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Während seines Urlaubs in Südfrankreich mit seiner Frau Anna begegnet dem ehemaligen Kripochef Friedrich Gontard immer wieder eine mysteriöse junge Frau, die ihn an eine Person aus seiner Vergangenheit erinnert. Als bald darauf zuhause bei einer Kunstauktion in Heidelberg das Gemälde eines Exilkünstlers auftaucht und zwei Morde geschehen, verknüpfen sich Gegenwart und Vergangenheit auf fatale Weise. Zusammen mit dem mittlerweile zur Heidelberger Polizei versetzten Kripochef Manfred Berberich greift der Pensionär Friedrich Gontard einmal mehr in die Ermittlungen ein. Als wertvoller Zeitzeuge und Kenner der Kunstszene trägt er zur Auflösung der Fälle bei.Lilo Beils neunter Krimi um Kommissar Friedrich Gontard dreht sich um Lebensmuster, die Kraft der Erinnerung und die Tragik von Künstlern im Exil.
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Seitenzahl: 184
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Für Sigi. In Liebe.»Sammler sind glückliche Menschen.«(Goethe zugeschrieben)
Den namenlosen Künstlern gewidmet, den Exilkünstlern des Dritten Reiches.
»Auch an blauen Tagen bricht das Herz.«Hilde Domin
Prospero: »… und in der mitternächt’gen Stille rissen die Diener seines Schlages uns hinweg, mich, und dich weinend Kind.«Miranda: »Ach, welch ein Jammer! Ich, die vergessen, wie ich damals weinte, bewein’ es jetzt aufs Neu …«Der Sturm, erster Aufzug, zweite Szene. (William Shakespeare)
Kapitel 1Singende Steine
Juni 2004
Gontard musste über sich selbst lächeln. Anna hatte Recht, wenn sie behauptete, ihr Mann habe einen regelrechten Spleen, der ihn immer wieder in diese Abtei führte: Le Thoronet, das Zisterzienserkloster im Hinterland der Côte d’Azur, zog den schon lange pensionierten Kripochef seit Jahren magisch an. Dies war schon sein siebter Besuch der Abtei, die im 12. Jahrhundert von einem Mönchs-Architekten erbaut worden war, der in Strenge, Armut und Enthaltsamkeit mit seinen Ordensbrüdern gelebt und gewirkt hatte.
Die Abtei, abgeschieden und eingebettet zwischen Wäldern und Weinbergen, schien unberührt von den Turbulenzen der modernen Welt zu schlummern, verschont vom Massentourismus der nahen Côte d’Azur mit ihren übervölkerten Stränden und Ferienorten.
Das Hinterland der Mittelmeerküste war schon öfter Reiseziel der Gontards gewesen, und diesmal hatte es sich ergeben, dass sie das Ferienhäuschen von Anna Gontards ehemaligem Kollegen Gerhard Beyer mieten konnten, der dieses Jahr für die Zeit von Ende Mai bis Anfang Juni keinen Eigenbedarf für sich und seine Familie zu vermelden und dem Ehepaar gerne sein Haus zur Verfügung gestellt hatte.
»So früh im Jahr waren wir noch nie hier«, hatte Anna Gontard gemeint, bevor sie begeistert zusagten. Zwei Wochen Südfrankreich, diesmal im Frühsommer, zur Zeit der Kirschen, das klang nach Unbekanntem und nach Ausbrechen aus einem gewohnten Urlaubsmuster, das Anna und ihren Mann nach der Pensionierung meist im Hochsommer oder Frühherbst in die Provence geführt hatte. Und so bot sich den Reisenden zum ersten Mal allein von der Vegetation her ein anderes Bild als die Jahre zuvor.
Statt an Lavendel- und Sonnenblumenfeldern waren sie diesmal an Wiesen mit Klatschmohn inmitten silbriger Gräser vorbeigefahren.
»Monet lässt grüßen«, rief Anna begeistert aus.
»Ja, fehlt nur noch die Dame mit dem blauen Sonnenschirm, wie sie mit ihrem Kind durchs Mohnblumenfeld spaziert«, stimmte ihr Mann ihr zu.
Die Wälder waren von Ginster gesäumt, lodernden gelben Büschen, riesig und zu flammenden Bergen aufgetürmt.
Die »Zeit der Kirschen« erwies sich jedoch als Enttäuschung: Wegen des vielen Regens im Frühjahr und der ungewöhnlich niedrigen Temperaturen war die Kirschenernte nur sehr mäßig ausgefallen. Der Befall durch einen Schädling tat sein Übriges, um den Kauf von Kirschen zu einer teuren Angelegenheit zu machen.
»Man kann nicht alles haben«, sagte Anna Gontard gelassen. »Der Ginster, die Mohnblumenfelder, die Sonne, das wunderbare Essen und der Rosé-Wein entschädigen doch für das eine oder andere.«
Und nun hatte Anna drei Tage vor der geplanten Heimreise doch noch dem Herzenswunsch ihres Mannes nachgegeben, nämlich zum »1000. Mal« zu dieser Abtei zu fahren.
Anna Gontard, weit weniger romantisch als ihr Ehemann und um viele Jahre jünger als er, gestand sich insgeheim ein, dass Friedrich, der in wenigen Monaten seinen 80. Geburtstag feiern würde, nicht mehr vor Gesundheit strotzte. Der Tod von zwei lieben Freundinnen innerhalb des letzten Vierteljahres und das plötzliche Erkranken von einigen Bekannten hatten Anna, die sorgloser und positiver gestrickt war als ihr melancholischer Mann, die Endlichkeit des Daseins neuerdings auf drastische Weise vor Augen geführt.
Sie hatte heute schon mehrere Fotos gemacht, obwohl in den Ferienalben der Gontards die schlichte und elegante Silhouette der Abtei mit ihrem spitzen Kirchturm, dem Tonnengewölbe des Weinkellers, dem Kreuzgang und dem Schlafsaal der Mönche, das Kirchenschiff mit Apsis und den drei Rundbogen-Fenstern, welche die Dreifaltigkeit symbolisierten, von mehrfachen Besuchen und aus verschiedenen Perspektiven festgehalten waren. Und Fotos des mystischen Brunnens der Abtei füllten, wie es Anna vorkam, bestimmt allein mehrere Seiten.
Nun kommt es auf ein siebtes Mal auch nicht an, dachte Anna, während sie in Richtung Museumsshop ging, wo sie einige Mitbringsel kaufen würde. Anna Gontard machte gerne Geschenke. Schenken ist eins meiner Hobbys, dachte sie, auch so ein Spleen. Ich sollte mich nicht lustig machen über Friedrich. Jeder spinnt eben auf seine Weise, dachte sie weiter, während sie die unvermeidlichen Lavendel-Potpourris, Seifen der Provence mit den Düften Mimose, Orangenblüte und Limone, Honig und Olivenöl aus der Klostermühle aussuchte. Und nicht zu vergessen eine Kleinigkeit für den vierjährigen Enkel Fredi, der momentan auf dem Mittelalter- und Rittertrip war und in seinem einer Ritterburg nachgestalteten Hochbett in Bettwäsche mit aufgedruckten Drachen, Burgfräuleins und Adelswappen schlief.
Ich kann mir Zeit lassen, ohne dass ein ungeduldiger Ehemann hinter mir steht und mich drängt, ich solle nicht so lange zögern bei der Auswahl der Geschenke, dachte Anna beruhigt. Mein romantischer Ehemann ist bestimmt im Lavabo, im Waschhaus mit seinem Kultbrunnen.
Sie hatte richtig geraten. Gontard hätte Stunden hier verbringen können, versunken in die Betrachtung des Klosterbrunnens, dabei dem unaufhörlichen sanften Plätschern des Wassers lauschend, das sich ins Becken aus hellem Sandstein ergoss. Diese Steine, erleuchtet vom unvergleichlichen Licht des Südens, goldgelb und dann wieder weißlich-silbrig: Sie schienen wahrlich zu singen und zu sprechen. Singende Steine hieß der wundervolle Roman von Fernand Pouillon, der dieser Zisterzienserabtei damit ein literarisches Denkmal gesetzt hatte.
Les pierres sauvages, der Titel des Originals, so fand Gontard, war noch zutreffender, denn diese Steine wirkten tatsächlich »wild« und ungezähmt. Im Sonnenlicht der Provence sahen sie aus wie von Gold überzogen.
Gontards Gedanken gingen zu einer anderen Abtei, zu einem anderen Brunnen. Es war das Kloster Maulbronn, jenes Zisterzienserkloster in der Nähe von Bretten, das etwa zur gleichen Zeit wie Le Thoronet erbaut worden war. Und es war der Brunnen, den Hermann Hesse so berühmt gemacht hatte, als er ihn 1914 in seinem Gedicht Im Kreuzgang besang.
Verzaubert in der Jugend grünem TaleSteh ich am Säulenschaft gelehntUnd horche, wie in seiner kühlen SchaleDer Brunnen klingend die Gewölbe dehnt.
Und alles ist so schön und still geblieben,Nur ich ward älter, und die Leidenschaft, Der Seele dunkler Quell in Haß und Lieben, Strömt nicht mehr in der alten wilden Kraft.
Oh nein, dachte Gontard. Mitten im Urlaub bewegen mich solch trübe Gedanken. Doch der Urlaub ist ja bald zu Ende, da kommt immer etwas Wehmut auf, und meine Lebenssituation ist ja auch nicht gerade die der unbegrenzten Möglichkeiten.
Eine kleine Gruppe von Jugendlichen stand plötzlich um das Wasserbecken herum, einige spritzten mit Wasser und wurden sogleich von einem erwachsenen Begleiter getadelt, wohl ihrem Lehrer. Sie verließen unverzüglich den von Rundbögen umgebenen Waschraum und gingen lachend weiter. Gontard genoss die neuerliche Ruhe und schaute durch eines der Rundbogenfenster in den Klostergarten hinaus, wo auf einer kargen steinigen Stelle Klatschmohn blühte. Blutstropfen, dachte Gontard.
Eine wunderschöne weiße Lilie ragte majestätisch und hoch aus dem Gras daneben. Wie die Lilien auf den Madonnengemälden der alten Meister, dachte Gontard.
Nie zuvor hatte er in Le Thoronet Lilien wachsen sehen.
Da plötzlich tauchte hinter der weißen Staude eine Frauengestalt auf. Die Besucherin trug ein rotes Sommerkleid und goldene Sandalen mit dünnen Riemchen.
Aus einer schicken goldenen, zu den Schuhen passenden Tasche holte sie eine Kamera, machte ein Foto der Madonnenlilie. Sie schaute dabei ganz kurz zu Gontard hinüber. Irgendetwas im Blick der jungen Frau, in ihren Gesichtszügen mit dem ausdrucksvollen Mund und der klassischen Nase faszinierte ihn, erinnerte ihn an ein Gesicht, das er zu kennen schien. Die schwarzhaarige Schönheit drehte sich von Gontard weg, knipste ein weiteres Foto.
»Du bist der geborene ›Super Recogniser‹«, hatte Anna ihn erst vor kurzem aufgezogen. »So nennt man Menschen, die sich fotografisch an Gesichter erinnern können. Die Münchner Polizei sucht solche Leute zur Aufklärung von Straftaten. Diese Superhirne sind selten, das ist nicht erlernbar, sondern wird vererbt. Wissenschaftlich getestet. Das hab ich im Spiegel gelesen.«
Gontard hatte geantwortet, nein, er würde sich nicht anheuern lassen von der Münchener Polizei, er habe sein Soll an der Aufklärung von Straftaten doch schon bei der Ludwigshafener Kripo voll und ganz erfüllt.
Die junge Frau im Klostergarten war verschwunden. Vermutlich hatte ihn sein Superhirn im Stich gelassen, und die junge Frau war eine Klischeeschönheit, wie man sie ständig in Magazinen sehen kann und manchmal im richtigen Leben. Eine Schönheit mit Wiedererkennungswert.
Mit der Ruhe war es aus, denn drei der Jugendlichen von vorhin kamen zurück und bespritzten sich lärmend mit Wasser. Vom Lehrer war weit und breit nichts zu sehen. Das musste man ausnutzen.
Nun tummle, Jugend, dich in meinem Tale
Und labe dich am Traum der Ewigkeit.
Mit den beiden Endzeilen des Hesse-Gedichts im Kopf riss Gontard sich zögerlich von seinem Kultbrunnen los. Ein letzter Blick auf das Wasserbecken, die Rundbogenfenster und die weiße Lilie im Klostergarten, und er ging mit eiligen Schritten hinweg. Als er den Kreuzgang passierte, erklang Chorgesang aus der nahen Krypta. Leider kein Live-Gesang, sondern gregorianische Gesänge vom Band. Jedoch feierlich genug, dass ihm Schauer den Rücken hinunterliefen.
So ähnlich muss sich die Ewigkeit anhören, dachte er. Er betrat den Museumsshop, wo Anna an der Kasse zahlte und eine große Papiertasche entgegennahm.
»Das ist dein Spleen, stimmt’s?«, frotzelte Gontard. »Geld ausgeben.«
»Für andere, Geschenke. Selbstlos wie ich bin. Geben ist seliger denn nehmen«, erwiderte Anna lachend. »Das ist meine frühkindliche Prägung. Das Aufwachsen in einem pfälzischen Pfarrhaus.«
Und sie fügte mit gespieltem Pathos hinzu: »Hier steh ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir … Wie Luther einst sagte.«
»… Amen«, spöttelte Gontard. »Und ich bin der Ehemann, der zu allem Ja und Amen sagen muss.«
Und er seufzte ein wenig.
»Guck mal, was ich für Fredi gefunden habe.«
Stolz holte sie aus ihrer Tasche ein Malbuch mit mittelalterlichen Motiven und eine kleine Figur, die einen französischen Ritter darstellte. Auf seinem dunkelroten Schild prangten Lilien in Weiß und Gold. Die Unbekannte an der Lilienstaude kam Gontard plötzlich in den Sinn.
»Da war eine junge Frau mit einer Tasche, die mir gefallen würde. In Gold«, sagte Anna auf einmal, während sie nach Rocbaron in ihr Ferienhäuschen zurückfuhren, vorbei an Klatschmohnfeldern à la Monet und an flammenden, von Ginster bewachsenen Hängen. »Aber die ist dir ja bestimmt nicht aufgefallen.«
»Wen meinst du eigentlich, die Tasche oder die Frau?«, konterte Gontard.
Anna schaute ihren Mann verwundert an, doch der hüllte sich in Schweigen. Man darf doch auch mal das eine oder andere kleine harmlose Geheimnis haben, dachte er.
»Monet lässt schon wieder grüßen«, lenkte er ab und zeigte auf eine riesige Mohnblumenwiese. Wie Blutstropfen, ja, dachte er abermals.
»Da drängelt schon wieder einer. Typisch. Diese Franzosen«, rief er leicht verärgert.
Der schwarze Mercedes hinter ihm überholte an einer relativ unübersichtlichen Stelle. Aus den Augenwinkeln sah Gontard auf dem Beifahrersitz des flotten Wagens eine dunkelhaarige Frau im roten Kleid sitzen. Der Fahrer neben ihr war blond und machte frech ein Victory-Zeichen, bevor er davonbrauste.
»Das war ein Deutscher, soviel zu deinen Vorurteilen, mein Liebster«, bemerkte Anna. »Ich hab das Kennzeichen erkannt. HD.«
»Die Heidelberger im Pfingsturlaub, ja«, sagte Gontard.
Seine Beobachtung, die Schwarzhaarige in Rot betreffend, behielt er für sich.
Und wieder grüßte ein Klatschmohnfeld am Wiesenrain und machte den Vorfall vergessen.
Kapitel 2Faits divers oder »Verschiedenes«
»Nun ist der Urlaub bald zu Ende.«
Es klang wehmütig, als Anna Gontard das sagte.
Sie hatte ihr Pain au Chocolat beiseitegelegt und schaute ihren Mann, wie um Mitgefühl bittend, an. Der war aber völlig vertieft in einen Artikel des Var-Matin, den er traditionsgemäß jeden Morgen zusammen mit einem Baguette und zwei Croissants im Dorfladen holte. Das war einer der Tante Emma-Läden, die auch hier in Frankreich immer seltener wurden und den Supermärkten wie Leclerc, Super-U, Intermarché weichen mussten.
Geistesabwesend antwortete Gontard mit einem »Wie bitte?«, offenbar immer noch gefangen vom Inhalt des Gelesenen.
»Wieder mal ein Selbstmordattentat, wie das Mode zu werden scheint, oder was Schreckliches aus dem Kosovo oder dem Irak?«, fragte Anna flapsig.
»Na ja, die französischen Regionalzeitungen kümmern sich nicht sehr um die Welt da draußen. Da macht der Var-Matin keine Ausnahme. Hier ist ein großer Bericht über den 60. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie. Den D-Day 1944. Und zum ersten Mal nimmt mit Gerhard Schröder ein deutscher Bundeskanzler an den Gedenkfeiern in der Normandie teil.«
»Aber dich hat was anderes gefesselt. Was ist es?«
Anna ließ sich nicht so leicht abschütteln.
»Ein fait divers, eine von diesen Sensationsnachrichten, Schreckliches aus der Gegend«, gab Gontard zurück, um Lässigkeit bemüht.
Anna Gontard wurde ungeduldig und riss ihrem Mann ziemlich unhöflich die Zeitung aus der Hand.
Tote im Fluss, stand da zu lesen.
Eine weibliche Leiche war im Flüsschen Caramy nahe dem Ort Vins-sur-Caramy gefunden worden. Sie war ohne Papiere, eine Unbekannte. Dunkelhaarig, groß und schlank, schätzungsweise zwischen 30 und 35 Jahre alt, und sie trug ein rotes Kleid und goldfarbene Sommerschuhe.
»Traurig«, seufzte Anna. »So jung, in Lillis Alter.«
Wäre eine goldene Tasche bei der Toten gefunden worden, würde Anna anders reagieren, dachte Gontard. So wie ich nämlich.
Er ließ sich seine innere Unruhe nicht anmerken, hatte sich wieder im Griff. Es gab bestimmt noch andere junge Frauen, die ein rotes Sommerkleid und goldene Schuhe trugen. Es musste nicht die junge Frau gestern in Le Thoronet gewesen sein.
»Ja, Lilli wird nun bald 31 Jahre alt«, lenkte er ab. »Und Fredi wird schon vier Jahre alt und Baby Lotta ist bald kein Baby mehr, sie wird auch schon ein Jahr alt. Mein Gott«, sagte er seufzend und legte die Zeitung weg. »Was haben unsere Enkelkinder doch einen uralten Großvater. Demnächst 80 Jahre und kein bisschen weise.«
Er legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Dafür haben sie aber eine junge Großmutter«, fügte er charmant hinzu.
Das Ablenkungsmanöver hatte gewirkt. Die Zeitung war zusammengefaltet, das fait divers vergessen, und der neue Ferientag konnte beginnen, einer der letzten freilich, also doppelt wertvoll.
»Ich für meinen Teil freue mich auf zuhause«, bekannte Gontard aus vollstem Herzen. »Ich freue mich auf Lilli, die mit den zwei Kleinen bald zu Besuch kommt, und ich freue mich auf unsere Tierchen, auf Belami und Heinz.«
»Belami kommt in die Jahre, hast du es bemerkt?«, sagte Anna.
»Ja, und wir kennen ja sein genaues Alter nicht. Das ist genau zehn Jahre her, als wir ihn als Urlaubssouvenir mitgebracht haben. Von Montauroux, wo wir damals immer unsere Ferien verbrachten. Ach, das war auch schön dort.«
In nostalgische Gedanken versunken schaute Gontard zu Anna hinüber, die den Faden aufnahm: »Der kleine Streuner, den wir damals gerettet haben, ja. Wie er herrenlos im Café du Centre umhergeirrt ist«, erinnerte sie sich. »Und dein gutes Herz konnte dem traurigen Hundeblick nicht widerstehen. Wie alt er wohl damals war?«
»Nicht älter als zwei Jahre, denke ich, dann wäre er nun zwölf Jahre alt, ein Hunde-Opa, noch älter als ich Menschen-Opa, wenn man Hundejahre in Menschenjahre umrechnen würde.«
Anna, die praktisch Denkende, hatte nun genug von nostalgischen Betrachtungen und rief aus: »So, daheim sind wir noch schnell genug. Vertrödeln wir nicht die Zeit mit Wehmutsgedanken. Wie wär’s, wenn wir heute mal nach Aix-en-Provence fahren? Da waren wir noch nie, obwohl es gar nicht so weit weg ist. Das Musée Granet würde mich interessieren, da gibt es bestimmt Cézanne-Gemälde en masse zu bewundern.«
Nach eiligem Abräumen des Kaffeetischs machten sich die Gontards auf den Weg in die Stadt, in der Cézanne bis zu seinem Tod gelebt und gearbeitet hatte. Als sie am Gebirgszug Sainte-Victoire vorbeifuhren, freute sich Anna auf die vielen Motive dieses Berges, den Cézanne so oft gemalt hatte.
Plötzlich sagte sie: »Ob die junge Frau, weißt du, die vom Flüsschen Caramy, wohl Selbstmord begangen hat?«
»Der Var-Matin hat sich sehr bedeckt gehalten. Aber ich denke eher an Mord«, erwiderte Gontard.
»Mord ist schrecklich, aber Selbstmord ist traurig«, sagte Anna. »Ich zitiere unseren Kult-Kommissar, Inspektor Columbo, der hat das neulich in einer Fernsehfolge so ausgedrückt. Recht hat er.«
Nachdenklich schaute sie hinüber zum mächtigen Gebirgszug der Sainte-Victoire. Wie es ihre Art war, hing sie nicht lange negativen Gedanken nach. »Ich freu mich auf die vielen Bilder von Cézanne«, sagte sie und holte den Stadtplan von Aix-en-Provence aus dem Handschuhfach.
Kapitel 3Das Musée Granet
Annas Erwartungen wurden bitter enttäuscht.
Im Musée Granet, benannt nach François Marius Granet, einem weit weniger bekannten Sohn und Künstler der Stadt, der vor Cézanne in Aix-en-Provence gelebt hatte, gab es nur acht Gemälde des berühmten Impressionisten. In den Museen der ganzen Welt und in Privatsammlungen konnte man die Gemälde von Cézanne bewundern, aber nur in limitiertem Maß in seiner Heimatstadt.
»Kein einziges Motiv von der Sainte-Victoire«, sagte Anna. »Das ist frustrierend.«
Ihr Mann gab ihr Recht. Die pensionierte Kunstlehrerin und der Hobby-Kunstexperte hätten mindestens eine Darstellung des kultigen Gebirges erwartet. Vor dem Gemälde der badenden Frauen Les Baigneuses standen sie lange.
Immer noch war Vorsaison, es gab keine Warteschlangen, kein Gedrängel. Die Skulpturensammlung gefiel besonders Anna gut. Die Jugendstil-Statue aus Alabaster einer jungen Frau faszinierte sie so, dass sie sich nicht losreißen konnte.
Gontard war schon um die Ecke verschwunden und strebte dem Ausgang zu. Nun mache ich Anna eine Freude und suche mal schon ein paar Kunstkarten aus, dachte er.
Als er gerade einige Motive, Cézanne-Gemälde aus anderen Museen, entdeckt hatte, blickte er kurz auf, ob Anna nicht schon nachkäme. Eine junge dunkelhaarige Frau im roten Kleid und eleganten goldenen Sandaletten stand an der Kasse des Museumsshops wenige Schritte von ihm entfernt. Aus ihrer goldenen schicken Umhängetasche holte sie einen ebenfalls goldenen Geldbeutel hervor. Gontard gab einen kleinen Laut des Erstaunens von sich, zum Glück unbemerkt. Es war ein Laut der Erleichterung. Sie lebte.
Im Nachhinein war er froh, dass er nach der Lektüre des Artikels im Var-Matin nicht der kurzen Aufforderung der Polizei nachgekommen war, sich als Zeuge zu melden und vielleicht zur Identifizierung der Toten auf die Polizeistation nach Brignoles zu fahren. Was hätte er auch beitragen können? Er hätte sich nur lächerlich gemacht. Nun hatte sich alles von selbst erledigt. Die Tote vom Flüsschen Caramy war nicht identisch mit der jungen Frau in der Abtei Le Thoronet.
Die Dunkelhaarige blickte ihm direkt ins Gesicht, vielleicht hatte sie doch etwas gehört. Nun erst fielen Gontard die großen dunkelbraunen Augen und die aparten hohen Wangenknochen auf, die hübsche, leicht gebogene Nase und der volle Mund mit der Unterlippe, die wie schmollend etwas vorgeschoben war. Der Blick war selbstbewusst, fast trotzig, und Gontard wurde plötzlich klar, dass er diesen Gesichtsausdruck nicht an einer erwachsenen Frau, sondern an einem sehr jungen Mädchen, einem Kind, gesehen hatte. Wann und wo in seinem langen Leben ihm dieses schöne Trotzgesicht schon einmal begegnet war, das hätte er allerdings nicht sagen können. Die Tür zu seinem Gedächtnis war fest verschlossen. Irgendetwas sagte ihm, dass es die Tür zum Langzeitgedächtnis war, das bekannterweise bei älteren Menschen blendend funktionierte. Ganz im Gegensatz zum Kurzzeitgedächtnis, das die Älteren ärgerte und foppte, zum Beispiel beim Suchen der eben erst weggelegten Brille oder des Autoschlüssels oder beim vergessenen Namen eines Schauspielers.
Dieses Nichtfunktionieren seines sonst so zuverlässigen Gedächtnisses für längst Vergangenes und vor allem für ein Gesicht aus seiner Vergangenheit beunruhigte ihn in hohem Maße. Wo blieb sein »Super Recogniser-Hirn«, wie Anna es genannt hatte?
Etwas fahrig nahm er wahllos einige Kunstkarten vom Kartenständer, bezahlte und hielt nach Anna Ausschau. Sie kam um die Ecke geschlendert. Die junge Unbekannte war verschwunden. Anna umarmte ihren Mann freudig, als er ihr die Kunstkarten präsentierte, und eingehakt verließen sie das Museum. In der Rue d’Italie unweit des Museums gönnten sie sich ein sehr gutes Muschelessen im Restaurant Les Réfugiés.
»›Die Geflüchteten‹ heißt das, stimmts«, vergewisserte sich Anna, die ehemalige Englischlehrerin, bei ihrem Mann, dessen Französisch dem ihren überlegen war.
»Ja, ein bisschen makaber, finde ich«, bestätigte Gontard.
»Vielleicht haben hier mal Emigranten Zuflucht genommen, du weißt schon, während der Nazizeit«, meinte Anna Gontard.
»Dafür ist doch eher ein anderer Ort hier in der Nähe berühmt geworden«, gab Gontard zu bedenken.
»Du meinst Sanary-sur-Mer?«, fragte Anna, und sie rief aus: »Du, ich hab eine Idee. Sollen wir morgen, also an unserem vorletzten Ferientag, noch mal einen Kulturbesuch machen? In Sanary waren wir noch nie, obwohl wir es uns immer schon vorgenommen haben. Auf den Spuren von Thomas Mann, Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger und Walter Benjamin wollten wir doch schon immer wandeln, es hat sich nur nicht ergeben.«
Sie machte eine kleine Pause und sagte: »Auch an blauen Tagen bricht das Herz.«
Gontard schaute sie erschrocken an. Dieser Spruch passte gar nicht zur Positivdenkerin Anna.
»Das ist nicht von mir«, erklärte Anna. »Ich zitiere nur Hilde Domin, die ja auch vor den Nazis fliehen und ihre Heimat aufgeben musste.«
»Tieftraurig, dieses ganze Kapitel. Und immer wieder holt es uns ein. Wir gehören nicht zu den Verdrängern, wir zwei, oder?«
»Nein, manchmal aber wünschte ich, wir würden dazugehören«, sagte Anna. »Es lebt sich leichter ohne die Last der Geschichte. Sollten wir uns zum Abschluss unseres Urlaubs nicht doch lieber ein lustigeres Ziel aussuchen? Könnten wir nicht nächstes Jahr auf den Spuren der Exilkünstler wandeln?«
Gontard schwieg. Anna konnte seine Gedanken erraten und beharrte nicht weiter auf einem lustigeren Ausflugsziel für den nächsten Tag.