Die Reformation - Volker Leppin - E-Book

Die Reformation E-Book

Volker Leppin

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Beschreibung

Die Reformation brach - nach Vorankündigungen im Spätmittelalter - die religiöse Einheit Europas auf. In der Folge entwickelten sich in Böhmen, in der calvinistischen Schweiz, in Skandinavien, den Generalstaaten der Niederlande oder in England unterschiedlichste Ausprägungen von Kirchen und Religion. Auch die politische Landkarte wurde neu geschrieben - die gewalttätigsten Auswirkungen findet dieser Umbruch im Dreißigjährigen Krieg. Volker Leppin, der mit seiner Luther-Biographie auch international große Anerkennung fand, ist heute der führende deutsche Spezialist zur Reformationszeit. Er legt einen überaus klar gegliederten Überblick über alle Aspekte der europäischen Reformation mit Schwerpunkt auf dem Reich vor: von der spätmittelalterlichen Frömmigkeit mit ihren neuen Glaubensformen über erste reformatorischen Ansätze in Städten und bei Fürsten über die Auswirkungen auf das Reich insgesamt, die Ausdehnung auf Europa und die Reaktion des Papsttums bis zum Erreichen eines Status quo.

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Seitenzahl: 315

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GESCHICHTE KOMPAKT

Herausgegeben vonKai Brodersen, Martin Kintzinger,Uwe Puschner, Volker Reinhardt

Herausgeber für den Bereich Frühe Neuzeit:Volker Reinhardt

Berater für den Bereich Frühe Neuzeit:Sigrid Jahns

GESCHICHTE KOMPAKT

Volker Leppin

Die Reformation

2., aktualisierte Auflage

Abb. 1 Anonymes Gemälde wichtiger Reformatoren: A: John Wyclif; B: Jan Hus; C: Hieronymus von Prag; D: Huldrych Zwingli; E: Martin Luther; F: Johannes Oekolampad; G: Martin Bucer; H: Johannes Calvin; I: Philipp Melanchthon; K: Peter Martyr Vermigli; L: John Knox; M: Matthias Flacius; N: Heinrich Bullinger; O: Girolamo Zanchi; P: Theodor von Beza; Q: William Perkins

 

 

 

 

 

 

 

 

Abbildungsnachweis

akg-images: S. 72; WBG-Archiv: S. 3, 39, 70, 86, 110, 126, 155

Karte S. 50: Peter Palm, Berlin

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung inund Verarbeitung durch elektronische Systeme.

2., aktualisierte Auflage 2017© 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt1. Auflage 2013Die Herausgabe dieses Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Redaktion: Kristine Althöhn, MainzUmschlaggestaltung: schreiberVIS, BickenbachUmschlagbild: Das Abendmahl der Evangelisten und der Höllensturz derPaptisten mit dem predigenden Luther (Ausschnitt). Holzschnitt, um 1546,von Lucas Cranach dem Jüngeren. Foto: © akg-imagesSatz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-26875-7

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-74292-9eBook (epub): 978-3-534-74293-6

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Geschichte kompakt

   I.  Die Transformation spätmittelalterlicher Frömmigkeit und Theologie

1. Um 1500: eine vielfältige Welt

2. Transformationen in Wittenberg und Zürich

3. Von der universitären Disputation zur Publizistik

4. Der Lutherprozess

Literaturhinweise

  II.  Ausbreitung, „Wildwuchs“ und Umgestaltung: städtische Reformation

1. Die reformatorische Publikationsoffensive

2. Disputationen im städtischen Kontext

3. Städtische Reformationen

4. Devianz

Literaturhinweise

 III.  Reich und Reformation

1. Karl V. und das Reich

2. Der Wormser Reichstag

3. Unruhe bei Rittern und Bauern

4. Zwischen Zulassung und Abwehr der Reformation:die Reichstage von Speyer und die territoriale Reformation in Hessen und Sachsen

5. Der Zerfall des Reichs auf dem Augsburger Reichstag von 1530

6. Bündnispolitik

7. Die zweite Welle territorialer Reformation

Literaturhinweise

  IV.  Europäische Ausdehnung der Reformation

1. Die skandinavischen Reformationen

2. Humanismus und reformatorische Bewegung in romanischen Ländern

3. Genf als neues Zentrum

4. Die Verselbstständigung der Church of England

5. Auswirkungen auf Ostmitteleuropa

Literaturhinweise

   V.  Päpste und Reformation

1. Die Renaissancepäpste vor der Herausforderung der Reformation

2. Neue Orden

3. Das Konzil von Trient

Literaturhinweise

 VI.  Gefährdung und Bewahrung der Reformation im Reich

1. Die Reichsreligionsgespräche

2. Schmalkaldischer Krieg und Interim

3. Der Augsburger Religionsfrieden

Literaturhinweise

Ausblick

Literaturhinweise

Personenregister

Ortsregister

Geschichte kompakt

In der Geschichte, wie auch sonst, dürfen Ursachen nicht postuliert werden, man muss sie suchen. (Marc Bloch)

Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.

Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen und europäischen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.

Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.

Kai Brodersen

Martin Kintzinger

Uwe Puschner

Volker Reinhardt

I. Die Transformation spätmittelalterlicher Frömmigkeit und Theologie

Überblick

Die Welt des späten Mittelalters war keineswegs einförmig, sondern von vielfältigen Spannungen geprägt: Kirchenpolitisch standen Bemühungen um eine zentralistische Leitung durch den Papst Dezentralisierungstendenzen in verschiedenen Regionen Europas gegenüber. Sozialhistorisch finden sich Ansprüche des Klerus auf allgemeine Lenkung der religiösen Geschicke ebenso wie Tendenzen zur Verselbstständigung der Laien. Und auch in der Frömmigkeit gab es keineswegs nur die vermeintlich typischen Phänomene äußerlicher Frömmigkeit wie den Ablass, sondern auch verinnerlichte Frömmigkeit fand reichen Ausdruck in Kunst und Literatur. Spätere Reformatoren wie Martin Luther in Wittenberg und Huldrych Zwingli in Zürich orientierten sich zunächst innerhalb dieser Spannungen und folgten vor allem dem Bemühen um Laienkultur und Innerlichkeit. Als aber Luthers Protest gegen den Ablass am 31. Oktober 1517 für weites Aufsehen sorgte, wurde er zur Zentralgestalt einer umfassenden Erneuerungsbewegung.

Zeittafel

 

1483–1546

Martin Luther

1484–1531

Huldrych Zwingli

31. Oktober 1517

Luthers Protest gegen den Ablass in Briefen an Bischöfe

Dezember 1517

Häresieanklage gegen Luther

April 1518

Heidelberger Disputation

Oktober 1518

Verhör in Augsburg

Juli/August 1519

Leipziger Disputation

15. Juni 1520

Bannandrohungsbulle

Exsurge Domine

10. Dezember 1520

Verbrennung der Bannandrohungsbulle durch Martin Luther

1. Um 1500: eine vielfältige Welt

Polaritäten im Spätmittelalter

Nichts führte zwangsläufig auf die Reformation zu. Der Gedanke, dass die Welt des späten Mittelalters so dekadent gewesen sei, dass geradezu notwendig eine Reformbewegung habe entstehen müssen, die dann nicht nur evangelische Frömmigkeit begründet, sondern längerfristig auch die katholische Kirche zur eigenen Reform veranlasst habe (Erwin Iserloh, Joseph Lortz), vereinfacht die Dinge ebenso wie die Vorstellung von einer nie gesehenen Steigerung der Frömmigkeit im späten Mittelalter, die von der Reformation dann gerade in ihrer Konzentration auf das fromme Tun des Menschen gebrochen worden sei (Moeller). Wer um 1500 in Deutschland lebte, bewegte sich in einer Welt, die nicht von einlinigen Entwicklungen geprägt war, sondern von einer Vielfalt von Möglichkeiten, die man – grob vereinfachend – als Spannungen oder Polaritäten beschreiben kann. Mindestens drei solcher Polaritäten waren bestimmend für das Leben im 14. und 15. Jahrhundert: in institutioneller Hinsicht die zwischen Zentralität und Dezentralität, in sozialgeschichtlicher Hinsicht die zwischen Klerikern und Laien und in frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht die zwischen innerer und äußerer Frömmigkeit.

Zentralität und Dezentralität: Die Vorstellung einer unmittelbar und umfassend durch den Papst geleiteten Kirche träfe das Mittelalter kaum. Zwar wurden solche Ansprüche gelegentlich formuliert, etwa im Dictatus papae von Papst Gregor VII. (1073–1085) oder, für die Reformationszeit noch präsenter, in der Bulle Unam Sanctam von Papst Bonifaz VIII. (1294–1303) aus dem Jahr 1302, die es sogar zur Heilsnotwendigkeit erklärte, dem Papst untertan zu sein und die durch das Fünfte Laterankonzil (1512–1517) noch einmal bestätigt wurde. Gleichwohl gab es im späten Mittelalter eine komplizierte Mächtebalance. Innerhalb der kirchlichen Hierarchie mussten die Päpste auf einen Ausgleich mit den jeweiligen Ortsbischöfen bedacht sein. Dabei lässt sich seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert ein Bestreben der Päpste beobachten, viele Funktionen an die Kurie zu binden. So wurden zum einen Rechtsprozesse – auch zu Häresiefragen – vor allem auf dem Weg der Appellation von der niederen an die höhere Instanz verstärkt nach Rom beziehungsweise während des Avignonesischen Exils nach Avignon gezogen.

Stichwort

Avignonesisches Exil

Im ausgehenden 13. Jahrhundert gerieten die Päpste in eine immer stärkere Abhängigkeit von der französischen Krone. Schon Clemens V. (1305–1314) hatte an wechselnden Orten in Frankreich, unter anderem in Avignon, residiert. Dies wurde unter Johannes XXII. (1316–1334) definitiv Amtssitz der Päpste, die den kleinen Ort in der Provinz zu einer machtvollen Metropole ausbauten. Erst Urban VI. (1378–1389) nahm seinen Sitz wieder in Rom. Da aber die französisch orientierten Kardinäle einen Gegenpapst bestimmten, kam es nun zum Schisma zwischen Rom und Avignon.

Zum anderen bedeutete diese Zeit eine bislang unbekannte Konzentration der Finanzkraft an der Kurie. Die Situation in Avignon machte es nötig, neue Finanzquellen zu erschließen. So wurden etwa bei vom Papst vergebenen Pfründen Abgaben in Höhe des ersten Jahreseinkommens (Annaten) oder eines Drittels des Jahreseinkommens (Servitien) verlangt. Das damit verbundene finanzielle Interesse erhöhte das Bedürfnis der Kurie, über Stellen zu verfügen und sich deren Besetzung vorzubehalten (Reservationen). Das wiederum brachte ein hohes Maß an unmittelbarer Kontrolle der Kirche durch ihre Spitze mit sich (Immediatisierung und Zentralisierung). Doch wurden auch Gegenkräfte laut. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts wurden auf den Reichstagen in Deutschland regelmäßig Gravamina (Beschwerden) vorgelegt, die vor allem aus den geistlichen Fürstentümern kamen und die Aussaugung und Entmachtung der lokalen kirchlichen Hierarchie durch Rom beklagten.

Papstsschisma und Konzilien

Die Folgen des avignonesischen Papsttums reichten aber hierüber hinaus: Seit 1378 bestand das Schisma zwischen den Päpsten der von Urban VI. gegründeten Linie in Rom und jenen, die in Avignon geblieben waren. Die Doppelung der Spitze, die eine Teilung Europas in unterschiedliche Obödienzen (Gehorsamsbereiche) nach sich zog, warf das Problem auf, dass es kein geregeltes Verfahren gab, das zur Schlichtung hätte herangezogen werden können. In ausgiebigen Diskussionen, die ihren Mittelpunkt an der Pariser Universität hatten, wurde schließlich als der angemessenste Weg zur Klärung die Einberufung eines Konzils befunden. 1409 in Pisa scheiterte ein solcher Versuch noch, denn im Ergebnis standen sich nun nach einer Neuwahl nicht zwei, sondern drei Päpste gegenüber. Doch dem Konzil von Konstanz (1414–1418) gelang es, eine solche Autorität zu erlangen, dass es mit Martin V. (1417–1431) einen einzigen Papst anstelle der bisherigen drei installieren konnte. Dieser Erfolg war im Blick auf die zentrale Leitung der Kirche ambivalent: Einerseits führte er zu einer neuen Stärkung der zentralen Macht, andererseits war nun die Frage aufgeworfen, ob diese eher beim Papst oder eben beim Konzil als der Repräsentanz der Ortsbischöfe zu suchen sei, was indirekt wiederum die dezentralen Kräfte stärken konnte. Vor allem das Basler Konzil, das ab 1431 tagte, steigerte in diesem Sinne den Notstandskonziliarismus von Konstanz zu einem prinzipiellen Konziliarismus: Dem Konzil sollte generell die oberste Autorität in der Kirche zukommen. Allerdings hatte die Kirchenversammlung mit dieser radikalen Haltung und überhaupt mit ihren Planungen keinen dauerhaften Erfolg. Papst Eugen IV. (1431–1447) gelang es, das Konzil nach Ferrara und dann Florenz zu verlegen und dabei einen gewichtigen Teil der Basler Teilnehmer auf seine Seite zu ziehen. Das Konzil in Basel selbst hingegen zerfiel nach und nach – und die päpstliche Macht war neu zementiert. In dem bald entstehenden Renaissancepapsttum gelangte sie sogar zu einer neuen, wegen der moralischen Ausschweifungen freilich zweifelhaften Blüte.

Stichwort

Renaissancepapsttum

Mit Nikolaus V. (1447–1455) beginnt die bis in die Reformationszeit hineinreichende Reihe der Renaissancepäpste. Sie bauten die nach Schisma und Konziliarismus niedergegangene Macht des Papsttums neu auf und aus und erwiesen sich dabei zugleich als Mäzene ersten Ranges. Das heutige Rom der Renaissance – der Ausbau der Stadt, insbesondere des Vatikans mit Petersdom, Sixtinischer Kapelle und Stanzen – verdankt sich ebenso wie der Grundstock der Vatikanischen Bibliothek ihrer Sorge um Kunst und Bildung. Rom wurde so zur prachtvollsten Residenz Europas ausgebaut. Die religiösen und moralischen Pflichten des Bischofs von Rom traten hingegen in den Hintergrund. Zur Hofführung der Päpste gehörte auch ein ausschweifendes Leben mit Mätressen und eigenen Kindern, die zum Teil sogar in Machtpositionen geschoben wurden. Dies hat schon die Kritik der Zeitgenossen, aber auch über Jahrhunderte hinweg die moralisch geprägte Geschichtsschreibung bestimmt.

Rom und das Papsttum waren so neu als Zentrum der weltweiten Kirche erkennbar. Dies wurde – besonders eindrücklich in der Summa de ecclesia des Kardinals Juan de Torquemada (1388–1468) – auch durch papalistische, d.h. ganz am Papst orientierte Kirchentheorien unterstrichen.

Hussitismus

Gleichwohl war die Kirche um 1500 kein monolithischer, vom Papst geleiteter Block. Die Auseinandersetzungen des 15. Jahrhunderts hatten ihre Spuren hinterlassen. In Böhmen hatte die um Jan Hus (gest. 1415) formierte Oppositionsbewegung der Hussiten durch den Frieden von Kuttenberg 1485 sogar die Anerkennung als Konfession neben der päpstlichen Kirche erlangt – mit einem gewissen Recht spricht daher die Forschung gelegentlich auch von einer böhmischen Reformation, die allerdings im Unterschied zu der Bewegung des 16. Jahrhunderts regional begrenzt blieb. Ausgangspunkt war eine Gemengelage aus ethnischen und religiösen Auseinandersetzungen rund um die Universität Prag gewesen. Durch die entgegen der Zusicherung freien Geleits vonseiten des deutschen Königs 1415 auf dem Konzil von Konstanz erfolgte Verbrennung von Jan Hus hatte der Protest an Schärfe gewonnen; zugleich bot ihm, von Hus noch kurz vor seinem Tod zugestanden, die Forderung nach der Spendung des Laienkelchs beim Abendmahl ein einprägsames Symbol zur Abgrenzung von dem üblichen katholischen Ritus der Spendung allein der Hostie. Auch wo es nicht zu einer solchen regional begrenzten Anerkennung einer zweiten Auslegung des Christentums neben der päpstlichen kam, gab es Verselbstständigungstendenzen. Markant war die Entwicklung in Frankreich. Unter Ausnutzung bestimmter Regelungen des Basler Konzils gelang es dem französischen König, sich 1439 in der Pragmatischen Sanktion von Bourges eine erhöhte Verfügungsgewalt über die Kirche seines Landes, insbesondere die Besetzung der Bischofsstühle, zusprechen zu lassen. Zwar wurde diese Erklärung selbst auf dem Fünften Laterankonzil aufgehoben, aber wesentliche ihrer Bestimmungen gingen in das Konkordat von Bologna von 1516 ein.

Was in Frankreich auf Ebene des gesamten Herrschaftsgebietes erreicht wurde, konnte im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation (so die seit dem 15. Jahrhundert zunehmend gebrauchte Bezeichnung) auf kaiserlicher Ebene nicht erreicht werden. Das Wiener Konkordat von 1448 stand bereits im Schatten der wiedererstarkenden Papstmacht. Dennoch gab es auf territorialer Ebene Bemühungen, die Verfügung über die Kirche in weltliche Hand zu bekommen. Insbesondere in Brandenburg und Sachsen kam es so zur Entwicklung von „Landesbistümern“: Einzelne Bistümer wie etwa Meißen, Merseburg oder Naumburg gerieten immer mehr in die Verfügung der benachbarten Territorialherren, die sie mit Verwandten oder Wohlgesonnenen besetzen konnten. Die Funktionen der Bischöfe wurden dabei immer stärker nicht so sehr auf die Grenzen ihrer Diözesen ausgerichtet, sondern auf die Landesherrschaften, denen sie besonders verbunden waren. Sie standen somit quer zu der kirchlich vorgesehenen Hierarchie und zeigten den Anstieg weltlichen Einflusses an, der sich auch in anderen Territorien bemerkbar machte. So wird immer wieder als ein geflügeltes Wort zitiert: Dux Cliviae est papa in suis territoriis, „Der Herzog von Kleve ist in seinen Territorien Papst“. Rudolf IV. von Österreich (1339–1365) machte sich solche Vorstellungen mit seinem Ausspruch: „In meinem Lande will ich Papst, Erzbischof, Bischof, Archidiakon und Dekan sein“ zu eigen. Dies galt nicht nur für Territorialherren. Selbst Städte, insbesondere die Reichsstädte, die allein dem Kaiser untertan waren, bemühten sich, Rechte über die Kirche zu erlangen. Besonders wichtig war auch in diesem überschaubaren sozialen Kosmos die Verfügung über das Personal. So trieb die Reichsstadt Nürnberg einigen Aufwand, um im Jahre 1474 das Präsentationsrecht für die Pfarrer ihrer wichtigsten Kirchen zu erhalten. Andere Städte erreichten Ähnliches, sodass die Kirche immer stärker vor Ort verwaltet wurde und die beabsichtigten zentralen Zugriffe immer geringere Durchsetzungskraft besaßen.

Stichwort

Sachsen

Das wichtige mitteldeutsche Territorium Sachsen wurde 1485 durch die Leipziger Teilung in einen ernestinischen Westteil und einen albertinischen Ostteil getrennt. Die Universität Leipzig blieb dabei in der Hand der Albertiner, während die Ernestiner, die späteren Landesherren Luthers, die Kurwürde und damit das Recht auf die Beteiligung an der deutschen Königswahl behielten. 1502 gründeten sie in Wittenberg ihre eigene Universität.

Damit war also um 1500 eine Situation erreicht, in der einerseits der Anspruch des Papstes auf zentrale Kirchenleitung symbolisch durch die Herrschaftsgestaltung im Vatikan wie auch theoretisch durch entsprechende Traktate neu bestätigt wurde, andererseits sich aber in Bischöfen, Königen, Fürsten und städtischen Räten gewichtige Gegenkräfte etabliert hatten, die die Leitung der Kirche dezentral organisierten.

Dem entsprach die Schwierigkeit im Umgang mit dem Gegensatz zwischen Klerikern und Laien: Das mittelalterliche Kirchenrecht sah eine klare Unterscheidung zwischen den geweihten Klerikern und den Laien vor. Sie galten gar als duo genera, zwei Gattungen. Das machte sich real vor allem in unterschiedlichen Rechtsräumen bemerkbar: Der Kleriker unterlag eigenen Vorschriften, konnte sich vor allem auch dadurch der weltlichen Gerichtsbarkeit entziehen, dass er auf einer Verhandlung vor einem geistlichen Gericht, gegebenenfalls in Rom beharrte. Diese klare Unterscheidung verlor aber an Plausibilität, je stärker Laien sich selbst als mögliche Subjekte religiösen Handelns wahrnahmen. Schon im 11. Jahrhundert traten Momente des Antiklerikalismus auf, der seinen wohl wirkungsvollsten Ausdruck im Decamerone des Giovanni Boccaccio (1313–1375) fand; dessen Novellen waren zu guten Teilen von der schlichten Grundidee getragen, dass Kleriker und Mönche den moralischen Ansprüchen nicht gerecht wurden, die sie selbst und andere an sie stellten. Die hinter diesen gelegentlich recht derben Erzählungen steckende Wahrnehmung war, dass Apostolizität sich nicht allein in formaler Amtsnachfolge der Bischöfe gegenüber den Jüngern Christi erweisen konnte, sondern auch ein entsprechendes Leben erforderte. Was sich dieser Idee folgend im hohen Mittelalter als Vita apostolica-Bewegung formiert hatte, gewann mit der zunehmenden Bereitschaft von Bürgern, sich in ihrem Gemeinweisen zu engagieren, auch in breiten städtischen Kreisen Akzeptanz. Die typische soziale Ausdrucksform hierfür waren Bruderschaften, die, in der Regel aufgrund schon vorgängiger gemeinsamer Interessen, häufig der Verbindung in einer Zunft, gebildete Zusammenschlüsse zum Interesse gemeinsamer Pflege religiöser und auch karitativer Aufgaben darstellten. Wenn aber Laien in dieser Weise ihr religiöses Leben selbst organisieren, ja, unter Umständen für die Durchführung der vorgenommenen Aufgaben sogar einen eigenen Priester finanzieren konnten, musste die Sonderung der Kleriker als eines eigenen Standes an Plausibilität verlieren. So standen sich um 1500 die aufrechterhaltenen Ansprüche der Kleriker und eine religiös hoch engagierte Laienschaft gegenüber.

Mit diesem Gegenüber verband sich auch eine dritte Spannung, nämlich die zwischen innerer und äußerer Frömmigkeit. Eine starke Hervorhebung der Kleriker konnte nämlich vor allem damit begründet werden, dass allein die Weihe, die wiederum das einzige formale Kriterium war, welches den Kleriker vom Laien unterschied, dazu befähigte, die Sakramente zu vollziehen.

Stichwort

Sakramente

Die mittelalterliche Kirche hatte nach längeren Diskussionen eine Gruppe von sieben äußeren Zeichen definiert, die das Heil vermittelten: die Sakramente Taufe, Eucharistie, Buße, Firmung, Weihe, Ehe, Letzte Ölung. Lediglich die Ehe wurde durch die Brautleute selbst geschlossen, die hierzu freilich der Assistenz des Priesters bedurften. Firmung und Weihe wurden durch einen Bischof vollzogen, die anderen Sakramente durch Priester. Mit ihrer Hilfe wurde das geistliche Leben der Christen und Christinnen strukturiert und gestützt, wobei insbesondere die Bindung des Eucharistieempfangs an vorheriger Beichte im Rahmen der Buße auch eine Möglichkeit von Kontrolle eröffnete.

Eucharistie, Buße, Ablass

Damit waren die Priester vor allem für die äußeren Vollzüge der Religiosität von großer Bedeutung. Zwei Sakramente, Eucharistie und Buße, wiesen einen besonderen Hang zur Quantifizierung auf: Das Heil wurde mess- und zählbar, die innere Haltung trat in ihrer Bedeutung zurück. Eucharistischer Ausdruck hierfür war die Vielzahl von Privatmessen, die gefeiert wurden und deren Vervielfältigung im späten Mittelalter sich zum Teil noch heute in der seinerzeit rasant angestiegenen Anzahl von Seitenkapellen in großen Kathedralkirchen zeigt: In ihnen vollzogen eigens hierfür beschäftigte Priester, die „Altaristen“, Messen für bestimmte Zwecke. Grundlage war der Gedanke, dass die Messe als Opfer bestimmten Zwecken auf Erden zugutekommen könne. Der Gedanke, dass die Messe als Kommunion der versammelten Gemeinde vor allem dieser zur Erbauung diene, trat demgegenüber in den Hintergrund – was zählte, war der korrekte Vollzug. Noch massiver ist der Gedanke der Quantifizierung im Bußwesen nachvollziehbar, denn aus diesem heraus entstand jenes Phänomen, das den ersten reformatorischen Protest auslöste: das Ablasswesen. Der Ablass (indulgentia) bezeichnet eine Reduktion der Sündenstrafen. Dahinter steht der Gedanke, dass die Freisprechung von der Sündenschuld (culpa) im Bußsakrament, nachdem der oder die Glaubende in Reue des Herzens (contritio cordis) zum Bekenntnis des Mundes (confessio operis), der Beichte im eigentlichen Sinne, gekommen ist, mit der Auferlegung einer Wiedergutmachung durch die Tat (satisfactio operis) verbunden wird, die eine Strafe (poena) darstellt. Seit dem frühen Mittelalter aber gab es die Vorstellung, dass die auferlegte Strafe nicht persönlich durch den Schuldigen erbracht werden müsse, sondern es auch Ausgleich durch die Taten anderer geben könne. Hieraus entstand die Idee, man könne vollen Nachlass seiner Sündenstrafen erlangen, wenn man als Kreuzritter sterbe. Die Übertragungsmöglichkeiten vermehrten sich zusehends. Insbesondere wurden Wallfahrten als möglicher Grund für Ablass genommen und die Reisen durch ad-instar-Ablässe in der Weise erleichtert, dass man den eigentlich einem anderen Ziel zukommenden Ablass auch bei einer kleineren Wallfahrt in die Nähe erlangen könnte – so den Ablass der Portiuncula-Kapelle von Franz von Assisi an der Wittenberger Schlosskirche. Die Grundlage hierfür bildete die Lehre, dass Christus und die Heiligen durch ihre weit über das Verlangte hinausgehenden Taten einen Schatz angehäuft hätten (thesaurus ecclesiae), aus dem die Kirche Ablass geben könne. Da die Verfügung hierfür dem Nachfolger Petri zukam, unterstützte dies im Rahmen der beschriebenen Bemühungen um Zentralisierung die päpstliche Macht. Das Konzept der Ersetzung einer Leistung durch äquivalente andere wurde nun aber so weit getrieben, dass es auch reichen konnte, sich Ablass käuflich zu erwerben – ein Verfahren, das besonders attraktiv wurde, als Sixtus IV. (1471–1484) in der Bulle Salvator noster die Wirkung der Ablässe wenigstens auf Basis seiner fürbittenden Bemühungen (per modum suffragii) auch auf das Jenseits, also die schon Verstorbenen, ausdehnte. Damit kam der Gedanke auf, dass man das Leiden der eigenen Vorfahren im Fegefeuer, dem Zwischenraum zwischen Hölle und Himmel, in dem man leiden musste, wenn man in der Todesstunde noch nicht alle Strafen gesühnt hatte, um Hunderte von Jahren kürzen könne, wenn man Geld für Ablässe ausgäbe. So war ein Solidarsystem zwischen Lebenden und Toten etabliert, das hochattraktiv war, freilich von dem Bemühen um die Besserung des eigenen Lebens eher ablenkte.

Bilder von spätmittelalterlicher Frömmigkeit, die sich allein auf diese Aspekte konzentrieren, sind allerdings verkürzt. Ebenso gab es auch Bemühungen um eine echte innere Aneignung des Glaubens, und dies sowohl affektiv als auch kognitiv. In kognitiver Hinsicht drängt sich ein Zusammenhang mit dem beschriebenen Laienengagement auf: Die städtischen Bürger partizipierten auch deswegen so aktiv am kirchlichen Leben, weil sie sich selbst durch Lektüre wesentliche Inhalte des Glaubens aneignen konnten. Schon kurz vor 1400 sah Zerbold von Zutphen (1367–1398) die Notwendigkeit, in dem Traktat De libris teutonicalibus darüber zu reflektieren, welche Schriften Laien zuträglich seien und welche nicht. Das sich darin zeigende Interesse gewann mit dem Buchdruck, genauer der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gensfleisch von Gutenberg (gest. 1468), in den Fünfzigerjahren des 15. Jahrhunderts einen gewaltigen Schub. Nun bestand die Möglichkeit, Erbauungsschriften und mehr und mehr auch Bibelübersetzungen in reichlicher Stückzahl der lesefähigen Bevölkerung, die vorwiegend in den Städten konzentriert war, zur Verfügung zu stellen. Mit der „Frömmigkeitstheologie“ (Hamm) entstand sogar ein Typus theologischer Literatur, der eigens auf diese gesteigerten geistlichen Bedürfnisse reagierte und Theologie nicht nur spekulativ behandeln, sondern als Hilfe für den spirituellen Weg der Glaubenden gestalten wollte. Der eigenen Lektüre korrespondierte das Interesse an einer geistlichen Begleitung, die über die bloße sakramentale Versorgung hinausging. In vielen Städten wurden Prediger, Leutpriester oder Kapläne angestellt, deren Aufgabe eben vorwiegend die Predigt war. Im oberdeutschen Raum bildete sich in diesem Zusammenhang sogar eine eigene schlichte Gottesdienstform, der Predigtgottesdienst, heraus. Während das eigentliche Pfarramt mit den administrativen Aufgaben der Gemeindeverwaltung und der umfassenden sakramentalen Versorgung betraut war, brauchte man für die Predigerstellen, deren Besetzung bzw. Präsentation meist dem Rat oblag, Gebildete. In der Regel kamen sie aus Kreisen des Humanismus. Mit ihren gelehrten Predigten ermöglichten sie der anspruchsvoller werdenden Bevölkerung ein kognitiv ansprechendes geistliches Angebot.

Stichwort

Humanismus

Die Bewegung des Humanismus entstand, zunächst in Italien, aus einer vertieften Beschäftigung mit dem Trivium der artes liberales, den sprachlich orientierten Teilen des mittelalterlichen Grundwissens. Man grenzte sich von der lateinisch-aristotelischen Gelehrsamkeit ab und folgte dem Motto ad fontes, zu den Quellen, um in umfassender Lektüre der antiken Quellen, auch der griechisch-platonischen, an antike Bildungsideale anknüpfen zu können. Die Humanisten verständigten sich untereinander in Netzwerken: vor Ort als sodalitas, gebildeter Freundeskreis, überregional durch Briefwechsel. Sie verstanden sich als Gegenbild zur scholastischen Gelehrsamkeit, die gelegentlich, wie in den 1515 erschienenen „Dunkelmännerbriefen“ mit derbem Spott überzogen wurde. Die Verbindung aus dieser kritischen Haltung zur dominierenden scholastischen Gelehrsamkeit und einem hohen eigenen Bildungsanspruch machten diese Kreise für die städtische Bevölkerung attraktiv. Nach und nach breiteten sie sich auch an den Universitäten aus, in Deutschland zunächst in Heidelberg, später aber auch beispielsweise in Erfurt, Leipzig oder Wittenberg.

Stärker affektiv orientiert waren die mystisch beeinflussten Frömmigkeitsformen. Mystik war zunächst in den Klöstern beheimatet. Das gilt auch für die oberrheinische Mystik eines Meister Eckhart (gest. 1328). Doch schon bei Johannes Tauler (gest. 1361), der sich, ohne dessen direkter Schüler zu sein, stark auf Eckhart bezog, zeigt sich das Bemühen, die Vorstellung einer inneren Berührung durch Gott, der Gottesgeburt in der Seele, nicht allein auf asketische Kreise zu beschränken, sondern auch Menschen in Handwerk oder Bauernstand zuzugestehen, dass sie einem „ruoff“ Gottes folgten. Durch die Theologia deutsch, eine vermutlich auch noch dem 14. Jahrhundert entstammende Schrift, erhielten solche Gedanken weitere Verbreitung, und insbesondere in den Niederlanden entwickelte sich mit der Devotio moderna eine Bewegung, deren ausdrückliches Ziel es war, den Alltag fromm zu gestalten. All diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie das christliche Leben nicht in der Erfüllung äußerlicher Riten erschöpft sehen wollten, sondern auf eine Nähe Gottes zielten, die auch unmittelbar erfahrbar sein sollte. Die Ablassfrömmigkeit oder die Praxis veräußerlichter Eucharistie erschienen hieran gemessen bereits innermittelalterlich als defizitär, das eigentliche Ziel lag in der Erkenntnis der eigenen Niedrigkeit im Angesicht Gottes und der Erfahrung, dass dieser sich den Menschen dennoch gnädig zuwandte. Menschen, die um 1500 lebten, war dieses Angebot innerlicher Frömmigkeit ebenso präsent wie jene quantifizierten äußerlichen Formen des Glaubenslebens – zum späten Mittelalter gehört beides, und die Personen, die zu gestaltenden Kräften der Reformation wurden, hatten mit beidem umzugehen.

2. Transformationen in Wittenberg und Zürich

Dissonanzerfahrungen

Letztlich bilden die beschriebenen Polaritäten den Hintergrund für die Dissonanzerfahrung eines Martin Luther (1483–1546) oder eines Huldrych Zwingli (1484–1531). Beide wuchsen in dieser spätmittelalterlichen Glaubenswelt auf, die nicht eindimensional gestaltet war, sondern eine Vielfalt von Möglichkeiten bot. So wird man für Martin Luther annehmen dürfen, dass ihm innere Frömmigkeitsformen eigentlich erst in dem Kloster der Augustinereremiten in Erfurt begegnet sind, in welches er 1505 nach einem Gelübde eingetreten war, das er bei Stotternheim nahe Erfurt angesichts eines schweren Gewitters aus Angst vor einem plötzlichen Tod getan hatte. Möglicherweise hat ihm das Gelübde auch in willkommener Weise den Weg eröffnet, einen ohnehin zuvor schon gehegten Plan zu verwirklichen, an dessen Erfüllung ihn sein ehrgeizig auf eine Karriere des Sohnes ausgerichteter Vater hatte hindern wollen. Es liegt nahe, dass die Prägungen, die Luther im monastischen Umfeld erfuhr, in hohem Maße von mystischer, innerlicher Frömmigkeit gekennzeichnet waren. Einzelne spätere Äußerungen lassen erahnen, dass er im Kloster starke spirituelle Erfahrungen, bis hin zu Entrückungen gemacht hat, bedeutsamer aber war die beständige geistliche Begleitung durch Novizenmeister und andere Geistliche des Ordens.

Die wichtigste Gestalt wurde für ihn dabei Johann von Staupitz (gest. 1524), der sich mühte, interne Konflikte zwischen dem besonders strengen observanten Flügel der Augustinereremiten, der sich als eigene Kongregation verselbstständigt hatte, und dem Hauptstrom des Ordens durch eine Vereinigungspolitik auszugleichen. Jüngere Forschungen (Hans Schneider) sprechen dafür, dass Luther nie, wie früher angenommen, zu dieser Politik in Opposition stand. Damit wäre der Gedanke, er sei 1510/11 aus Protest gegen Staupitz nach Rom gereist, hinfällig. Die Reise hätte wohl später (1511/12) und aus anderem Anlass stattgefunden. Im einen wie im anderen Fall wurde er danach, von Staupitz protegiert, Professor für Theologie an der jungen, humanistisch geprägten Universität Wittenberg. Seinen allgemeinen Auftrag zur theologischen Lehre setzte er in der Weise um, dass er hauptsächlich biblische Vorlesungen hielt, zunächst über die Psalmen, dann 1515/16 über den Römerbrief, 1516/17 über den Galaterbrief, danach den Hebräerbrief, und ab 1518 noch einmal über die Psalmen. Die dichte Überlieferung lässt seine Vorlesungstätigkeit in dieser Zeit gut nachvollziehen, dennoch ist die Debatte über Luthers reformatorische Entwicklung bislang zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen.

Stichwort

Debatte über Luthers reformatorische Entwicklung

Für Außenstehende mag die Energie, mit der Theologen und Theologinnen über Zeitpunkt und Inhalt von Luthers reformatorischer Entdeckung streiten, nicht immer nachvollziehbar sein. Hintergrund hierfür ist, dass sich mit ihr in hohem Maße reformatorische Identität verbindet. Die ältere Forschung hat in der Regel, angeleitet vor allem durch Luthers sogenanntes Großes Selbstzeugnis von 1545 (WA 54, S. 179–187), zwischen einer Frühdatierung des Ereignisses in die Zeit der ersten Vorlesungen einerseits, einer Spätdatierung in die Zeit 1517/18 andererseits geschwankt. Der bei beiden Datierungen vorausgesetzte punktuelle Charakter des Geschehens ist schon allein durch die Beobachtung des Umstands, dass sich ein plötzlicher Durchbruch an den zeitgenössischen Quellen nicht festmachen lässt, infrage gestellt worden. Hinzu kommt, dass andere Quellen wie Luthers Begleitscheiben zur Erklärung seiner Ablassthesen (WA 1, S. 525–527) seine eigene Schilderung eines plötzlichen Durchbruchs als Erzählmuster erkennen lassen. So neigen jüngere Beiträge dazu, auf die Annahme eines punktuellen Ereignisses zu verzichten und entweder viele solche einzelnen Durchbrüche (Hamm) oder eine kontinuierliche Transformation spätmittelalterlicher Gedanken zu reformatorischen anzunehmen (Leppin).

Quelle

Luthers Rückblicke a) 1518 im Begleitschreiben zu den Resolutiones aus: KThGQ III, S. 21

Ich erinnere mich, ehrwürdiger Vater, dass bei Deinen so anziehenden und heilsamen Gesprächen, mit denen mich der Herr Jesus wunderbar zu trösten pflegt, zuweilen das Wort „Buße“ gefallen ist. Es erbarmte uns des Gewissens vieler und jener Henker, die mit unerträglichen Geboten eine Beichtvorschrift (wie sie es nennen) vorlegen. Dich aber nahmen wir auf, als ob Du vom Himmel herab redetest: dass wahre Buße allein mit der Liebe zu Gerechtigkeit und zu Gott beginne. Was jene für das Ziel und die Vollendung der Buße hielten, das sei vielmehr der Anfang. Dieses Dein Wort haftete in mir „wie der scharfe Pfeil eines Starken“, und ich fing an, es der Reihe nach mit Schriftstellen zu vergleichen, welche von der Buße lehren. Und das war eine überaus angenehme Beschäftigung. Denn von allen Seiten kamen Worte auf mich zu, fügten sich ganz dieser Auffassung ein und schlossen sich ihr an. Das Resultat war: Wie es früher in der ganzen Schrift nichts Bittereres für mich gab als das Wort „Buße“ (freilich verstellte ich mich eifrig vor Gott und versuchte eine vorgespiegelte und erzwungene Liebe zu zeigen), kann mir jetzt nichts süßer und angenehmer in die Ohren klingen als das Wort „Buße“. Denn dann werden die Gebote Gottes süß, wenn wir erkennen, dass sie nicht bloß in Büchern, sondern in den Wunden des geliebten Heilands gelesen werden müssen.

Quelle

1545 in der Vorrede zu den lateinischen Werken aus: KThGQ III, S. 22

Inzwischen war ich in diesem Jahr zum Psalter zurückgekehrt, um ihn von neuem auszulegen, im Vertrauen darauf, dass ich geübter sei, nachdem ich St. Pauli Brief an die Römer und Galater und den an die Hebräer in Vorlesungen behandelt hatte. Ich war von einer wundersamen Leidenschaft gepackt worden, Paulus in seinem Römerbrief kennenzulernen, aber bis dahin hatte mir nicht die Kälte meines Herzens, sondern ein einziges Wort im Wege gestanden, das im ersten Kapitel steht: „Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm (d.h. im Evangelium) offenbart“ (Röm 1,17). Ich hasste nämlich dieses Wort „Gerechtigkeit Gottes“, das ich nach dem allgemeinen Wortgebrauch aller Doktoren philosophisch als die sogenannte formale oder aktive Gerechtigkeit zu verstehen gelernt hatte, mit der Gott gerecht ist, nach der er Sünder und Ungerechte straft. (…) Endlich achtete ich in Tag und Nacht währendem Nachsinnen durch Gottes Erbarmen auf die Verbindung der Worte, nämlich: „Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus dem Glauben‘ (Hab 2,4).“ Da habe ich angefangen, die Gerechtigkeit Gottes als die zu begreifen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus Glauben; ich begriff, dass dies der Sinn ist: Offenbart wird durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes, nämlich die passive, durch die uns Gott, der Barmherzige, durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: „Der Gerechte lebt aus dem Glauben“.

Luthers reformatorische Entwicklung

Jedenfalls ist erkennbar, dass der Anstoß für Luthers theologische Neuorientierungen, die sich anfänglich noch ganz innerhalb des breiten Spektrums spätmittelalterlicher Möglichkeiten bewegten, von Staupitz kam, der ihn schon recht früh auf die Zentralstellung Jesu Christi als des gnädigen und heilbringenden Herrn hingewiesen und dies allen angsterfüllten Vorstellungen von Gott, wie Luther sie in seinem Elternhaus kennengelernt hatte, entgegengestellt hat. Diese Christozentrik, die später zur reformatorischen Formel Solus Christus verdichtet wurde, prägte bereits Luthers erste Vorlesung, in der er die Psalmen ganz auf Christus hin deutete. Dies war ihm Ausdruck des historischen Sinns der Schrift, der zugleich Elemente dessen aufnahm, was man im mittelalterlichen vierfachen Schriftsinn als allegorisch oder typologisch verstanden hatte: die Deutung biblischer Einzelaussagen auf christliche Glaubensüberzeugungen. In dem längst vielfach umgewandelten mittelalterlichen Standardmodell kannte man außerdem einen moralischen, auf die einzelnen Glaubenden bezogenen, und einen eschatologischen (endzeitlichen) Sinn. Luther hob in einer kreativen Weiterführung des moralischen Sinns, das pro me des biblischen Textes hervor: die Ausrichtung auf den glaubenden Menschen, zu dessen Heil die biblische Lehre bestimmt ist. Damit glitten ihm Predigt und wissenschaftliche Auslegung der Bibel zu einer einzigen Aufgabe der Verkündigung ineinander. Das gab seinen Vorlesungen ihre besondere Eindringlichkeit. Mit der Römerbriefauslegung begann die intensive Auseinandersetzung mit Paulus, dem Kirchenvater und Ordenspatron Augustin (354–430) und mystischen Texten. Diese Einflüsse standen nicht gegeneinander, sondern bestätigten sich gegenseitig. Die Lektüre Johannes Taulers gab Luther die Möglichkeit, die angemessene Haltung des Menschen im Angesicht Gottes neu zu verstehen: Aus seiner monastischen Tradition war ihm deutlich, dass ein Mönch nur in Demut und Buße vor Gott treten könne, von Tauler lernte er, dies als eine Lebensprägung wahrzunehmen, die nicht spezifisch monastisch, sondern gemeinchristlich war. Paulus und Augustin gaben ihm die Möglichkeit, dies in einer klaren Begrifflichkeit zu fassen. Immer mehr formte sich bei ihm so die Überzeugung, dass das Heil dem Menschen sola gratia, allein aus Gnade, zukomme. Um 1516/17 dürfte dieser Gedanke für ihn Festigkeit gewonnen haben, der sich in unterschiedlichen Schattierungen auch bei vielen maßgeblichen mittelalterlichen Denkern findet, von Luther aber, angestoßen durch seine Lektüre Augustins und der Mystiker, vor allem in Auseinandersetzung mit dem biblischen Text geformt wurde.

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Polaritäten des späten Mittelalters wird rasch deutlich, dass Martin Luther sich an Überzeugungen orientierte, für die die innerliche Gottesbegegnung im Vordergrund stand – allein schon der starke Einfluss, den die Mystik auf ihn hatte, steht hierfür. Als er, wohl 1515, in der Anfangszeit seiner Römervorlesung, Johannes Tauler las, folgte er möglicherweise einer Anregung von Staupitz, jedenfalls teilte er damit ein verbreitetes Interesse des Kreises um seinen Mentor. Er selbst intensivierte dies sogar noch. Als ihm die Theologia deutsch unterkam, in der er große Nähen zu Tauler sah, veröffentlichte er sie 1516 zunächst noch unvollständig, zwei Jahre später folgte eine vollständige Edition. Auch in den Predigten dieser Zeit lässt sich die intensive Auseinandersetzung mit der innerlichen Frömmigkeit der Mystik beobachten, weniger unter dem Gesichtspunkt der Suche nach einer mystischen Vereinigung mit Gott oder Christus als im Blick auf die Bußtheologie. Schon bei Tauler ließ sich lernen, dass eine rechte, vor Gott gebrachte Reue, möglicherweise die sakramentale Buße ersetzen könne, dass also bei wahrer contritio die anderen Teile – confessio und satisfactio – sich erübrigen konnten. Diese antisakramentale Spitze bewegte Luther dann vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Ablasswesen. Hierfür wurde um die Jahrhundertwende in regelrechten Ablasskampagnen geworben. Eine davon hatte Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Magdeburg und Mainz, angestoßen. Dabei verbanden sich in einer Weise, die Luther zunächst so noch nicht bewusst war, Ablasswesen und wirtschaftliche Interessen: Der Ablass, den Johannes Tetzel eintrieb, sollte, so wurde es verkündet, dem Bau des neuen Petersdoms dienen. Doch ging nur die Hälfte direkt zu diesem Zweck nach Rom. Der Rest war dazu gedacht, die Schulden beim Haus Fugger in Augsburg abzutragen, die Albrecht hatte aufnehmen müssen, um den päpstlichen Dispens zu bezahlen, den er brauchte, um entgegen dem kanonischen Recht zwei Bistümer in seiner Hand zu vereinigen. Für Luther war nicht diese moralisch zweifelhafte Verquickung entscheidend, sondern die theologische Verkehrung, die er in der Ablasspredigt schon im Grundsatz sah. Ganz auf der Linie der innerlichen Frömmigkeitstradition, in der er stand, hielt er in seinen berühmten Thesen gegen den Ablass, die er wohl nicht per Thesenanschlag veröffentlichte, wohl aber am 31. Oktober 1517 an Albrecht und an den für Wittenberg zuständigen Bischof von Brandenburg Hieronymus Schultz (gest. 1522) sandte, fest, dass Buße in der Umkehr des ganzen Menschen bestehe.

Stichwort

Thesenanschlag

Luthers Mitarbeiter Georg Rörer und der Kollege Philipp Melanchthon erzählten seit den Vierzigerjahren des 16. Jahrhunderts, dass Luther seine Thesen gegen den Ablass im Stile der üblichen Disputationsankündigungen an den Türen der Wittenberger Kirchen (Melanchthon erwähnte nur die Schlosskirche) angeschlagen habe. Dies prägte über Jahrhunderte hinweg das protestantische kulturelle Gedächtnis und wurde vielfach bildlich umgesetzt. 1961 aber hat der katholische Kirchenhistoriker Erwin Iserloh eine heftige, gelegentlich neu aufbrandende Debatte ausgelöst, indem er die Historizität dieses Ereignisses infrage stellte. Fest steht, dass Luther selbst nie von einem solchen Thesenanschlag berichtet hat und im Gegenteil stets versicherte, dass er seine Thesen gegen den Ablass erst herausgebracht habe, nachdem er den Bischöfen Zeit zur Antwort gelassen habe. Da auch eine Disputation, wie sie auf eine öffentliche Ankündigung binnen Wochenfrist hätte folgen müssen, ausgeblieben ist, spricht einiges für die Annahme, dass ein Thesenanschlag, wie ihn die vergleichsweise späten Zeugnisse behaupten, nicht stattgefunden hat.

Quelle

Die ersten beiden Thesen gegen den Ablass aus: KThGQ 37

1. Unser Herr und Meister Jesus Christus wollte, als er sprach: ‚Tut Buße‘ usw., dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei. 2. Dieses Wort kann nicht in Bezug auf die sakramentale Buße (d.h. auf Sündenbekenntnis und Genugtuung, die durch das Priesteramt vollzogen wird,) verstanden werden.

Damit war die Polarität von innerer und äußerer Frömmigkeit mit besonderer Schärfe auf den Punkt gebracht. Auch wenn Luther in den weiteren Ablassthesen ein rein verinnerlichtes Bußverständnis von sich wies, da ja die Änderung des Lebens auch äußere Auswirkungen haben musste, hatte er mit seinen Ausführungen deutlich gemacht, dass eine konsequente Betonung der innerlichen Frömmigkeit, wie sie tief in einem Teil spätmittelalterlicher Frömmigkeit verankert war, geeignet sein konnte, das System sakramentaler Heilsvermittlung, das tragend für mittelalterliche Kirchlichkeit war, infrage zu stellen. Dass diese Infragestellung des herkömmlichen Gnadensystems dauerhaft und immer grundsätzlicher wurde, macht den eigentlich reformatorischen Charakter der spezifischen Transformation spätmittelalterlicher Theologie bei Luther aus. Im Herbst 1517 war diese Konsequenz aber noch keineswegs zwingend.