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Das dritte Jahrbuch des Ökumenischen Instituts für Friedenstheologie, OekIF, nimmt Beiträge des friedenstheologischen Sommerseminars 2022 unter dem Titel "Schöpfung - Gewaltfreiheit - Widerstand" auf. Aus aktuellem Anlass folgen zwei Kommentare zum neuen Friedenswort der Deutschen Bischofskonferenz. Daneben stehen Berichte über Projekte sowie Rezensionen. Eine neue Rubik mit dem Titel "Zur Debatte" lädt dazu ein, mit kontroversen Artikeln Diskussionen zur Position eines christlich begründeten Pazifismus zu eröffnen. Weitere Beiträge gedenken des 20. Jahrestages des Todes von Dorothee Sölle. Erneut wird die gesamte Breite der am Ökumenischen Institut für Friedenstheologie vertretenen Forschung sichtbar.
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Seitenzahl: 408
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Herausgegeben von
Matthias-W. Engelke – Stefan Federbusch OFM
Gudula Frieling – Wolfgang Krauß – Gottfried Orth
Stefan Silber
Editorial
Matthias-W. Engelke, Stefan Federbusch OFM, Gudula Frieling, Wolfgang Krauß, Gottfried Orth und Stefan Silber
Schöpfung – Gewaltfreiheit – Widerstand
JÖRG ALT
Einlassung zu den gegen mich gerichteten Vorwürfen
BENJAMIN ISAAK-KRAUß
Widerständige Schöpfungstheologie Impulse aus dem Werk Ched Myers
JANNIK SCHÄFER
Christians For Future. Klimaaktivismus aus christlicher Perspektive
GEORG STEINS
Welt-Ordnung. Eine politisch-ethische Lektüre der Schöpfungserzählung am Anfang der Bibel
STEFAN VOGES
Wie wissen wir die Schöpfung? Eine wenig beachtete Herausforderung der Gewaltfreiheit
STEFAN FEDERBUSCH
Laudato si‘ – Leben mit der Schöpfung Franziskanische Perspektiven
STEFAN FEDERBUSCH
Krieg gegen die Tiere Friedensaspekte einer Theologischen Zoologie
STEFAN SILBER
Die verletzliche Welt Eine Schöpfungstheologie der Gewaltfreiheit
JOHANNES WEISSINGER
Das Argument Schöpfung in den Kommentaren von Samson Raphael Hirsch und Mendel Hirsch
Beiträge im Andenken an Dorothee Sölle
KAREN HINRICHS
Selig sind, die Frieden machen! Predigt beim Politischen Nachtgebet in St. Katharinen, Hamburg am 28. April 2023
GOTTTFRIED ORTH
„ganz sein – nicht zerstückelt leben“ oder: Dorothee Sölles Plädoyer für das Glück
Beiträge zur Friedenstheologie
DETLEF BALD
Dietrich Bonhoeffer Von der Kriegsbegeisterung zum Pazifismus
MATTHIAS-W. ENGELKE
Gewaltfreiheit in der Ilias? – Eine Studie
GUDULA FRIELING
„Steck das Schwert an seinen Ort!“ (Mt 26,52). Jesus von Nazareth – ein gewaltfreier Friedenskönig? Nachdenken über Jesu Leben und Passion
URSULA SILBER
Die Frauenfriedenskirche in Frankfurt / Main. Ein Gedenk- und Friedens-Ort
Kommentare zum neuen Friedenswort der Deutschen Bischofskonferenz
THOMAS NAUERTH
„Diese Welt braucht keine (…) Religion, die zu allem Ja und Amen sagt.“ Anmerkungen zum neuen Friedenswort der Deutschen Bischöfe
EGON SPIEGEL
An der Bergpredigt und der Expertise der kritischen Friedensforschung vorbei
Zur Debatte
MUHAMMAD SAMEER MURTAZA
Die Grenzen der Gewaltlosigkeit
Projekte
PETER BÜRGER
Tolstoi-Projekt.
David L. Lodge:
Krieg ist mit der Religion Jesu Christi unvereinbar. Hinweis auf die erste Ausgabe in deutscher Sprache
ANNETTE UND THOMAS NAUERTH
Von der Kohle zur Bombe: Kreuzweg 2023
THOMAS NAUERTH
Schöpfung und Widerstand
ANJA VOLLENDORF
Gewaltfreiheit nach John Dear – 10 Thesen im Gespräch
Rezensionen
GOTTFRIED ORTH
Wolfgang Benz (Hrsg.), Erinnerungsverbot? Die Ausstellung „Al Nakba“ im Visier der Gegenaufklärung
GOTTFRIED ORTH
M.-T. Fachon / M. A. Schneider O.Cist. / W. J. Stueber (Hrsg.): Suche den Frieden und jage ihm nach. Anneliese Debray – Ein Leben für den Frieden
GOTTFRIED ORTH
Konstantin Sacher: Dorothee Sölle auf der Spur. Annäherung an eine Ikone des Protestantismus.
STEFAN SILBER
Stefan Seidel: Entfeindet euch! Auswege aus Spaltung und Gewalt
Statt eines Nachwortes
STEFAN SILBER
Wo ist dein Bruder? Wo ist deine Schwester?
Friedenspredigt in Sankt Familia, Kassel, 5. März 2023
Autorinnen und Autoren
Matthias-W. Engelke, Stefan Federbusch OFM, Gudula Frieling, Wolfgang Krauß, Gottfried Orth und Stefan Silber
Der Titel des dritten Jahrbuches des Ökumenischen Instituts für Friedenstheologie, OekIF, entstammt der friedenstheologischen Sommerakademie 2023, die vom 30. Juni bis 2. Juli 2023 unter dem Thema „Schöpfung, Gewaltfreiheit und der nötige Widerstand“ wiederum in Köln als Kooperationsveranstaltung des OekIF mit der Melanchthon-Akademie und dem Katholischen Bildungswerk stattgefunden hat. Beiträge dieser Tagung gehören zum Schwerpunktthema dieses Jahrbuches, erfreulicherweise ergänzt durch weitere Texte.
Zu den bisherigen Rubriken – Beiträge zum Thema „Schöpfung – Gewaltfreiheit – Widerstand“ und zur Friedenstheologie, an die wir dieses Mal aus aktuellem Anlass zwei „Kommentare zum neuen Friedenswort der Deutschen Bischofskonferenz“ angefügt haben, Projekte und Rezensionen – haben wir eine neue Rubrik eröffnet mit dem Titel „Zur Debatte“. Hier laden wir dazu ein, mit kontroversen Artikeln zur Position eines christlich begründeten Pazifismus Diskussionen im Raum unseres Institutes zu eröffnen. Wir als Herausgeber:innen des Jahrbuches freuen uns über diese Neuerung. Aus Anlass des 20. Jahrestages des Todes von DOROTHEE SÖLLE haben wir ausnahmsweise eine eigene Rubrik zu deren Gedenken aufgenommen.
SCHÖPFUNG – GEWALTFREIHEIT – WIDERSTAND
Als erstes dokumentieren wir die gerichtliche Einlassung von JÖRG ALT zu seinem zivilen Widerstand, „um auf die Klimakatastrophe und das unzulängliche, gar absichtlich rechtsbrüchige Handeln politischer Verantwortungsträger aufmerksam zu machen“. Alt macht damit gleich zu Beginn der Texte auf den Zusammenhang von Hören und Tun, ja von Tun und Hören (Ex 24, 7) aufmerksam.
BENJAMIN ISAAK-KRAUß skizziert die Biographie und die Theologie des „mennonitisch-ökumenischen“ Theologen CHED MYERS aus Kalifornien und entfaltet dessen zum Widerstand auffordernde Schöpfungstheologie. Der Beitrag schließt mit herausfordernden Fragen, nicht zuletzt auch an friedenstheologische Überlegungen: Wo bleibt eine Friedenskirche, die die Werkzeuge der Zerstörung zerbricht und die Gefangenen herausführt?
Im darauf folgenden Beitrag geht es gleichfalls ums Hören und Tun, wenn JANNIK SCHÄFER die Protestbewegung „Christians for Future“ vorstellt und den Schwerpunkt auf Klimagerechtigkeit legt.
Innerhalb solcher Praxiskontexte findet der Grundsatzartikel von GEORG STEINS zu einer politisch-ethischen Lektüre der Schöpfungserzählung seinen Platz. Die aktuelle Relevanz einer solchen Auslegung der Schöpfungsgeschichte und ihres utopischen Charakters ermöglicht die Wahrnehmung ihrer Bedeutung für die gegenwärtigen Debatten um Ökologie, Anthropologie und die Frage des Friedens.
STEFAN VOGES Beitrag handelt sodann von der Frage nach epistemischer Gewalt, einem Begriff aus der dekolonialen Kritik. Ausgangspunkt sind die wesentlichen epistemischen Akzente der Enzyklika Laudato si‘ von Papst FRANZISKUS, um von da aus die Frage danach zu stellen, ob und inwieweit durch das als zentral erachtete Wissen epistemische Gewalt ausgeübt wird.
STEFAN FEDERBUSCH spannt in seinem ersten Beitrag „Laudato si – Franziskanische Perspektiven“ einen weiten Bogen von Franz von Assisi bis zur „Großen Transformation“ und zeigt die Fruchtbarkeit einer solchen In-Beziehung-Setzung. Im zweiten Beitrag argumentiert er gegen den „Krieg gegen die Tiere“ und entfaltet Friedensaspekte einer theologischen Zoologie.
STEFAN SILBER legt in seinem Text „Die verletzliche Welt“ dar, dass Gewalt sich nicht nur gegen Gottes Schöpfung wendet, sondern gegen Gott selbst. So verknüpft er Schöpfungs- und Kreuzestheologie im Interesse der Gewaltfreiheit miteinander.
Mit seinem Text „Das Argument Schöpfung in den Kommentaren von Samson Raphael Hirsch und Mendel Hirsch“ knüpft JOHANNES WEISSINGER an seinen Beitrag im ersten Jahrbuch „Schlag nach beim Rabbi!“ an, fragt nach den Herausforderungen der beiden Kommentare für christliche Leser:innen und spannt dabei einen Bogen von den Kommentaren von Vater und Sohn Hirsch bis hin zu Emanuel Levinas.
BEITRÄGE IM ANDENKEN AN DOROTHEE SÖLLE
Ein wissenschaftlicher Beitrag und eine Predigt erinnern an Dorothee Sölles 20. Todestag im Jahr 2023. Die feministische und pazifistische Theologin hat in mindestens drei Sprachformen Theologie getrieben: argumentativ-reflektierend, narrativ-poetisch und religiös-konfessorisch. Sie alle kommen in den Texten von GOTTFRIED ORTH und KARIN HINRICHS zu Wort.
BEITRÄGE ZUR FRIEDENSTHEOLOGIE
DETLEV BALD skizziert Bonhoeffers Weg von der Kriegsbegeisterung hin zu einem konsequenten theologisch begründeten Pazifismus und wehrt so implizit den Vereinnahmungsversuchen Bonhoeffers durch die christliche und politische Rechte.
MATTHIAS-W. ENGELKEs Beitrag zur Ilias Homers sprengt auf den ersten und bereichert auf den zweiten Blick den Rahmen friedenstheologischer Beiträge, wenn er der Frage nachgeht, ob in der „Ilias“ – einem der Grundlagentexte Europas – Gewaltfreiheit begegnet. Er berichtet in seiner Analyse des Textes von überraschenden Erkenntnissen zwischen Göttern und Menschen.
GUDULA FRIELING denkt über den gewaltfreien Friedenskönig Jesus von Nazareth in gesamtbiblischer Perspektive nach. Der biblisch-theologische Beitrag zielt auf die kritische Selbstreflexion von Christ:innen und den Kirchen als erstem Schritt christlicher Praxis, ob diese auf der Seite gewalttätiger Mächte oder in der Nachfolge Jesu stehen.
URSULA SILBER zeichnet ausgehend von der Frauenfriedenskirche in Frankfurt ein Stück Geschichte des Katholischen Deutschen Frauenbundes nach, um dann Geschichte und Bauwerk der Frauenfriedenskirche, die als ein „Anders-Ort“ (MICHEL FOUCAULT) verstanden werden kann, vorzustellen – und das alles mit vielen eindrücklichen Bildern.
KOMMENTARE ZUM NEUEN FRIEDENSWORT DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ
EGON SPIEGEL und THOMAS NAUERTH kritisieren von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus, wie das Friedenswort an der Bergpredigt und der Expertise der Friedensforschung vorbeiredet und sich nahezu selbst überflüssig macht, denn „eine Religion, die zu allem Ja und Amen sagt, braucht diese Welt nicht“.
ZUR DEBATTE
Die neue Rubrik eröffnet MUHAMMED SAMEER MURTAZZA mit seinem Beitrag „Grenzen der Gewaltlosigkeit“, in dem er das muslimische Gebot der Gewaltlosigkeit ebenso betont wie die Erlaubnis zur Selbstverteidigung als „letztes Mittel“, das für Muslime ein „Menschenrecht“ ist und auch Gewalt einschließen kann.
PROJEKTE – REZENSIONEN – STATT EINES NACHWORTES
Von Worten und Zeichen berichten ANNETTE und THOMAS NAUERTH, die auf dem „Kreuzweg für die Schöpfung“ 2021 von Gorleben nach Lützerath und 2023 von Lützerath nach Büchel wichtig wurden, als der Widerstand gegen die Kohle mit dem Widerstand gegen die Atombombe verbunden wurde. Dem angefügt hat Thomas Nauerth 10 Thesen zu „Schöpfung und Widerstand“, die auf die Verwandlung der Mächte zielen.
ANJA VOLLENDORF berichtet von einem durch das OekIF organisierten Online-Gespräch mit JOHN DEAR und fasst seinen Beitrag in zehn Thesen zusammen.
Rezensionen sowie eine Predigt anstelle eines Nachwortes runden das Jahrbuch ab. Aus dem Kreis der Herausgeber:innen ist MICHAEL SCHOBER ausgeschieden. Wir bedanken uns herzlich für seine tatkräftige Mitarbeit an den ersten beiden Jahrbüchern. Wie in den Jahren zuvor freuen wir uns auf engagierte Leserinnen und Leser und wünschen Gottes Segen auf dem Weg des Friedens und der Gewaltfreiheit.
Manheim – nur die Kirche steht noch. Kreuzweg für die Schöpfung: Von Lützerath nach Büchel – Foto: Thomas Nauerth
Braunkohlebergbau am ehemaligen Lützerath – Foto: Matthias-W. Engelke
Benjamin Isaak Krauß
Eine innovative und radikale Theologie der ökologischen Krise stammt von dem „mennonitisch-ökumenischen“ Theologen CHED MYERS. Von seinem bescheidenen Haus im kalifornischen Ventura River Watershed prägen er und eine kleine Gruppe Kompliz:innen als Bartimaeus Cooperative Ministries den nordamerikanischen theologischen Diskurs durch Seminare, Predigten und Bibelarbeiten. Ohne akademischen Lehrstuhl oder kircheninstitutionelle Verankerung veröffentlichen sie sowohl in populären Magazinen als auch in renommierten Fachjournalen.21
Getreu seinem Motto „biography as theology“ möchte ich Ched Myers zunächst kurz historisch verorten. In einem zweiten Schritt stelle ich Myers‘ hermeneutischen Zugang vor. Darauf folgt eine kurze Vorstellung einiger für die Frage einer widerständigen Schöpfungstheologie relevanten Texte und eine abschließende Provokation über die Notwendigkeit militant-gewaltfreier Praxis in einer brennenden Welt.
BIOGRAPHY AS THEOLOGY22
Nach seiner für ihn selbst unerwarteten Bekehrung im Kontext tiefer Desillusionierung mit dem „amerikanischen Traum“ gegen Ende des Vietnamkriegs folgte die zweite Desillusionierung angesichts der zutiefst unpolitischen bis rechtsnationalen Haltung vieler evangelikaler Kirchen Kaliforniens. Gott sei Dank begegnete er dem legendären Ex-Jesuiten PHIL BERRIGAN. Der war Jahre zuvor der meistgesuchte Mann der USA. Mit anderen radikalen Priestern hatte er massenhaft Karteien von Wehrpflichtigen aus Behörden entwendet und mit selbstgemachtem Napalm verbrannt. Eine liturgisch-politische Aktion, die der Kriegsmaschine konkret in die Speichen fiel und zugleich andere ermutigte, sich Wehrpflicht und Vietnamkrieg aktiv zu widersetzen.
Berrigan und dessen Partnerin LIZ MCALISTER wurden Myers‘ Mentoren. Berrigan begann Myers‘ Initiation in die Tradition radikaler Nachfolge mit dem so lapidaren, wie geheimnisvollen Satz: „Hope is where your ass is“ – ohne radikale Praxis ist Glaube wertlos. Gleichzeitig nährt sich die Praxis von der steten Auseinandersetzung mit und Aneignung der biblischen Tradition. So lernte Myers in der Vorstellungswelt der Bibel verwurzelte Theologie als Widerstandskraft kennen.
Einige Jahre später stieß Myers zu einer Basisgemeinde in Kalifornien. Er wurde ausgewählt, im Auftrag der Gemeinschaft am Graduate Theological Union Seminary in Berkeley Theologie zu studieren und das Wissen der gesamten Bewegung zugute kommen zu lassen. Dort prägte ihn die postliberale Theologie des radikalen Baptisten JAMES MCCLENDON: Kirche als narrative Gemeinschaft, die die Bibel als ihre eigene Geschichte annimmt, sich von ihr formen lässt und die Welt im Licht der Bibel versteht.23 Vom 2022 verstorbenen Alttestamentler NORMAN GOTTWALD übernahm Myers die exegetische Methode, sozialhistorische und literaturwissenschaftliche Ansätze miteinander zu verbinden.24
Aus diesen Studien und unzähligen Workshops für christlichaktivistische Basisgruppen entstand Myers Kommentar zum Markusevangelium „Binding the Strong Man – A Political Reading of Mark“ und das Begleitbuch „Who will Roll Away the Stone – Discipleship Queries for 1st World Christians.“25 Die Doppelstruktur zeigt bereits den engen Bezug von Theorie und Praxis in Myers Denken. In späteren Arbeiten entwickelt er die Themen dieser Bücher anhand exegetischer Tiefenbohrungen zu anderen Texten weiter. Hier wird bereits seine Berufung als theologischer „Pädagoge der Befreiung“ in der Tradition PAOLO FREIREs erkennbar – alle Texte sind Produkte zahlloser Präsentationen und Überarbeitungen.
Seit mehr als 40 Jahren begleitet Myers durch seine theologischen Arbeiten nun soziale Bewegungen zu Abrüstung und Gewaltfreier Konflikttransformation26, Migration und Bewegungsfreiheit,27 Schuldenerlass und solidarischer Wirtschaft28, Ökologie29 und Dekolonisierung30 und ihre radikalen christlichen Nischen. Insbesondere die Catholic Worker (Phil Berrigan und Liz McAlister), die US-Kirchenasyl-Bewegung (JIM CORBETT) und die Veteranen der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung (VINCENT HARDING und RUBY SALES) waren seine Mentor:innen und Gesprächspartner:innen für die theologische Grundierung einer „Befreiungstheologie für Christ:innen in der ersten Welt.“ Inspiration bietet dabei der blinde Bartimäus, der Jesus anfleht, sehen zu können, und ihm auf dem Weg zum Kreuz nachfolgt.
Bartimaeus Cooperative Ministries finanziert sich durch ein Modell der „Community Supported Ministry,“ in dem Unterstützer:innen spenden und zuerst die Früchte der theologischer Arbeit genießen dürfen, die schließlich aber weiteren Kreisen zugutekommt.31 Diese eigensinnige Art hat Methode, denn Myers kritisiert gerade die gegenseitige Entfremdung von akademischer Theologie (seminary), kirchlicher Praxis (sanctuary) und Protestbewegungen (streets). Es ist dieser „garstige Graben“, der Myers zufolge das zentrale hermeneutische Problem darstellt für das Verständnis biblischer Texte als Widerstandsliteratur.
Folglich lässt sich das theologische Lebenswerk Ched Myers‘ in zwei Aufgabenstellungen zusammenfassen:
theologische Reflexion auf Widerstandsbewegungen gegen Ausbeutung von Mensch und Schöpfung besonders in Nordamerika, aber von Beginn an auch global.
32
Vernetzung der Christenmenschen in solchen Bewegungen und sie vertraut machen mit der Tradition „radikaler Nachfolge“, deren Erben sie sind.
33
Zu diesem Zweck organisiert Bartimaeus Cooperative Ministries physische Treffen und online Kurse. Besonders wichtig ist ihnen der Aufbau einer intergenerationellen, interkulturellen ökumenischen Gemeinschaft von Menschen am linken unteren Rand der verfassten Kirchen mit Offenheit für interreligiöse Begegnung und Dialog mit Atheisten.
BIBLISCHE TEXTE ALS IDEOLOGISCHE INTERVENTIONEN IM „KRIEG DER MYTHEN“
Myers liest biblische Texte nicht als freischwebende Weltdeutungen, sondern als ideologische Interventionen in einem „Krieg der Mythen“, einem Ringen um Deutungshoheit über die Wirklichkeit, meist im Angesicht eines scheinbar allmächtigen Gegners. In seinem Markuskommentar „Binding the Strong Man“ schreibt Myers unter Bezug auf AMOS WILDER:
„Sozialer und politischer Konflikt zwischen Gruppen wird artikuliert in dem, was ich „Krieg der Mythen“ nenne. […] Was normalerweise als ‚Theologie‘ der Autoren des Neuen Testaments beschrieben wird, ist nach Wilder die Art und Weise, wie diese das herrschende Symbolsystem sowohl des Imperium Romanum als auch des palästinensischen Judentums angriffen. ‚Liturgie gegen Liturgie […] wobei Liturgie hier einen ganzen Lebensstil, Handeln, Ethik und auch die Rezitation derselben beinhaltet.‘“34
In diesem Verständnis sind biblische Texte kritische Interventionen, die einen anderen Blick auf die Verhältnisse werfen. Da es mir insbesondere um das Potential von Theologie für eine kritisch-emanzipatorisches Verständnis der Klimakatastrophe geht, zeige ich dies kurz am Beispiel der Schöpfungserzählungen auf.35
Ursprungserzählungen und Namensgebung dienen grundsätzlich der Legitimation oder Kritik historisch-gewachsener Herrschaftsverhältnisse durch das Postulat eines „natürlichen“ Zustands.36 Daher ist eine Analyse des sozial-historischen Kontexts, sowie der verschiedenen vorherrschenden Ideologien damals und heute notwendige Bedingung für eine Hermeneutik des Widerstands.
In ihrem historischen Kontext sind die Schöpfungserzählungen von Genesis 1-2 widerständige Texte. Unter dem Eindruck militärischer Niederlage und kultureller Unterlegenheit entwerfen sie im babylonischen Exil ein alternatives Weltbild, das die Herrschaftsideologie an entscheidenden Punkten infrage stellt:
Menschenbild
: Alle Menschen jeden Geschlechts sind im Bilde Gottes geschaffen (Demokratisierung der Königswürde). Sie sind als Erdlinge (
adam
) von der Muttererde (
adamah
) genommen und werden zu ihr zurückkehren. Eingebunden in die Schöpfungsgemeinschaft ist ihr Auftrag nicht ausschließlich herrschen, sondern auch bewahren und dem Erdboden dienen.
Weltbild
: Die Welt ist Geschöpf, nicht Gottheit. Wesenhaft gewaltfrei geschaffen, stellt sie das Nötige im Überfluss für alle zur Verfügung.
Gottesbild
: Gott ist selbst Beziehung und steht mit den Geschöpfen in Beziehung, formt sie liebevoll und haucht ihnen Lebensatem ein.
Die desaströse Wirkungsgeschichte von Genesis 1-2, insbesondere des „Macht-euch-die-Erde-untertan“, sollte nicht von dieser ursprünglichen und immer noch subversiven Bedeutung ablenken, obgleich die Wirkungsgeschichte ein gewaltiges Hindernis für die Fruchtbarmachung solcher Texte gegen die imperiale Lebensweise darstellt.
Auch die ältere biblische Bildsprache des Chaoskampfs, ähnelt zwar dem offiziellen babylonischen Schöpfungsmythos, wird aber immer wieder unterlaufen. So werden etwa die Chaosmächte in der Schöpfung gegenüber JHWH als Schöpfer depotenziert (Leviathan ist Haustier Gottes) und die imperialen Großreiche werden mit den Chaosmächten identifiziert. Gerade die apokalyptischen Stränge der Bibel subvertieren hier das übliche Bild der Zivilisation, die das Chaos zurückhält. Die imperiale Zivilisation ist das chaotische Monster, während die Macht Gottes sich in der Wildnis finden lässt.
Beide Schöpfungstraditionen, gewaltfreie Schöpfung durch JHWH-Wort und Chaoskampf, sind Interventionen im „Krieg der Mythen“. Sie sollen die Vorstellungskraft der Menschen anregen und eine alternative Welterzählung ermöglichen, in der genug für alle (Gerechtigkeit), Heilung der Wunden (Frieden) und Ganzheit der Schöpfung nicht nur hehre Ideale, sondern konkrete Möglichkeiten sind, auch und gerade im Angesicht der Katastrophe.
Doch was können uns solche Texte heute überhaupt noch sagen? Leben wir nicht in einem völlig anderen Zeitalter: technologisch, kulturell und nicht zuletzt ökologisch mit dem Anthropozän?
KONTINUITÄT IMPERIALER AUSBEUTUNG UND EXODUS-TRADITION
Viele Theolog:innen betonen, der menschengemachte Klimawandel sei ein Problem der Moderne, weshalb sich aus den biblischen Texten bestenfalls allgemeine Prinzipien eines nachhaltigen Mensch-Welt-Verhältnisses ableiten ließen. Schlechtestenfalls seien biblische Texte, insbesondere die Schöpfungsmythen schlicht nutzlos für die theologische Aufgabe, da sie von falschen Prämissen (etwa einer „leeren“ Welt) ausgingen, die heute nicht mehr gegeben seien, was mindestens eine neue Ethik, wenn nicht gar eine neue Theologie erfordere.
Diese Neuauflage des hermeneutischen Grabens zwischen damals und heute, die die Bibelwissenschaft seit ihren Anfängen in der Aufklärung prägt, sägt jedoch an dem Ast, auf dem sie sitzt. Denn warum sollten wir die Bibel lesen, geschweige denn uns von ihr etwas sagen lassen, wenn sie uns doch ausdrücklich nichts mehr zu sagen hat? Diese Annahme hängt doch ihrerseits von bestimmten Prämissen und Narrativen ab, deren historische Grundlage zu überprüfen wäre. Zudem verbirgt sie Eigeninteressen.
Die Analyse von CO2Konzentrationen in polaren Eisschichten und Gletschern zeigt einerseits, dass der menschengemachte Klimawandel, ohne historische Parallele ist. Doch zeigt JARED DIAMOND in seinem Buch „Kollaps“37 wie viele menschliche Zivilisationen durch ökologische Ausbeutung zu ihrem eigenen Untergang beigetragen haben. Etwa die Babylonier, deren intensive Kanalwirtschaft schließlich versandete. Der Historiker KYLE HARPER zeigt in einer vor der Pandemie erschienenen Studie38, dass Blüte und Fall des Römischen Reiches mit einer Klimawarmperiode zusammenfielen und die wachsende Vernetzung der Städte im Mittelmeerraum die Ausbreitung von Epidemien erst möglich machte.
In seinem Aufsatz „The Cedar has Fallen! The Prophetic Word against Imperial Clear-Cutting“39 folgt Ched Myers ähnlichen Spuren in der Bibel. Er zeigt auf, wie schon der Resourcenhunger der antiken Großreiche auf die Zedern des Libanon zu lokalen Umweltschäden und regionalen Klimaveränderungen führte. Da Wälder Regenmagnete sind, führt ihre massenhafte Abholzung zu Wüstenbildung, wie in der Levante noch heute ersichtlich. Myers zeigt, dass dies nicht eine moderne Erkenntnis ist, sondern schon in den Mythen reflektiert wird. Während im babylonischen Gilgameschepos die Abholzung glorifiziert wird, widersprechen die hebräischen Propheten dieser Praxis als Hybris (Jesaja 37,22-24) oder imaginieren den Sturz der Imperien als Sturz einer gewaltigen Zeder (Ez 31,3-11 und Jesaja 14,3-8), deren Schatten die Vielfalt der Schöpfung verdrängte. Den Rahmen des Aufsatzes bilden zwei Aktivistinnen, die sich mit ihrem Leben für Bäume einsetzten: Die brasilianische Ordensschwester DOROTHY STANG, die 2005 aufgrund ihres Einsatzes gegen die Abholzung des Regenwalds und für die Rechte der Landlosen im Auftrag von Großgrundbesitzern ermordet wurde und JULIA BUTTERFLY HILL, die in den 1990ern zwei Jahre auf einem Old Growth Redwood lebte und damit die Öko-Bewegung nachhaltig prägte.40 Laut Myers spielt es keine Rolle, dass Stang kirchlich gebunden war, während Hill freireligiös war: „Biblisch betrachtet handelten [beide] in der prophetischen Tradition.“ Mehr noch „in diesem Streit ist die Bibel auf der Seite der Bäume, [diese Parteilichkeit ist] eine verdrängte Tradition, die die Kirche wiederentdecken muss.“41
Für Myers ist der wahre hermeneutische Graben also weniger historisch, denn soziologisch – diejenigen, die von Ausbeutung profitieren, können die von der Unterseite der Geschichte geschriebenen Texte, nicht verstehen – es sei denn, sie lassen sich auf Jesu Einladung in seine Nachfolge ein.
Ausbeutung der Schöpfung durch Imperien im Interesse weniger und zum Leidwesen vieler ist eine historische Kontinuität von biblischen Zeiten bis heute. Die Rede vom Anthropozän markiert einen wichtigen Bruch im menschenfreundlichen Klimasystem des Holozän. Gleichzeitig universalisiert sie aber die Verantwortung auf alle Menschen und verschleiert die Tiefenstruktur der Ausbeutung, der Herrschaftsideologie und Entfremdung, die mit Beginn des Kapitalismus radikalisiert wurde und dank fossiler Brennstoffe unglaubliche Beschleunigung erreicht hat.
In seiner Kritik am universalisierenden „Anthropozän“ macht Myers nicht die Menschheit an sich, sondern bestimmte Formen menschlicher Organisation in Imperien für die ökologische Krise verantwortlich. Doch zugleich zeigt er auf, wie Menschen immer wieder dem Ruf des Schöpfers heraus aus den Imperien und in Gottes wilde Schöpfung gefolgt sind: Abraham und Sarah, Mose und Israel im Exodus, Elia, Johannes der Täufer, Jesus … Dort lernten sie neu, wie die Schöpfung sie versorgt und genug für alle bereit hält.
ÖKOLOGISCHE KONTEXTUALISIERUNG DES EVANGELIUMS: NACHFOLGE AM SCHEIDEWEG DER KLIMAKRISE (WATERSHED DISCIPLESHIP)
Während ökologische Themen in Myers‘ Texten von Anfang an präsent sind, werden sie mit der Jahrtausendwende immer wichtiger. Dabei versucht er unter dem Begriff „Watershed Discipleship“ ein neues Paradigma für eine radikale, kontextuelle und kontruktive Ökotheologie zu etablieren. Ausgehend von dem bioregionalistischen Diktum des senegalesischen Baumschützers BABA DIOUM „Wir schützen nur, was wir lieben, und wir lieben nur, was wir kennen.“42 schlägt Myers vor, sich auf den eigenen Lebensraum zu konzentrieren und Theologie so ökologisch zu kontextualisieren. Um die menschliche Sicht zu dezentrieren, fordert er, dazu das Wassereinzugsgebiet (Watershed), in dem man lebt, als kleinste pragmatische Einheit für ökologisches Denken zu nehmen. Diese Wahl ist sowohl kontingent als auch fundamental. Im nordamerikanischen Kontext schließt Myers so an die bioregionalistische Bewegung an, die für Wassereinzugsgebiete sensibilisiert und in Wasserkonflikten versucht, die Parteien in Watershed Councils zusammenzubringen.
Andererseits ist Wasser ein grundlegend mit dem Leben verbundenes und zugleich widerständiges Element. Wir alle wissen intuitiv: „Wasser ist Leben.“43 Gleichzeitig entzieht sich das Wasser weiterhin menschlicher Kontrolle. Langsam aber stetig prägt der Lauf des Wassers das Gesicht der Erde. Selbst unter dem menschlichen Umgestaltungswillen in Straßen- und Städtebau ist dies noch erkennbar. Das haben auch bei uns jüngst die Fluten im Ahrtal etwa eindrücklich gezeigt. Der Versuch, menschliche Gemeinschaften an den (sich stets wandelnden) Lauf des Wassers anzupassen, wäre daher sowohl ein Schritt notwendiger ökologischer Adaption, als auch „konsequente Zurückweisung des Konstantinismus.“44
Der Begriff „Watershed Discipleship“ ist im Englischen bewusst dreideutig:45
1. Die ökologische Krise ist ein Scheideweg der Geschichte (watershed moment)
2. Wir müssen bioregionale Nachfolge lernen (be disciples in our watershed) und
3. ein Bewusstsein für die Bioregion als Rabbi, den uns auf Gott verweist (watershed as rabbi) entwickeln.
Auf alle drei Stichwörter möchte ich nun kurz eingehen.
Radikal heißt für Myers „an die Wurzel gehen“ im doppelten Sinn: In der Analyse unserer extraktiven Zivilisation, deren historische Gewachsenheit aufs engste mit dem konstantinischen Christentum und seiner säkularisierten Fortsetzung in der Aufklärung verwoben ist. Und darin, die subversiven Wurzeln unseres Glaubens in der Bibel und ihre Spuren in der Kirchengeschichte neu zu entdecken und uns darin einzuwurzeln.
Die Wurzeln der Klimakrise liegen in der allgemeinen Entfremdung des Menschen vom Netz des Lebens, das ihn als Geschöpf hervorgebracht hat und am Leben erhält. Ched folgt LYNN WHITES klassischer Analyse der „Wurzeln der ökologischen Krise“ im Naturverhältnis des westlichen Herrschaftschristentums.46 Myers analysiert drei Dimensionen des Problems:
Funktionaler Doketismus
, (die Häresie, Christus habe nicht wahrhaft Fleisch angenommen, sondern nur „scheinbar“ –
dokeo
): Materielle Sorgen um Leib und Irdisches werden im Blick auf Spirituelles oder Fragen der rechten Lehre relativiert und abgetan. Dies betäubt uns gegen die Schrecken der eskalierendenden sozialen und ökologischen Gewalt. „Wenn wir meinen, Erlösung geschehe außerhalb oder jenseits der Schöpfung, so kann sie maßlos geplündert werden.“
47
Die Politik des
theologisch-legitimierten Anspruchs
auf Land, Resourcen und Menschen in der durch päpstliche Bullen und säkulares Recht etablierten „Doktrin der Entdeckung.“
Die
anthropologische Vorannahme der Herrschaft
des Menschen über die anderen Geschöpfe: die Schöpfung ist zu unserer Ausbeutung da und muss umgestaltet werden, um die Bedürfnisse des Menschen zu decken.
Daraus folgt allgemeine Entfremdung und Entwurzelung von den konkreten Ökosystemen, die unseren Lebensraum bilden. Wir sind hier nicht zuhause, also können wir die Welt zerstören.
Dazu kommt eine soziio-strukturelle Abhängigkeit, Myers spricht von Sucht, von fossilen Energien und der von ihnen geschaffenen Welt. Wir fühlen uns, als könnten wir gar nicht anders.
Was es braucht, ist Entzug, Suchttherapie und eine Praxis der gemeinschaftlichen Verantwortung, wie sie etwa bei den Anonymen Alkoholikern praktiziert wird.48
BIOREGIONALE NACHFOLGE – KONKRETE LEBENSRÄUME KENNEN UND LIEBEN LERNEN
Gegen diese Entfremdung und Abhängigkeit setzt Myers „Watershed Discipleship“ als eine Praxis der Inkarnation, die uns ein symbiotisches Verhältnis zur Mitwelt wiedergewinnen lässt und uns entwöhnt von den toxischen Gewohnheiten der imperialen Lebensweise. Inkarnation versteht Myers dabei weniger als ontologisches Hineingeben in alle Materie, sondern eher als solidarisches Mitsein, dass eingeübt werden kann in Alltagspraxen, aber auch in liturgischem und aktivistischem Handeln.
Myers betont das Bild des Zeltens Gottes mit den Menschen als die präferierte Art solchen Mitseins. Es zielt nicht auf permanentes Umgestalten der Welt durch die Menschen nach ihrem Bild, sondern lädt uns ein, in konkreten Lebensräumen heimisch zu werden.49
Mit dieser Hermeneutik entdeckt Myers die narrative Bedeutung der Ökosysteme in biblischen Texten, in gängiger Interpretation oft als bloßer Hintergrund betrachtet. So hebt Myers hervor, dass Jesus zu Beginn des Markusevangeliums, in den Jordan getauft wird, „eis ton …“. Vom Geist in die Wildnis getrieben, lebt er bei den wilden Tieren, durchlebt die Geschichte seines Volkes in einer Art Visionsfindung und steht wie Israel vor der Entscheidung zwischen Manna und imperialen Fleischtöpfen. In Workshops lässt Myers diese Geschichte in der Bioregion der Beteiligten neu kontextualisieren. Er fragt, welcher Fluss die Region prägt, welche historische Widerstandsfigur Jesus in seinen Weg initiieren würde und als welcher Vogel die heilige Geistkraft erscheinen würde.50
DIE BIOREGION ALS RABBI
Der „Watershed Discipleship“ Ansatz hat auch die nordamerikanische Wild Church Bewegung (Wilde Kirche) geprägt.51 Sie folgt vielerorts einem Ruf heraus aus den Kirchgebäuden, hinein in Wiesen und Wälder. Im Hören auf Klage und Jubel der Schöpfung will sie die ökologische Krise als Zeichen der Zeit ernstnehmen und sich in „widerständiger Geduld“ üben.52
Von wo aus lesen wir? Physische Orte sind Teil der Hermeneutik. In der konkreten Bewegung zu den Orten der Zerstörung, lernen wir neu trauern, klagen und lieben. So werden liturgisch-emanzipatorische Formen entwickelt, die Schöpfungslob und -trauer verbinden, versprachlichen und unsere Entfremdung überwinden können.
Auch wenn die Bezugnahme auf Watersheds gewisse Übersetzungsprobleme mit sich bringt, glaube ich, dass hier fruchtbare Ansätze für eine radikale, kontextuelle und zugleich konstruktive Theologie inmitten der Polykrise liegen. Dies liegt insbesondere daran, wie die ökologischen Überlegungen konsequent verwoben sind mit der ideologiekritischen Hermeneutik und der Betonung von Praxis. Ich möchte daher schließen mit einer Reflexion über den „Krieg der Mythen“ und einer Provokation zur angemessenen Praxis des Widerstands in unserer Zeit der Monster.
In welchem Krieg der Mythen sehen wir uns? Und wie können uns die biblischen Erzählungen in unserer Exilszeit Trost spenden, ohne zu vertrösten?
1. Zu den vorherrschenden Mythen unserer Zeit gehören neoliberaler Sozialdarwinismus und rassifizierter Malthusianismus auf der einen, sowie latent gnostisch-doketistischer Techno-Utopismus auf der anderen Seite. Auch ältere imperiale Großmachtträume und patriarchale Religion sind keineswegs passé. Zugleich erschüttern mehrschichtige, ineinander verwobene Krisen materielle und ideologische Grundlagen des Westens. Myers deutet die apokalyptische Tradition als kritische Theorie, die einerseits das herrschende Unrecht seiner ideologischen Verkleidung enthüllt und andererseits die neuen Möglichkeiten, die Gottes Geist schafft, offenbart.
2. Jeder Mythos, jede Mythenkombination erzeugt ihre je eigene Interpretation der Krise, ihrer Ursprünge und Lösungsansätze. Ideologiekritische christliche Theologie muss diesen Krieg der Mythen wahrnehmen. Es geht nicht um vermeintliche Neutralität, sondern darum, in der Freiheit der guten Nachricht „unzuverlässige Verbündete“53 für staatliche und nichtstaatliche Akteure zu sein und in kritischer Solidarität sich selbst und Mitstreitende auf Selbstvergötzung und Entmenschlichung Anderer zu überprüfen. Hier hilft Myers vor allem, Brücken zu kirchenfernen Bewegungen zu schlagen, ohne dabei auf das anstößige Wort Gottes zu verzichten.
3. Welche Geschichten erzählen wir, inmitten dieser Krisen? Welche Geschichten helfen uns, verwurzelt zu bleiben und festzuhalten an dem, was wir erkannt haben, ohne uns für neue Erkenntnisse zu verschließen? Gute Geschichten sind Hebammen der neuen Welt Gottes, die uns helfen zu erträumen, was noch werden will. Leider erleben die wenigsten Menschen biblische Geschichten auf diese Art. Während fundamentalistische Lesarten die Bibel privatisieren und festzementieren, hinterlässt die universitäre Exegese oft nur noch einen leblosen Kadaver. Myers sozio-narrative Hermeneutik spürt dagegen den lebendigen Beziehungen im Textkörper nach.54 Im Sinne einer befreienden Pädagogik sind dabei gewöhnliche Lesende in die Auslegung einzubeziehen, ohne die Komplexität und Fremdheit des Textes zu opfern. So werden aus den biblischen Erzählungen „Geschichten, in denen wir leben können.“55
PFLUGSCHAR UND LITURGISCHER WIDERSTAND
Ein wichtiger Kontext, den Ched immer wieder theologisch reflektiert, sind die Pflugscharaktionen, ausgehend von Teilen der Catholic Worker Bewegung. In Vorwegnahme der prophetischen Vision der Rüstungskonversion von Micha 4 und Jesaja 2 dringen kleine Bezugsgruppen nach sorgfältiger von Gebet getragener Vorbereitung in Militärbasen ein und machen dort die Werkzeuge nuklearer Vernichtung mit Hämmern und anderen Werkzeugen unbrauchbar. Anschließend bleiben sie an Ort und Stelle, vergießen ihr eigenes Blut, feiern Eucharistie oder beten, bis sie verhaftet werden. Gerichtsverfahren und Haft werden bewusst in Kauf genommen und als Fortsetzung des Zeugnisses gesehen.56
Nach Ched Myers Reflexion über Pflugscharaktionen und die Waffenrüstung Gottes handelt es sich hierbei um gezielte symbolische Akte christlichen Zeugnisses, um breiteren Widerstand hervorzurufen.57 Als Radikalisierung der Logik zivilen Ungehorsams58