Die Reich-Gottes-Botschaft in Theologie und Politik - Matthias-W. Engelke - E-Book

Die Reich-Gottes-Botschaft in Theologie und Politik E-Book

Matthias-W. Engelke

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Beschreibung

Das Jahrbuch Friedenstheologie 2023 dokumentiert mit diesem Band das friedenstheologische Sommerseminar 2022 zum Thema "'Dein Reiche komme!' Vom Hineinreichen einer anderen Herrschaft: Die Reich-Gottes-Botschaft in Theologie und Politik" sowie aktuelle friedenstheologische und friedensethische Auseinandersetzungen um den Ukrainekrieg. Die gesamte Breite der am Ökumenischen Institut für Friedenstheologie vertretenen Forschung wird in weiteren Beiträgen sowie in ihren Projekten sichtbar. Rezensionen ergänzen den Band.

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Herausgegeben von Matthias-W. Engelke – Stefan Federbusch OFM Gudula Frieling – Wolfgang Krauß – Gottfried Orth Michael Schober – Stefan Silber

Inhalt

Editorial

Matthias-W. Engelke, Stefan Federbusch OFM, Gudula Frieling, Wolfgang Krauß Gottfried Orth, Michael Schober, Stefan Silber

Die Reich-Gottes-Botschaft in Theologie und Politik

M

ARIUS VAN

H

OOGSTRATEN

Gottes Reich als Ver- und Entortung. Mennonitisches Denken in der Krise

M

UHAMMAD

S

AMEER

M

URTAZA

Destruktive Mächte und Strukturen in der Welt

E

BERHARD

B

ÜRGER

Zeichen einer anderen Herrschaft in der DDR

G

UDULA

F

RIELING

Gegen die falschen Götter. Das Reich Gottes in der Befreiungstheologie

M

ECHTHILD

G

EUE

Die Reich-Gottes-Botschaft Jesu als Bauplan gewaltfreier Revolution. Wege aus zerstörerischen Machtstrukturen hin zu einer geschwisterlichen Welt

T

HOMAS

N

AUERTH

„Genaht das Königtum der Himmel“. Auf der Suche nach dem Thema des Neuen Testaments

G

OTTFRIED

O

RTH

„Worauf es ankommt, ist, dass wir (!) den Aufbruch wagen“. Die Reich Gottes-Botschaft bei Marie Veit

S

TEFAN

S

ILBER

Das Reich Gottes als Praxis der eschatologischen Gegenwart. Befreiungstheologische Perspektiven

E

GON

S

PIEGEL

Gewaltverzicht als Strategie. Handlungsmaxime im Anschluss an Jesu ‚Reich Gottes‘-Theologie

A

NJA

V

OLLENDORF

Etwas Besseres als den Tod findest Du überall. Gottes Be-Reich als Frage nach einem guten Ort zum Leben

Beiträge zur Friedenstheologie Krieg in der Ukraine

U

KRAINISCHE

P

AZIFISTISCHE

B

EWEGUNG

Friedensagenda für die Ukraine und die ganze Welt

U

LRICH

F

REY

Die friedensethischen Kontroversen gehen weiter – fair? Zur aktuellen friedensethischen Diskussion in den evangelischen Kirchen zur Ukraine-Problematik

A

NTJE

H

EIDER

-R

OTTWILM

Krieg in der Ukraine – Ist der „Vorrang der Gewaltfreiheit“ überholt?

D

AVID

L

APP

-J

OST

Krieg überwinden – virtuell und real

Weitere Beiträge zur Friedenstheologie

L

EA

B

ONASERA

Ziviler Widerstand: Das Herzstück unserer Demokratie. Warum friedlicher ziviler Widerstand Demokratien neu aufbauen und bestehende Demokratien stärken kann

M

ARGARETA

G

RUBER

OSF

Das Lamm kämpft nicht, es siegt. Plädoyer für die Johannesoffenbarung in apokalyptischen Zeiten

C

HRISTINE

H

OFFMANN

Getragen vom Frieden Christi. Aus 75 Jahren Engagement, Protest und Gebet der pax christi-Bewegung

M

ATTHIAS

-W. E

NGELKE

Barrieren auf dem Weg zur Friedenskirche Zum Dialog zwischen Großkirchen, Friedenskirchen und dem Internationalen Versöhnungsbund: Die Puidoux-Konferenzen 1955-1969

U

LRICH

F

REY

Afghanistan: Nachruf auf eine Katastrophe, evangelische Friedensethik und Fragen zur Zukunft des Landes

M

ICHAEL

S

CHOBER

Johannes Reuchlin, Wegbereiter des jüdisch-christlichen Dialogs. Eine friedenstheologische Würdigung zum 500. Todestag

G

ISELA

-I

NGRID

W

EISSINGER

Demokratie braucht Bürger*innen-Beteiligung – braucht Bürgerräte

J

OHANNES

W

EISSINGER

Im Bann des Deutschnationalen. Die Predigt von Otto Dibelius am Tag von Potsdam (21. März 1933)

Projekte

P

ETER

B

ÜRGER

Kirche und Weltkrieg Editionsprojekt – Quellen – Forschung. Forschungsreihe „Kirche & Weltkrieg“. Zwei Neuerscheinungen im Jahr 2022 – Arbeitsbericht

K

LAUS

H

AGEDORN

, T

HOMAS

N

AUERTH

Mit Gandhi unterwegs in Zeiten des Ukraine-Krieges. Ein Buch geht auf Reisen

M

ICHAEL

S

CHMID

Lebenshaus Schwäbische Alb ‒ Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

R

AINER

S

CHMID

Zehn Regeln der aktiv-gewaltfreien Verteidigung. Wir haben die besseren Waffen!

Rezensionen

G

OTTFRIED

O

RTH

Stefan Federbusch: Von der Zärtlichkeit Gottes. Eine Theologie der Berührung

G

OTTFRIED

O

RTH

Stefanie A. Wahl / Stefan Silber / Thomas Nauerth (Hrsg.): Papst Franziskus: Mensch des Friedens. Zum friedenstheologischen Profil des aktuellen Pontifikats

K

ONRAD

R

AISER

Ulrich Frey: Auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens. Texte aus drei Jahrzehnten

A

NNE

-E

LISABETH

R

OßA

Andreas Steinhöfel, Melanie Garanin: „Völlig meschugge?!“ – Eine Graphic Novel über Freundschaft, Antisemitismus, Mobbing und Gewalt

S

TEFAN

S

ILBER

Alexander Merkl / Patrick Körbs / Bernhard Koch (Hrsg.): Die Friedensbotschaften der Päpste. Von Paul VI. bis Franziskus

Statt eines Nachwortes

G

OTTFRIED

O

RTH

„Du wirst heißen: ‚Der die Lücken zumauert‘“

Andacht zum Jahrestreffen des Ökumenischen Instituts für Friedenstheologie 2022

Autorinnen und Autoren

Editorial

Jahrbuch Friedenstheologie 2023: Die Reich-Gottes-Botschaft in Theologie und Politik

Matthias-W. Engelke, Stefan Federbusch OFM, Gudula Frieling, Wolfgang Krauß, Gottfried Orth, Michael Schober, Stefan Silber

Das Ökumenische Institut für Friedenstheologie, OekIF, veranstaltete zusammen mit der Melanchthon-Akademie, dem Katholischen Bildungswerk, beide in Köln gelegen, und der Unterstützung durch den deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes vom 17.19. September 2021 die friedenstheologische Sommerakademie zum Thema „‚Dein Reich komme‘. Vom Hineinreichen einer anderen Herrschaft: Die Reich-Gottes-Botschaft in Theologie und Politik“. In diesem Band dokumentieren wir Beiträge dieses Seminars, wobei das Referat von GERARD MINAARD bereits im Jahrbuch Friedenstheologie 2022 „Toleranz und Teilhabe“ veröffentlicht werden konnte.

Wir freuen uns sehr darüber, dass sich zu diesem Schwerpunktthema auch weitere Autorinnen und Autoren zu Wort gemeldet haben. Die Gastbeiträge sind in den jeweiligen Abschnitten vorangestellt. Im Weiteren folgen die Beiträge dem Alphabet der Namen der Autorinnen und Autoren, dies auch als Ausdruck der Kollegialität im Institut, um dazu zu ermutigen, sich in diesem Rahmen mit eigenen Gedanken und Ausarbeitungen zu Wort zu melden.

‚DEIN REICH KOMME!‘

MARIUS VAN HOOGSTRAATEN lässt an einer mennonitischen Kontroverse teilhaben, die um die Welthaftigkeit der Reich-Gottes-Botschaft Jesu ringt.

MUHAMMAD SAMEER MURTAZA analysiert destruktive Kräfte im Zusammenleben der Menschen und weist auf der Grundlage von Koran und Hadithen auf die Möglichkeit ihrer Überwindung hin.

EBERHARD BÜRGER führt die Ereignisse der friedlichen Revolution in der DDR 1989 und ihre Vorgeschichte vor Augen, nicht ohne hervorzuheben, welche Schätze bis heute ihrer Beachtung harren.

GUDULA FRIELING arbeitet die hermeneutische und strukturbildende Bedeutung der Reich-Gottes-Botschaft in der Befreiungstheologie heraus.

MECHTHILD GEUE nimmt Impulse der gewaltfreien Bewegung auch für gesellschaftliche Auseinandersetzungen heute auf, die in Deutschland lange mehr im Verborgenen gewirkt haben und wirken.

THOMAS NAUERTH stellt sich dem Phänomen, dass im Matthäusevangelium – und nur dort – der Täufer Johannes dasselbe verkündet wie Jesus von Nazareth. Das wirft Fragen auf. Dazu referiert er eine neue Sicht auf das Neue Testament, die versucht dies Rätsel zu beantworten.

GOTTFRIED ORTH erinnert anlässlich des 100. Geburtstages von MARIE VEIT an diese große Lehrerin – u. a. und in besonderer Weise von DOROTHEE SÖLLE – und friedenstheologische Wegbereiterin.

STEFAN SILBER vertieft die befreiungstheologische Perspektive, indem er auf eine alternative, befreiende und schöpferische Praxis hinweist, mit Auswirkungen sowohl fürs Individuelle als auch besonders das Gemeinschaftliche.

EGON SPIEGEL knüpft an eine langjährige Diskussion über die Inhalte der Reich-Gottes-Botschaft Jesu an und filtert gerade aus der Tatsache ihrer verblüffenden Offenheit bedeutsame Botschaften heraus.

ANJA VOLLENDORF entwickelt ausgehend von weltweit bekannten Bremer Musikern die besondere Bedeutung des Raumes als Frage nach dem Ort der Verleiblichung des Evangeliums.

UKRAINEKRIEG

Erschrocken und betroffen über den Überfall Russlands auf die Ukraine seit Februar 2022 stellt dieser Band friedenstheologische Perspektiven in der Auseinandersetzung damit vor.

Aus der UKRAINISCHEN PAZIFISTISCHEN BEWEGUNG kommt eine Stimme zu Wort, die es verdient, in besonderer Weise gehört zu werden.

ULRICH FREY referiert und kommentiert die aktuellen friedensethischen Kontroversen im Bereich der evangelischen Kirchen in Deutschland um den Ukrainekrieg.

ANTJE HEIDER-ROTTWILM überprüft das friedensethische Bekenntnis zur Vorrangigkeit der Gewaltfreiheit als Konsens des Konzeptes des gerechten Friedens anlässlich der Erfahrungen mit und im Umfeld des Ukrainekrieges.

DAVID LAPP-JOST schildert persönliche Erfahrungen, die aus einer überraschenden online-Begegnung zur Einübung in alltägliche Feindesliebe führt.

FRIEDENSTHEOLOGISCHE BEITRÄGE

In weiteren Beiträgen zur Friedenstheologie wird das breite Spektrum der Arbeiten des Ökumenischen Instituts für Friedenstheologie deutlich. Auch hier stehen die Gastbeiträge voran.

LEA BONASERA weist nach, dass gewaltfreier ziviler Widerstand für eine gelebte und gesellschaftlich verankerte Demokratie unverzichtbar ist.

MARGARETA GRUBER OSF wendet den Blick der Interpretation der Johannesapokalypse auf die leitgebenden Merkmale dieser Schrift, die Vieles in einem neuen und ermutigenden Licht erscheinen lassen.

CHRISTINE HOFFMANN nimmt 75 Jahre pax christi-Bewegung zum Anlass, die Hauptinhalte und -aufgaben dieser katholischen Friedensbewegung darzustellen.

MATTHIAS-W. ENGELKE untersucht die Dokumente einer fast vergessenen 14jährigen friedenstheologischen Debatte zwischen vornehmlich deutschen evangelischen Großkirchen und Friedenskirchen sowie dem Internationalen Versöhnungsbund daraufhin, mit welchen Hindernissen auch heute im Ringen um eine gemeinsame ökumenische Friedenstheologie zu rechnen ist.

ULRICH FREY stellt in den Mittelpunkt, dass nach 20 Jahren Afghanistankrieg dieses Geschehen noch lange nachwirken wird, nicht zuletzt auch in der friedensethischen Auseinandersetzung um diesen Krieg.

MICHAEL SCHOBER würdigt zum 500. Todestag des Humanisten Johannes Reuchlin im Juni 2022 dessen wegweisendes Werk und Wirken im Hinblick auf den jüdisch-christlichen Dialog.

GISELA-INGRID WEISSINGER hält ein Plädoyer für Bürgerräte und führt die Gründe auf, warum dieses Instrument in einer Demokratie, die dieser Bezeichnung gerecht werden möchte, notwendig ist.

JOHANNES WEISSINGER nimmt die Leserinnen und Leser in eine nicht unkritische Hörersituation der Predigt von OTTO DIBELIUS zum „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 hinein und verdeutlicht damit ein unbewältigtes Stück des konstantinischen Erbes der Evangelischen Kirchen Deutschlands.

DESIDERATE

Wir freuen uns, dass sich die Anzahl der Autorinnen in diesem Band im Vergleich zum vorangegangenen Jahrbuch mehr als verdoppelt hat. Von einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis sind wir aber immer noch ein Stück entfernt. So gilt es die Anstrengungen in diesem Bereich fortzusetzen.

Leider gelang es auch diesmal nicht, jüdische Stimmen mit einzubeziehen. Wir bitten und ermuntern ausdrücklich darum, sich in diesem Forum zu Wort zu melden.

Immerhin konnten wir einen Beitrag zur gewaltfreien Revolution von 1989 mit aufnehmen, weitere sind sehr willkommen.

Das Jahrbuch 2024 ist dem Thema „Schöpfung, Gewaltfreiheit und der nötige Widerstand“ gewidmet. An dieser Stelle sei herzlich dazu eingeladen, Beiträge einzusenden. Kontakt zum Ökumenischen Institut für Friedenstheologie s. https://friedenstheologieinstitut.jimdofree.com bzw. [email protected]

DAS SENFKORN

Auch die Bilder dieses Bandes erzählen Geschichten. Es sind zum einen Ausschnitte aus einem Bild von einem ägyptischen Wandbehang „Die Vögel des Himmels finden Schutz unterm Blätterdach“, vgl. Mk 4,32; Lk 13,18f. Der Wandbehang selbst wurde in einer Sozialstation der Caritas Kairo hergestellt, s. S. →. Zum anderen sind es Dokumente der gewaltfreien Revolution in Torgau 1989, freundlich zur Verfügung gestellt von Eberhard Bürger, Magdeburg. Unbeschriftete Fotos sind jeweils Ausschnitte. Die Anregung zu beiden Bildreihen ist der Einleitung des Beitrages von Eberhard Bürger entnommen.

So wünschen wir gesegnete Lektüre und hoffen auf Anregungen, die nicht zuletzt auch dem Frieden dienen.

Die Reich-Gottes-Botschaft in Theologie und Politik

Gottes Reich als Ver- und Entortung

Mennonitisches Denken in der Krise

Marius van Hoogstraten

EINFÜHRUNG

Ein Friedensreich bricht ein

Vor zehn Jahren war ich im irakischen Kurdistan.1 Während ich dort war, brachen – inspiriert von der ägyptischen Revolution – Proteste gegen die kurdische Regierung aus. Die Reaktion der Regierung war gewaltsam. Aber innerhalb weniger Tage entstand eine Gruppe, die sich zwischen Soldaten und Demonstration stellte. Wir wurden eingeladen, uns als internationale Beobachtungsgruppe zu beteiligen. Und so standen wir da, tagein, tagaus, und sahen wie der Platz, den die Protestbewegung besetzt hatte, sich verwandelte. Die Menschen fingen an, über Nacht zu bleiben. Es war, als wäre die Gesellschaft, die sie forderten, irgendwie schon da. Als könnten wir das keimhafte Aufgehen einer neuen politischen Realität in Echtzeit beobachten.

Siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr‘s denn nicht? Jes 43,192

Doch diese neue Ordnung war wehrlos. Über Nacht griffen Schlägertruppen an. Nach etwa zehn Tagen ging auf der Mitte des Platzes eine Bombe hoch. Ich verstehe bis heute nicht, wieso es keine Toten gab. Tausende Menschen flohen vor der Explosion. Auf uns und die Soldaten zu, die immer noch hinter uns standen. Auch wir wurden von der Panik ergriffen. Wir flüchteten. Es ist doch gescheitert, dachte ich.

Doch hinter mir hörte ich keine Schüsse, sondern Stimmen. Jemand übersetzte: „Ihr seid unsere Brüder und Schwestern. Wir werden nicht auf euch schießen.“

Ich drehte mich um und sah, wie die Demonstrant:innen und die Soldaten miteinander tanzten.

Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es! oder: Dort ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch. Lk 17,20-21

Worum geht es?

Zunächst versuche ich einzuführen in mennonitisches Denken über das Reich Gottes. Ich beginne mit einer kurzen historischen Einführung, bevor ich mich der spezifischen im 20. Jahrhundert etablierten Theologie widme. Dann möchte ich einige Gründe aufzeigen, warum dieses Denken über das Reich Gottes derzeit an seine Grenzen kommt. Zum Schluss einige Fragen und Ansätze, die diese Denken auf eine produktive Art komplizieren und öffnen könnten: Ich lade ein, das Reich Gottes im Kntrast zu den Reichen der Welt nicht wie bisher in unserer Theologie als Verortung und Grundlage einer Identität, sondern als Entortung und Störung der Identität zu sehen, jedenfalls dort, wo diese unterdrückt.

GESCHICHTLICHER HINTERGRUND

Die reformatorischen Ursprünge der Mennoniten liegen in der „radikalen Reformation“ oder Täuferbewegung (manchen eher als „Wiedertäufer“ bekannt). Im frühen 16. Jahrhundert ist das zunächst eine wilde und diverse Bewegung, der die Reformatoren Zwingli, Luther und Calvin nicht weit genug gingen oder, wie sie meinten, falsche Prioritäten setzten.3 Sie setzte drei inhaltliche Schwerpunkte (obschon es zu jedem auch wichtige Ausnahmen gibt):

Die Notwendigkeit der

Erwachsenentaufe.

Ein dadurch verändertes Verständnis von

Kirche

– die Gemeinschaft derer, die sich als Erwachsene entschieden haben. Kirche wird dann in Unterscheidung von Welt und staatlicher Obrigkeit gedacht, auch antiklerikal und demokratisch.

Damit verbunden ein Verständnis von

Nachfolge.

Die Errettungsökonomie wird nicht wie bei Luther als

sola fide

verstanden, sondern als Verwandlung des gesamten Lebens. Christus ist für die (meisten) Angehörigen der Täuferbewegung nicht deshalb gestorben und auferstanden, damit uns das

erspart

bleibt, sondern damit

auch wir

diesen Weg durch den Tod in die Auferstehung gehen können. Zur Nachfolge gehörte für die meisten der Pazifismus, manchmal auch gemeindliche Gütergemeinschaft.

Diese Schwerpunkte werden in einem eschatologischen Kontext gedacht. Besonders die niederländischen Täufer dachten, es sei so weit, als sie in Münster mit Mehrheit in den Stadtrat gewählt wurden. Ihr Scheitern in Münster war Ausgangspunkt der dann namensgebenden Sammlungsbewegung unter dem friesischen Ex-Priester MENNO SIMONS (1491-1561).

Auch die Verfolgung durch die etablierten Kirchen wurde schnell zu einer theologisch prägenden Erfahrung. Etwa darin, dass das Erdulden der Verfolgung als Nachfolge zum Kreuz verstanden wird. Dies trägt weiter zur Idee der Absonderung bei, einer Sicht der Kirche als separates Volk, das nach anderen Regeln lebt als die Welt. Deshalb muss die Grenze zwischen Kirche und Welt besonders gewahrt und überwacht werden, etwa durch Exkommunikation (den „Bann“). Dies wird schnell zu einem wichtigen Streitpunkt der täuferischen Gemeinschaften.

In den nächsten Jahrhunderten bewegen Mennonit:innen sich über den Erdkreis, nehmen in europäischen Kolonien und im russischen Reich Land in Besitz und treten in eine Vielheit von Beziehungen mit der Moderne: von der totalen Umarmung der liberalen Stadtgesellschaft in den Niederlanden bis zum völligen Rückzug in abgesonderte, identitäre Gemeinschaften in Mexiko, Ukraine und Nordamerika.

Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sind Mennonit:innen, unabhängig davon, wo sie leben, generell weiß und meist niederländisch- oder deutschsprechend. Hiermit verbunden ist wohl auch die Sympathie bis Begeisterung für den Nationalsozialismus unter deutschsprachigen Mennonit:innen. Die „Reinrassigkeit“ zurückgezogener mennonitischer Gemeinschaften tief in der Sowjetunion macht sie im Gegenzug auch besonders interessant für nationalsozialistische Propaganda. Mit Pazifismus ist zu diesen Zeiten unter europäischen Mennonit:innen dann auch nicht mehr so viel.4

Während wir uns also gerne als historische Friedenskirche präsentieren, 5 ist das leider die Vereinfachung einer komplizierteren Geschichte. „Frieden“ war nicht das, was Mennonit:innen über die Jahrhunderte am meisten beschäftigte. Die größten Fragen, Schismen und Umwälzungen drehten sich eher um „Absonderung“. Es ging darum, die Unterscheidung zwischen Kirche und Welt genauer zu bestimmen. Pazifismus ist damit nicht unwichtig, aber eben nur eins der Kennzeichen einer solchermaßen abgesonderten Kirche.

DIE GEMEINDE ALS AUßENPOSTEN DES REICHES GOTTES

Absonderung bedeutet im mennonitischen Denken also die klare Unterscheidung oder Alternative zwischen Reich Gottes und Welt. Wer sich taufen lässt, entscheidet sich, dem Reich Gottes anzugehören und nach dessen Maßstäben zu leben. Die Kirche besteht somit aus den Menschen, die ihre Loyalität zu den weltlichen Reichen aufgekündigt haben, die aus der Herrschaft der Welt, der Gewalt und der Sünde herausgerufen sind. In der eschatologischen Zwischensituation, in der die Welt sich befindet, gehören sie jetzt schon dem Reich Gottes an und wandeln schon heute in der Neuheit des Lebens.

Um diese zentrale Vorstellung entwickelt sich im 20. Jahrhundert an mennonitischen Seminaren und Universitäten eine umfassendere Theologie, die frühe täuferische Schwerpunkte systematisiert: Die Gemeinde als Außenposten des Reiches Gottes in einer diesem Reich gegenüber feindlichen Welt. Etwa bei dem US-amerikanischen Theologen J. DENNY WEAVER:

„… die Jesusgeschichte prägt die ganze Wirklichkeit, … [das gilt auch für] Gottes Handeln in Christus zur Errichtung einer alternativen Gemeinschaft als Beginn des Reiches Gottes auf Erden und die Ablehnung von Gewalt als Grundlage der sozialen Beziehungen dieses Außenpostens des Reiches in unserer realen Geschichte.“6

Diese Zugehörigkeit zum Reich Gottes wird stark ethisch ausgelegt: Für die Gemeinde gelten die Handlungsregeln Jesu in der Bergpredigt. Sie ermahnt sich gegenseitig, diese auch einzuhalten (konkret nach Mt 18,15-18). Sie seien nicht unrealistische, utopische Schilderungen, sondern realistische Grundlagen für ein gemeinsames Leben, das sich radikal auf Gottes Herrschaft verlässt.

Wenn die Gemeinschaft unter sich nach diesen Maßstäben lebt und ihre Glieder den Mächten und Gewalten dieser Welt ihre Mitwirkung tatsächlich aufkündigen – konkret, den Kriegsdienst verweigern, denen vergeben, die ihnen Gewalt antun, Besitz verschenken, die Wahrheit sprechen – dann wird das Leben der Kirche vor der zusehenden Welt zu einem gemeinschaftlichen Zeugnis der Wahrhaftigkeit der gewaltfreien Herrschaft Gottes als reale Möglichkeit der sozialen Organisation – real geworden durch Christus. Das Reich Gottes kommt nicht nur in der Zukunft, es ist nicht nur eine geistliche Dimension: Es wird ermöglicht und konstituiert sich in der Teilhabe am Leben und Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu Christi.

Zwischen Reich Gottes und den Reichen der Welt besteht in dieser Denke also eine klare Diskontinuität. Wenn die Kirche diese Diskontinuität nicht wertschätzt, wird sie der Versuchung der Welt verfallen. Die Idee eines christlichen Königreiches oder auch christlichdemokratischer parlamentarischer Arbeit wird somit als Widerspruch in sich gesehen.

ABSONDERUNG UND ENGAGEMENT

Das bedeutet nun nicht, dass die Kirche die Welt einfach ihrem Schicksal überlassen soll. Gerade das Engagement der Kirche macht das gemeinschaftliche Zeugnis glaubhaft. Man könnte diese Theologie, die sich in den 1950ern bis 1980ern entwickelt, als Theologie der engagierten Absonderung bezeichnen. Eine Lösung für die jahrhundertelang prägende Problematik der Grenz- und Verhältnisbestimmung zwischen Kirche und Welt wird im Zusammendenken des Engagements für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt mit einer Sicht der Kirche als nicht von dieser Welt gesucht.

Die Perspektive der Absonderung ergibt eine konservativkommunitär-anarchistische Alternative zu Public Theology, politischer Theologie und Befreiungstheologie, die alle stärker auf die Relevanz und Übersetzbarkeit des Evangeliums für die gesamte Gesellschaft setzen. In der Theologie der engagierten Absonderung geht es der Kirche nicht primär darum, die Welt zu verändern oder in breiten Bündnissen politische Ziele durchzusetzen, sondern erst mal darum, Kirche zu sein, als Gemeinschaft, die Jesus Christus untertan ist. In der vorfindlichen eschatologischen Situation verweist die „Herrschaft“ Gottes, zu der die Kirche sich bekennt, nicht primär auf die Souveränität und Autorität Gottes über die Welt, sondern auf die Autorität Gottes über seine Kirche. Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Kirche das Reich Gottes ist – auch wenn man bei manchen dieser Theolog:innen stark den Eindruck bekommt – aber zumindest ist die Kirche innerhalb des Reiches oder der Herrschaft Gottes untertan.

Dazu ein Zitat von JOHN HOWARD YODER, das vieles zusammenfasst:

„Jesus war nicht einfach ein Moralist, […] [oder] ein Lehrer von Spiritualität […] er war nicht nur ein Opferlamm […] oder ein Gottmensch […] Jesus war, in seiner von Gott beauftragten (d.h. verheißenen, angekündigten, messianischen) Prophetenschaft, Priesterschaft und Königschaft, der Träger einer neuen Möglichkeit menschlicher, sozialer und daher politischer Beziehungen. Seine Taufe ist die Einsetzung und sein Kreuz der Höhepunkt dieses neuen Regimes; die Jünger sind aufgerufen, daran teilzunehmen. […] [Er ruft] zu einer Ethik, die durch das Kreuz gekennzeichnet ist […] ein Kreuz, in dem die Bestrafung eines Mannes erkannt wird, der die Gesellschaft durch die Gründung einer neuen Gemeinschaft radikal neuen Lebens bedroht.“7

Einen etwas anderen Schwerpunkt setzt STANLEY HAUERWAS (zwar kein Mennonit, aber theologisch auf dieser Linie):

„Auf diese Weise schafft die christliche Nachfolge ein Gemeinwesen; sie ist auf diese Weise ein Gemeinwesen: Christsein ist Ausdruck unseres Gehorsams gegenüber und in einer Gemeinschaft, die darauf basiert, dass Jesus der Messias ist. […] Wie Petrus sind nur wenige unter uns bereit für solches ‚Wissen‘, aber sofern wir in der Lage sind, es zu einem Teil unseres Lebens zu machen, werden wir tatsächlich Angehörige seines Reichs.“8

Wer im 20. Jahrhundert Mennonit:innen kennengelernt hat, hat es wohl so gehört. Die theoretische Schlüssigkeit und fromme Radikalität dieser Theologie kann durchaus begeistern. Doch sie birgt auch große Probleme: theoretische und methodologische Probleme, praktische Schwierigkeiten, aber auch die persönliche Problematik einiger ihrer Theolog:innen – eines im Besonderen.

EINFÜHRUNG IN EINE KRISE

Hinweis: in diesem Abschnitt geht es auch um sexualisierte Gewalt.

Ich sehe die Theologie der engagierten Absonderung derzeit also in einer tiefen Krise.9 Ein Grund der Krise liegt darin, dass es schwierig geworden ist, sich auf John Howard Yoder, den Theologen der engagierten Absonderung und der mennonitische Theologe des 20. Jahrhunderts, zu beziehen. Dass Yoder über die Jahre mehrfach Studentinnen missbrauchte, war schon lange klar – doch die Kirche und ihre Institutionen nahmen ihn immer wieder in Schutz. Eine ernsthafte Zäsur gibt es erst in den letzten Jahren.10 Sein Verhalten und der Umgang damit wird inzwischen auf verschiedenen Ebenen aufgearbeitet. Dabei wird zunehmend die Frage gestellt, welche Rolle seine Person in unserer Gemeinschaft und ihrer Theologie einnehmen kann und sollte. Wir sind nicht so viele, viele kennen einander persönlich und obwohl Yoder selbst inzwischen tot ist, leben viele seiner Studentinnen noch. Es geht also nicht um eine abstrakte Frage von „Werk“ und „Person“, sondern darum, welche Gemeinschaft wir miteinander sein wollen.

Aber die Problematik ist umfassender als die Erkenntnis, dass es sich bei Yoder um einen Menschen handelt, den wir nicht mehr als wichtigen Denker feiern möchten. Es geht auch darum, dass im Lichte seiner Taten und des institutionellen Umgangs damit bestimmte Probleme seiner Theologie unverkennbar werden. Zum Beispiel wird es schwer, ihm den Optimismus über die Kirche als von der Gewalt der Welt abgesonderte Gemeinschaft abzukaufen. Und Yoders Weigerung, sich von der säkularen Welt etwas sagen zu lassen – weil ein Christ der Welt ja keine Loyalität schulde – sieht ebenfalls, milde ausgedrückt, nicht so gut aus. Noch schlimmer wird es bei Yoders Verständnis von Wehrlosigkeit: der Überzeugung, dass man Gewalttäter:innen nicht widerstehen soll und dass das Leiden unter Gewalttäter:innen gar (wie bei manchen frühen TäuferInnen) theologisch aufgeladen wird als Teil der Nachfolge Christi – im Kontext sexualisierter Gewalt zutiefst problematische Elemente.

Im Lichte von Yoders Gewalttaten ist seine Theologie, auf die auch Hauerwas und Weaver für ihre Entwürfe maßgeblich zurückgreifen, also deutlich weniger plausibel und weniger attraktiv geworden. Das hinterlässt allerdings so etwas wie eine Yoder-förmige Lücke in der mennonitischen Theologie.

Wir wissen derzeit nicht so genau, was diese Lücke füllen wird. Manche meinen, es sei gut, dass die Theologie der engagierten Absonderung Platz macht für etwas Neues. Denn es gibt weitere Probleme mit ihr. Sie ist stark auf das Nordamerika der 1950er bis 1980er Jahre zugeschnitten. Einerseits anschlussfähig an eine Generation geprägt von Counterculture, alternativen Gemeinschaften und Kriegsdienstverweigerung. Andererseits attraktiv für die vielen Gemeinden, die sich von der säkularen Welt bedroht fühlten. Dort fiel die Absonderung als Rückzug in das Vertraute auf guten Boden.

Das ist jedoch nicht mehr unsere Situation. Wir haben heute andere Probleme. Um sie anzugehen, muss nicht Absonderung, sondern Verstrickung mit der Welt Thema sein. Wie etwa stehen wir zu aktuellen Herausforderungen, wie der drohenden Klimakatastrophe und dem ihr zugrundeliegenden Petrokapitalismus? Wie sollte die Kirche sich zu Race verhalten, also zur fortwährenden Vorherrschaft weißer Menschen in unseren Gesellschaften? Was hat sie zum Patriarchat zu sagen, das in der Kirche nicht wesentlich anders verhandelt wird als in der Welt? Was ist mit Antisemitismus? Kapitalistischer Ausbeutung und dem neuen Prekariat?

Bei jeder dieser Herausforderungen hilft es wenig, von Absonderung zu träumen, sondern es ist theologisch zu thematisieren, wie Kirche und ihre Glieder verstrickt sind in strukturelle Sünde. Jede dieser Herausforderungen zeigt auf, dass die Grenze zwischen Kirche und Welt bei weitem nicht so klar verläuft, wie Yoder und Hauerwas denken, sondern dass wir zutiefst verwickelt und verstrickt sind in die Gewalt der Welt und auch nicht so leicht herauskommen. Mit der Theologie der engagierten Absonderung sind wir sehr schnell bei „wir sind die Guten“. Das ist im Angehen dieser Themen eher Hindernis als Hilfe. Diese Probleme brauchen breite Bündnisse und wir brauchen Theologie, die solche Bündnisse theologisch fundieren und ermöglichen kann – die das Reich Gottes eben auch dort wahrnehmen kann, wo es sich außerhalb der sicheren Mauern der eigenen identitären Gemeinschaft ereignet.

SCHLUSS: EIN FRIEDENSREICH BRICHT EIN (REPRISE)

Da stehen wir also derzeit: mennonitische Theologie sammelt sich gerade um diese überwältigende Lücke und um die neuen Möglichkeiten, die sie bietet. Wir fragen uns, was kommt als nächstes. Persönlich hoffe ich, dass nicht (wieder) ein Theologe oder eine Denkschule diese Lücke füllt.

In meiner eigenen Arbeit frage ich, ob der Weg nicht darin zu finden wäre, den widersprüchlichen und eschatologischen Charakter des Reiches Gottes in unserer Theologie mehr zu berücksichtigen. Die gesamte Denke der engagierten Absonderung ruht auf der Behauptung, das Reich Gottes sei möglich. Es bilde eine plausible und durch Jesu Christi Wirken, Sterben und Auferstehen realistische Grundlage für die Gemeinschaft. Das ist rhetorisch sehr wirkungsvoll, dennoch frage ich: Hat Jesus von Nazareth dieses plausible und mögliche Reich Gottes gepredigt?

Der (katholische) US-amerikanischen Philosoph JOHN D. CAPUTO betont: Die Hermeneutik des Reiches Gottes ist Dekonstruktion. Das Reich Gottes, so wie Jesus Christus es predigt, ist nach Caputo nicht Grundlage einer Identität, schon gar nicht für „wir sind die Guten“. Vielmehr ist es das stetige Infragestellen und Öffnen aller menschlichen politischen und sozialen Systeme, insofern diese sich auf eine geschlossene Identität berufen, die andere ausschließt. Das Reich Gottes ist gerade die Störung des „wir sind die Guten“ um einer umfassenden Beziehungshaftigkeit zur gesamten Schöpfung willen, um des Einzelnen willen, dessen Wert sich nie ganz in einem System fassen lässt. Ich schrieb dazu an anderer Stelle:

„‚Der Name Gottes ist […] eine ‚schwache Kraft, die uns auf eine unbedingte Art beansprucht aber keine Truppen hat, diesen Anspruch durchzusetzen.‘ Diese […] wird ausgesprochen sichtbar in Jesu Narrativen über das Reich Gottes. Dort geht es um ein ‚anarchisches Feld von Umkehrungen und Verschiebungen, ‚eine ‚heilige Anarchie‘, in der ‚schwache Kräfte sich ausspielen in paradoxen Effekten, die die Mächte und Gewalten der Welt verblüffen‘: Erstes ist Letztes, die Außenseiter sind drinnen, wer sein Leben verliert, wird es bewahren – das Reich eines Gottes ohne Souveränität, mehr ein dekonstruktiver Aufruf als eine politische Situation, die je wirklich eintreffen könnte. Statt einer stabilisierenden metaphysischen Präsenz ist nach Caputo ‚der Sinn von »Gott«, die etablierte menschliche Ordnung, [insbesondere] […] die Autorität von Mensch über Mensch, von Männern über Frauen, über Tiere und die Erde selbst, zu unterbrechen, zu stören, zu verblüffen, zu widersprechen und zu konfrontieren.‘"11

Dieses Reich Gottes ist in unserer jetzigen eschatologischen Situation vielleicht am besten verstanden als Subversion, als Stimme des Protestes und Unterbrechung der weltlichen Mächte um einer größeren Beziehungshaftigkeit willen, ohne selber klare Grenzen zu haben oder die Grundlage eines neuen sozialen Systems bilden zu können. Das Reich Gottes stiftet an zur Erneuerung, zum Protest und zum Bilden neuer Gesellschaftsformen, aber diese neuen Gesellschaftsformen sind es nicht.

Dieses Reich findet sich mindestens so häufig außerhalb wie innerhalb der sicheren Mauern der identitären christlichen Gemeinschaft. In den Worten des baptistischen Theologen S. MARK HEIM: Die Kirche hat zwar eine Sendung an die Welt, aber die Welt hat auch eine Sendung an die Kirche und Christus lehrt seine Kirche durch und aus dieser Welt, was das Reich Gottes bedeutet.12 Wenn wir dies vergessen, wenn wir das Reich Gottes für zu realistisch und möglich halten, so wie Yoder und die Seinen das tun, dann machen wir es doch wieder zu einem der vielen menschlichen Reiche dieser Welt.

In den Worten Caputos:

„Das Reich Gottes ruft. Ein Ruf so schwach wie ein Wort, ein Atemzug, eine Spur oder ein Seufzen, während die Welt so hoch ist wie ein Berg. […] Das Reich Gottes findet sich überall dort, wo Krieg und Aggression mit einem Angebot des Friedens begegnet wird. Es ist eine Art zu leben, nicht in der Ewigkeit, sondern in der Zeit; eine Art zu leben ohne Warum, für den Tag, wie die Blumen des Feldes […] Das Königreich regiert überall, wo die geringsten und ungewolltesten bevorzugt werden, während die besten und mächtigsten in die Defensive geraten.“13

LITERATUR

BENDER, Harold S.: The Anabaptist Vision, Harrisonburg 1960. Deutsch: Das täuferische Leitbild, in: HERSCHBERGER, Guy F.: Das Täufertum, Erbe und Verpflichtung, Stuttgart 1963, 31- 54.

CAPUTO, John D.: The Weakness of God: A Theology of the Event, Bloomington 2006.

ENNS, Fernando: Ökumene und Frieden. Bewährungsfelder ökumenischer Theologie, Göttingen 2012.

HAUERWAS, Stanley: A Community of Character. Toward a Constructive Christian Social Ethic, Notre Dame 1981.

GOOSSEN, Benjamin W.: Chosen Nation. Mennonites and Germany in a Global Era, Princeton 2017.

GOOSSEN, Rachel Waltner: ‘Defanging the Beast‘: Mennonite Responses to John Howard Yoder’s Sexual Abuse, in: Mennonite Quarterly Review Nr. 1/2015, 7-80.

HEIM, S. Mark: The Depth of the Riches. A Trinitarian Theology of Religious Ends, Grand Rapids 2000.

HOOGSTRATEN, Marius van: Theopoetics and Religious Difference. The Unruliness of the Interreligious: A Dialogue with Richard Kearney, John D. Caputo, and Catherine Keller. Tübingen 2020, 124-125.

REDEKOP: Calvin Walter (Hrsg.): Mennonite Identity: Historical and Contemporary Understandings, Lanham 1988.

ROBERTS, Laura Schmidt / MARTENS, Paul / PENNER, Myron A. (Hrsg.): Recovering from the Anabaptist Vision. New Essays in Anabaptist Identity and Theological Method, London / New York 2020.

SCHLACHTA, Astrid von: Täufer. Von der Reformation ins 21. Jahrhundert, Tübingen 2020.

SNYDER, Arnold C.: Anabaptist History and Theology. An Introduction, Kitchener 1995.

VILLEGAS, Isaac Samuel: The Ecclesial Ethics of John Howard Yoder’s Abuse, Modern Theology Nr. 1/2021, 191-214.

WEAVER, J. Denny: Mennonite Theological Self-Understanding: A Response to A. James Reimer, in REDEKOP, Calvin Walter (Hg.): Mennonite Identity: Historical and Contemporary Understandings, Lanham 1988, 39-61.

YODER, John Howard: Die Politik Jesu. Der Weg des Kreuzes, Maxdorf 1981; Neuauflage: Schwarzenfeld 2012.

1 Community Peacemaker Teams, damals noch Christian Peacemaker Teams, entsendet ausgebildete Freiwillige in Konfliktsituationen, um dort örtliche Friedens- und Menschenrechtsaktivist:innen zu unterstützen. Siehe www.cpt.org.

2 Übersetzung: Luther 2017.

3 Vgl. zum Beispiel von SCHLACHTA: Täufer.; SNYDER: Anabaptist History and Theology.

4 Vgl. hierzu besonders GOOSSEN, B.: Chosen Nation. Mennonites and Germany in a Global Era, Princeton 2017.

5 Siehe zum Beispiel ENNS: Ökumene und Frieden.

6 WEAVER: Mennonite Theological Self-Understanding, 58. Meine Übertragung aus dem Englischen.

7 YODER: Die Politik Jesu, Maxdorf 1981, 57f., in der Neuauflage: Schwarzenfeld 2012, 62f.

8 HAUERWAS, Stanley: A Community of Character., 49. Meine Übersetzung; Hervorhebung im Original.

9 Beispielsweise dazu: ROBERTS / MARTENS/ PENNER (Hrsg.): Recovering from the Anabaptist Vision. Der Titel dieser Aufsatzsammlung ist eine Anspielung auf ein programmatisches Werk des 20. Jh.: BENDER: The Anabaptist Vision.

10 Vgl. insbesondere GOOSSEN, R.: ‘Defanging the Beast‘: Mennonite Responses to John Howard Yoder’s Sexual Abuse; dazu außerdem VILLEGAS: The Ecclesial Ethics of John Howard Yoder’s Abuse.

11 Van HOOGSTRATEN: Theopoetics and Religious Difference, 124-125.

12 HEIM, S. Mark: The Depth of the Riches, 147.

13 CAPUTO: The Weakness of God, 15.

Destruktive Mächte und Strukturen in der Welt

Muhammad Sameer Murtaza

2019 sah die Generalversammlung der Vereinten Nationen sich aufgrund der religiös begründeten Gewalt in der Welt gezwungen, mit dem 22. August einen Internationalen Tag des Gedenkens für Opfer von religiös motivierten Gewalthandlungen einzuführen.14

Die Bewertung von Religion und Religionsgemeinschaften als soziales Phänomen löst verständlicherweise unterschiedliche Reaktionen aus. Apologeten und Kritiker sind zu sehr ihrem jeweiligen Tunnelblick verhaftet, um zu erkennen, dass die Anerkennung der Ambivalenz von Religion zu einer differenzierteren Sichtweise und damit zu mehr Objektivität führt.

Religionen besitzen vier Dimensionen: Metaphysik, Ritus, Ethik und Gemeinschaft. Sie sind dem Menschen anvertraut und befinden sich somit in seiner Obhut. Wie sollten sie nicht von der Ambivalenz des Menschen kontaminiert werden, dessen Entscheidungsfreiheit ihn sowohl zu konstruktiven als auch destruktiven Handlungen befähigen?

Die Geschichte der Menschheit hat wiederholt deutlich gemacht, dass der Mensch für seine Selbsterhaltung, für seine Wir-Gruppe, für sein Territorium, sein Weltverständnis und seinen Besitz bereit ist zu lügen, zu manipulieren, zu verletzen und zu töten.

Die abrahamischen Religionen sind Religionen der Balance: Gott und Satan, Licht und Dunkelheit, Leben und Tod, Geburt und Verwesung, Frieden und Gewalt, Paradies und Hölle; jedoch nicht in einem dualistischen, sondern eingrenzenden Sinn verstanden. Der Satan ist kein Widersacher Gottes, sondern nur ein Geschöpf Gottes, das sich im Rahmen seiner Willensfreiheit dafür entschieden hat, den Menschen zu versuchen.

Das Konzept der Balance findet sich bereits im Tanach: „Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, / ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. / Ich bin der Herr, der das alles vollbringt.“ (Jesaja 45,7)15 Von daher findet sich diese Vorstellung selbstverständlich im Islam wieder: „Sprich: ‚Ich suche Zuflucht zum Herrn des Morgengrauens vor dem Übel dessen, was Er erschaffen hat (…).‘“ (Sure 114:1-2)16

Um eine Auslöschung des Satans geht es nicht. Er hat seine Existenzberechtigung, bekommt aber zugleich von Gott Grenzen aufgezeigt. Übertragbar ist dies auf das Ego des Menschen mitsamt seinen Impulsen, die uns dazu verleiten, selbstsüchtig dem Genuss anheim zu fallen, zu lügen, zu betrügen, zu manipulieren und schließlich anderen Menschen zu schaden und wehzutun. Alle diese Impulse gehören zu uns Menschen, sie können nicht getilgt werden, wie es der Denkfehler der Asketen ist. Im Prophetenwort heißt es:

„Anas berichtete, dass der Gesandte Gottes – Gottes Segen und Frieden auf ihm – sagte: ‚Der Teufel zirkuliert in einem Menschen wie sein Blut.‘“ (Miškāt Al-Maābī Nr. 68)

Und genauso wenig, wie der Mensch sich seines Blutes entledigen kann, vermag er es, sich dieser Impulse zu entledigen. Sie zu unterdrücken, stellt ebenso wenig eine Lösung dar, denn dann wachsen sie im Unterbewusstsein des Menschen weiter an und brechen sich eines Tages auf verheerende Weise Bahn. So wie Gott den Satan in seine Schranken verweist, lehrt die Religion den Menschen, seine Ego-Impulse anzuerkennen, zu kontrollieren und bei Bedarf sich dieser zu bedienen, wie etwa im Falle der Selbstverteidigung oder der Sexualität.

Diese Balance geht allerdings verloren, wenn ein Mensch sich dafür entscheidet, seine Ego-Impulse unkontrolliert wachsen zu lassen. Gleich einem Krebsgeschwür bringt es ihm Leid und Zerstörung. Der Krebs nimmt, aber er gibt nichts zurück und führt so zum Tod von beiden: Träger und Geschwür.

Sich mit sich selbst zu beschäftigen, sich seines inneren zerstörerischen Potenzials bewusst zu sein, Selbstkritik zu üben und achtsam zu leben, stellt für die meisten Menschen eine Zumutung dar. Viel lieber regen wir uns auf und schwätzen über die negativen Symptome. Polemiker plädieren für eine Welt ohne Religion und verkennen dabei, dass Menschen empirisch seit jeher an etwas geglaubt und Gemeinschaften gebildet haben. Träumer plädieren für eine Vereinheitlichung der Religionen und verkennen dabei die unüberbrückbaren Unterschiede zwischen den prophetischen Religionen (Zoroastrismus, Judentum, Christentum, Islam) auf der einen Seite und den mystischen Religionen auf der anderen Seite, die sich unterteilen in den fernöstlichen Zweig, wie etwa den Konfuzianismus und den Taoismus, die sich durch ihren Weisheitscharakter auszeichnen; und den indischen Strom, vertreten durch den Hinduismus und den Buddhismus, die sich durch ihren mystischen und Erleuchtungscharakter unterscheiden. Nostalgiker plädieren für eine Rückkehr zu einem früheren Zeitpunkt ihrer Religionsgemeinschaft und verkennen, dass Religionen stets den soziokulturellen, territorialen und politischen Kontext widerspiegeln, in denen sie wirken. Religion ist niemals steril, sondern wandelt sich. Die Beschäftigung mit dem Ursprung der jeweils eigenen Religion hilft den Gläubigen zum einen, deren Werte von der Schlacke der Zeit und diverser Interpretationen zu befreien, um sie dann neu in den Blick zu nehmen und mit der aktuellen Lebensrealität zu versöhnen. Zum anderen lehrt das Studium der Vergangenheit die Gläubigen, die historischen und theologischen Weichenstellungen zu erkennen, die immer wieder das Friedenspotenzial ihrer Religion zugunsten des Gewaltpotenzials aufhoben. Niemand anderes als eine Religionsgemeinschaft selbst ist für ihre Fehler verantwortlich.

Aber eine Lösung für die heutigen Probleme werden Gläubige im Gestern nicht finden. Die Lösungen liegen nicht hinter uns, sondern vor uns. Sie liegen in den Antworten auf folgende Fragen: „Wofür wollen Juden, Christen und Muslime heute einstehen? Wollen wir mit dem Friedenspotenzial oder dem Gewaltpotenzial unserer Gemeinschaften identifiziert werden? Und was braucht es, damit aus friedvollen Gläubigen keine Gewalttäter des Glaubens werden?“ Rabbi DAVID ROSEN erklärt hinsichtlich des letzten Punktes:

„Wenn sich Menschen in dem Kontext, in dem sie sich befinden, sicher fühlen, können sie sich auf vielerlei Zusammenhänge einlassen: auf der Ebene von Familien, Gemeinschaften oder Nationen. Dann können Religionen zum Gemeinwohl aller beitragen und die menschliche Würde stärken. Fühlen sich Menschen jedoch in ihren jeweiligen Kontexten unbehaglich, dann schneiden sie sich von den umfassenderen Zusammenhängen ab, sie isolieren sich und begegnen anderen mit Unbehagen. Dadurch aber vertiefen sie das Gefühl der Entfremdung. Weil die Religion so eng mit der Identität verknüpft ist, spielt sie bei der Entwicklung einer Bedrohung (auch einer lediglich gefühlten) eine entscheidende Rolle; in einem konflikthaften Umfeld bietet sie eine Stütze und Beistand. Doch indem sie Menschen vor allem dann, wenn diese sich angreifbar und verunsichert fühlen, ein Bewusstsein des eigenen Wertes und Sinnes vermitteln, verfallen Religionen allzu oft in (…) Selbstgerechtigkeit. Sie missachten die Legitimität der anderen, verschärfen Konflikte und Ausgrenzungen und verraten damit ihre universellen Werte.“17

DESTRUKTIVE MÄCHTE UND GEWALTEN

Theologen, Philosophen, Psychologen und Soziologen bemühen sich seit jeher eine Antwort auf die Frage zu geben, was das Böse ist. Nach der islamischen Urgeschichte ist das Böse nichts Abstraktes, sondern eine Handlung, die ihren Anfang nimmt mit der Selbsterhöhung eines Geschöpfes über andere Geschöpfe Gottes und das aus dieser Geisteshaltung fortfährt, andere Menschen zu manipulieren, psychisch und physisch zu schaden und letztendlich zu zerstören.

Nach dem Philosophen MUHAMMAD IQBAL (gest. 1938) ist der Mensch unvollkommen erschaffen worden, damit er sein in ihm wohnendes Potenzial entfalten und wachsen kann. Jeder Mensch wird so zu einer einzigartigen Signatur in der Schöpfung Gottes. Wird jedoch dieses individuelle Wachstum abgekoppelt von der Anerkennung der transzendenten Würde eines jeden Menschen und der hierin wurzelnden Gleichheit aller, so kann sie umschlagen in eine Hybris, die danach trachtet, sich Menschen untertan zu machen, indem man sie in ein Abhängigkeitsverhältnis bringt (z. B. wirtschaftliche Ausbeutung), sie versklavt (z. B. Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung) oder indem man sie kurzfristig oder langfristig vernichtet (z. B. durch Waffenhandel, Krieg, Völkermord oder den Klimawandel).

Die prophetischen Religionen lehren zum einen, dass das Individuum verantwortlich für seine Taten ist und daher seinen Willen zum Guten transformieren soll. 18 Und zum anderen verweisen sie darauf, dass der Mensch auch von seiner Umgebung geprägt wird. Das Böse bleibt nicht nur eine individuelle Handlung, sondern kann eine strukturelle Form (politisch, ökonomisch, rechtlich) annehmen. Diese destruktiven Mächte und Gewalten können nicht nur Einfluss auf die Charakterentwicklung von Heranwachsenden nehmen, sondern auch gute Menschen negativ beeinflussen.

Destruktive Handlungen, gepaart mit Autorität und politischer Macht, können ein gesellschaftliches System schaffen, das ausgeht von

der Ungleichheit der Menschen,

der Unterordnung des Einzelnen unter die Gemeinschaft,

der Gehorsamspflicht gegenüber dem System und seiner Autoritäten

und somit individuelles Verhalten beeinflussen in Richtung

der Ablehnung von persönlicher Verantwortung nach der Devise „Wir haben von nichts gewusst“,

der Tendenz zur Konformität und Gleichschaltung, da totalitäre Regime eine vollkommen logische Welt konstruiert haben, die die Pflicht zur systematischen Vernichtung aller Feinde als richtig erscheinen lässt,

sowie der Indifferenz gegenüber destruktiven Mächten und Gewalten.

Wer aber ein ungerechtes System untätig hinnimmt, der unterstützt dieses System. Der Unterdrückte wird dann genauso schuldig wie der Unterdrücker. MARTIN LUTHER KING (gest. 1968) schrieb:

„Wenn man Ungerechtigkeit passiv hinnimmt, muss das der Unterdrücker als Bestätigung dafür auffassen, dass er moralisch richtig handelt. Und damit verhilft man ihm dazu, dass sein Gewissen einschläft.“19

Im Jesuswort heißt es:

„Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein (…)“. (Matthäus 20,25)

Gleichgültigkeit ist eine Krankheit, die Individuen und Zivilisationen zugrunde gehen lässt.

Das Judentum, das Christentum und der Islam sind keine politischen Religionen, aber sie sind Religionen, die zum politischen Engagement für eine friedvolle und gerechte Welt aufrufen. Im Prophetenwort heißt es:

„Von Abū Saīd – Gottes Wohlgefallen auf ihm –, der gesagt hat: Gottes Gesandter – Gottes Segen und Frieden auf ihm – hat gesagt: ‚Keiner von euch soll sich selbst erniedrigen.‘

Da sagten (die Leute): ‚O Gottes Gesandter, wie erniedrigt einer von uns sich selbst?‘

Er sagte: ‚Er sieht eine Sache Gottes, über die es etwas zu sagen gibt, und dann sagt er es nicht, dann spricht Gott der Mächtige und Erhabene zu ihm am Tag der Auferstehung: Was hat dich gehindert, dass du darüber etwas gesagt hättest? Dann antwortet er: Furcht vor den Menschen. Dann spricht Er: Ich bin es, der mehr Anrecht (darauf) hat, dass du Ihn fürchtest.‘“ (Ibn Māğa)20

Juden, Christen und Muslime dürfen sich mit den destruktiven Mächten und Gewalten in der Welt nicht arrangieren, sondern müssen Widerstand leisten, unbequem und unangenehm sein. King schreibt:

„Gewiß, die jenseitigen Dinge haben einen bedeutsamen Platz in allen Religionen, die diesen Namen verdienen. Jede Religion, die völlig erdgebunden ist, verkauft ihr Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht. Religion im besten Sinne des Wortes befasst sich nicht nur mit den Dingen, die den Menschen im Augenblick beschäftigen, sondern auch mit dem Letzten, dem er nicht entrinnen kann. (…) Wahre Religion muss sich aber auch um die sozialen Verhältnisse des Menschen kümmern. Sie hat es mit beiden, mit Himmel und Erde, mit Zeit und Ewigkeit, zu tun. Sie sucht nicht nur die Menschen mit Gott, sondern auch die Menschen untereinander zu vereinen. (…) Jede Religion, die erklärt, sie kümmert sich um die Seelen der Menschen, und kümmert sich nicht um die Slums, die die Menschen ruinieren; um die wirtschaftlichen Verhältnisse, die ihnen den Hals zuschnüren; und um die sozialen Verhältnisse, die sie lähmen, ist saft- und kraftlos. Eine solche Religion sehen die Marxisten gern – sie ist Opium für das Volk.“21

Wir leben nicht in der besten aller möglichen Welten, sondern in einer Welt, in der das Böse aufgrund unserer Entscheidungsfreiheit eine Handlungsmöglichkeit darstellt und Struktur annehmen kann. Weiter schuf Gott den Menschen mit der Fähigkeit zu erkennen, dass diese Welt von Ihm wegen unserer besonderen Beschaffenheit nicht vollkommen geschaffen wurde. Er machte uns zu Geschöpfen, die sich eine bessere Welt vorstellen können und nach dieser streben sollen. Genau in diesem Streben prüft Gott die Gläubigen. Es liegt an ihnen, mit ihrer Botschaft und ihren Werken diese bessere Welt zu realisieren.

DER WELLENEFFEKT DER NÄCHSTENLIEBE

Erklärungen gibt es viele, warum Menschen destruktiv agieren, aber wenige, warum sie rechtschaffend handeln. Nach dem Philosophen IBN SĪNĀ (gest. 1037) ist der Keim für jegliche konstruktive Weiterentwicklung, die zu einem Einklang des Menschen mit anderen Menschen sowie der Schöpfung als Ganzer führt, die Kraft der Liebe, die allem Geschaffenen innewohnt. Wohlgemerkt, Ibn Sīnā meint hier nicht die romantische Liebe, die nur eine Form der Liebe ist, sondern die spirituelle Liebe zum Schöpfer und Erhalter. Sie ist nach Ibn Sīnā die treibende, aufwärtsstrebende, lebensbejahende, evolutionäre Kraft im Universum. Das Lebensprinzip des Seienden, Selbsterhaltungstrieb der Schöpfung. Ohne Liebe zu einem Ideal kein Universum. Jedes Seiende strebt nach einem Ideal, das es verehrt und begehrt. Das höchste und unerreichbare Ideal allen Seienden ist Gott, zu dem alles im Universum hinstrebt.22

Im Zuge dieses Strebens wächst die Kraft der Liebe im Einzelnen und berührt die ihn umgebende Schöpfung und verbindet somit alles miteinander. Universelle Nächstenliebe (ubb al-ġair) ist die gebende Kraft des Gläubigen, die aus der Gottesliebe entspringt. Sie erfüllt die gesamte Schöpfung und verbindet die Menschen, sowie die Menschen mit der Tier- und Pflanzenwelt, weshalb ich sie auch als die vereinigende relationale Kraft bezeichne. Sie umfasst in ihrer Bedingungslosigkeit selbst den Feind, dessen böse Taten mit Gutem vergolten werden soll, statt Übel mit Übel:

„Jene, die ihr Versprechen gegenüber Gott halten und ihre Verpflichtungen nicht brechen, und die verbinden, was Gott zu verbinden geboten hat, und die ihren Herrn fürchten und Furcht vor einer schlimmen Abrechnung haben, und die im Verlangen nach dem Angesicht ihres Herrn standhaft bleiben und das Gebet verrichten und von dem, was Er ihnen beschert, im verborgenen und öffentlich spenden, und die das Böse mit Gutem abwehren – diese werden mit der Wohnung belohnt: Die Gärten von Eden, in die sie eintreten sollen wie auch die Rechtschaffenen von ihren Vorvätern, ihren Frauen und ihrer Nachkommenschaft. (…)“ (Sure 13:20-23)

Dies auch deshalb, da die islamische Weltanschauung lehrt, stets an das Gute im Menschen zu appellieren, das seinen Kern ausmacht. Niemand ist das personifizierte Böse, aber man kann zulassen, dass das Böse, das aus Furcht und Anhaftung entsteht, in einem wächst. Der verschüttete gute Kern eines Menschen geht jedoch niemals für immer verloren und kann wie in der Urgeschichte von den Söhnen Adams, als der erste Mörder Scham und Reue empfand, wieder zum Vorschein treten.

Ein Sufi-Philosoph merkte hierzu an, dass um Gott und in weiterer Konsequenz seine Mitmenschen zu lieben, man auch sich selber mögen müsse. Andernfalls kann man keine Liebe für andere empfinden. Darum müsse der Mensch zuallererst sich selbst gegenüber Liebe empfinden können, was bedeutet, sich im Ganzen annehmen und zärtlich mit sich umgehen zu können.

Für den Menschen bedeutet Nächstenliebe, dass er lernen muss zu lieben, statt bloß geliebt zu werden. Doch wie lernt man dies? In den nachstehenden Prophetenworten finden sich Wege hierzu:

„Von Abū Huraira: Ein Mann klagte dem Propheten seine (eigene) Hartherzigkeit. Er sagte: ‚Streiche dem Waisenkind (über) den Kopf und speise den Armen.‘“

(Miškāt Al-Maābī)23

„Überliefert von Abū Huraira – Gottes Wohlgefallen auf ihm – , der berichtete: Der Prophet – Gottes Segen und Frieden auf ihm – küsste seinen Enkel Al-asan ibn Alī – Gottes Wohlgefallen auf ihm und seinem Vater –, während Al-Aqra ibn ābis At-Tamīmī bei ihm war.

Al-Aqra sagte: ‚Ich habe zehn Kinder, von denen ich noch kein einziges geküsst habe‘, worauf Gottes Gesandter – Gottes Segen und Frieden auf ihm – ihn anblickte und sagte: ‚Wer gegenüber anderen nicht barmherzig ist, dem wird auch keine Barmherzigkeit zuteil.‘“ (Al-Buārī Nr. 5997, Muslim Nr. 2318, Riyā Al-āliīn Nr. 225)24

„Überliefert von Āischa – Gottes Wohlgefallen auf ihr – die berichtete: Als einmal Wüstenaraber zu Gottes Gesandtem – Gottes Segen und Frieden auf ihm – kamen, fragten sie: ‚Küsst ihr eure Kinder?‘, was dieser bejahte. Sie entgegneten: ‚Wir aber, bei Gott, küssen sie niemals!‘

Da erwiderte Gottes Gesandter – Gottes Segen und Frieden auf ihm –: 'Vermag ich euch zu helfen, wenn Gott die Barmherzigkeit von euren Herzen weggenommen hat?‘“ (Al-Buārī Nr. 5998, Muslim Nr. 2317, Riyā Al-āliīn Nr. 226)25

Kinder, so der Prophet, lehren einem Mitgefühl und bedingungslose Liebe. Ihren Kopf zu streicheln oder sie zu küssen, hilft, ein hartes Herz aufzubrechen.

Liebe ist eine Aktivität, sie ist in erster Linie ein Geben und nicht ein Empfangen. Gerade im Akt des Schenkens erlebe ich meine Stärke, meinen Reichtum, meine Macht.26 Wer geben kann, unterstreicht seine Unabhängigkeit von allen Geschöpfen, seine Überwindung seines narzisstischen Allmachtgefühls, des Wunsches, andere auszubeuten oder Dinge zu horten,27 seine einzige Abhängigkeit besteht zu Gott. Die Liebe nimmt dann den Ausdruck von Nächstenliebe, Verantwortungsgefühl, Achtung vor dem anderen und Erkenntnis an.28

Die Nächstenliebe ist in den prophetisch-semitischen Religionen, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, nichts Abstraktes, sondern stets eine konkrete Handlung, eine praktische Hilfe, aber auch eine Zurechtweisung. Sie manifestiert sich in der Welt nicht durch Reden, sondern durch die Tat! Die Nächstenliebe ist ein alltägliches konkretes Handlungsfeld für jeden Gläubigen. Wir Menschen suchen Gott. Wir finden Ihn, wenn wir die Not unserer Mitmenschen wahrnehmen. Im Prophetenwort heißt es:

„Es überliefert Abū Huraira – Gottes Wohlgefallen auf ihm –, dass Gottes Gesandter – Gottes Segen und Frieden auf ihm – gesagt hat: ‚Gott, der Mächtige und Erhabene wird am Tag der Auferstehung sagen: O Sohn Adams, Ich war krank, und du hast Mich nicht besucht.

Er [der Mensch] wird antworten: O Herr, wie kann ich Dich besuchen, wo Du der Herr der Welten bist!

Er wird sagen: Wusstest du nicht, dass einer Meiner Knechte krank war, und du hast ihn nicht besucht. Wusstest du nicht, dass, wenn du ihn besucht hättest, du Mich bei ihm gefunden hättest? O Sohn Adams, ich habe dich um Speise gebeten, doch du hast Mich nicht gespeist.

Er [der Mensch] wird sagen: O Herr, wie kann ich Dich speisen, wo Du doch der Herr der Welten bist!

Er wird sagen: Wusstest du nicht, dass einer Meiner Knechte dich um Speise bat, doch du hast ihn nicht gespeist? Und wusstest du nicht, dass wenn du ihn gespeist hättest, du diese Speise bei Mir gefunden hättest? O Sohn Adams, Ich habe dich um Trank gebeten, doch du hast Mich nicht getränkt.

Er wird sagen: O Herr, wie kann ich Dich tränken, wo Du doch der Herr der Welten bist!

Er wird sagen: ‚Einer Meiner Knechte hat dich um Trank gebeten, doch du hast ihn nicht getränkt. Wenn du ihn aber getränkt hättest, so würdest du [ihn] bei Mir finden.‘“ (Muslim Nr. 2569)

Jeder Gläubige hat jeden Tag die Möglichkeit, durch Nächstenliebe diese Welt zu verändern. Nächstenliebe ist transformativ, denn sie nimmt Anstoß an Ungerechtigkeiten, die dazu führen, dass Menschen am Wegesrand zurückgelassen werden, und verändert sie.29 Nächstenliebe ist politisch, denn in einer autoritären Gesellschaft ist sie eine subversive Handlung. Indem Gläubige als Gottesliebende die Hand desjenigen ergreifen, der am Boden liegt, dürfen sie hoffen, dass gleich einem Stein, der ins Wasser geworfen wird, ihre Handlungen einen Welleneffekt auslösen und andere ermutigt, ebenso zu handeln. Je größer die Handlungsmöglichkeiten der Gläubigen, desto größer der Welleneffekt. Auf diese Weise wirken Gläubige mit bei einem Kulturwechsel von einer Kultur der Gewalt hin zu einer Kultur des Friedens.

Nächstenliebe ist alles andere als einfach. Sie kann sich nicht damit begnügen, bloß die Strukturen und Mechanismen destruktiver Mächte und Gewalten zu verstehen. Die Zukunft wird geformt in der Schmiede menschlicher Aktivitäten und zwar von jenen, die willig sind, sich ganzheitlich in den Dienst dieser Aufgabe zustellen. Nächstenliebe erfordert vom Gläubigen eine Tugend: Widerstand. Widerstand gegen ein destruktives System und Konformität. Nächstenliebe erfordert eine weitere Tugend: Tapferkeit. Tapferkeit, sich in seinem Denken, Fühlen, Sprechen und Handeln zu unterscheiden, aus der Masse der Zuschauer, Schaulustigen und Mitläufer herauszubrechen und die Stimme zu erheben, wenn die Würde des Menschen angetastet wird. Und schließlich erfordert Nächstenliebe die Tugend der gelassenen Standhaftigkeit (abr). Beharrlich muss er bleiben in seinem Ansinnen nach Frieden statt Krieg, nach Loslassen statt Anhaftung, nach Mitgefühl, Nächstenliebe und Vergebung statt Gleichgültigkeit, Verachtung und Ausgrenzung, nach Verstehen wollen und Akzeptanz statt Vorurteil und Diskriminierung.

Nicht der bloße Glaube an Gott, sondern unsere Entscheidungen aus der Gottesliebe heraus zeigen, wer wir als individuelle Gläubige und Gemeinschaften sind. Sie machen deutlich, was es bedeutet, ein rechtschaffener Mensch in einer Welt zu sein, die es nicht ist.

RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN ALS AKTIVE AKTEURE IN DER WELT

Religionsgemeinschaften sind transnationale Gemeinschaften. Gerade in diesen ungewissen Zeiten des Umbruches sollten sie sich nicht länger als Konkurrenten und Rivalen um die meiste Anhängerschaft sehen, sondern als Kooperationspartner in den Handlungsfeldern:

Achtung der Menschenwürde,

Friedensarbeit,

Einhaltung der Gerechtigkeit und

Bewahrung der Schöpfung.

Sie sollten sich als Verbündete betrachten, die diese Welt zu einem besseren Ort transformieren, der Menschen entgegenkommt, achtsam und rechtschaffend zu leben, zu wachsen und zu hoffen, eine noch bessere Welt für ihre Kinder zu errichten.

Religionsgemeinschaften, die ihre Rolle als Akteure in der Welt ernst nehmen wollen, müssen frei von jeglichem Tunnelblick sein und um ihre Abgründe wissen. Wir Menschen nehmen die Zeit aufgrund unserer begrenzten Wahrnehmung als fließend und linear wahr. Unsere simplifizierende Phänomenologie lässt uns die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einteilen. Unser Umgang mit diesen Zeiteinheiten bestimmt über unseren Erfolg oder Misserfolg als Individuen und Gemeinschaften in der Welt.

Wertfrei gesprochen stellt die Vergangenheit ein Sammelsurium an Erinnerungen dar, die Gegenwart ist der Entscheidungsmoment und die Zukunft repräsentiert die zu erwartenden Konsequenzen unserer Handlungen.

Eine nachteilige Orientierung an diesen Zeiteinheiten würde folgendermaßen aussehen:

Vergangenheit

Die Vergangenheit verstanden als eine Glorifizierung eines früheren Zeitpunktes („Goldenes Zeitalter“) stellt eine Verklärung dar. Sie belastet die Gegenwart, da die Gläubigen sich ständig fragen: „Wann wird es wieder so sein“, wie es eigentlich niemals war. Diese nostalgische Vergangenheitsgläubigkeit ist Ausdruck von Kreativlosigkeit, geistiger Impotenz und Erstarrung hinsichtlich der Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft, da sie die Potenziale des Menschen nicht vorwärts, sondern rückwärts richtet.

Gegenwart

Die herrschenden Mächte und Gewalten werden als derart machtvoll und einflussreich eingestuft, dass eine Veränderung der Welt unmöglich erscheint („Fatalismus“). Eine bessere Welt wird als unrealistisch abgetan.

Zukunft

Die Gläubigen warten entweder auf einen „Erretter“ und „Erlöser“, der die Gerechtigkeit in der Welt wieder herstellt, oder auf ein besseres Leben in der jenseitigen Sphäre („Weltverneinend“).

Eine vorteilhafte Orientierung an diesen Zeiteinheiten würde sich wie folgt gestalten:

Vergangenheit

Die Tradition einer Religionsgemeinschaft in Theologie, Recht, Mystik und Philosophie ist ein Wissensschatz an Erfahrungen von Fehlern und daraus gezogener Lehren, die die Gläubigen einer Gemeinschaft von heute mit den Gläubigen vergangener Zeitalter verbindet. Durch die Tradition bleibt die Gemeinschaft gewahrt: Ihre Mitglieder sind durch eine gemeinsame Vergangenheit in der Gegenwart für die Zukunft miteinander verbunden.

Gegenwart

Da alle Macht Gott gebührt (lā aula wa lā qūwatta illā bi l-lāh, Keine Macht noch Stärke gibt es, außer bei Gott) kann die Welt durch unser Handeln stets verändert werden und sei es nur vom Gewicht eines Senfkorns.

Die vorangegangenen Generationen haben einige Ziele erreicht, sind an anderen Herausforderungen gescheitert, und konnten andere Dinge wiederum nicht vollenden. Ihre Fehler müssen behoben und das Unvollendete vollendet werden, sowie neue Ziele angestrebt werden. Hinsichtlich Letzteren sollten Gläubige sich praktische und erreichbare Ziele setzen, die zu einer graduellen Veränderung führen. Rückschritte und Fehler werden dabei nicht ausbleiben. Veränderung ist ein dynamischer Prozess. Fehler gehören zum Leben einfach dazu.

Zukunft

Der Glaube an Gott ist verknüpft mit der Hoffnung. Da die Zukunft von Gott durch etliche Handlungsmöglichkeiten offen geschaffen wurde, kann sie durch unser Handeln ein besserer Ort sein als die jetzige Welt. Hoffnung ist der Anfang aller Dinge.

Da aber zwangsläufig niemals alle in einer Gemeinschaft sich als Fackelträger für soziale Veränderungen sehen werden, bedeutet dies nicht, dass man nun auf seine Gemeinschaft wartet. Um Gutes in der Welt zu tun, braucht es kein Mandat. Es braucht den Zusammenschluss engagierter Einzelner aus den Religionsgemeinschaften, die sich dieser Aufgabe verpflichtet fühlen, weil sie der Glaube an den einen und einzigen Gott sowie das Handeln zum Wohle des Menschen verbindet. Der Mystiker RŪMĪ (gest. 1273) dichtet:

„Die Fliege ‚Geist‘ fiel in das Faß

der Sauermilch der Ewigkeit –

Kein Muslim war mehr und kein Christ,

kein Jude und kein Parse mehr.

Sieh, Sprechen ist der Flügelschlag,

den diese Fliege immer übt.

Doch fällt sie in die Sauermilch,

bleibt ihr kein Flügelschlagen mehr.“30

Aber nicht nur vor der Passivität müssen Gläubige sich hüten, sondern ebenso vor einer destruktiven Spiritualität. Die Hoffnung auf schnelle Resultate, das Erblicken des Reich Gottes mit den eigenen Augen, hat immer wieder aus Gläubigen Revoluzzer gemacht, die meinten, dass Gewalt ein Weg sei, die destruktiven Mächte und Gewalten zu beseitigen, um Veränderungen den Weg zu bereiten. Doch damit wurden sie bloß Teil der Kultur der Gewalt. Immer wieder warnte der Gesandte Gottes vor der Hast:

„Es berichtet Abd Al-Muhaimīn bin Abbās bin Sahl bin Sad As-Sāidī von seinem Vater, der erzählte, dass der Gesandte Gottes – Gottes Segen und Frieden auf ihm – sagte: ‚Die Besonnenheit ist von Gott und Eile ist vom Satan.‘“ (At-Tirmiḏī Nr. 2012)

Das Judentum, Christentum und der Islam kennen die Gestalt des Armilus, Antichristen und dağğāl, einer innergemeinschaftlichen Größe, welche sich gegen die prophetische Botschaft wendet. Nicht ohne Grund beschrieb der Gesandte Gottes den dağğāl als einäugig.31 Wie kann man dies nicht als eine Allegorie für die Ambivalenz einer Religionsgemeinschaft verstehen, die nie ihrem Gewaltpotenzial nachgeben darf.

Und schließlich müssen engagierte Gläubige im gesunden Zweifel geübt sein, um kritisch zu bleiben. Keiner Religion, keiner Autorität darf blind gefolgt werden. Der Bürgerrechtler MALCOLM X (gest. 1965) sagte einmal: „Sieh für dich selbst, hör für dich selbst, denk für dich selbst.“32

Als gläubige Individuen und Gemeinschaften müssen wir unseren vier Handlungsfeldern gerecht werden:

Achtung der Menschenwürde,

Friedensarbeit,

Einhaltung der Gerechtigkeit und

Bewahrung der Schöpfung.

Wir dürfen nicht für Gewalt stehen, sondern für Frieden. Wir dürfen nicht Hass predigen, sondern Vergebung. Wir dürfen keine Agenten des Chaos sein, sondern der Ordnung. Wir dürfen nicht ignorant sein, sondern aufgeklärt. Wir dürfen nicht blind handeln, sondern reflektiert. Wir dürfen unseren Glauben nicht zu einem Götzen ideologisieren, sondern sollten einen realistischen Idealismus vertreten, der die machbare Zukunft des Menschen im Blick hat.

Diese Erde ist dem Menschen von Gott anvertraut worden. Sie ist ein unverletzlicher Raum, in dem die Gläubigen anhand der Schöpfung über Gott nachdenken.

Dieser Ort muss bewahrt werden und als Botschafter der Propheten sollten wir mit gutem Beispiel im Sinne einer Kultur der Zärtlichkeit und Sanftheit vorangehen. Das Judentum hat hierzu den Weg gewiesen:

„Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.“ (5. Mose 10,19)

RABBI AKIBA sagt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst ist der oberste Grundsatz der Tora. Du darfst nicht sagen, weil ich (von einem Mitmenschen) beschämt wurde, möge er beschämt werden, weil ich herabgesetzt wurde, möge er herabgesetzt werden.“33 Rabbi LEO BAECK schrieb: „Je mehr wir wahre Menschen sein wollen, desto näher sind wir ihm, desto näher ist er uns. Gott suchen, das ist: nach Gutem streben; Gott finden, dass ist: Gutes tun. Übe, was Gott dir gebietet, dann weißt du, wer er ist. Das ist das Begreifen Gottes, wie die Propheten es erfahren und lehren, der Weg, welcher zu Gott führt.“34

Diese Gedanken finden wir im Christentum wieder:

„Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“ (Matthäus 7,12)

„Jesus aber sprach zu ihm: ‚Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzen Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte‘. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘. In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ (Matthäus 22,37-40)

Diese Weisheiten wurden im Islam, der dritten abrahamischen Religion, fortgeführt:

„Dies ist es, was Gott Seinen Dienern verheißt, die glauben und das Rechte tun. Sprich: ‚Ich verlange keinen Lohn von euch. Aber liebt dafür (euere) Nächsten.‘“ (…) (Sure 42:23)

„(…) Tut nicht Unrecht, auf dass ihr nicht Unrecht erleidet.“ (Sure 2:279)

Bei Muhammad Iqbal heißt es philosophisch ausgedrückt:

„[E]s gibt nur solche [Handlungen], die das Ego [d. h. das Selbst] erhalten oder es auflösen. (…) Das Prinzip der Ego-erhaltenden Tat ist der Respekt vor dem Ego in mir als auch in anderen.“35

Und weiter:

„[D]er Mensch kann auf dieser Erde nur seine Stellung halten, indem er die Menschheit ehrt, und die Welt wird ein Schlachtfeld reißender Tiere bleiben, solange nicht und bis nicht die erzieherischen Kräfte der ganzen Welt darauf gerichtet sind, dem Menschen Respekt vor dem Menschen einzuimpfen. (…) Nur eine Einheit ist zuverlässig, und diese Einheit ist die Bruderschaft der Menschen (…).“36