Die Reformation - Martin H. Jung - E-Book

Die Reformation E-Book

Martin H. Jung

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Beschreibung

500 Jahre Reformation. Martin H. Jung blickt zurück und zieht Bilanz. Die Reformation begann mit Luthers Thesen 1517 und endete mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555. Der Autor schildert, wie es zur Reformation kam und welche Folgen sie hatte. Er zeigt, wie nicht nur neue, evangelische Kirchen entstanden, sondern auch die alte katholische Kirche allmählich verändert wurde. In vielem hat die katholische Kirche Luther, den sie 1520/21 verketzerte, im Nachhinein Recht gegeben. Der Autor beschränkt seine Darstellung der Reformation aber nicht nur auf Luther, sondern bezieht auch Melanchthon, Zwingli und Calvin mit ein. Er scheut sich nicht, heikle Themen anzusprechen, so den Aufstand der Bauern und das Aufbegehren der Täufer sowie Luthers feindliche Haltung zu den Juden und seine negative Sicht auf die Türken und den Islam. Ohne Tabus behandelt der Autor Licht- und Schattenseiten der Epoche. Dem Engagement von Frauen, für und gegen die Reformation, wird besondere Beachtung geschenkt. Die Darstellung der Geschichte findet dabei immer Brücken zur Gegenwart. Die Reformation hat Deutschland und Europa nachhaltig geprägt und prägt besonders Deutschland und die Schweiz noch heute.

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Martin H. Jung

DieReformation

Wittenberg – Zürich – Genf1517–1555

Meiner MutterMargarete Jungin Dankbarkeitzum 28.11.2016

INHALT

1. VORAUSSETZUNGEN

Das späte Mittelalter – Eine Welt im Aufbruch

Die Kirche im Reformstau

Der junge Luther – Ein Bergmannssohn wird Mönch

Der junge Zwingli – Ein Bauernsohn wird Priester

Rom ist eine Reise wert – Luther in der Heiligen Stadt

Das Turmerlebnis – Luthers reformatorische Wende

»Wenn die Münze im Kasten klingt […]« – Der Ablass

2. BEGINN DER REFORMATION

1517: Luthers Thesen

Disputationen in Heidelberg und Leipzig

Rom zögert, denn Deutschland braucht einen neuen Kaiser

Zwingli in Zürich – Ein zweiter Reformator gewinnt Gestalt

Reformatorische Hauptschriften – Luthers religiöse Botschaft

Christus allein, die Schrift allein, allein durch Glauben, allein aus Gnade!

1521: Luther im Bann und unter der Acht

3. AUSBREITUNG UND AUSGESTALTUNG DER REFORMATION

Luther auf der Wartburg – Das Neue Testament deutsch

Melanchthon, Karlstadt, Müntzer – Wittenberger Reformatoren neben Luther

Disputationen in Zürich – Zwingli schreitet zur Tat

1524/25: Der Bauernkrieg – Reformation mit Gewalt?

Luthers Streit mit Erasmus

Die Nonne und der Mönch – Katharina von Bora heiratet Martin Luther

Reformationen in Nürnberg, in Hessen und in Schwäbisch Hall

1526: Der Reichstag in Speyer – Die Reformation gewinnt an Fahrt

Die Osmanen vor Wien – Ohne Türken keine Reformation?

Streit um das Abendmahl – Ist Jesus leiblich gegenwärtig?

Streit um die Taufe – Darf man Kinder taufen?

1529: Noch einmal Reichstag in Speyer – begleitet von Protesten

1530: Evangelische definieren ihren Glauben – Das Augsburger Bekenntnis

Droht Krieg? – Militärbündnisse gegen und für die Reformation

1531: Zwingli fällt im Kampf

1532: Calvin schließt sich der Reformation an

Württemberg wird evangelisch

Die Reformation in Genf – Andere Wege zum gleichen Ziel

Köln und Osnabrück – Bischöfe entscheiden sich für die Reformation

Letzte Einigungsversuche – Die Religionsgespräche 1540/41 und das Konzil 1545

4. GEFÄHRDUNG UND KONSOLIDIERUNG DER REFORMATION BIS 1555

Der dunkle Luther – Luthers Schriften gegen die Juden

Eine Liebesaffäre mit politischen Folgen – Philipp von Hessens Doppelehe

1546: Luther stirbt, und der Krieg beginnt

Niederlage! – Die Reformation vor dem Ende

Und wieder Krieg – Die Reformation ist gerettet!

1555: Der Augsburger Religionsfriede

5. DIE EUROPÄISCHE DIMENSION

Wittenberg und Deutschland nach Luther

Die Reformation in Frankreich

Gegenreformation und katholische Reform

Die Reformation in England

Die Reformation in Polen

Ausblick: Vom Religionsfrieden 1555 zum Religionskrieg 1618

Fazit: 500 Jahre Reformation – Bilanz und Perspektiven

Zeittafel

Literatur zur Vertiefung

Personenregister

Ortsregister

Bildnachweis

1. VORAUSSETZUNGEN

DAS SPÄTE MITTELALTER – EINE WELT IM AUFBRUCH

»O Jahrhundert, o Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben!« rief und schrieb der junge Ritter Ulrich von Hutten im Oktober 1518.1 Das späte Mittelalter war keine Welt im Niedergang, sondern eine Welt im Aufbruch. Hoffnungsvoll blickten viele Menschen in die Zukunft. Alles sollte besser werden!

Das späte Mittelalter war eine Zeit der Erfindungen und Entdeckungen. Zunächst wurde die römische und griechische Antike neu entdeckt. Die Gelehrten lasen die griechischen Philosophen und die römischen Schriftsteller, sie bemühten sich um ein gepflegtes Latein, sie lernten Griechisch und vereinzelt sogar Hebräisch. Diese Gelehrtenbewegung wurde später, sehr viel später als Humanismus bezeichnet, weil sie in der klassischen Bildung das sah, was den Menschen zum Menschen mache. Ihr prominentester Vertreter war Erasmus von Rotterdam, ein Niederländer, der zeitweise in England und zuletzt in Freiburg im Breisgau und in Basel lebte. Er edierte – erstmals – ein griechisches Neues Testament sowie zahlreiche Schriften von Theologen aus der Frühzeit des Christentums, sogenannten Kirchenvätern.

»Erasmus hat das Ei gelegt, das Luther ausgebrütet hat.«2 Schon die Gegner der Reformation erhoben den Vorwurf, Erasmus sei Wegbereiter, ja Urheber der Reformation gewesen. »Ohne Humanismus keine Reformation«3, sagen viele Kirchenhistoriker der Gegenwart. Ohne die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, die vor der Reformation der Humanismus geschaffen hat, wäre die Reformation kaum denkbar gewesen, und Erasmus war so gesehen der entscheidende Bahnbrecher.

Der Humanist Erasmus von Rotterdam hat der Reformation den Weg bereitet

Erasmus wurde im Jahre 1466 oder 1469 in Gouda oder in Rotterdam geboren. Er war ein uneheliches Kind und überdies der Sohn eines Priesters und zeugt somit von den von vielen als problematisch empfundenen sittlichen Verhältnissen der Zeit. Bereits um 1484, und auch das ist nicht untypisch für die Zeit, verlor er beide Eltern und wurde von Vormündern betreut.

In Deventer und s’-Hertogenbosch ging Erasmus zur Schule und wurde dabei von der »Devotio moderna« beeinflusst, einer kirchlichen Reformbewegung, die gleichermaßen auf Bildung und auf Frömmigkeit Wert legte. 1487 wurde er, wahrscheinlich gedrängt von seinen Vormündern, Mönch bei den Augustiner-Chorherren in Steyn bei Gouda, und 1492 ließ er sich zum Priester weihen. Eine geistliche Laufbahn schien vorgezeichnet, doch Erasmus begann ein unruhiges Studien- und Wanderleben, das ihn durch halb Europa führte. Zunächst wirkte er als Sekretär des Bischofs von Cambrai, dann studierte er an dem von Humanismus und »Devotio moderna« geprägten Collège de Montaigu in Paris (1495–1499), reiste nach England und schließlich nach Italien, wo er 1506 in Turin den theologischen Doktortitel erwarb. Weitere England-Aufenthalte folgten. Gestorben ist er in Basel 1536.

Berühmt wurde Erasmus durch seine erstmals 1500 erschienenen Adagien, eine von ihm kommentierte Sammlung von 818 lateinischen Sprichwörtern, die gleichermaßen zur literarischen wie sittlichen Bildung beitragen sollte. Sie erlebte rasch weitere und erweiterte Auflagen, und hierbei beschäftigte sich Erasmus erstmals 1508 auch mit dem Ausspruch des spätantiken christlichen Militärfachmanns Flavius Vegetius Renatus: Süß scheint der Krieg den Unerfahrenen (Dulce bellum inexpertis). Erasmus’ Auslegung, auch mehrfach separat als kleines Buch gedruckt (bis heute), wurde zu einem leidenschaftlichen Plädoyer gegen den Krieg und formulierte eine christliche Begründung des Pazifismus. Christus und Krieg, so Erasmus, passten noch weniger zueinander als Christus und ein Hurenhaus, denn Krieg sei elend und verbrecherisch, die schrecklichste Sache, die es gebe, Christus dagegen stehe für Frieden, Freundschaft, Nächstenliebe und »Toleranz«.4 Frieden definierte Erasmus als eine Freundschaft vieler untereinander. Er könne mit dem zehnten Teil der Sorgen, Strapazen, Beschwerlichkeiten, Gefahren und Kosten geschaffen werden, mit denen ein Krieg herbeigeführt werde. Einen Brudermord nennt es Erasmus, wenn ein Christ einen anderen Christen töte. Die im Mittelalter von den Theologen entwickelte Lehre vom gerechten Krieg hält er für problematisch, da immer irgendwelche Herrscher nach Gutdünken entschieden, was gerecht sei. Kritik übt Erasmus sogar an den damals aktuellen Kriegen gegen die Türken und an der damit verbundenen Verteufelung des Islam. Er bezeichnet die Moslems als »halbchristlich«5 und behauptet, manche Türken lebten in Wahrheit christlicher als viele sogenannte Christen.

Theologiegeschichtlich am bedeutsamsten war Erasmus’ erstmalige Edition eines griechischen Neuen Testaments auf der Basis alter Handschriften, 1516 in Basel gedruckt, verbunden mit einer Neuübersetzung aus dem Griechischen in das Lateinische, womit Erasmus die Fehlerhaftigkeit der in Theologie und Liturgie gebräuchlichen, im 4. Jahrhundert geschaffenen lateinischen Übersetzung nachwies.

Neben dem Blick zurück in die Antike, für den unter anderen Erasmus steht, eröffnete sich für die Menschen im späten Mittelalter auch ein Blick in die Weite. Neue Kontinente wurden entdeckt und neue Völker. 1492 segelte der Italiener Kolumbus im Dienste Spaniens mit drei Schiffen über den Atlantik, um einen westlichen Seeweg nach Indien zu finden, und gelangte nach Amerika und damit zu Völkern, die noch nie etwas von der christlichen Religion gehört hatten. Er nannte sie »Indios«, Indianer. Drei weitere Reisen, immer im Glauben, nach Indien (»Westindien«) gelangt zu sein, folgten.

Die europäischen Kirchen standen damit vor der Frage der Mission. Spanien und Portugal begannen bald schon die Neue Welt zu erobern, und Kolonisation und Missionierung, beides mit massiver Gewalt, gingen Hand in Hand. Nur wenige, darunter der Dominikaner Bartolomé de Las Casas (1484–1566), traten schon früh für die Rechte der Ureinwohner ein und forderten deren menschliche Behandlung.

Las Casas wurde 1484 im spanischen Sevilla geboren. Er betätigte sich zunächst auf verschiedenen Inseln der Karibik als Goldsucher, dann als Feldkaplan. 1507 wurde er zum Priester geweiht. Im Jahre 1514 kam die Wende: Las Casas gewann eine neue, streng an Jesus orientierte Sicht des Christentums und damit verbunden eine neue Haltung zu den Indios. Sie identifizierte er nun mit dem gegeißelten Christus. Indio-Begegnungen wurden zu Christus-Begegnungen. Las Casas bekämpfte die Versklavung der Indios und bemühte sich, allerdings erfolglos, um deren friedliche Missionierung. 1522 trat er in den Dominikanerorden ein. Von 1544 an versuchte er in Spanien am Königshof eine gesetzliche Regelung der Rechte der Indios zu erreichen und betätigte sich auch als Schriftsteller. Er verfasste Werke über die Geschichte und Gegenwart Lateinamerikas und seiner Völker. 1566 ist er in Madrid gestorben.

Las Casas zählte in seiner Zeit zu den Gescheiterten. Erst im 19. Jahrhundert wurde er neu entdeckt und nunmehr geschätzt. Jetzt erst wurden auch seine historischen und ethnografischen Werke gedruckt. In der Gegenwart wird er als Wegbereiter der Befreiungsbewegungen und der Befreiungstheologie geschätzt.

1498 gelangte der Portugiese Vasco da Gama tatsächlich, über das Kap der Guten Hoffnung, auf dem Seeweg nach Indien und bewies die Verbindung des Atlantiks mit dem Indischen Ozean. Portugiesische Kaufleute reisten nach China. In der Folge wurde das Abendland mit einer bis dahin nicht bekannten Religion, dem Konfuzianismus, konfrontiert. Seine hohen ethischen Ansprüche forderten das Christentum heraus. Gab es Menschen, die ohne von Christus gehört zu haben, christlicher lebten als viele Christen? Diese Frage drängte sich auf und erregte alsbald die Gemüter.

Von 1510 an stellte der polnische Astronom Nikolaus Kopernikus das biblische Weltbild infrage. Allgemein und in Übereinstimmung mit der wörtlich verstandenen Bibel hatten bislang Astronomen wie Theologen behauptet, dass die Erde das Zentrum des Kosmos bilde und Sonne, Mond und Sterne die Erde umkreisten. Dagegen lehrte Kopernikus, der 1473 in Thorn geboren worden war und in Krakau, Bologna, Padua und Ferrara studiert hatte, auf der Basis astronomischer Beobachtungen und mathematischer Berechnungen, die Erde kreise um die Sonne, wie schon Aristarch von Samos in der Antike gesagt hatte. 1540 wurden die Erkenntnisse von Kopernikus im Druck verbreitet, auch in Deutschland. Viele jedoch wiesen unter Berufung auf die Bibel den Heliozentrismus energisch zurück. Bis 1757 waren die Bücher von Kopernikus, der 1543 in Frauenburg gestorben war, im Einflussbereich der katholischen Kirche verboten. Nur Einzelne waren bereit, die neuen Sichtweisen als Hypothesen zu diskutieren. Sie sollten sich jedoch als wahr herausstellen und der modernen Naturwissenschaft zum Durchbruch verhelfen. Vom 19. Jahrhundert an mussten auch die Kirchen und ihre Theologen die modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse akzeptieren und den Umgang mit biblischen Texten daran anpassen.

In Mainz wurde um das Jahr 1450 der Buchdruck erfunden. Der menschlichen Kommunikation eröffneten sich damit völlig neue Möglichkeiten. Texte aller Art hatten zuvor nur durch Abschreiben verbreitet werden können. Das war aufwändig und teuer. Nun wurde es möglich, Bücher preiswert und in hohen Auflagen herzustellen und zu verbreiten. Die Reformation wäre ohne diesen technischen Fortschritt kaum denkbar gewesen. Nicht nur ohne den Humanismus wäre es nicht zur Reformation gekommen, sondern ebenso gilt: »Ohne Buchdruck keine Reformation!«6

Als Erfinder des Buchdrucks gilt Johannes Gutenberg, der um 1400 in Mainz geboren wurde, zwischenzeitlich aber in Straßburg lebte. Von 1448 an stellte er in Mainz zunächst kleine Drucke her. 1454/55 präsentierte und verkaufte er eine gedruckte Bibel, allerdings in lateinischer Sprache. Gutenbergs entscheidende Erfindung war die Konstruktion eines Handgießinstruments zur Herstellung von Drucktypen. Eine Papierpresse entwickelte er zu einer Buchdruckpresse und druckte so seine Texte mit auswechselbaren beweglichen Lettern. Gutenbergs Erfindungen breiteten sich rasch in ganz Europa aus. Im Jahre 1500 gab es bereits rund 1000 Druckereien in rund 300 Städten, und es waren in dem halben Jahrhundert seit der genialen Erfindung bereits 30 000 Bücher in einer Gesamtauflage von 12 Millionen Exemplaren gedruckt worden. Gutenberg ist 1468 in Mainz verstorben.

Im 16. Jahrhundert und im Zusammenhang der Reformation sollte der Buchdruck an Bedeutung weiter zunehmen. Wichtig wurden vor allem die sogenannten Flugschriften. Darunter versteht man einen separat mit einem Titel gedruckten Text, der nur wenige Seiten oder Bogen umfasst und schnell – und preiswert – hergestellt und verbreitet werden kann. Autoren und Buchdrucker entdeckten zum ersten Mal, dass man mit Druckmedien Meinungen transportieren und unterstützen konnte. Statistische Untersuchungen zeigen, dass die Flugschriftenproduktion nach 1517 regelrecht explodiert ist.7 Genauer untersucht hat man das an Augsburg, einem für den Buchdruck wichtigen Ort. Während vor 1517 jährlich bis zu 50 Drucke erschienen, stieg die Zahl von 1517 bis 1525 auf über 300 jährlich. Die Reformation verdankte ihren Erfolg ein Stück weit den Buchdruckern, aber auch die Buchdrucker profitierten erheblich von der Reformation. Sie verdienten gut an den Bestsellern, die die Reformation hervorbrachte.

Das Bildungswesen erlebte um 1500 einen Aufschwung. Seit dem 12. Jahrhundert gab es Universitäten. Im ausgehenden 15. und im frühen 16. Jahrhundert wurden eine ganze Reihe neuer Universitäten gegründet, darunter 1502 die Universität Wittenberg. Die erstarkenden Territorialstaaten wollten alle ihre eigenen Universitäten. Universitäten waren Institutionen mit einem besonderen Rechtsstatus und bedurften zu ihrer Gründung einer päpstlichen und einer kaiserlichen Erlaubnis verbunden mit der Einräumung von Privilegien, wozu für sie und ihre Mitglieder Steuerfreiheit, Befreiung vom Kriegsdienst sowie die Unterstellung unter die kirchliche oder eine eigene akademische Gerichtsbarkeit gehörten.

Innerhalb und außerhalb der Universitäten wirkten Gelehrte im Geiste des Humanismus, die der Bildung neue Strukturen und neue Inhalte geben wollten. Die Bildung gewann an Breite, indem zum Beispiel nicht nur Latein, sondern auch Griechisch und Hebräisch gelernt wurde, und indem zum Beispiel neben Philosophie auch Geschichte und Mathematik studiert und neben dem dialektischen Denken mehr Rhetorik und Poesie geübt wurden. Die Mediziner begnügten sich nicht mehr mit der Lektüre von Büchern, sondern betrachteten und sezierten menschliche Leichname. Auf das Bildungswesen des Mittelalters wurde verächtlich herabgeblickt und seine Philosophie und Theologie als »scholastisch«, das heißt schulisch disqualifiziert. Auch das Aufkommen des Begriffs Mittelalter hatte seinen Hintergrund in diesem verächtlichen Blick auf die Vergangenheit. Die zurückliegenden Jahrhunderte, die Epoche zwischen der Antike und der Gegenwart, bezeichnete man abschätzig als »mittlere Zeit«, eine Zeit des Niedergangs zwischen der glorreichen Antike und der erwarteten glorreichen, jetzt beginnenden »neuen Zeit«. Der Begriff Mittelalter hat sich dann eingebürgert, wird heute aber meist ganz ohne Wertung verwendet. Eingebürgert hat sich auch der Begriff Neuzeit für die mit dem Ende des Mittelalters, mit der Reformation beginnende neue Geschichtsepoche.

Auch die Religion wurde neu entdeckt. Die Menschen suchten nach eigenen religiösen Erfahrungen. Sie fragten danach, was sie selbst zur Erlangung des Heils beitragen könnten. Und sie begehrten nach Predigten. Viele Menschen gaben viel Geld für kirchliche Zwecke. Davon zeugen noch heute die prächtigen spätmittelalterlichen Kirchen mit ihren kostbaren Altären.

Das Leben war schwer und die Sehnsucht nach Erlösung groß. Die Menschen suchten Hilfe bei den Heiligen, großen, bereits verstorbenen Männern und Frauen aus der Geschichte der Christenheit, die ein vorbildliches Leben geführt hatten oder als Märtyrer für ihren Glauben gestorben waren und denen man zutraute, auf Gott einzuwirken und – wenn es sein musste – seinen Zorn zu mildern. Heilige waren Fürbitter, die sich bei Gott für die Menschen einsetzten. In allen größeren und kleineren Nöten des Lebens, bei Krankheit und bei Missernten, aber auch, wenn man etwas verloren hatte, konnte man sich an die Heiligen wenden und sie anrufen. Die Anrufung glich häufig einer – eigentlich untersagten – Anbetung. Die Menschen standen oder knieten vor Bildern von Heiligen und beteten – doch zu wem? Die Heiligen versperrten vielfach den Blick auf Gott.

Warum konnte man von Heiligen Hilfe erwarten? Die Kirche lehrte, dass einige wenige Menschen, ausschließliche diejenigen, die für ihren christlichen Glauben gestorben waren – allen voran die Apostel Petrus und Paulus –, und diejenigen, die in besonders vollkommener Weise gelebt hatten – allen voran Maria, die Mutter Jesu –, mit ihrem Tod direkt zu Gott gelangt seien und nicht wie alle übrigen Menschen auf die Auferstehung und das Gericht warteten. Diese wenigen Verstorbenen, vielmehr bei Gott ihr neues Leben Führenden, hatten direkten Zugang zu Gott, konnten Gott also ansprechen und etwas bei ihm erreichen. Und woher wusste man, ob eine bestimmte Person heilig war? Wunder galten als Beweis dafür. Wenn sich am Grab eines verstorbenen besonderen Menschen Wunder ereigneten, so war das ein Beweis dafür, dass hier der Leib eines Heiligen ruhte. Eine förmliche Heiligsprechung seitens der Kirche gab es noch nicht, sie wurde erst später Praxis und Vorschrift. Heiligenverehrung entstand an der Basis, in den Gemeinden, unter den Menschen.

Um den Heiligen nahe zu sein, besuchte man das, was von ihnen übrig geblieben war, ihre Reliquien (Überbleibsel). Jede Kirche hatte Überreste von Heiligen, und Kirchen, die besonders viele oder einige von besonders bedeutenden Heiligen hatten, wurden zu Wallfahrtskirchen, die man nur deswegen besuchte, um einem bestimmten Heiligen nahe zu sein. Das Pilgern hatte Konjunktur, und die Menschen versprachen sich – geistlich – viel davon. Berühmt war der auch heute wieder beliebte Pilgerweg nach Nordspanien, nach Santiago de Compostela, der sogenannte Jakobsweg. Doch auch Pilgerfahrten nach Assisi oder nach Rom oder nach Jerusalem waren beliebt und wurden begangen.

DIE KIRCHE IM REFORMSTAU

Humanismus, Buchdruck, Neue Welt, Heliozentrismus, Universitätsgründungen, Bildungsreformen, intensives religiöses Verlangen – das späte Mittelalter war eine Welt im Aufbruch. Im kirchlichen Bereich sah es jedoch weniger günstig aus. Mehrfach waren im 14. und 15. Jahrhundert Reformanläufe unternommen worden, doch sie scheiterten notorisch. Die Missstände waren zahlreich und offenkundig.

Viele Menschen lebten von der Kirche – und auf Kosten der Allgemeinheit. In den Städten bestand etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus Priestern, Mönchen und Nonnen, gehörte also dem sogenannten geistlichen Stand an. An großen Kirchen, in den Städten, gab es nicht einen, zwei oder drei Priester, sondern 20 oder 30 und mehr. Sie alle hatten beim Eintritt in den geistlichen Stand Ehelosigkeit gelobt. Doch viele hielten sich nicht daran.

Auf den Bischofsstühlen saßen nachgeborene Adelssöhne, die nur selten religiös gestimmt und kirchlich interessiert waren. Die Gier nach Ansehen, Macht und Reichtum führte dazu, dass manche Bischöfe zwei oder sogar drei Bistümer gleichzeitig regierten. Wer aber zu viele Aufgaben und Ämter auf einmal hat, muss zwangsläufige einige oder sogar alle vernachlässigen – er kann ja nicht an mehreren Orten zugleich sein. Und so war es auch. Die Bischöfe kümmerten sich kaum um ihre eigentlichen Aufgaben: die Aufsicht über die Kirche, die Abstellung von Missständen, die Durchführung notwendiger Reformen. Sie ließen es sich gut gehen, genossen ihr Leben, liebten die Frauen und frönten der Jagd, wie alle Adligen. Und was das Regieren anbelangte, so hatten sie im Zweifelsfall mehr Interesse an der politischen Macht, die mit ihrem Bischofsamt verbunden war, als an der kirchlichen. Bischöfe waren nämlich in Deutschland kirchliche und politische Herrscher zugleich, die Bistümer waren kleine selbstständige Staatswesen. Man bezeichnet diese zugleich politisch herrschenden Bischöfe deshalb als Fürstbischöfe und ihre politischen Herrschaftsgebiete als Fürstbistümer. Diese Verbindung von kirchlicher und politischer Macht, in der Regel zu Lasten der kirchlichen Belange, war charakteristisch für Deutschland vom 10. Jahrhundert an bis 1803, als Napoleon dem allen ein Ende bereitete.

Nicht gut sah es auch in vielen Klöstern aus. Im Kloster zu leben war, ganz anders als heute, eine für Männer wie Frauen attraktive Sache, war man doch vielen Zwängen und Nöten des Alltags enthoben. Frauen waren nicht in der Gefahr, in jungen Jahren im Kindbett zu sterben, und sie konnten im Kloster sogar Bildung erwerben. Hier waren sie Herr ihrer selbst und mussten sich nicht wie in der Ehe von Männern beherrschen lassen. Allerdings lebten auch viele Männer und Frauen unfreiwillig, von ihren Eltern hineingezwungen in Klöstern und konnten diese nicht mehr verlassen, weil Mönchsgelübde nach theologischer Auffassung sowie Rechtslage ewig bindend waren. Wer sich aber dennoch einfach so davon machte, wurde verfolgt, gefangen und bestraft. Die Mönche und Nonnen hielten sich häufig nicht an die Regeln, die mit ihrer Lebensform verbunden waren. Sie hatten sich in ihrem Gelübde zu Armut, Keuschheit und Gehorsam verpflichtet, aber die Realität sah oftmals anders aus. Viele Klöster galten als verkommen und verlottert, obwohl es in vielen Orden immer wieder Reformbewegungen gab, die zurückwollten zu den alten Idealen des Mönchslebens.

Die Schriften des Erasmus enthielten, wie schon angedeutet, beißende Kirchenkritik. Insbesondere mit Missständen im Mönchtum setzte er sich schonungslos auseinander. Er selbst hatte sich 1517 durch den Papst von seinen Ordensgelübden entbinden lassen und folglich mit dem Mönchsstand gebrochen. Erasmus war der Auffassung, dass das Mönchsein grundsätzlich keine bessere und höhere Form des Christseins sei. Er kritisierte ferner die Ungebildetheit vieler Mönche und ihren schlechten sittlichen Zustand. Auch die erzwungene Ehelosigkeit hielt er, obwohl er selbst dauerhaft und konsequent ehelos lebte, für falsch.

Noch schlimmer als in den Kirchen und Klöstern waren die Zustände in Rom. Die Päpste kümmerten sich nicht um die Kirche, die sie regieren sollten. Sie vergnügten sich mit Frauen, sie zeugten Söhne und Töchter, sie führten Kriege und sie förderten die Kunst. Von Letzterem legen die vielen prachtvollen Kunstwerke Michelangelos und Raffaels und viele Bauten Zeugnis ab, die alle Rombesucher noch heute bewundern. Hier haben diese Päpste Großes und Bleibendes geschaffen, was man aber nur dann wirklich loben kann, wenn man nicht fragt, woher das Geld dafür kam.

Ein Papst von besonders zweifelhafter Würde war Julius II. Er regierte von 1503 bis 1513 und war durch Bestechung in sein Amt gekommen. Er war ein glänzender Feldherr und vertrieb die Franzosen zeitweise aus Italien. Er besaß ein jähes Temperament, weshalb man ihm den Beinahmen »Il Terribile« (Der Schreckliche) beilegte. Auch er förderte die Kunst. Michelangelo hat ihm mit seinem »Mose« ein Denkmal gesetzt. Die berühmte Skulptur des Michelangelo in Rom, in der Kirche San Pietro in Vincoli, ist ein Grabmal für Papst Julius. Auffällig ist, dass Julius ganz demütig dargestellt ist, wie ein Papst eigentlich sein müsste, Julius II. aber nicht war. War das eine leise Kritik des Künstlers an dem Verstorbenen? Manche Kunsthistoriker vermuten, das Julius-Grabmal des Michelangelo sei, auch aus anderen Gründen, ein heimliches Bekenntnis des Künstlers zur Reformation.

Papst Julius II. bot scharfer Kirchenkritik viel Anlass

Ein ganz anderes Denkmal setzte dem Verstorbenen Erasmus von Rotterdam, der Humanist. In einer Satire Julius vor der Himmelstür beschreibt er, wie Petrus diesem Papst den Zutritt in den Himmel verweigert. Julius steht vor der verschlossenen Himmelstür, beklagt sich und schimpft und droht, gleich die Tür einzuschlagen, wenn ihm nicht geöffnet werde. Petrus eilt herbei, bemerkt einen entsetzlichen Gestank und öffnet sicherheitshalber nicht die Tür, sondern nur ein vergittertes Fenster. Es riecht nach Kneipen, Wein und Pulverdampf. Julius, aufbrausend, wie er war, droht Petrus die Exkommunikation an, sollte er nicht öffnen. Julius wirft Petrus vor, Jude zu sein. Es entspannt sich ein langer Dialog, in dem Petrus fortwährend dem Verständnis des Papstamtes widerspricht, das Julius darlegt. Petrus bleibt dabei: Er öffnet die Tür nicht. Er beschimpft Julius als einen Unhold und beklagt, dass Unholde am Steuer der Kirche säßen. Julius empfiehlt er, sich als guter Bauherr, der er ja war, mit seinen unermesslichen Geldmitteln ein eigenes, neues Paradies für sich selbst zu errichten. – Erasmus hat allerdings immer bestritten, dass diese Geschichte von ihm stamme.

Die kirchlichen Missstände lagen auf der Hand und ein Antiklerikalismus war zu spüren, aber eine offene und grundsätzliche Opposition gegen die Kirche gab es nicht. Anders als in früheren Zeiten traten keine radikalen Kritiker – Ketzer – auf, es existierten keine Oppositions- und Ketzerbewegungen. Die Zeit um 1500 gehörte zu den kirchenfrömmsten Epochen in der Geschichte des Christentums, bis mit Martin Luther ein – in den Augen Roms sowie der meisten Bischöfe – neuer Ketzer aufstand.

DER JUNGE LUTHER – EIN BERGMANNSSOHN WIRD MÖNCH

Die Reformation verbindet sich mit Martin Luther. Ohne Luther hätte es keine Reformation gegeben, zumindest nicht die Reformation, die wir kennen. Wie wurde Luther zum Reformator? Es war ein langer Weg, voller überraschender Wendungen.

Martin Luther wurde am 10. November wahrscheinlich im Jahre 1483 und wahrscheinlich in Eisleben geboren, das damals zur Grafschaft Mansfeld gehörte. Der Geburtstag steht fest wegen des Vornamens. Luther wurde, so erinnerte sich seine Mutter, am Tag nach seiner Geburt getauft und erhielt, wie damals üblich, den Namen des Tagesheiligen. Der 11. November war und ist der Martinstag. Das Geburtsjahr ist nicht sicher, da weder von den Eltern noch von der Kirche oder einer städtischen Behörde die Geburt eines Kindes schriftlich festgehalten wurde. Luther könnte auch 1482 oder 1484 und er könnte auch in der Stadt Mansfeld geboren worden sein, aber die meisten Lutherforscher haben sich auf der Basis der vorliegenden Quellen für 1483 entschieden und für Eisleben, wo man schon im ausgehenden 16. Jahrhundert ein Haus als Geburtshaus Luthers zeigte und verehrte. Heute ist es, nach einer wechselvollen Geschichte, ein Museum. Ganz in der Nähe befindet sich die Kirche St. Peter und Paul. Hier wurde Luther möglicherweise getauft, allerdings nicht in der heute zu sehenden Kirche, denn sie wurde erst 1513 fertig gestellt, sondern im Vorgängerbau. Erhalten hat sich der alte Taufstein. Falls Luther in dieser Kirche getauft wurde, wie er selbst 1520 einmal sagte, ist es der Taufstein Luthers. Allerdings könnte die Taufe auch zu Hause stattgefunden haben. Haustaufen waren verbreitet. Die Kirche dient heute als modern gestaltetes, auch für Erwachsenen- und Ganzkörpertaufen geeignetes Taufzentrum der Landeskirche.

Luthers Eltern stammten aus Thüringen, der Vater aus einer Bauernfamilie. Da er den elterlichen Hof seinem Bruder überlassen musste, hatte er sich dem Bergbau zugewandt und siedelte sich aus diesem Grund in Mansfeld an. Luthers Vater war erfolgreich und erwarb ein nicht unbeträchtliches Vermögen. Der Bergbau im Mansfelder Land war lukrativ. Noch zu DDR-Zeiten florierte er und kam erst nach 1989 zum Erliegen. Abgebaut wurden Kupfer, Silber und Blei. Die Bergleute arbeiteten liegend sechs bis acht Stunden am Tag in schräg verlaufenden, nur 60 cm hohen Stollen. Neben dem Bergbau hatte der Wohlstand der Familie Luther noch zwei weitere Säulen: Grundbesitz und Landwirtschaft sowie Kapitalanlage und Geldverleih.

Luther wuchs in Mansfeld auf, das Elternhaus steht noch. Auch Ausgrabungen der letzten Jahre haben bewiesen, dass die Familie wohlhabend war. In der Abfall- und Sickergrube des Hauses fanden sich Spielsachen wie Murmeln sowie Knochenreste der bei den Mahlzeiten verspeisten Tiere. Die Archäologen entdeckten Knochen von Hausgeflügel, Singvögeln, Wild, Süß- und Salzwasserfischen.

Luther als Schüler in Eisenach (Lutherdenkmal Eisenach)

Luther ging zunächst in Mansfeld in die Schule, doch für eine höhere Schulbildung musste man häufig frühzeitig das Elternhaus verlassen. Von 1497 an lernte Luther in Magdeburg, an der Domschule, und er lebte im Wohnheim einer klösterlichen Gemeinschaft, der »Brüder vom gemeinsamen Leben«. Sie gehörten zur Frömmigkeitsbewegung »Devotio moderna«, von der auch Erasmus geprägt worden war. 1498 wechselte Luther nach Eisenach, wo es eine gute Lateinschule gab und Verwandte mütterlicherseits lebten. Ob Luther aber wirklich in dem Haus wohnte, das in Eisenach heute als »Lutherhaus« gezeigt wird, ist unsicher.

Latein war der Schlüssel zum Erfolg. Bildung war nur möglich im Medium der lateinischen Sprache. An höheren Schulen und an Universitäten wurde Latein gesprochen. Wissenschaftliche Literatur gab es nur in lateinischer Sprache. Die Gebildeten waren, heute kaum noch vorstellbar, in der lateinischen Sprache so zu Hause, als ob es ihre Muttersprache wäre. Auch privat unterhielten sie sich auf Lateinisch oder in einer deutschlateinischen Mischsprache. Gelehrtes konnte man besser lateinisch formulieren, Alltägliches besser auf Deutsch. Alle Gelehrten in ganz Europa sprachen Latein. Das ermöglichte somit auch Mobilität, wie schon an Erasmus deutlich wurde. Bei Luther spielte sich jedoch alles in der Mitte Deutschlands, zwischen Magdeburg und Eisenach ab – von wenigen kurzen Abstechern in die Ferne einmal abgesehen.

Der Vater hatte große Pläne mit seinem Sohn. 1501 schickte er ihn zum Studium nach Erfurt, das damals eine der besten Universitäten Deutschlands besaß. Luther selbst soll später einmal gesagt haben: »Wer gut studieren möchte, gehe nach Erfurt!«8 Die Stadt an der Gera war auch eine besonders fromme Stadt und wurde wegen ihrer vielen Kirchen als deutsches Rom gepriesen. Sie zählte drei Stiftskirchen, 27 Pfarrkirchen und elf Klosterkirchen. Erfurt war eine Bischofsstadt ohne Bischof. Davon zeugt heute noch der Erfurter Dom. Das im 8. Jahrhundert gegründete Bistum Erfurt war nach wenigen Jahren in die Hand des Bistums Mainz gekommen. Erst 1994 wurde das Bistum wiederbelebt. Mit rund 20 000 Einwohnern war Erfurt zu Luthers Zeit eine richtige Großstadt. Heute zählt Erfurt 200 000 Einwohner und ist die Landeshauptstadt Thüringens.

Als Student absolvierte Luther wie alle in seiner Zeit zunächst ein allgemeinbildendes Grundstudium, das sich an die sogenannten Freien Künste der Antike anlehnte und in dem er sich vor allem mit der lateinischen Sprache, mit Rhetorik und Philosophie, aber auch mit Mathematik und Musik beschäftigte. Dieses Grundstudium schloss Luther 1505 mit dem Magistertitel ab. Anschließend gab es drei Möglichkeiten, das Studium fortzusetzen: Theologie, Medizin oder Jura. Luthers Vater wollte, dass Martin Jurist werde. Im Frühjahr 1505 begann Martin Luther mit dem Jurastudium, doch bereits im ersten Semester brach er es wieder ab. Und er brach nicht nur mit seinem Studium, sondern mit seinem ganzen bisherigen Leben und Werdegang.

Luther war ein Studienabbrecher, aber nicht nur ein Studienabbrecher, sondern ein junger Mensch, der sich aus freien Stücken im Alter von 21 Jahren entschloss, mit seinem ganzen bisherigen Leben und den Idealen seiner Eltern zu brechen, auf Beruf, Erfolg und Geld zu verzichten und fortan im Kloster zu leben. Wer ins Kloster ging, verließ – so sah man das damals – die »Welt«. Die Mönchskleidung und die Klostermauern brachten dies zum Ausdruck.

Auslöser dieses doppelten Bruchs war ein schweres Sommergewitter, in das Luther, zu Fuß von Mansfeld nach Erfurt unterwegs, am 2. Juli 1505 in der Nähe von Stotternheim, nordöstlich von Erfurt geriet. Luther berichtete darüber Jahrzehnte später, 1539, und schilderte, wie er in Todesangst die Heilige Anna, die Großmutter Jesu, anrief und versprach, falls er das Gewitter überleben sollte, Mönch zu werden. Luther überlebte das Gewitter und klopfte am 17. Juli desselben Jahres bei den Augustiner-Eremiten in Erfurt an, einem besonders strengen Mönchsorden, und trat ins Kloster ein.

Das Ereignis wirft mehrere Fragen auf, die dazu zwingen, Luthers späten Bericht zu hinterfragen, zunächst die Frage, warum eigentlich Luther mitten im Semester seinen Heimatort und seine Eltern besuchte. Wir kennen den Grund nicht und können nur mutmaßen. Suchte er das Gespräch mit seinem Vater, weil ihm sein Studium nicht gefiel? Hatte der Vater weitere Pläne mit seinem erfolgreichen Sohn, wollte er ihn verheiraten? Es könnte sein, dass sich Luther ohnehin mit dem Gedanken trug, aus den Zwängen seines Elternhauses auszubrechen und einen ganz anderen Weg, eben den klösterlichen, einzuschlagen, und dass das Sommergewitter nur den letzten Ausschlag gab.

Viel gerätselt wurde auch über die Frage, warum Luther die Heilige Anna anrief – und ob er sie überhaupt anrief und vielleicht nicht einen ganz anderen Heiligen, zum Beispiel den Heiligen Veit, der in Gewittergefahr normalerweise Hilfe versprach. Anna wurde von den Bergleuten verehrt. Überall im Mansfelder Land finden sich auch heute noch Annenkirchen und Annenaltäre. Allerdings blühte dieser Kult im Mansfeldischen erst später. Doch die Heilige Anna war Luther zumindest in seiner Schulzeit in Eisenach begegnet. Dort gab es eine Annenkirche. Als Luther 1539 von seinem Gewittererlebnis erzählte, sagte er, er habe die Heilige Anna angerufen, aber Gott habe seinen Ruf hebräisch verstanden. Das hebräische Wort für Anna (Chana) ist verwandt mit dem hebräischen Wort für Gnade (chen). Luther flehte also 1505 unbewusst um Gnade, um die göttliche Gnade, die er Jahre später im Kloster entdecken sollte und deren Entdeckung ihn zum Reformator werden ließ. War es so, oder schilderte Luther das 1539 nur so, um an sein Grundanliegen, den gnädigen Gott, zu erinnern?

Luther trat in das Kloster der Augustiner-Eremiten ein. Das war ein im hohen Mittelalter gegründeter sogenannter Bettelorden, also ein Mönchsorden, der es mit der Verpflichtung zur Armut ganz besonders genau nahm. Nicht nur der einzelne Mönch war zu Besitzverzicht verpflichtet, sondern auch das Kloster selbst verzichtete darauf, Wälder und Felder sowie Hofgüter und ganze Dörfer als Eigentum zu haben und von dem Ertrag dieses Besitzes zu leben. Die Mönche und das Kloster lebten von Almosen, von Spenden. In ihrer Lebensführung orientierten sie sich an einer Ordensregel, die auf den Kirchenvater Augustin († 430) zurückging. Warum wandte sich Luther ausgerechnet an die Augustiner-Eremiten? In Erfurt gab es viele Klöster und viele Alternativen. Er nennt keinen Grund, aber vermutlich sagte er sich: Wenn schon Mönch, dann richtig. Die Erfurter Augustiner-Eremiten zeichneten sich, auch im Vergleich mit den örtlichen Franziskanern und Dominikanern, zwei weiteren Bettelorden, die es in Erfurt ebenfalls gab, durch besondere Schlichtheit aus, was man noch heute sehen kann, wenn man einen vergleichenden Blick auf die drei jeweiligen ehemaligen Klosterkirchen wirft. Und ein Zweites zeichnete die Augustiner aus: Sie waren besonders gelehrt.

Die Augustiner-Eremiten gab es in Erfurt seit 1266. Ihr Kloster lag im nordöstlichen Teil der Stadt, unweit der Stadtmauer. Zur Zeit Luthers lebten dort etwa 50 Mönche. Das Kloster hatte Bestand bis 1559. Anschließend wurde es als Schule genutzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg existierten nur noch Ruinen. Inzwischen sind jedoch weite Bereiche rekonstruiert und wieder aufgebaut und dienen als kirchliches Tagungszentrum. Vorübergehend, 1994 bis 2011, wirkten hier evangelische Benediktinerinnen und praktizierten ein evangelisches Ordensleben. 2011 besuchte Papst Benedikt XVI. das Kloster und sprach über die heutige katholische Sicht Luthers.

Auch als Mönch verfügte Luther nicht über sich selbst, bestimmte nicht selbst sein Leben und seine Ziele. Hatte ihn früher sein Vater zum Jurastudium veranlasst, so drängte ihn nun sein Ordensvorgesetzter zum Theologiestudium und zum Priesterberuf. Bereits 1506 empfing Luther im Erfurter Dom die Priesterweihe, 1512 vollendete er sein Theologiestudium.

Theologie studierte Luther zunächst in Erfurt, zwischendurch 1508 in Wittenberg und von 1511 an wieder in Wittenberg, wo er 1512 den Doktortitel erwarb und damit den formalen Studienabschluss. Luther war ein begeisterter und erfolgreicher Theologiestudent. Sein Ordensoberer beobachtete das mit Freuden und bestimmte den jungen Mönch zu Höherem. Nach dem Willen seines Ordens sollte er in Wittenberg an der neu gegründeten Universität Theologieprofessor werden und mithelfen, dort ein solides und modernes Theologiestudium aufzubauen.

Der Mann, der Luther in seinen Klosterjahren am meisten prägte, war Johannes von Staupitz, ein sächsischer Adliger, der seit 1489 den Augustiner-Eremiten angehörte. Er hatte in Tübingen und in München gewirkt und bekam vom sächsischen Kurfürsten den Auftrag, die Universität Wittenberg aufzubauen. Gleichzeitig hatte er ein hohes Amt im Orden. Für Luther war er Vorgesetzter, Seelsorger, Beichtvater, Förderer, Lehrer und Freund. Immer wieder ermahnte er Luther, auf den Gekreuzigten zu blicken und sich allein dem göttlichen Erbarmen anzuvertrauen. Obwohl Staupitz nie mit der alten Kirche brach, war er letztlich ein großes Stück mit dafür verantwortlich, dass es zur Reformation kommen konnte und kam. 1524 ist er in Salzburg gestorben.

Neben Staupitz prägten Luther auch weitere Dinge, denen er im Erfurter Kloster begegnete, dauerhaft. Im Kloster lag und liegt Johannes Zachariae begraben, der Ankläger von Jan Hus (um 1369–1415), der 1415 in Konstanz als Ketzer verbrannt worden war. Eine Grabplatte vor dem Altar erinnerte und erinnert noch an ihn. Wenn Luther diese Grabplatte sah, stand ihm Johann Hus, den man heute als Vorreformator bezeichnet, vor Augen und das grausame Schicksal eines Mannes, den die Kirche zum Ketzer erklärt hatte. Wenn Luther vor dem Erfurter Altar die Augen hob, blickte er auf ein wunderschönes Chorfenster, das ihm Augustin und dessen Lebensgeschichte vor Augen stellte. Auch dieses Fenster ist noch heute zu sehen. Augustin war der Theologe der Frühzeit des Christentums, auf den sich Luther später am häufigsten berief. Und ein weiteres Chorfenster, direkt daneben, zeigte weiße Rosen, Symbole der Unschuld. Eine weiße Rose mit einem roten Herz sollte sich Luther später zum Wappen erwählen.

Weil Luther sein Mönchsleben ganz besonders ernst nahm, erlebte er Krisen – die Mönche sprachen von Anfechtungen. Er war von innerer Unruhe erfüllt und hatte das Gefühl, den Anforderungen nicht wirklich zu genügen, Gott nicht wirklich gerecht zu werden. Durch diese Krisen reifte der ernste Mönch allmählich zum mutigen Reformator.

DER JUNGE ZWINGLI – EIN BAUERNSOHN WIRD PRIESTER

Neben Martin Luther ist Ulrich Zwingli als Reformator, als Reformator der Schweiz, in die Geschichte eingegangen. Er war von Luther inspiriert, gab seiner Reformation aber ein eigenes Gepräge.