendenzen zur Spaltung der Gesellschaft erkannt. Dabei sollte die Schule als Sozialisierungsinstanz neben dem Fachwissen doch vor allem eins vermitteln: Zusammenleben. Wie sehr sind wir inzwischen, um ein wenig über den Tellerrand hinauszusehen, europäisch sozialisiert, nach 22 Jahren in der Union? Europa-Ressortleiter Wolfgang Böhm beschreibt einen mühevollen Weg und gibt uns EU-Bürgern einen weisen Rat: „Wer in der Natur schon einmal unter Orientierungslosigkeit gelitten hat, weiß, dass sie nicht erst dort beginnt, wo der Weg endet, sondern bereits dort, wo das Vertrauen in den eingeschlagenen Weg schwindet.“ Wie erklärt man das aber gerade den Österreichern, die laut unserem Chef vom Dienst und Hausjuristen Benedikt Kommenda ein ambivalentes, manchmal äußerst strenges, vereinzelt sogar bis an die Spitze von Ministerien lockeres Verhältnis zum Recht haben? Kommendas Ratschläge für Rechthaberer sollten in Österreichs Ämtern zur Pflichtlektüre gemacht werden. Sprachen wir nicht eben vom neuen Biedermeier, von der Art, wie die Österreicher es sich richten? Mirjam Marits, Redakteurin der Chronik, hat den Wienern bei verschiedensten Formen des Protests zugesehen und folgert daraus auf veränderte Arten des Widerstands. Nicht die ganz großen gesellschaftlichen Themen und Massendemonstrationen werden heute favorisiert, sondern sehr spontane und sehr lokale Aktionen, die oft im Internet ihren Ausgangspunkt nehmen. Die Empörung bricht sich ganz neue Bahnen. Am meisten Aufregung, speziell auch im Lokalen, herrscht seit geraumer Zeit über islamischen Radikalismus. Chronik-Chef Erich Kocina widmet sich diesem heiklen Thema einfühlsam, aber mit ausgeprägtem Realitätssinn.

Nüchtern ist auch die Einschätzung unserer hervorragenden Wirtschaftsredaktion zur „Schräglage der Nation“. Selbst wenn ich mich wiederhole: Der Essay „Staatsbankrott“ des Leitenden Redakteurs Josef Urschitz sollte zur Pflichtlektüre in allen Ministerien, Landtagen, Gemeinden und Kammern gemacht werden. Keine schönen Aussichten. Die Staatsschuld wächst, Österreich steckt mittendrin in der international größten Blase der Wirtschaftsgeschichte. Was es für ein Land bedeutet, derart aufgeblasen zu sein, erklärt Nikolaus Jilch anhand einer 300 Jahre alten Geschichte aus Frankreich – einem frühen Pyramidenspiel, das eine gewaltige Inflation bewirkte, die einige große Gewinner, aber Verlierer en masse hatte. Als dort 1720 die Blase platzte, folgten Not und Elend, schließlich brach die Revolution aus. Nein, das war nicht gerecht, und genau mit diesem Kampfbegriff „Gerechtigkeit“ befasst sich Gerhard Hofer. Was verunsichert heute die Menschen bis tief in die Mittelschicht? Die Angst, etwas zu verlieren. Der Blick richtet sich instinktiv nach unten. Wer will mir etwas wegnehmen? In der Stunde der Verlierer gerät man leicht aus der Balance. Nehmen wir also Abschied von der Gemütlichkeit, rät Karl Gaulhofer: „Seit der Finanzkrise (von 2008) tritt das Unbehagen am ungemütlichen Wandel, der uns von außen aufgezwungen wird, immer offener zutage.“

Und wie sehen unsere Feuilletonisten diese Zeitenwende? Ist wenigstens in ihrem Ressort das Wahre, Gute und Gemütliche der „Kulturnation“ Österreich bewahrt? Unterschätzen Sie nicht die Verteidiger der „bella figura“! Sie mögen ihre Aussagen sprachlich hübsch verpacken, doch liefern sie trotzdem Medizin. Mit der Republik der Künstler und Gelehrten, mit der „Kulturnation“, setzt sich unser Erster Musikkritiker Wilhelm Sinkovicz auseinander. Er ist dabei so unerbittlich, als ob er hören müsste, dass das Staatsopernorchester die Ouvertüre zu „Don Giovanni“ schlampig spielte, und liefert eine elegante Abrechnung: mit der Halbbildung, mit Versäumnissen in unseren Lehrplänen, mit generellen Nivellierungstendenzen. Nein, es ist noch nicht genug! Ressortleiterin Bettina Eibel-Steiner geht auf die „Deutschlandismen“ ein, die sich in den elegantesten Wiener Bezirken ausbreiten. „Lecker“ betitelt sie ihren Text, der ein charmantes Plädoyer für raffinierten Sprachwandel ist. Zugegeben: „Lecker“ mag für manchen Hofrat wahrscheinlich ein ähnlich schlimmes Reizwort sein wie ein „Tschüss“, mit dem er im Café von einem Subalternen verabschiedet würde. Da fällt einem doch das Kipferl in die Melange! Mit diesem in besseren Lokalen noch immer korrekt servierten Heißgetränk beschäftigt sich Ressortleiter Thomas Kramar. Doch um Kaffee geht es bei ihm nur oberflächlich. Seine „Melange“ ist eine kluge Abhandlung über Sprache, Heimat, Kultur, über Mischformen, denen (häufiger als gedacht) mit Reinheitsgeboten begegnet wird. Zum Abschluss geht der Leitende Redakteur Norbert Mayer am weitesten zurück in der Geschichte, bis nach Bagdad vor 1200 Jahren, als dort bald nach der Herrschaft des Kalifen Harun al Rashid ein aus Zentralasien zugewanderter Gelehrter recht praktische mathematische Handlungsvorschriften erfand. Was hat das mit der Schräglage unserer Nation zu tun? Liebe Leserinnen und Leser, lassen Sie sich überraschen. Die nach dem Mathematiker Al-Chwarizmi benannten Algorithmen sind wichtige Werkzeuge für Facebook, Google und Co., sie beeinflussen fast alle Lebensbereiche und speziell auch die Medien. Tageszeitungen wie „Die Presse“ stehen gerade vor immensen Herausforderungen in der digitalen Revolution. Ihnen müssen wir uns stellen, wollen wir nicht, wie so viele heutzutage, in gefährliche Schieflage geraten. Wir sind um Ausgewogenheit bemüht. Täglich. Lassen Sie mich vorsichtig optimistisch mit einem kurzen Gedicht enden:

„Wird’s besser? Wird’s schlimmer?“,

fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich:

Leben ist immer lebensgefährlich.

(Erich Kästner)

Rainer Nowak (Kurt-Vorhofer-Preisträger 2013) wurde 1972 in Innsbruck geboren. Er ist seit 1994 journalistisch tätig, arbeitet seit 1996 für „Die Presse“. 2004 wird er Ressortleiter Wien, 2009 redaktioneller Leiter der „Presse am Sonntag“. 2010 übernimmt er die Leitung des Ressorts Innenpolitik. Seit 2012 ist er Chefredakteur der „Presse“, seit 2014 auch ihr Herausgeber.

1

UNGEHORSAM

Der vorauseilende Gehorsam wurde in Österreich über Generationen hin verinnerlicht. Die Bürger dieses Landes sollten aber längst gelernt haben, mit ihrer Selbstständigkeit zurechtzukommen.

VON ANNELIESE ROHRER

Die Standpauke am Ende des Tages war vom Feinsten: wohlmeinend, sorgenvoll, so typisch österreichisch. Die Tochter des Hauses war mit ihrem Bericht vom Schulalltag, von der Auseinandersetzung mit einer Lehrkraft über eine gefühlte Ungerechtigkeit, die sich später als reale herausstellen sollte, noch nicht am Ende. Da fielen ihr die Eltern ob so viel Aufmüpfigkeit ins Wort: Sie würde diese noch bereuen, die Lehrkraft werde sie es büßen lassen, die Noten stünden auf dem Spiel, wäre es nicht besser gewesen, den Mund zu halten? Wäre es nicht! Einen Schultag später wusste die Tochter nämlich stolz zu berichten, dass eben dieselbe Lehrkraft sie auf die Seite genommen und sich entschuldigt habe. Die Schülerin sei im Recht gewesen, sie selbst habe falsch reagiert.

Ein österreichisches Sittenbild: Die Eltern, in der Blütezeit der Gnadenpolitik der 1970er- und 1980er-Jahre sozialisiert, haben den vorauseilenden Gehorsam verinnerlicht. Sie haben gelernt, durch freiwillige Willfährigkeit mögliche negative Folgen ihrer Meinungsäußerung zu vermeiden. Sie haben gelernt, sich auf diese Weise diffusen Ängsten zu entziehen, sich drohende Demütigung zu ersparen, Konflikten aus dem Weg zu gehen und aus dem solcherart demonstrierten Wohlverhalten gesellschaftliche Anerkennung zu lukrieren. Für sie ist Fügsamkeit in einem System, das in Österreich über Jahrzehnte hinaus klaglos funktioniert hat, ein hoher Wert.

Ihre Tochter im Teenageralter kann dem nichts mehr abgewinnen. Mit ihrem Verhalten beweist sie auch der Elterngeneration, dass die Unterordnung unter Autoritäten keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Mit Sicherheit hat sie an diesem einen Schultag die wichtigste Lektion ihrer Bildungslaufbahn erhalten: Widerspruch kann anstrengend, mühsam und auch riskant sein. Er kann aber, wenn er wie in ihrem Fall berechtigt war, auch ein Maß an Zufriedenheit, Stolz und Energie freisetzen, das mit Unterordnung so nie zu erreichen gewesen wäre.

Von den Fesseln der Gnadenpolitik befreit

In gewisser Hinsicht gehört sie heute zu einer privilegierten Jugend – einer, die durch die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung von den Fesseln der oben genannten Gnadenpolitik befreit wurde. Was darunter zu verstehen ist? Ein System, das sich in der Nachkriegszeit bis zum Beginn der 1990er-Jahre herausgebildet und gefestigt hat: Für die Befriedigung der Bedürfnisse in allen Lebensbereichen – Wohnung, Arbeitsplätze, soziale Sicherheit – wurde als Gegenleistung nicht nur die Unterstützung der politischen Parteien, sondern auch ein entsprechendes Stimmverhalten bei Wahlen eingefordert. Die Politik sicherte im Gegenzug für Parteimitgliedschaften und Wählerstimmen gnadenhalber Wohlstand und Karrieren ab. Und die Mehrheit der Österreicher nahm diese Gnade dankbar an – in den meisten Fällen um den Preis einer freiwilligen Unterwürfigkeit.

Vor etwa dreißig Jahren ging diese Phase in Österreich mit der Internationalisierung der Wirtschaft, dem Zusammenbruch der verstaatlichten Industrie, dem Umbau des verpolitisierten Bankenwesens und schließlich dem EU-Beitritt Österreichs 1995 zu Ende. Die Politik konnte nichts mehr gnadenhalber verteilen und in keinem Lebensbereich mehr Sicherheit garantieren. Sie entließ – widerwillig vielleicht, zwangsweise sicherlich – die Österreicher in die Selbstständigkeit, mit der diese mehrheitlich wenig anzufangen wussten und bis heute nicht wirklich zurechtkommen.

Wann immer die Ursachen für diese mangelnde Eigenständigkeit und den unausgesprochenen Hang zur Unterordnung erörtert werden, fehlt nie der Hinweis auf die Habsburgermonarchie und die katholische Prägung des Staates. Es sei in Österreich eben genetisch bedingt, sich Autoritäten zu fügen. Wann immer man diesem Erklärungsmodell das Argument entgegenhält, die gesellschaftliche Verfasstheit Österreichs im 21. Jahrhundert könne doch wohl nicht mit den historischen Gegebenheiten vor dem Ende der Monarchie vor knapp hundert Jahren erklärt werden, die Bevölkerung eines ganzen Landes könne doch nicht in den Einstellungen vergangener Jahrhunderte geistig und emotional stecken geblieben sein, wird auf die Macht der Geschichte und den nachhaltigen Einfluss des Katholizismus verwiesen. Ende des Gedankenaustausches!

Woher aber kommen nun diese Disposition zum Gehorsam und das Unbehagen, diesen zu verweigern? Ganz unbegründet dürfte der Verweis auf die katholische Prägung nicht sein. Noch vor sechs Jahren konnte der ehemalige Abt des Stiftes Heiligenkreuz, Pater Gregor Henckel-Donnersmarck, als Reaktion auf den „Aufruf zum Ungehorsam“ der Priesterinitiative unter Helmut Schüller in einem Interview im August 2011 sagen: „Gehorsam hat auch etwas Befreiendes“, ohne dafür heftigen öffentlichen Widerspruch zu ernten. Das war damals in der Tat unverständlich, denn politisch zu Ende gedacht, würde dieser Satz bedeuten: Die Unterwerfung unter ein autoritäres oder totalitäres Regime, das keinen Widerspruch duldet, könnte auch für die Bürger etwas Befreiendes bedeuten. Intellektuell zu Ende gedacht, würde dieser Satz bedeuten: Eigenständiges Denken ist belastend, blinder Gehorsam befreiend.

Da es aber nicht den geringsten öffentlichen Diskurs über seine Aussagen gegeben hat, hatte der Altabt auch keine Gelegenheit, seine Worte zu präzisieren. Daher kann man nur hoffen, dass sie nicht auf Bereiche außerhalb der katholischen Kirche gemünzt waren. Pater Gregor vertritt den konservativen Teil der katholischen Kirche, wie er selbst betont. Für ihn war daher der Titel des Interviews „Ungehorsam ist der falsche Weg“, bezogen auf die rebellierenden Priester während des Pontifikats BenediktsXVI., durchaus stimmig und auch so zu akzeptieren. Es bleibt jedoch rätselhaft, warum das Politische in der Lobpreisung des absoluten Gehorsams im Österreich des Jahres 2011 keine Reaktion hervorgerufen hat. Wenn sie als Meinungsäußerung auch zu akzeptieren ist, so hätte man doch den politisch gefährlichen Gedankengang nachvollziehen und letztlich verlassen müssen. Das öffentliche Schweigen der Politik und der Zivilgesellschaft hat auch aufgrund der Popularität und der öffentlichen Wirksamkeit des Altabts – ein gern gesehener Gast auch bei TV-Debatten – so gar nichts Befreiendes, sondern eher Bedrückendes.

Klammheimliche Rachegelüste in der Wahlzelle

Allerdings überrascht das wenig. Der „Aufruf zum Ungehorsam“ ist seither verstummt. Vor drei Jahren hat Helmut Schüller im ORF die Unauffälligkeit der Initiative noch mit dem Wechsel in Rom von BenediktXVI. zu Papst Franziskus erklärt. Das dürfte nicht die ganze Wahrheit sein. Es gibt auch eine katholische Sicht, die im Ungehorsam Adam und Evas den Ursprung aller Sünden sieht und ihm die Schuld am Hang der Menschen zur Sünde gibt. Ungehorsam sei letztlich Rebellion und Lieblosigkeit. Widerspenstigkeit und Eigensinn seien Sünden, nur Gehorsam und Folgsamkeit zählten.

Auch jenseits einer derartigen Interpretation gehört Ungehorsam mit Gewissheit nicht zu den populären Begriffen in Österreich. Man stelle sich nur vor: Es ruft jemand dazu auf und die Mehrheit stellt sich einfach taub. So trug sich der Karikaturist Gerhard Haderer seit Jahren mit dem Gedanken, eine „Schule des Ungehorsams“ in der Linzer Tabakfabrik zu gründen. Seit 2015 ist davon nicht mehr viel zu hören. Seine Begründungen klangen vielversprechend: „Weil ich überzeugt davon bin, dass es genug Jasager gibt, aber viel zu wenige Menschen, die sich einmischen in die Gestaltung unserer Gesellschaft. Und wie einfach das möglich ist und wie viel Freude das machen kann, das will diese, Schule des Ungehorsams‘ vermitteln. Das ist keine Gegenbewegung gegen etablierte Politik, sondern die Politik müsste sich eigentlich ständig bedanken dafür, dass wir bereit sind, so etwas parallel anzubieten.“ Weder lässt sich irgendwo nachvollziehen, dass Haderers Schule überfüllt wäre, noch dass die Politik seiner Aufforderung zur Dankbarkeit nachgekommen wäre.

Man kann die Aversion vieler Österreicher, sich den Unbequemlichkeiten der aktiven Auflehnung gegen negative Zustände auszusetzen, auch so interpretieren: Sie haben einen Weg gefunden, den Preis, den sie für ihren Gehorsam den Obrigkeiten gegenüber in Form von latenter Unzufriedenheit und unterdrücktem Zorn zahlen müssen, abzuwälzen. Es hat zudem noch den psychologischen Vorteil klammheimlicher Rachegelüste.

In den besten Zeiten des damaligen FPÖ-Chefs Jörg Haider, seit Anfang der 1990er-Jahre also, war es schon nicht mehr zu übersehen und hat sich seither in vielen Urnengängen gezeigt: Statt persönlich und individuell Gegenkräfte zu den herrschenden politischen Zuständen zu entwickeln und offen wie öffentlich zu pflegen, wird der Protest in die Abgeschirmtheit der Wahlzelle verlagert. Wo lassen protestieren! Das war schon nach jedem Wahlerfolg der FPÖ in den Neunzigerjahren ein beliebter Slogan. Die Vorteile des Wahlgeheimnisses waren damals und sind auch jetzt nicht zu übersehen. Man muss weder mit seinem Namen noch seinem Beruf noch seiner Karriere für den Protest geradestehen, kann das Risiko des Widerstands vermeiden. Den Ungehorsam delegieren und so auf Umwegen wieder zu einer psychischen Balance zurückfinden, darin gefallen sich viele in Österreich.

Bei Weitem nicht alle! Auf der untersten politischen Ebene, lokal noch mehr als regional, hat sich im Vergleich zu früheren Jahren vielerorts eine durchaus aktive Gegenbewegung gebildet. Möglich, dass dort entsteht und sich festigt, was auf allen politischen Ebenen notwendig wäre: Einmischung, die Erkenntnis, dass Ungehorsam „Spaß machen soll“ (© Haderer), in einer Demokratie nicht alle Interessen immer durchzusetzen und die Frustrationsgrenzen zu erhöhen sind. Ungehorsam muss nachhaltig sein. Wenn die Obrigkeit, welche immer, mit dem ohnehin raschen Nachlassen jeglicher Aufmüpfigkeit rechnen kann, wird ein gesellschaftspolitischer Teufelskreis in Gang gesetzt, den sich Österreich eigentlich nicht mehr leisten kann: Das Engagement der Bürger scheitert an den Beharrungskräften der Politik, der Wille zum Ungehorsam erlahmt, die Politik sieht sich darin bestätigt, ihn „nicht einmal zu ignorieren“, das Unbehagen der Bürger nimmt zu, findet aber kein Ventil mehr – bis gefährliche Populisten versprechen, ihnen die Mühe abzunehmen.

In einem rundum lebenswerten Österreich würden Eltern, Pädagogen, Medien, wenn schon nicht staatliche Institutionen, die Jugend zum Ungehorsam – nicht zu verwechseln mit Aktionen oder Bewegungen des punktuellen zivilen Ungehorsams – ermuntern, ihn zulassen, fördern und nicht unterdrücken. In einem rundum lebenswerten Österreich würde diese Jugend durch entsprechende Bildung zu einem verantwortungsvollen Umgang mit ihm ermächtigt werden. Das würde Dynamik in den gesellschaftlichen Diskurs bringen und die gefühlte Hilflosigkeit breiter Bevölkerungsschichten reduzieren.

In einem rundum lebenswerten Österreich wäre folgende Szene nicht mehr denkbar: Studenten äußern große Unzufriedenheit mit der Qualität des Bildungsangebots ihrer Institution. Auf die Frage, ob ihre Vertreter diese Unzufriedenheit den Verantwortlichen zur Kenntnis gebracht hätten, reagieren sie fassungslos. Nein, natürlich nicht! Warum nicht? Wenn man seinen Unmut den Lehrkräften bekannt gäbe, könnte das negative Auswirkungen bei kommenden Prüfungen haben, sollte das Abschneiden bei diesen riskant sein. Mit anderen Worten: Hier ziehen Studenten ein mögliches künftiges Versagen schon ins Kalkül, um Stillschweigen zu bewahren und Gehorsam zu üben.

In einem rundum lebenswerten Österreich würden auch diese Studenten wie die anfangs zitierte Schülerin die Anstrengung des offenen Widerstands auf sich nehmen. Und diese Anstrengung in die spätere gesellschaftliche Teilhabe am öffentlichen Leben mitnehmen. Davon würden alle profitieren.

Anneliese Rohrer (Dr.in) wurde 1944 in Wolfsberg, Kärnten, geboren, promovierte 1971 in Geschichte an der Universität Wien.Sie war von 1974 bis 2005 für „Die Presse“ tätig und ist derzeit Kolumnistin („quergeschrieben“).

2

GESPALTEN

Österreich fühlt sich nach der wiederholten Hofburg-Stichwahl besonders uneins. Woran liegt das eigentlich? 

VON FLORIAN ASAMER

Da stehen wir nun also. Das epische Wahljahr 2016 brachte mit Alexander Van der Bellen zwar letztlich doch noch einen neuen Bundespräsidenten. Aber die Schlacht mit Norbert Hofer hat nach Einschätzung fast aller Kommentatoren tiefe Spuren hinterlassen. Vom gespaltenen Land ist da oft die Rede: Die behaupteten Gräben verlaufen zwischen Stadt – Land, jung – alt, gebildet – ungebildet, der „Elite“ – und „denen da unten“. Um nur einige der identifizierten Sollbruchstellen zu nennen. Dieser Befund hat allerdings zwei große Schwächen. Zum einen übernimmt er stark eine von einer der wahlwerbenden Partei, nämlich der FPÖ, behauptete Argumentation vom Abwehrkampf des Establishments gegen die, die sich’s nicht richten können, und bewegt sich damit systematisch innerhalb eines erfolgreich erzeugten politischen Spins. Zum anderen taugt die These von der gespaltenen Gesellschaft nur bedingt zur differenzierten Beschreibung der aktuellen politischen Lage, nachdem sich der Pulverdampf von drei Bundespräsidentenwahlrunden endgültig verzogen hat.

Denn das Diktum von der gespaltenen Nation gehört fest zum Repertoire der Demokratie an sich. So gut wie jeder gewählte Staats- oder Regierungschef in der westlichen Welt betont in seinem ersten Statement nach geschlagener Wahl, er wolle in seiner Amtszeit gerade auch all jene gewinnen, die ihn diesmal (noch) nicht gewählt hätten. Auch in Österreich war das zu keiner Zeit anders. Man braucht nur zur Amtszeit von Rudolf Kirchschläger (1974 bis 1986) zurückzuschauen. Der parteifreie Außenminister der SPÖ-Alleinregierung