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»Niemand konnte ahnen, was da in mir brannte, heller und heißer als das Johannisfeuer.« Auf dem Friedhof von Schwanweiler in der Westpfalz wird die Leiche eines Fremden gefunden. Der pensionierte Odenwälder Kripochef Friedrich Gontard, der im Dorf gerade mit seiner Frau Anna den Familiennachlass regelt, wird schnell in den Mordfall hineingezogen. Zusammen mit Kommissar Manfred Berberich sieht er sich einem Verbrechen gegenüber, dessen Wurzeln in der Vergangenheit liegen. Feldpost aus dem Ersten Weltkrieg und ein Auswandererbrief enthüllen die Identität des Toten, decken aber auch weitere, längst vergangene Mordfälle auf, die ungeklärt blieben. Die im Dorf ansässigen Familien haben scheinbar nicht nur eine Leiche im Keller. Die beiden Ermittler werden mit dunklen Leidenschaften, Standesdünkel und Frömmelei konfrontiert. Lilo Beil verknüpft in diesem siebten Krimi um Kommissar Gontard das Kolorit von drei Epochen zu einer gelungenen Mischung aus Spannung und Zeitgemälde.
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Seitenzahl: 205
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Dem Bildhauer Oskar Kneller gewidmet. Er war der Cousin meiner Großmutter und er fiel im Ersten Weltkrieg im Alter von knapp 22 Jahren in Thiepval an der Somme (Juli 1916). Sein Jugendstilengel steht als denkmalgeschütztes Kunstwerk auf dem Friedhof von Kottweiler-Schwanden bei Ramstein/Pfalz. Der Engel hat mich zu diesem Roman inspiriert.
Der Buchumschlag stellt den Engel des Künstlers Oskar Kneller dar.
Keith Kneller gewidmet, meinem »American cousin« (24. Juli 1948 – 25. Juli 2014)
There is no evil angel but love.
(Es ist kein schlimm’rer Engel als die Liebe)
William Shakespeare, Love’s Labour’s Lost (Akt 1/Szene 1)
1. Kapitel
Das Lächeln des Engels oder: Passion
Der Regen peitschte ihm ins Gesicht. Er schlug den Mantelkragen hoch, kämpfte sich voran. Die Dorfstraße war menschenleer, alle schliefen noch. Mit magischer Kraft zog es ihn zum Ort hinaus, an den Häusern vorbei, die ihm fremd vorkamen.
Sie hatte ihm von alten Gebäuden, von Bauernhöfen aus Buntsandstein erzählt, von Scheunentoren und Ställen, aus denen man das Muhen der Kühe hörte. Von Hunden, die an der Kette lagen und jeden anbellten, der vorbeiging, um die Ruhe der Gehöfte zu stören. Von Menschen, die schon im ersten Morgengrauen unterwegs waren. Von scheppernden Milchkannen und klapperndem Gerät. Von der Geschäftigkeit und vom Fleiß der Dorfbewohner.
Doch hier standen moderne Bungalows, hie und da ein Geschäft. Viele englische Schilder. Snackbar. Hamburger Grill. Magic Games.
Eine Windbö wehte ihn fast um.
Karfreitagswetter, würde sie jetzt sagen. Das richtige Wetter für den Tag, an dem sie damals den armen Teufel ans Kreuz genagelt haben. Ein armer Teufel, das war in ihren Augen Jesus, den sie verehrte, obwohl sie nicht mehr an Gott glaubte.
»Den Gottesglauben, den haben sie mir ausgetrieben daheim. Aber den Jesus, den hab’ ich mir nie schlecht reden lassen. Nicht in der Alten Welt und nicht in der Neuen.«
»Bei uns deheem.« Sie sprach oft in ihrem Dialekt, je älter sie wurde. »Daheim fahren heute die katholischen Bauern ihren Mist durchs Dorf, um den Protestanten ihren höchsten Feiertag zu verderben. Die rächen sich dafür an Fronleichnam, wenn sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht ihre Mistwagen an der Prozession vorbeikarren. Ich möcht’ wissen, ob das immer noch so ist bei uns daheim. Aber vielleicht sind sie ja zur Vernunft gekommen in all den Jahren, seit ich weg bin.«
Er ging an einem modernen kleinen Bungalow vorbei. Aus dem gepflegten Vorgarten stieg der betäubende Duft von Flieder in seine Nase. A lilac tree. Neelches. Das war das Wort gewesen, das sie ihm beigebracht hatte für den Strauch, der im Frühjahr in ihrem Garten blühte. Dunkelviolett, in dichten Dolden. In den letzten Jahren waren die Bienen weggeblieben. Bienensterben, hieß es in den Zeitungen.
Der Regen ließ ein wenig nach, er hob den Blick, und da sah er ihn zwischen den beiden Zypressen. Genauso hatte sie ihn beschrieben, den Engel. Im Regenschleier schien es ihm, als schwebe er ihm entgegen. Als wolle er ihn, der hier fremd war, leiten. Er ging unter den Rosskastanienbäumen hindurch, den Kiesweg entlang zum schmiedeeisernen Tor hin. Es quietschte, als er es öffnete. In der Ferne, vom Dorf her, hörte man das Kläffen eines Hundes. Er lenkte seine Schritte immer schneller zu dem monumentalen Grab hin, vorbei an gepflegten, modernen, kalten Gräbern, als könne er etwas Wichtiges verpassen. Warum diese Eile, dachte er. Du hast dir so viele Jahre Zeit gelassen, dein Versprechen einzulösen. Zu viele Jahre.
Er stand vor der Engelsstatue und blickte nach oben. Es war tatsächlich genauso, wie sie gesagt hatte. Der Engel, der auf ihn hinabsah, trug ihre Gesichtszüge. Es war das Gesicht eines sehr jungen Mädchens. Ein fast kindliches Gesicht. Die Augen der Kindfrau aus hellem Marmor ruhten voller Melancholie und frühreifer Weisheit auf dem Fremden, der da unter ihr stand. Er legte eine weiße Lilie, die er unter dem Mantel verborgen hielt, auf dem Sockel der Engelsstatue ab. Es war eine Plastiklilie.
»Sorry, liebe Granny Kate«, murmelte der Fremde.
Dann sprach er zu dem Engel hinauf.
»Für Valentin. Von ihr.«
Der Regen wurde stärker, auch der Wind erhob sich, erfasste ihn mit voller Wucht.
Ein greller Schmerz in seinem Rücken ließ ihn jäh aufschreien, und im Fallen war es ihm, als lächle der Engel ihm zu, als löse er ganz sachte die steinernen Füße vom Sockel, stelle sich auf die Zehenspitzen und schwebe davon.
Komm mit, flüsterte es in seinem Kopf. Komm mit auf die Reise.
Er sah sie, der zuliebe er hierhergekommen war, und mit ihrem Bild vermischte sich der entgeisterte, entsetzte Ausdruck im Gesicht der Person, die ihm bei seiner Ankunft gestern auf der Dorfstraße begegnet war.
Er streckte beide Arme aus, um den davonfliegenden Engel aus Stein zu fassen. Er hörte Schritte, die sich auf dem knirschenden Kies eilig entfernten. Dann erloschen um ihn herum die Lichter.
Das Eisentor am Eingang des Friedhofs fiel krachend ins Schloss.
Der kläffende Hund war nicht zu beruhigen.
Die Welt erwachte.
2. Kapitel
Trauerarbeit
Anna Gontard kniete auf dem dicken kaukasischen Teppich im Wohnzimmer ihrer vor kurzem verstorbenen Mutter und sortierte Fotoalben, Bücher und Dokumente.
Sie war schon früh aufgestanden. Peitschender Regen, der nicht enden wollte, hatte sie geweckt. Die Äste des weißen Fliederbaums im Vorgarten schlugen im Rhythmus des Windes gegen die Scheiben des Bungalows.
Typisches Karfreitagswetter, hätte ihre Mutter gesagt. Am Karfreitag darf die Sonne nicht scheinen, das passt nicht zur Passionszeit.
Typisch Mama, dachte Anna. Mama mit ihrem strikten Protestantismus, ihrem Stolz auf ihre hugenottische Abstammung, auf den Stammbaum der französischen Familien Catoir und Raquet.
Ihr Blick fiel auf das großformatige Jugendbildnis ihrer Mutter neben der Gründerzeitstanduhr. Eine Schönheit war sie gewesen, mit der leicht gebogenen Nase und dem gewellten dunklen Haar, den großen braunen Augen, die immer ein wenig erschrocken dreinblickten. Ein silbergerahmtes Foto auf dem Schreibsekretär zeigte die Pfarrfrau Karoline Nüsslein, so wie man sie in Erinnerung behalten würde. Eine Frau Anfang achtzig mit erstaunlich schönem, grauem welligem Haar, den Betrachter hellwach anblickend.
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