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Ewa A.

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Beschreibung

'**Die Macht von Licht und Schatten** Als Prinzessin des Seelenleservolkes ist die neunzehnjährige Nia in der Lage, die Gefühle und Gedanken eines jeden Menschen zu durchschauen. Doch ihre dritte Gabe ist es, die sie zu etwas ganz Besonderem macht – und die sie über alles hasst. Denn ihr Vater verlangt, dass sie diese nutzen soll, um den bevorstehenden Krieg in Gavara zu verhindern. Und obwohl Nia ihr Volk beschützen möchte, zögert sie, sich dem berüchtigten Schattenkaiser als Frau anzubieten und seine Zuneigung zu gewinnen. Aber als sie schließlich vor dem gefährlich attraktiven Kellan-Dax steht, ist es auf einmal nicht mehr nur ihr Leben, um das sie bangen muss, sondern auch ihr Herz … Endlich wieder neuer Lesestoff von Ewa A. – High Fantasy vom Feinsten! //»Der Schattenkaiser« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//

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Ewa A.

Die Rache des Schattenkaisers

**Die Macht von Licht und Schatten**Als Prinzessin des Seelenleservolkes ist die neunzehnjährige Nia in der Lage, die Gefühle und Gedanken eines jeden Menschen zu durchschauen. Doch ihre dritte Gabe ist es, die sie zu etwas ganz Besonderem macht – und die sie über alles hasst. Denn ihr Vater verlangt, dass sie diese nutzen soll, um den bevorstehenden Krieg in Gavara zu verhindern. Und obwohl Nia ihr Volk beschützen möchte, zögert sie, sich dem berüchtigten Schattenkaiser als Frau anzubieten und seine Zuneigung zu gewinnen. Aber als sie schließlich vor dem gefährlich attraktiven Kellan-Dax steht, ist es auf einmal nicht mehr nur ihr Leben, um das sie bangen muss, sondern auch ihr Herz …

Wohin soll es gehen?

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Vita

© privat

Ewa A. erblickte 1970 als fünftes Kind eines Verlagsprokuristen und einer Modistin das Licht der Welt. Im Jahr 2014 erfüllte sie sich den Traum, das Schreiben von Geschichten zu ihrem Beruf zu machen, und wurde selbständig freiberufliche Autorin. Nach wie vor lebt sie mit ihrem Ehemann und den zwei gemeinsamen Kindern in der Nähe ihres Geburtsortes, im Südwesten Deutschlands.

Für dich,weil du meiner Geschichteeine Chance gibst.

Die Prophezeiung

Als letzter Kaiser in den Schatten geboren,

mit ihrer Macht gediehen und gesegnet,

wird er aus ihnen hervortreten,

um Rache an den sechs Königen zu nehmen,

die ihm einst alles entrissen.

Nur das Licht kann ihn vor

der ewigen Dunkelheit bewahren.

Weissagung der Zeitenleserin

Ermonia aus dem Hause Pollux

im Jahr des fünften Fuchses

1. Die Kunst, Geheimnisse zu hüten

Ich hasse meine Gabe. Nicht alle. Nicht jene, welche jeder gewöhnliche Seelenlesende besitzt, die Gefühle seines Gegenübers zu lesen, sobald er ihn berührt. Auch nicht die, die alle Angehörigen meiner Familie, des Hauses Hyazinthus auszeichnet und einen Schritt weiter geht, nämlich die Gedanken des Berührten zu lesen. Sondern jene, die mich zu etwas Besonderem macht. Selbst für eine Hyazinthus. Eine Gabe, von deren Existenz nur drei Leute wissen – meine Eltern und ich – und die mich genau in diese Lage gebracht hat, in der ich nun feststecke. Ob ich will oder nicht.

Laut meinem Vater, König Malakai aus dem Hause Hyazinthus, bin ich es allerdings unserem Geschlecht und dem Reich der Seelenleser schuldig. Als liebende Tochter will ich selbstverständlich meine Familie beschützen und als verantwortungsvolle Prinzessin Nia erst recht unser Volk. Das will ich wirklich und doch … insgeheim wünsche ich mir, diese eine außergewöhnliche Gabe wäre mir erspart geblieben. Warum hat sie mich nicht ebenso überspringen können wie meinen jüngeren Bruder Ari? Dann würde ich nicht das tun müssen, worauf mich mein Vater bereits vor einer Weile vorbereitet hat. Ich weiß, es ist selbstsüchtig so zu denken. Aber die Angst vor dem, was auf mich zukommen wird, was man von mir verlangt, frisst sich quer durch meinen Magen und ist viel zu groß, als dass ich mir nicht wünschen kann, von dieser Begabung frei zu sein.

Meine Mutter Lilah, die erhaben im schneeweißen Thron neben dem meines Vaters sitzt, wirft diesem einen tadelnden Blick zu. »Malakai, müssen die Kinder den Bericht des Kundschafters wirklich mit anhören?«

Kinder! Damit meint sie Ari und mich. Natürlich ist es richtig, was sie sagt, wir sind ihre Kinder und das werden wir immer bleiben. Aber seit wann sind wir mit siebzehn und neunzehn Jahren zu jung, um uns mit Politik zu befassen? Sonst hat sie darin nie ein Problem gesehen.

Mit ernster Miene behält mein Vater den vor uns knienden Kundschafter im Auge. Dessen nasser und dreckiger Zustand seines Äußeren sticht aus dem Wolkenweiß des Thronsaals hervor und verrät, dass ihn die letzten Schritte seiner Reise direkt vor unsere Füße geführt haben. »Die beiden müssen es mit eigenen Ohren hören, um zu begreifen, in welch gefährlicher Situation sich unser Reich befindet. Wir stehen kurz vor einem Krieg, wenn er nicht schon längst tobt.« Er nickt dem Kundschafter aufmunternd zu. »Sprich! Stimmt es, was uns zugetragen wurde? Ist der Schattenkaiser zurückgekehrt und hat das Reich der Wasserläufer erobert?«

Zitternd hebt der Mann seinen Blick. »Es ist wahr, Eure Hoheit. Die Prophezeiung der Ermonia hat sich erfüllt. Dax-Arijans Sohn, Kellan-Dax aus dem Hause Onyx, hat überlebt und ist als mächtigster Schattenkaiser zurückgekehrt.«

»Was soll das heißen?« Die Stimme meines Vaters hallt einem Donnern gleich durch die Kuppel des berghohen Saals. Sein Gesicht hat eine rote Farbe angenommen. »Wie konnte er …? Wie hat er die Wasserläufer überwältigt? Mit welcher Armee? Alle Schattenläufer und Anhänger des Kaisers sind entweder vertrieben, getötet oder versklavt worden.«

Der Kundschafter schrumpft unter dem zornigen Gezeter in sich zusammen. »Den Erzählungen nach hatte er weniger als hundert Männer bei sich, aber …«

»Wie konnte er mit so wenig Männern König Ankas Heer besiegen? Es zählt mehrere tausend Mann. Wie ist das möglich?«

»Herr, den Augenzeugen nach verhält es sich genau so, wie es die Prophezeiung verkündet. Er ist mit der Macht der Schatten gesegnet.«

Mein Vater winkt ungeduldig ab. »Jaja, die Schattenläufer konnten sich schon immer in den Schatten verbergen, mit ihnen eins werden. Das ist nichts Neues. Wie sollte ihnen das geholfen haben, das Sumpfland einzunehmen? Erkläre es mir.«

»Eure Hoheit, Ihr versteht nicht. Den Erzählungen nach wird Kellan-Dax selbst zum Schatten und in dieser Form kann er jeden unterwerfen.«

Entsetzen aber auch Unglauben liegen auf den Zügen meines Vaters. »Wie genau soll das vonstattengehen?«

Ratlos schüttelt der Mann den Kopf. »Offenbar kann er sich jeden zu eigen machen, der sich ihm freien Willens anschließt. Egal wie viel Soldaten vor ihm stehen. Seine Armee der Schatten wächst mit jedem, der ihn als Kaiser anerkennt.«

»Und die, die sich ihm nicht anschließen wollen, die sich gegen ihn wehren?«, fragt mein Vater erschreckend ruhig.

»Sterben. Wie soll man einen kriechenden Schatten bekämpfen, Herr? Es ist hoffnungslos, König Malakai.«

Mir wird schlagartig schlecht. Die lauernde Angst in meinem Magen wächst zu einem gefräßigen Ungeheuer an.

Alle Farbe verlässt das Antlitz meines Vaters. Seine Finger klammern sich an den Armlehnen seines Thrones fest. »Hat König Anka sich ergeben?«

Der Mann senkt sein Haupt. »Das hat er. Dennoch hat der Schattenkaiser blutige Rache an ihm und seiner Familie genommen.«

Scharf zieht mein Vater die Luft ein und meine Mutter greift japsend nach seiner Hand. »Malakai!«

Mir sackt alles Blut in den Magen. Ari, auf dem Thron neben mir, stößt zischend den Atem aus.

Hektisch schaut mein Vater sich um. Anscheinend sucht er nach jemandem in unserem Gefolge. Der halbe Hofstaat hat sich im Thronsaal versammelt, um den Nachrichten des Kundschafters zu lauschen. »Wo ist der Botschafter, den ich zu den Feuerseelen entsandt habe?«

»Hier, Eure Majestät.« Ein schlanker Seelenleser tritt aus der Menge hervor und verneigt sich. Wie üblich bei meinem Volk ist sein Haarschopf hell weiß, zeigt jedoch einen leichten Hang zu Blau. Seine Augen sind mandelförmig wie meine. Jedoch sind seine braun und wirken lange nicht so ungewöhnlich. Meine dagegen erinnern mit ihrer Schrägstellung und Farbe an Katzenaugen. Sie sind goldfarben fast schon sonnengelb, wie mein Haar. Mutter meinte einmal, dass allein dieses ganz und gar untypische Goldblond für eine vom Volk der Seelenlesenden ein Indiz für meine Besonderheit sei. Wie gern hätte ich darauf verzichtet.

»Haben unsere Nachbarn, die Feuerseelen, unsere erneuten Geschenke und Bitte um gegenseitigen Beistand endlich angenommen?«

Der blaublonde Botschafter verneint. »Tut mir leid, Eure Hoheit. König Saul hat die fünftausend Kiesel zwar angenommen, doch jegliche Zusammenarbeit mit uns verweigert. Sogar das Gegenteil, er sicherte seine Reichsgrenzen nach allen Seiten noch stärker ab und verwarnte mich, nochmals einzureisen. Er drohte mir mit Einäscherung.«

»Verdammter Flammenteufel! Gierig und hinterhältig, das war er schon immer. Bestimmt hat er einen Plan«, murmelt mein Vater vor sich hin.

Mutter beugt sich ihm entgegen. »Sollten wir uns vielleicht nicht doch mal an unsere anderen Nachbarn wenden? Vielleicht können die Wandler …«

»Was? Sich in ein Stück Holz, Ton oder Stein verwandeln?«, unterbricht Vater sie laut und harsch. »Wie sollen uns diese elenden Nichtsnutze gegen den Schattenkaiser helfen?« Tief zieht mein Vater die Luft ein. »Nein. Es kommt so, wie ich es befürchtet habe, und uns bleibt nur eines …«

Ein bedrückendes Schweigen legt sich über den Saal, das ich in jedem Knochen spüre und mich in den Thronstuhl presst, bis mein Vater sich mir zuwendet.

»Nia, Licht meines Lebens, meine einzige Tochter, bist du bereit, morgen ins Sumpfland zu den Wasserläufern aufzubrechen und dich dem Schattenkaiser als Frau anzubieten, um Gnade für uns zu erflehen?«

Ich verstehe, was er mir im Stillen mit eindringlichem Blick mitteilen will, was ich seinem Plan nach tun soll. Dank meiner verhassten Gabe. Alles hängt von mir ab. Lediglich meine außergewöhnliche Fähigkeit kann uns jetzt noch das Überleben sichern. Auch die restlichen zahllosen Augenpaare im Thronsaal richten sich auf mich und mir bleibt nichts anderes übrig, als zu nicken. Ich schlucke, bevor die Worte meinen Mund verlassen, die für immer mein Leben verändern werden. »Ja, Vater, das bin ich.«

Nun liegt es an mir, den Schattenkaiser davon abzuhalten, Rache an uns und unserem Volk zu nehmen, für die Tat, die mein Vater mit den anderen fünf Königen aus Sorge und Pflichtgefühl begangen hat. Vor einundzwanzig Jahren haben die sechs Reichskönige ganz Gavara aus den blutbefleckten Klauen des Schattenkaisers befreit, dem sie einst Treue und Ergebenheit geschworen hatten. Doch wegen seiner Grausamkeit haben sie ihn, seine Angehörigen und Anhänger hingerichtet, um endlich mit ihren Völkern in Frieden und Freiheit leben zu können. Doch der Sohn des grausamen alten Schattenkaisers hat den Sturz seiner Dynastie als Einziger überlebt. Der Mann, dessen Eheweib ich nun werden soll, den ich um Erbarmen bitten soll.

Meine Eltern nicken erleichtert. Zustimmendes Gemurmel des Hofstaats schwillt im Thronsaal an. Ari schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. Und trotzdem wünsche ich mir in diesem Moment nichts mehr, als nicht besonders zu sein. Ich hasse meine Gabe.

***

In frischer und früher Morgenstunde wartet die königliche Kutsche mit offenem Schlag hinter mir, während ich mich von meinen Eltern verabschiede.

Meine Mutter lässt zärtlich ihre Finger an den beiden langen Locken entlanggleiten, die mein Gesicht umrahmen und an der Taille enden. Ihre immense Traurigkeit fließt in Wellen durch mich hindurch und lässt meinen eigenen stillen Schmerz in mir wachsen. Ich kann ihre Flut an Gefühlen nicht abwehren, sie überkommt mich, sobald wir uns direkt berühren. Wenn ich es wollte, könnte ich ihre Gedanken lesen, doch das möchte ich nicht. In ihren Augen schimmern ungeweinte Tränen, die mir alles verraten. In diesem Moment wird mir bewusst, dass es das letzte Mal sein könnte, dass wir uns gegenüberstehen. Womöglich komme ich nicht mal dazu, mich Kellan-Dax als Ehefrau anzubieten. Vielleicht tötet er mich, sobald er meiner ansichtig wird, für die Taten meines Vaters. König Ankas Angehörigen gewährte er ja auch keine Gnade. Warum sollte er mich dann verschonen? Bei diesem Gedanken verengt sich mein Hals und mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Doch welche Wahl habe ich? Soll ich warten, bis er in unsere weißen Hallen einmarschiert und uns allesamt hinrichtet? So oder so kann ich durch Kellan-Dax’ Hand sterben. Wenn ich mich ihm als gefügige, liebende Ehefrau hingebe, haben wir wenigstens eine Chance.

»Nia, mein kleines Schneeglöckchen«, spricht meine Mutter. »Ich wünschte, es gäbe einen besseren Weg, uns zu retten. Einen weniger gefährlicheren.« Sanft streichelt sie über meine Stirn. »Aber du bist eine wunderschöne Frau, zart und liebevoll. Wenn du nicht sein Herz erweichst, dann wird es niemand schaffen.« Sie küsst mich auf beide Wangen. »Hab keine Angst, mein Herz geht mit dir.«

Ich ringe mit den Tränen, bemühe mich darum, Haltung zu wahren und das Schluchzen, welches in meiner Kehle lauert, zu unterdrücken. Aber als mein Vater mich umarmt und meinen Kopf an seine Brust drückt und sein unendliches Bedauern über mich hereinstürzt, bin ich rettungslos verloren. Seine Trauer ist von solcher Tiefe und Wucht, dass es mir den Atem raubt und ich fast in die Knie gehe. Ich muss mich an seinem Umhang festhalten. Hemmungslos weine und schluchze ich unter den Tränen auf, die mir aus den Augen strömen. »Ich will nicht gehen, Papa«, flüstere ich. »Ich will euch nicht verlassen.«

»Schhh, ich weiß, mein Licht, ich weiß. Alles wird gut. Du wirst sehen. Er wird sich in dich verlieben und du wirst ihm ein hingebungsvolles Eheweib sein. Du wirst uns alle retten. Eines Tages wirst du nicht nur meine Nachfolgerin, sondern auch die Schattenkaiserin von ganz Gavara sein. Für unser Volk, für all unsere Völker, Nia, musst du dieses Risiko eingehen. Ich weiß, du kannst das. Du wirst den Kaiser erobern.« Er umfasst meine Oberarme und drückt mich von sich fort, damit er mich anschauen kann. »Genau so, wie wir es besprochen haben.« Eindringlich nickt er mir zu und ich erwidere seine Geste.

»Das werde ich. Ich werde nichts unversucht lassen. Das schwöre ich dir.«

Ein leichtes zufriedenes Grinsen breitet sich auf den Zügen meines Vaters aus. »Das ist meine Tochter, eine würdige Prinzessin. Mein Herz und mein Geist sind mit dir.« Nochmals nickt er mir mit ernstem Blick zu. »Wir bleiben verbunden. Hörst du?«

»Wir bleiben verbunden«, wiederhole ich und gebe ihm damit zu verstehen, dass ich nicht vergessen habe, dass ich in den Reihen des Schattenkaisers einen Verbündeten finden werde. Einen, der dort auf mich wartet. Zu unserer gegenseitigen Sicherheit weiß ich allerdings nicht, wer dieser Spion ist. Laut meinem Vater wird er mich auf irgendeine Weise kontaktieren.

Wir lösen uns voneinander und ich wende mich meinem Bruder zu. Auch Ari kämpft gegen die Tränen an. Muskeln zucken unkontrolliert in seinem Gesicht und stocksteif, die Hände an die Seiten gepresst, steht er vor mir. Obwohl er mich um einen halben Kopf überragt, bin ich es, die ihn beschützen will.

»Leb wohl, Schwester. Mein Herz begleitet dich«, krächzt er und wird mit jedem Wort leiser.

Ich zwinge mich, ihn nicht in die Arme zu nehmen, denn ich weiß, er will keine Schwäche zeigen. Deswegen schlucke ich den Kloß in meinem Hals hinunter und quäle mir ein Lächeln ab. »Ich werde deine Streiche vermissen und deine unerwünschten Kommentare über meine Kleider und Frisuren.«

Er lacht, doch seine Unterlippe zittert. »Vielleicht werde ich dir gemeine Briefe schreiben.«

»Ja«, sage ich und kann nicht verhindern, dass mir eine Träne über die Wange rollt. »Das wäre schön.« Ein letztes Mal lächle ich ihn an und wende mich ab, um zur Kutsche zu gehen. Aber ehe ich sie erreiche, ruft Ari nach mir.

»Nia!« In drei schnellen Schritten ist er bei mir und drückt mich mit voller Kraft an sich. »Ich hab dich lieb, große Schwester. Vergiss das nicht.«

Still weinend erwidere ich seine Umarmung mit der gleichen Stärke. Seine grenzenlose Verzweiflung bricht wie eine Lawine über mich herein und presst sich auf meinen Brustkorb. Angefüllt von purer wärmender Zuneigung für meinen kleinen Bruder nehme ich seine Gefühle an und versenke meine Nase in seiner Tunika. Eine ganze Weile verharren wir, bis ich mich aus seiner Umklammerung winde. Es kostet mich allen Mut und Willen, mich aufzurichten und meine Schultern zu straffen. Ohne nochmals in die Gesichter meiner Familie zu schauen, weil ich befürchte, ansonsten zusammenzubrechen, nehme ich in der Kutsche Platz. Jeder Atemzug, jeder Schritt ist qualvolle Folter. Die Tür schließt sich hinter mir. Starr und steif halte ich meinen Blick geradeaus gerichtet. Das Muster der bespannten Kutschenwand vor mir verschwimmt und ich beiße die Zähne fest aufeinander. Ich atme ein und aus, schließe kurz die Lider, um gleich darauf mit verkrampften kalten Fingern die Stofflagen meines Rockes glatt zu streichen. Endlich setzen sich die Räder in Bewegung und meine Reise beginnt.

Erst nachdem wir ein Stück des Weges und mehrere Brücken hinter uns gelassen haben, traue ich mich, einen Blick auf mein Zuhause zurückzuwerfen. Vor den rauschenden Wasserfällen von Seelenheim, die sich von den imponierenden Kalkfelsen in die Tiefe stürzen, leuchten die schneeweißen Wände und Kuppeltürme unserer Burg. Schimmernd mit der Schönheit einer Perle bricht sie sanft das Licht der Morgensonne. Werde ich jemals wieder den lauen Wind durch die riesigen Arkaden über meine Haut hinwegwehen spüren? Oder das Rauschen der Wassermassen in den endlosen weißen Gängen vernehmen? Oder auf den Terrassen die nebelhafte Gischt einatmen?

Mit schwerem Herzen halte ich meine Augen so lange auf die weißen Türme gerichtet, bis sie aus meiner Sicht verschwinden. Stundenlang fahren wir die steinigen Pfade entlang, passieren dabei kristallklare Flüsse, lichte Wälder, bunt geblümte Wiesen und karge Felsenschluchten. Gegen Mittag hat sich die Landschaft vollkommen verändert, denn seit einer Weile haben wir die ursprüngliche Grenze des Seelenleserreichs hinter uns gelassen. Wir befinden uns nun im annektierten, ehemaligen Reich des Schattenkaisers, an dessen Macht nicht mehr viel erinnert. Nur noch an den Kampf, welcher hier geherrscht hat. Hier ist nichts mehr hell und bunt, sondern nur noch düster und unheimlich. Die Wälder wirken finster und tot. Die Flüsse tief und gefährlich. Die Felsen schroff und kantig. Hier blühen keine Blumen. Hier gedeihen nur Moos, dorniges Gestrüpp und graue Pilze. Ganze Dörfer versinken stumm und verlassen im ungebändigten Wuchs der Natur. Die einst schönen Häuser des fast ausgelöschten Volkes sind völlig heruntergekommen. Entweder wurden sie von Feuersbrunst zerstört oder vom Zahn der Zeit. Nur die halb eingestürzten Mauern sind übriggeblieben und trotzen mit letzter Kraft den rankenden Klauen der Wildnis. Immer wieder werden wir zum Anhalten gezwungen, weil meine Kutscher Äste, Geröll oder Löcher beseitigen müssen. Die Sonne hat schon lange den Zenit überschritten, als ich zum ersten Mal in meinem Leben die Schattenburg sehe. Sie ist gewaltig und im Gegensatz zu den umliegenden Dörfern vollkommen unbeschädigt. Aus nachtschwarzem Gestein gehauen, mit hunderten von spitzen Türmen, Wehrmauern und Erkern prangt sie einer riesigen Gebirgswand gleich dem Himmel empor. Kalt und majestätisch scheint sie im mystischen Nebel zu lauern und dennoch … zieht sie mich mit ihrer Düsterheit magisch an. Ich schiebe die Tür der Luke beiseite, die mir freie Sicht auf die Rücken meiner Kutscher gewährt.

»Können wir uns die Schattenburg näher ansehen?«

Einer meiner Begleiter dreht sich zu mir um. »Besser nicht, Prinzessin Nia. Die Schattenburg ist nicht mehr Teil dieser Welt.«

Irritiert schaue ich zu dem Seelenleser auf. »Was meinst du damit? Sie steht doch hier vor uns und scheint intakt zu sein.«

Der Kutscher verzieht widerwillig den Mund. Mit einem deutlichen Anflug von Furcht huscht sein Blick kurz zur finsteren Burg. »Sie besteht nicht mehr aus Stein, sondern nur noch aus grauem Nebel. Und es heißt, wer den betritt, kehrt nicht mehr zurück.«

Entgeistert wende ich mich wieder der unheimlichen Schattenburg zu und nun fällt es mir auf. Die Struktur der Burg bewegt sich tatsächlich, sie wallt und wabert, als sei sie bloß ein flüchtiges Trugbild aus grauem Rauch, das sich jeden Moment auflöst. Wie aus dem Nichts flattert plötzlich ein Raubvogel aus der flirrenden Steinfestung heraus. Er fliegt mitten aus einer der Mauern und zieht ein paar graue Nebelschleier hinter sich her. Doch weit folgt dieser ihm nicht. Ganz gemächlich kringelt sich der Rauch wieder zur Burg zurück, wo er hergekommen ist.

Aufgeregt klopfe ich an die Wand neben der Luke. »Habt ihr das gesehen? Da ist ein Vogel aus der Burg geflogen, also kann man sie doch betreten und wieder verlassen.«

»Prinzessin«, stößt der Kutscher ungeduldig aus. »Wollt Ihr das Risiko eingehen? Ich nicht. Seit mehr als zwanzig Jahren habe ich oft genug davon in den Gasthäusern und Schenken gehört, dass Leute in der Schattenburg verschwunden sind. Plünderer, Wegelagerer, Diebe, die sich verstecken wollten, Händler auf der Suche nach einer kürzeren Route. Die Burg nimmt jeden, den sie bekommen kann. Vielleicht lässt sie die Tiere wieder gehen, aber die Menschen ganz gewiss nicht.«

Ratlos schüttle ich den Kopf. »Warum sollte sie Tieren freies Geleit geben und die Menschen verschlucken?«

Der Mann beugt sich dicht vor die Luke. »Weil die unschuldig sind«, wispert er geheimnistuerisch. »Ich würde jede Wette eingehen, ein Schattenläufer könnte sie genau so verlassen, wie er sie betreten hat. Aber alle anderen, die den übrigen Völkern Gavaras angehören, kommen nicht wieder raus.«

Ich schlucke. Denn wieder fällt mir die Prophezeiung der Ermonia ein, die wie ein Schwert über den sechs Königshäusern baumelt. »Du meinst …«

»Ja, Hoheit. Die Burg des Schattenkaisers nimmt Rache an all jenen, die ihren Eid ihm gegenüber verraten haben.«

Betreten blicke ich zu der düsteren Festung, die in der Ferne immer kleiner wird. »Glaubst du, der neue Schattenkaiser will wieder von hier aus über Gavara herrschen?«

»Da bin ich mir sicher, Prinzessin.«

Voller Zweifel wende ich mich dem Mann wieder zu. »Aber mit welchen Untertanen will er diese riesige Burg bevölkern und bewirtschaften? So gut wie alle Schatten wurden während des Aufstands getötet oder vertrieben.«

»Wenn Ihr mich fragt, halten sich noch immer genug Schattenläufer verborgen und alte Kaiserreich-Anhänger bedeckt. Schließlich können sie das am besten, nicht wahr? Was glaubt Ihr, wie gelang es dem jungen Kaiser sonst zu entkommen und zu überleben? Er war damals ein Kind im Alter von vier Jahren, als man die Kaiserfamilie niederstreckte. Er muss Hilfe gehabt haben, Kaiserreichanhänger, die ihm zur Flucht verhalfen und ihn versteckt haben.«

Nachdenklich lehne ich mich in die Sitzbank zurück. Der Kutscher hat recht, wie sonst lässt sich erklären, dass Kellan-Dax aus dem Herrscherhaus Onyx plötzlich lebt und das Sumpfland der Wasserläufer erobern kann. Die Kaiseranhänger haben sich bedeckt gehalten, all die Jahre, um dann endlich zuzuschlagen, sobald der Sohn des Schattenkaisers alt und stark genug war, seine Kontrahenten zu besiegen und an die Macht zu gelangen. Rache und Machtgier sind das Einzige, was Kellan-Dax antreibt. Seine Gnadenlosigkeit gegenüber den Wasserläufern und deren Königsfamilie stellt das lediglich unter Beweis. Ich kann nur hoffen, dass mein Kopf lange genug auf den Schultern sitzt, damit ich ihm noch meine Hand anbieten kann. Doch je mehr ich über den wiederkehrenden Schattenkaiser erfahre, desto unsicherer werde ich, dass Vaters Plan gelingen wird. Ich hasse meine Gabe.

Am späten Abend erscheinen neben meinem Kutschenfenster die ersten Sümpfe von Seenland, dem Reich der Wasserläufer. Der Himmel verglüht in einem grellen Feuer und spiegelt sich auf den still liegenden Tümpeln wider. Wiesen, Flechten und flache Sträucher bedecken sanfte Hügel. Hier im Sumpfland gibt es keine Gebirge. Immer mehr Menschen begegnen uns auf den Straßen. Ganze Familien reisen mit Sack und Pack in die entgegengesetzte Richtung. Offenbar flüchten sie vor den kaiserlichen Heerscharen. Vermutlich suchen sie Schutz in den benachbarten Königreichen der Todesseher oder der Wandler. Meist sind es Wasserläufer, die ich schon von weitem an ihren blaugrünen Haaren erkenne. Manche von ihnen haben Kiemen statt Ohren, Schwimmhäute an den Händen oder Schwimmflossen statt Füße. Andere von ihnen sind so gebrechlich dünn wie junge Zweige, dafür aber überdimensional groß mit extrem langen Beinen und Armen. Aber auch Feuerseelen mit ihren leuchtend roten Haarschöpfen und schwarzäugige Todesseher, denen jegliche Behaarung fehlt, tummeln sich auf den Straßen. Gebannt sitze ich in der Kutsche und beobachte, wie das Treiben auf der Straße an mir vorüberzieht.

Die Sonne ist hinter dem Horizont verschwunden, als wir an einem Gasthaus am Wegesrand anhalten und uns Zimmer für die Nacht mieten. Es ist im typischen flachen Baustil der Wasserläufer gebaut, genau so, wie ich es von den Zeichnungen aus meinem Unterricht kenne: luftig, offen, mit hauchdünnen Wänden und Türen, die sich nur schieben lassen. Betten, wie wir Seelenleser sie benutzen, kennen die Wasserläufer nicht. Auch keine Stühle. Sie schlafen und essen auf Matratzen und Kissen am Boden. Nach einem Mahl aus Algen und Fisch ziehe ich mich zur Nachtruhe zurück und stehe am nächsten Morgen früh auf. Wir reisen weiter und je näher wir dem Palast König Ankas kommen, desto mehr Wasserläufer kommen uns entgegen. Alle sehen verängstigt aus und scheinen in Eile zu sein. In einem kleinen Dorf ist es dann soweit, zum ersten Mal sehe ich mehrere Schattenläufer beieinanderstehen. Großgewachsen mit dunklen Haaren und Augen scheint ihr Äußeres das vollkommene Gegenteil von dem der Seelenleser zu sein. Selbst ihre Haut ist dunkler als unsere und zeigt verschiedene Varianten von Braun. Unsere dagegen ist hell, manchmal sogar so bleich wie weiße Eierschalen oder beige wie Muschelsand. Die Männer verfolgen meine Kutsche mit eisernen Mienen. Sie haben ihre Unterhaltung eingestellt und mir wird ganz flau im Magen. Ohne etwas dafür zu tun, wirken sie bedrohlich auf mich und ich spüre, wie mir der Schweiß im Nacken ausbricht. Ich bin froh, dass wir hier nicht anhalten müssen, und will mich am liebsten in den Polstern verstecken. Stunde um Stunde vergeht. Stunden, in denen uns immer mehr Schattenläufer begegnen. Mehr Männer als Frauen und die meisten von ihnen sind wie Soldaten bekleidet. Mehrmals werden wir angehalten und müssen unsere Abstammung, Reise und Absicht erklären. Zwar dürfen wir immer passieren, aber jedes Mal rast mein Herz vor Angst. Ich kann nicht begreifen, woher die vielen Schattenläufer auf einmal kommen. Wie sie schlagartig zu dieser Macht und Gewalt über uns gelangt sind.

Die Sonne hat ihren höchsten Punkt am Himmel überschritten, als wir vor den Toren von König Ankas Palast zum Stehen kommen. Stichlingsheim. Nachdem der Wächter in die Kutsche gespickt und sich von meiner Herkunft überzeugt hat, werden wir in den Innenhof des Königspalasts geleitet. Mehrere Männer beobachten mit gezogenen Schwertern mein Aussteigen. Es sind Wasser- und Schattenläufer. Sogar Wandler sind unter ihnen, wie ich an deren Hautpigmentierung erkenne. Bei dem einen zeigt sich nämlich die Holzmaserung, bei dem nächsten die grau-weiße Marmorierung, die auf einen Steinwandler hindeutet. Nicht einer von diesen Männern lächelt oder zeigt eine freundliche Geste des Willkommens. Gut, der Schattenkaiser steht im Krieg mit allen sechs Königen, wie könnte er da eins ihrer Kinder frohlockend empfangen.

Obwohl meine Hände schweißnass sind und meine Knie zittern, bemühe ich mich, eine stolze und ruhige Haltung zu bewahren. Noch ehe ich die Treppe zum Haupteingang erreiche, öffnen sich die gewaltigen Flügeltüren und ein hochgewachsener Wasserläufer tritt heraus. Er eilt in schnellen langen Schritten auf mich zu und verbeugt sich vor mir. Sein Blick fliegt zur Tür meiner Kutsche, die das Symbol des Königshauses Hyazinthus der Seelenleser zeigt, das Auge in der Sonne. Seine schlitzartigen Pupillen werden für einen Glockenschlag rund.

»Ihr kommt von Seelenheim. Ihr seid eine Gesandte von König Malakai.«

Ich ziehe scharf die Luft ein. »Ich bin seine Tochter, Prinzessin Nia.«

Die blaugrünen Brauen des Wasserläufers zucken in die Höhe, doch schnell hat er sich wieder im Griff und verbeugt sich hastig und diesmal sogar noch tiefer als zuvor. »Verzeiht, Prinzessin, ich nahm an …«

»Schon gut«, unterbreche ich den Mann, bevor er es für uns beide noch unangenehmer macht. »Ich bin im Auftrag meines Vaters hier und habe dem Schattenkaiser ein Angebot zu unterbreiten.«

Erneut wandert der Blick des Wasserläufers zu meiner Kutsche, diesmal scheint er jedoch den Stapel an Reisekoffern zu beäugen. »Ihr habt vor länger zu bleiben?«

»Ich bin gerne auf alles vorbereitet.«

»Natürlich.« Ein spöttisches Grinsen tritt auf die Züge des Wasserläufers und ich kann mich noch nicht entscheiden, ob ich ihn mögen oder ihn meiden soll. »Folgt mir, Prinzessin.« Bevor er sich in Bewegung setzt, nickt er jedoch den Wachen zu, die nach wie vor um uns herumstehen und mich mit gezückten Waffen beobachten.

Als ich mich in Bewegung setze und hinter dem Wasserläufer die Treppe zum Palasteingang emporsteige, bin ich nicht die Einzige. Vier Wachen hängen an meinen Fersen. Und ja, ich komme mir wie eine Gefangene und nicht wie ein Gast vor. Im Gänsemarsch laufen wir durch endlose, hohe Gänge, die zur einen Seite mit unzähligen Fenstern zum königlichen Wassergarten und zur anderen mit Türen gesäumt sind. Das Zirpen von Grillen und Quaken von Fröschen erfüllt die feuchtwarme Luft. Es ist drückend und stetig wird mir wärmer. Allmählich bildet sich Nässe auf meiner Stirn, im Nacken unter meinen langen Haaren, die sich mehr und mehr locken, und überall auf der Haut, die mein Kleid unbedeckt lässt. Ich spüre, wie mir die ungewohnte Hitze in die Wangen steigt. Wahrscheinlich habe ich einen glühend roten Kopf.

Irgendwann landen wir in einem Gang, der keine Fenster hat, sondern nur Türen, von denen der Wasserläufer eine öffnet, indem er sie zur Seite schiebt. Er verbeugt sich und deutet mir mit einer Handbewegung an den Raum zu betreten. »Euer Gemach, Prinzessin. Euer Gepäck werde ich Euch bringen lassen, wie auch Trinken und Essen.«

Überrascht bleibe ich stehen. »Ich dachte, Ihr würdet mich gleich zum Kaiser bringen.«

»Oh, das werde ich, Eure Hoheit, sobald Ihr Euch von Eurer anstrengenden Reise ausgeruht und gestärkt habt.« Er zeigt auf ein steinernes Becken, das im Eck steht und mit Wasser befüllt ist. »Gewiss wollt Ihr Euch auch erst vom Straßenstaub befreien und frisch machen.«

Diesmal färbt die Scham meine Wangen rot. »Danke, das ist sehr umsichtig von Euch.«

Ich schreite an dem Wasserläufer vorbei ins Zimmer. Kaum habe ich ihm den Rücken zugekehrt, vernehme ich, wie die Tür hinter mir zugeschoben wird und ein Klacken hinter ihr ertönt. Erschrocken drehe ich mich um und eile zur Tür zurück. Verzweifelt rüttle ich an ihr und versuche, sie zu schieben, auf irgendeine Weise zu öffnen, doch sie bewegt sich kein Stückchen. Man hat mich eingesperrt. Im Gegensatz zum Gasthaus sind hier die Türen und Wände nicht dünn und aus stoffüberspannten Rahmen. Nein, hier ist alles aus Stein und die Türen sind aus massivem Holz.

Mein Herz klopft bis in den Hals und heiße Übelkeit steigt in mir auf. Hastig schaue ich mich im Zimmer um und suche nach einer anderen Fluchtmöglichkeit. Da ist ein riesiges Fenster hinter einem großen weißen Vorhang. Zu meinem Leidwesen ist es allerdings mit einem stabilen Eisengitter gesichert. Ich rüttle an den Stäben, doch die sind fest eingemauert und ich kann ihnen nichts anhaben. Kein Zweifel, ich bin eine Gefangene des Schattenkaisers.

Schlagartig wird mir richtig schlecht. Eine eisige Hitzewelle überflutet meinen Körper und auf einmal beginnt sich alles vor meinen Augen zu drehen. Das flache hölzerne Bett, der niedrige kleine Tisch und das einfache Sitzkissen, selbst die Wasserschale verschwimmen in einem Wirbel. Ich lehne mich gegen die Wand, um nicht die Orientierung und den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ich schließe die Lider und nehme einen tiefen Atemzug, den ich so lange einhalte wie möglich. Dann erst gestatte ich mir einen neuen zu nehmen. Der Schwindel legt sich, nachdem ich drei Mal Luft geholt habe, doch mein Herzschlag dröhnt noch immer in meiner Brust. Langsam öffne ich die Augen und entdecke eine Bodenluke neben der steinernen Schale. Die Latrine ist ein weiterer Beweis, dass ich in einer Zelle festsitze.

Geknickt ziehe ich das Sitzkissen ans Fenster und lasse mich nieder. Ich weiß nicht, wie lange ich dort sitze und mich im Anblick der trostlosen Sumpflandschaft verliere. Irgendwann vernehme ich ein Geräusch an der Tür, die kurz darauf zur Seite gezogen wird. Zwei Wachen treten mit einer jungen Wasserläuferin ein. Ängstlich mustert sie mich und ihre Kiemen vor den Ohren flattern aufgeregt, während sie auf dem Tischlein rohe Algen und einem Krug Wasser abstellt.

»Wann kann ich den Kaiser sprechen?«, wage ich zu fragen. Aber keiner gibt mir eine Antwort. »Wie lange wollt ihr mich hier festhalten?« Wieder nichts.

Zwei Wasserläufer schleppen mein Gepäck herein und stellen es in einer Ecke ab. Und so abrupt, wie mein Besuch erschienen ist, lässt er mich auch wieder allein in dem verriegelten Zimmer zurück. Ich erhebe mich und gehe auf meine Reisekoffer zu. Ein kleines Messer, eine Schere und mehrere Goldkiesel habe ich eingepackt, von Letzteren sogar welche in geheimen Innenfächern versteckt. Vielleicht kann mir irgendwas davon zur Flucht verhelfen, wenn man mich nicht zum Kaiser vorlässt und mich hier nur gefangen halten will. Denn wie soll das meiner Familie oder meinem Volk helfen, wenn ich hier festsitze? Egal wie, egal was, ich muss etwas tun. Ob Bestechung oder Erpressung, irgendwie muss ich meine Freiheit erlangen, wenn der Kaiser mich nicht erhören will.

Doch sobald ich den Deckel geöffnet habe und die Unordnung in meinem Gepäckstück erblicke, wird mir klar, dass man meine Sachen durchsucht hat. Panisch wühle ich mich durch meine Kleider, Schuhe und Utensilien. Aber weder finde ich das Geld noch das Messer oder die Schere. Selbst die Geheimfächer sind geleert worden. Auch in meinen anderen beiden Koffern finde ich nichts außer dem herrschenden Chaos darin. Ich bin den Tränen nahe, als der Wasserläufer, der mich eingesperrt hat, mit den Wachen im Rücken die Tür öffnet.

»Prinzessin Nia, der Kaiser erwartet Euch.«

2. Die Kunst, den Kopf zu behalten

»Ihr habt mir nicht Euren Namen genannt, Wasserläufer.« Bewacht von zwei Schattenkriegern folge ich dem Wasserläufer durch das Labyrinth von Gängen. Mittlerweile hat draußen die Finsternis die Dämmerung besiegt und unzählige Fackeln erhellen uns mit ihrem zuckenden Licht den Weg durch den Palast. Obwohl eine laue Brise zu den hohen Arkaden hereinweht, geben die Mauern noch immer die feuchtwarme Hitze des Tages ab.

»Mein Name ist Balto Gründling, Prinzessin Nia«, antwortet der Angesprochene vor mir, ohne sich nach mir umzudrehen.

»Balto. Aha. Sagt, seid Ihr schon immer ein Anhänger des Schattenkaisers gewesen? Oder hat Euch erst die Not dazu gemacht?«

Endlich dreht der Wasserläufer sich zu mir um. Das verspielte Glitzern in seinen schmalen Augen verrät, dass meine Stichelei ihn mehr amüsiert als ärgert. »Beides, Eure Hoheit.«

Irritiert betrachte ich seinen Hinterkopf. »Wie soll das denn gehen?«

»Wenn man im Herzen schon immer ein Mann des Kaisers war und sich erst nach dessen Rückkehr traute, es zuzugeben.«

Ich antworte nur mit einem ungläubigen Grummeln, was Balto offensichtlich nicht entgeht, denn er wirft mir ein herablassendes Grinsen über seine Schulter hinweg zu.

Wir steigen eine Treppe hinab und durchqueren wieder mehrere Gänge, die im Gegensatz zu heute Mittag von einer Vielzahl von Dienern und Soldaten bevölkert sind. Vor einer von vier Kriegern bewachten Doppelflügeltür bleiben wir stehen.

Balto schiebt sie auseinander, tritt zur Seite und neigt in einer leichten Verbeugung den Kopf. »Euer Majestät.«

Anscheinend soll ich den Raum allein betreten. Mit wild klopfendem Herzen folge ich der stummen Anweisung. Was bleibt mir auch übrig.

Ein riesiges Himmelbett mit dicken Kissen und Vorhängen macht mir mit Schrecken klar, dass ich mich in einem weitläufigen Schlafgemach befinde. Heilige Mutter der Gaben, warum bin ich nicht im Thronsaal?

Zu meiner Beruhigung stelle ich fest, dass ich nicht der einzige Gast im Privatzimmer des Schattenkaisers bin. Vor einer Sitzgruppe, die aus den üblichen Tischen und Stühlen des Südens besteht und ganz untypisch für Wasserläufer ist, stehen ein Mann und eine Frau. Doch keiner der beiden wirkt wie ein Schatten. Wer sind die?

Mit der wunderschönen Flut an roten Locken und den roten hitzigen Augen gehört die Frau eindeutig dem Volk der Feuerseelen an. Wegen des bronzefarbenen Haares, der großen silbern funkelnden Augen und des langen weißen Kaftans, vermute ich, dass er ein Zeitenleser ist. Und den unzähligen Perlen nach zu urteilen, die seine Kleidung zieren, gehört er einem der wichtigen Häuser an.

Balto schiebt die Türen hinter mir zu und überlässt mich den beiden Unbekannten. Wachsam versuchen wir drei, uns gegenseitig einzuschätzen. Der Zeitenleser macht ein neutrales Gesicht. Er wirkt eher neugierig als freundlich. Die Feuerseele dagegen schleicht vorsichtig in ein Eck, wo sie eine mit Büchern befüllte Regalwand im Rücken hat und zugleich den Zeitenleser und mich im Auge behalten kann. Keinen Moment steht sie still.

Sie erinnert mich an ein gefangenes Tier und das bereitet mir Unbehagen. Starkes Unbehagen. Denn wer weiß, was eine nervöse Feuerseele anstellt, wenn sie Angst bekommt? Manche von ihnen können nämlich aus dem Nichts Flammen erzeugen oder selbst zu einer werden. Und in solch einem Raum, voll von Büchern, dicken Stoffen und brennenden Kerzen ist das mehr als gefährlich. Wir alle könnten jeden Augenblick in Flammen stehen, wenn das Mädchen die Nerven verliert. Deswegen beschließe ich, die Situation zu entschärfen.

»Seid gegrüßt«, nicke ich den beiden zu. »Ich bin Prinzessin Nia aus Seelenheim. Und wer seid ihr?«

Der junge Mann, der ungefähr in meinem Alter sein muss, lächelt mir freundlich zu. »Prinz Cason, aus dem Hause Becrux. Ich bin ein Zeitenleser.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Cason«, erwidere ich mit einem Grinsen und blicke dann zu dem Feuermädchen hinüber. »Und du? Wie ist dein Name? Du bist eine Feuerseele, nicht wahr?«

Sie reckt ihr Kinn und strafft ihre Schultern. »Das bin ich. Ximenia, Tochter König Sauls, aus dem Feuerland.«

Sacht lächle ich ihr entgegen. »Ximenia. Ein wunderschöner Name. Und dein Haar … Ich bewundere es.« Meine Worte zeigen Wirkung. Ihre Schultern senken sich leicht, verlieren an Spannung, weswegen ich fortfahre. »Wurdet ihr auch hergebracht, um den Kaiser zu treffen?«

Beide bejahen.

Nur Cason spricht. »Ich warte schon seit gestern auf eine Audienz bei ihm.«

»Ich seit heute Morgen«, gibt Ximenia dann ebenso zu.

»Ich traf heute Mittag ein. Hielt man euch auch gefangen?«

Wieder nicken beide auf meine Frage hin.

»Weswegen seid ihr hier?«, erkundigt sich Cason. Sein Blick schweift von Ximenia zu mir, wo er schließlich verweilt. Seine Miene bleibt unter der ausgiebigen Musterung vollkommen ausdruckslos, sodass mir nicht nur wegen seiner Frage seltsam zumute wird.

Was hat er bloß? Warum sieht er mich so an?

Bevor ich antworten kann, platzt Ximenia heraus. »Ich bin hier, um dem Schattenkaiser meine Hand anzubieten.«

Während mir über diese Neuigkeit das Herz in die Hose rutscht, zieht Cason eine seiner Augenbrauen hoch. »Ach, tatsächlich?«

Ximenia nickt hektisch. »Natürlich, welche Wahl haben wir denn schon, um Frieden mit ihm zu schließen?« Sie blickt zu mir. »Ich wette, deswegen bist du doch auch hier, Seelenleserin. Oder etwa nicht?«

Ich nicke betreten, traue mich fast nicht, den Blick vom Boden zu heben. Trotzdem entgeht mir Casons Schmunzeln nicht.

Er kichert und unterzieht mich erneut einer eingehenden Inspektion. »Ja, warum sollte sie auch sonst hier sein?«

Empört will ich erwidern, dass ich auch als Botschafterin meines Vaters hier bin, doch da zieht plötzlich eine Bewegung aus dem Augenwinkel meine Aufmerksamkeit auf sich. Etwas Längliches schlängelt über den Fußboden auf mich zu.

Kreischend schwinge ich mich auf einen der Stühle. »Heilige Mutter, eine Schlange. Wo kommt die denn her?«

Lautlos zischelnd scheint sie über die Steinfliesen hinweg zu schweben.

Cason, der ebenfalls auf einen der Stühle gesprungen ist, schaut sich wirr um. »Wahrscheinlich von draußen. Dort hinter dem Vorhang geht es wohl ins Freie.«

Erst jetzt schenke ich unserer Umgebung mehr Beachtung. Zu allen Seiten sind wir entweder von Schränken, Bücherregalen oder Arkaden umgeben. Jene mit den bodenlangen Vorhängen scheint dagegen wirklich ein Durchgang zu sein. Als eine leise Windböe den Stoff zur Seite weht, erspähe ich dahinter ein in den Boden eingelassenes Wasserbecken. Rosa Blüten treiben darin.

Himmel, was für ein Prunk. Ja, die teuren Stoffe, dicken Teppiche, goldenen Buchrücken, feinen Vasen, Schalen und Kerzenhalter, alles in diesem Raum ist wirklich eines Kaisers würdig. Er muss zuvor König Anka gehört haben. Aber warum gelangt eine Schlange hier hinein? In das Gemach des Kaisers? Bestimmt hat man für uns nicht nur vor den Flurtüren Wachen platziert, sondern auch dort draußen. Wohin es auch immer hinter diesem Vorhang führen mag, ich bin mir sicher, eine Flucht ist uns unmöglich.

»Ist das ein Anschlag auf den Kaiser oder auf uns?«, fragt Cason.

»Ist die Schlange überhaupt giftig?«, will Ximenia wissen, die mittlerweile mit angezogenen Beinen auf dem Tisch kauert.

»Weder noch.«