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Zwischen Krieg und Frieden: Der prachtvolle Historienroman »Die Rheintal-Saga – Der Beginn eines neuen Tages« von Heidrun Hurst als eBook bei dotbooks. Die Rheinauen, 1632: Der Schatten des Dreißigjährigen Krieges liegt über dem Land – während plündernde Söldnerhorden umherziehen, versucht unter den Bauern und Stadtbewohnern jeder bloß sein eigenes Leben zu retten. Aberglaube und Missgunst treiben die Bewohner von Odelshofen schließlich dazu, die junge Elisabeth als Tochter einer Hexe zu brandmarken. Schon lange gilt die mutige Frau, die allein den Hof der Eltern bewirtschaftet, als Ausgestoßene. Um ihr Leben zu retten, muss sie schließlich einen schweren Preis zahlen und einen grausamen Nachbarn heiraten. Schlimmer noch, er ist ausgerechnet der Todfeind des Mannes, dem sie vor langer Zeit ihr Herz schenkte: Doch Jakob ist in den Wirren des Krieges verschollen – und selbst wenn er zurückkehren würde, welche Zukunft kann es für die beiden noch geben? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der historische Roman »Die Rheintal-Saga – Der Beginn eines neuen Tages« von Heidrun Hurst ist der glanzvolle Abschluss ihrer Familiensaga. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 461
Über dieses Buch:
Die Rheinauen, 1632: Der Schatten des Dreißigjährigen Krieges liegt über dem Land – während plündernde Söldnerhorden umherziehen, versucht unter den Bauern und Stadtbewohnern jeder bloß sein eigenes Leben zu retten. Aberglaube und Missgunst treiben die Bewohner von Odelshofen schließlich dazu, die junge Elisabeth als Tochter einer Hexe zu brandmarken. Schon lange gilt die mutige Frau, die allein den Hof der Eltern bewirtschaftet, als Ausgestoßene. Um ihr Leben zu retten, muss sie schließlich einen schweren Preis zahlen und einen grausamen Nachbarn heiraten. Schlimmer noch, er ist ausgerechnet der Todfeind des Mannes, dem sie vor langer Zeit ihr Herz schenkte: Doch Jakob ist in den Wirren des Krieges verschollen – und selbst wenn er zurückkehren würde, welche Zukunft kann es für die beiden noch geben?
Über die Autorin:
Heidrun Hurst, geboren 1966 in Kehl am Rhein, ging schon als Kind gerne mit Hilfe von Büchern auf Reisen in fremde Welten und ferne Zeiten. Ihr Hunger nach geschriebenen Abenteuern und Literatur wurde schließlich so groß, dass sie sich einige Jahre später selbst dem Schreiben widmete. Seitdem veröffentlicht sie historische Romane, für die sie mit Leidenschaft und Neugier tief in die Recherche längst vergangener Zeiten eintaucht.
Die Autorin im Internet:
www.heidrunhurst.de
www.facebook.com/heidrun.hurst
www.instagram.com/heidrunhurst/
Bei dotbooks veröffentlichte Heidrun Hurst ihre »Rheintal«-Saga:
»Die Rheintal-Saga – Die Kinder des Bergmanns«
»Die Rheintal-Saga – Im Feuer des Lebens«
»Die Rheintal-Saga – Der Beginn eines neuen Tages«
Auch bei dotbooks erscheint ihre »Straßburg«-Saga:»Der Teufel von Straßburg«
»Die Pestheilerin von Straßburg«
»Das Weib des Henkers«
Dabei ist »Der Teufel von Straßburg« als eBook, Hörbuch sowie Printausgabe erhältlich.
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Überarbeitete eBook-Neuausgabe Oktober 2022
Dieses Buch erschien bereits 2015 unter dem Titel »Der Beginn eines neuen Tages « bei mediaKern.
Copyright © der Originalausgabe 2015 mediaKern
Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Diese Werk wurde vermittelt von der litmedia.agency, Mühlhausen-Ehingen.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98690-123-3
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Heidrun Hurst
Die Rheintal-Saga – Der Beginn eines neuen Tages
Historischer Roman
dotbooks.
Dieses Buch ist Ilona Hurst gewidmet,
in Erinnerung an viele gemeinsame Stunden, ein offenes Ohr und all das, was eine gute Freundschaft ausmacht.
Juli 1632
Jakob lehnte seinen Rücken gegen eines der Räder von Magdalenas Wagen. Er streckte die müden Beine aus, während sein Blick im blauen Herz des goldenen Feuers hing, dessen gierige Flammen das Holz verzehrten und den Inhalt eines Topfes zum Simmern brachten. Wabernder Rauch umkräuselte die eiserne Wand des Gefäßes, schlängelte die Vorrichtung des Kesselgalgens entlang, bevor er sich seinen Weg nach oben bahnte. Dort vermischte er sich mit den Schwaden weiterer Feuer und legte sich wie eine schwere Decke über die bedrückten Gemüter unter ihm. Sie befanden sich vor den Toren Nürnbergs. Genau genommen saßen sie in der Falle, obwohl es in den letzten Monaten nicht danach ausgesehen hatte, dass dieser Fall eintreten würde.
Ein gewaltiger Siegeszug lag hinter dem protestantischen Heer Gustav Adolfs und somit auch hinter Jakob und seinen Kameraden. Balthasars Bein war vollständig genesen. Er war ebenso in die Kompanien des Schwedenkönigs übergegangen wie Jakob, Peter und Clauß. – Und mit ihnen viele andere, die nach der Niederlage des kaiserlichen Heeres die Seiten gewechselt hatten.
Magdalena begleitete sie nach wie vor. Ihr Wagen hatte ein neues Zugtier erhalten. Anstelle des mageren Ochsen kaute nun eine wohlgenährte Kuh an einem Büschel Gras, das man ihr hingeworfen hatte. Eine Folge fortwährenden Triumphes und der damit verbundenen Vergünstigungen, die sich in den letzten Monaten erfreulicherweise daraus ergeben hatten.
Nach der Schlacht von Breitenfeld waren sie an der Seite des Siegers durch das Land marschiert. Es sah ganz danach aus, als ob sich die Prophezeiung bewahrheiten würde, die durch die Reihen der Protestanten gegangen war: »Ein Retter aus dem Norden werde kommen, um die Macht des Kaisers niederzuwerfen.«
Gustav Adolf schien dieser Retter zu sein, denn er widmete sich mit aller Hingabe seinem Ziel, das Reich von der Verwerflichkeit des Katholizismus zu befreien. Er hatte sein Heer geteilt. Die verbündeten Sachsen fielen in Böhmen ein, und bereits im November meldete ein Bote die Besetzung Prags.
Während sich die Sachsen mit Böhmen beschäftigten, marschierten die vier Kameraden mit der schwedischen Armee über den Thüringer Wald nach Franken, wo sie eine Schneise der Verwüstung hinterließen. Bei Erfelden setzten sie über den Rhein und eroberten das von den Spaniern besetzte Oppenheim. Dann zogen sie nach Mainz, das sich kampflos ergab und zum Winterlager des Schwedenkönigs erklärt wurde.
Auf der ganzen Länge ihres Weges plünderten und mordeten sie alles, was ihnen in die Hände fiel. Die zahlreichen mit Schätzen angefüllten Kirchen und Klöster traf es ebenso wie die Herrenhäuser und die einfachen Behausungen der Bauern. Alles fiel der Gefräßigkeit und dem Gericht des protestantischen Heeres zum Opfer und setzte sich in den verstreuten Winterlagern fort, die zur besseren Versorgung nur mit Teilen der großen Armee bestückt waren. Die Beute war enorm, und diesbezügliche Beschwerden wurden von Gustav Adolf mit wenigen Worten niedergeschlagen: »Krieg ist Krieg«, erklärte er, »und Söldner sind keine Klosterfrauen.«
Der schwedische König ließ mit einer Intensität plündern, wie es vor ihm noch nicht einmal der Mansfelder getan hatte. Wie Wallenstein verfügte er über eine gewisse Ausstrahlung, die es einfacher machte, ihm zu folgen. Für einen Mann hatte er eine geradezu schöne, blasse Haut mit rosigen Wangen, die eher an ein Mädchen erinnerten. Doch dieser Eindruck wurde durch seinen energischen Spitzbart und die rotblonden Haare, die er entgegen der vorherrschenden Mode kurz geschnitten trug, wieder wettgemacht. Vielleicht verhalf ihm dieses rotblonde Haar zu dem salbungsvollen Titel »Der Löwe aus Mitternacht«, wie man ihn unter den Söldnern nannte.
Seine stattliche Gestalt und die breiten Schultern kaschierten ein wenig die deutliche Rundung in der Körpermitte, die eine Taille nur noch erahnen ließ. Er schien ständig in die Richtung des Bodens zu schauen, was wahrscheinlich an seinen Augen lag, die äußerst kurzsichtig in die Welt blinzelten. Seine langsamen Bewegungen verstärkten diese Vermutung noch, aber er verfügte auch über eine enorme Kraft und schien ebenso warmherzig wie heißblütig zu sein.
Was ihn allerdings so anziehend machte, war das Fehlen jeglicher Eitelkeit. Gustav Adolf kleidete sich einfach, ohne die pompöse Zurschaustellung seines Standes. Er schwitzte, hungerte, fror und dürstete mit seinen Söldnern, wurde ebenso schmutzig wie sie, ohne dass er sich daran störte. Sein ganzes Wesen strahlte eine unerschütterliche Überzeugung aus: Er war sich sicher, dass er siegen würde. Jede Faser seines Körpers schien von dieser Gewissheit durchdrungen zu sein. Sie sprang auf seine Soldateska über und setzte sich in Kopf und Seele der Männer fest, denn diese Zuversicht benötigten sie alle. Ihr Leben hing davon ab.
Mittlerweile gab es kaum noch jemanden, der mit einer gewissen Naivität einem Heerführer folgte. Der Krieg war zum Handwerk geworden, und nur noch wenige kämpften aufgrund ihres Glaubens, oder aus fester Überzeugung. Auf beiden Seiten dienten inzwischen Katholische und Protestanten aus den verschiedensten Gegenden, ohne dass es eine Rolle gespielt hätte. Sie hofften lediglich, sich auf der Seite des Siegers zu befinden, der ihnen Nahrung, einen möglichst hohen Sold und ein gewisses Maß an Sicherheit gewährte.
Dieses Jahr hatten sie Anfang März die Winterlager abgeschlagen. Das Heer hinterließ wie üblich eine trostlose Wüstenei, die der ansässigen Bevölkerung nichts als den Hunger als Bezahlung zurückließ. Jakob fragte sich nicht mehr allzu oft, ob dies alles rechtens war. Sein Herz fühlte sich seltsam taub an. Manchmal war er sich nicht mehr sicher, ob er in dieser Hinsicht überhaupt noch eine Regung zuwege brachte, nach dem vielen Elend, das er über die Jahre hinweg gesehen hatte. »Wenn du diesen Krieg überstehen willst, musst du dein Herz verschließen, sonst wirst du vor Kummer sterben«, hatte Magdalena einmal zu ihm gesagt. Nun, sie hatte nicht unrecht damit, und so verwahrte er das Mitleid im Innern seiner Seele, wo kaum etwas hingelangen konnte, unempfänglich für die Nöte der anderen. Im Grunde ging es gar nicht anders. Er hatte sich geschworen, nicht als armer Schlucker nach Hause zu kommen. Sein Sold war nicht übel, und die Plünderungen sorgten dafür, dass er ihn auch bekam. Er wollte etwas vorzuweisen haben, wenn er zu Elisabeth zurückkehrte, und wo sollte er dies hernehmen, wenn nicht auf die einzige Weise, in der es alle taten?
Nachdem Gustav Adolf den verbündeten Fürsten Bernhard von Sachsen-Weimar zur Sicherung des Rheins zurückgelassen hatte, verließ er Mainz und gesellte sich, nach einem Abstecher über Schweinfurt, wieder zu seinem Heer, dessen einzelne Teile sich zwischen Nürnberg und Fürth vereinigten. Als sie vor Nürnberg ankamen, wurde der König von den Bürgern jubelnd empfangen. Er soll sogar mit Geschenken überhäuft worden sein, die allerdings den Blicken der gemeinen Soldateska verborgen blieben. Die Stadt besaß eine Waffenmanufaktur, die ihresgleichen suchte. Eine wichtige Tatsache, die die Freundschaft der Nürnberger noch wertvoller machte.
Am 14. April erreichte das Heer den Lech in der Nähe von Rain, wo der wieder erstarkte Tilly am anderen Ufer sein Lager aufgeschlagen hatte, um sie aufzuhalten.
Nach zwei Tagen des Dauerfeuers von beiden Ufern schlugen sie nachts heimlich eine schwimmende Brücke über den Fluss und stürmten die feindlichen Stellungen. Gleich zu Beginn des darauffolgenden Kampfes zerschmetterte eine Falkonettkugel Tilly das rechte Bein. Sein Stellvertreter Johann von Aldringen brach kurz darauf mit einer Schädelwunde bewusstlos zusammen. Da das Heer der katholischen Liga den Kampf als verloren ansah, blieb ihm nur noch der Rückzug. Die Geschütze sowie ein Großteil des kaiserlichen Trosses fielen einmal mehr in die Hände der Schweden.
Vermutlich hätten sie die Liga, die nun unter dem Befehl des bayerischen Kurfürsten Maximilian I. stand, vernichtend schlagen können, wenn nicht ein Sturm und die daraus resultierenden umgestürzten Bäume ihren Vormarsch erheblich behindert hätte. Allein diesem Umstand verdankten es die Katholischen, dass sie sich nach Ingolstadt zurückziehen konnten.
Jakob und seine Gefährten zogen mit den Schweden nach Augsburg weiter, wo sie die Stadt mit ihren imposanten Gebäuden am 24. April 1632 empfing. Gustav Adolf wurde, mitsamt seiner Soldateska, unter Jubel und Beifall auf dem Marktplatz begrüßt. Jakob, Peter, Balthasar und Clauß sonnten sich in den Hochrufen der Bevölkerung. Danach hielt der Schwedenkönig in der Kirche St. Anna eine leidenschaftliche Rede über den Frieden der Religionen, und die Menschen bewunderten ihn dafür. Für sie war er der Kreuzritter des Protestantismus, der Retter, der den Kaiser besiegen würde.
Während die Soldateska sich in den zahlreichen Schenken der Stadt vergnügte, wurden der König und seine wichtigsten Gefolgsmänner zu einem nächtlichen Bankett eingeladen. Auf dem anschließenden Ball soll Gustav Adolf einer hübschen, verschämten Augsburgerin sogar einen Kuss geraubt haben. – Zumindest erzählte man sich das.
Bald darauf zogen sie weiter, jedoch nicht ohne Augsburg eine monatliche Kontribution von 30.000 Talern aufzuerlegen, die den Bürgern der Stadt wahrscheinlich das Blut in den Adern gefrieren ließ und ihre Bewunderung deutlich geschmälert haben dürfte.
Der Weg des Heeres führte nun nach Ingolstadt. Gerüchten zufolge lag der schwer verletzte Tilly dort bereits im Sterben. Die Stadt begrüßte sie mit trutzigen Bollwerken, Umwallungen und Gräben, die für die Sicherheit ihrer Bürger sorgten. In den ganzen Jahren des Krieges war es noch niemandem gelungen, den dreifachen Befestigungsring zu zerstören.
Als Gustav Adolf aus diesem Grund die Mauern inspizierte, ertönte ein Schuss. Das Pferd des Königs brach tödlich getroffen unter ihm zusammen, was seine Offiziere in helle Aufregung versetzte. Sie wiesen ihn besorgt darauf hin, dass er in Zukunft mehr auf seine Sicherheit achten möge. Doch auch hier bewies der König, dass er seine eigene Person nicht als etwas Besonderes erachtete. Er antwortete auf ihre Bedenken lediglich mit der Frage, wozu denn ein König in der Schlacht gut sei?
Am 3. Mai zogen sie weiter, ohne Ingolstadt eingenommen zu haben. Die Befestigungen waren in der Tat unüberwindlich und eine Belagerung erschien Gustav Adolf zu zeitaufwendig. Drei Tage zuvor war Tilly, der alte Generalissimus, seinen Verletzungen erlegen.
Ihr Weg führte sie durch Bayerns Süden, während ein Teil des Heeres sich nach Osten wandte, um dem Rest der Liga-Truppen hinterherzujagen. Das geteilte schwedische Heer verwüstete das Land bis zur Gänze, ohne dass ihr Führer etwas dagegen einzuwenden hatte. Sogar das auf den Feldern reifende Getreide wurde als Pferdefutter verwendet. Doch zum ersten Mal erlebten sie, dass die Bauern Widerstand leisteten. Der Feind kam nun nicht mehr allein von den kaiserlichen Truppen, auch die ländliche Bevölkerung trug ihren Teil dazu bei. Vielerorts rottete sie sich zusammen und widmete sich mit besonderem Interesse den versprengten Landsknechten, die den Anschluss zur Truppe verpasst hatten, um sich für niedergebrannte Häuser und den Verlust der Lebensgrundlage zu rächen. »Bet, bet, morgen kommt der Schwed«, hörte man die Bauern sagen, und Jakob konnte es ihnen nicht verübeln, dass sie sich gegen diejenigen wehrten, die sie mittellos machten.
Mitte Mai standen sie trotzdem vor den Toren Münchens, das kampflos eingenommen werden konnte. Schutzlos ihren Feinden ausgesetzt, erkauften sich Bürger und Klerus für die ungeheure Summe von einer Viertelmillion Talern ihre Schonung vor dem Schrecken der schwedischen Armee. Triumphierend zog der Schwedenkönig in die katholische Trutzburg ein.
Bis zu diesem Zeitpunkt schien Gustav Adolf unbesiegbar zu sein, und Jakob und seine Kameraden schwammen mit ihm auf der Welle des Erfolges. Bis nach Wien wollten sie marschieren. In die Hauptstadt des Kaisers hinein, um ihn vom Thron zu stürzen. Doch dann trat Wallenstein auf den Plan, und die Bündnisse Gustav Adolfs begannen zu bröckeln. Dem Kaiser mangelte es an einem charismatischen Führer, der seine Truppen befehligte. In seiner Not hatte er den Generalissimus zurückgeholt und ihn ein weiteres Mal zum Oberbefehlshaber ernannt. Tatsächlich gelang es Wallenstein, Prag erneut zu besetzen. Nun überschritt er mit seinem frisch erstarkten Heer die böhmische Grenze, um sich mit den bayrischen Truppen Maximilians zu vereinigen. Unter diesen Umständen zogen die Schweden den Bayrischen entgegen. Doch sie kamen zu spät und zogen sich eilends nach Nürnberg zurück.
Hier lagerten sie nun, vor den Toren der Stadt, während die kaiserlich-bayrischen Truppen heranrückten und sich außer dem schwedischen Heer ein Strom aus Flüchtlingen hinter die trutzigen Mauern ergoss.
Der Schutz Gustav Adolfs kam Nürnberg teuer zu stehen. Die Bevölkerung wurde neben zwangsrekrutierten Bauern zur Schanzarbeit herangezogen. Mithilfe der Söldner legten sie binnen weniger Tage eine riesige Schanze an, um ihre Heimat für den Krieg vorzubereiten. Der zweite Festungsring war kurz vor seiner Fertigstellung. In seinem Schutz kampierte das Heer des Schwedenkönigs. Etwa 20.000 Mann lagerten hier, den Tross nicht mitgerechnet. Das Gelände war größer als die Stadt selbst. Seine Schanzen und Bollwerke würden sie unbezwingbar machen.
Wie üblich herrschte ein arges Gedränge aus Mensch und Tier. Die aus der Umgebung flüchtenden Bauern wurden angewiesen, ebenfalls vor Nürnberg ihr Quartier zu beziehen, und Fremde sollten nur dann in den Schutz der Mauern eingelassen werden, wenn sie genügend Lebensmittel bei sich hätten. Doch diese Verordnung konnte wegen der vielen in die Stadt drängenden Menschen nicht eingehalten werden, und so gab es bald zu wenig Nahrung für zu viele hungrige Münder.
Inzwischen rückte der Feind unaufhaltsam näher. Es dauerte nicht lange, bis die Nachricht zu ihnen drang, dass die kaiserliche Armee die ersten Dörfer geplündert hatte. Nur wenige Tage später erhob sich am linken Ufer des Flusses Rednitz ein stark befestigtes Lager. Söldner, Trossleute, Männer, Weiber und Kinder beteiligten sich an seinem Bau und holzten ganze Wälder zur Befestigung der Gräben und Wälle ab.
Nun lagen sich die beiden Heere gegenüber, und jeder wartete auf den nächsten Schritt. An eine offene Feldschlacht war nicht zu denken, denn das Heer Wallensteins war um ein Vielfaches größer als das der Schweden. Gustav Adolf hoffte auf Verstärkung – wenn ihm Wallenstein genügend Zeit dafür ließ. Fast täglich trafen weitere Truppen ein, die sich im Laufe der schwedischen Eroberung verstreut hatten und nun zu ihrem Feldherrn zurückkehrten. Noch schien der Generalissimus diesen Zustand nicht bedrohlich zu finden.
Jakobs alter Gefährte Aaron lag neben ihm am Feuer. Der große Hund war inzwischen ein betagter Herr geworden. Auf seiner Schnauze zeigten sich weiße Härchen, obwohl seine körperliche Verfassung unverwüstlich zu sein schien. Der auseinanderklaffende, längst verheilte Riss an seinem rechten Ohr und das räudige Äußere verliehen ihm einen Ausdruck der Gefährlichkeit. Die meisten machten einen weiten Bogen um Aaron, obwohl er nur selten daran interessiert war, dies unter Beweis zu stellen.
Jakob kraulte ihm das Fell, während seine Gedanken zu Elisabeth wanderten. Wenn auch die meisten Gefühle in ihm gestorben waren, so leuchtete seine Liebe zu ihr wie eine helle Kerze in einem dunklen Raum. Noch immer hatte er keine Nachricht von ihr erhalten. Die Sorge um sie wuchs mit jedem Tag mehr.
Eigentlich hatte er sich im Herbst davonmachen wollen. Bis dahin hoffte er, genügend Geld beisammenzuhaben, um nicht als armer Schlucker vor ihr zu stehen. Nun war er sich nicht mehr sicher, ob ihm das gelang. Hier gab es kein Durchkommen mehr. Die riesige Schanzlinie am Ufer der Rednitz und das große kaiserliche Heer, das sie hielt, schlossen eine Flucht nach vorne aus. Zwischen 50.000 und 60.000 Söldner lagerten dort, neben einem unausweichlichen Tross, der diese Zahl noch um einiges vergrößerte.
Auf ihrer Seite des Ufers sah es auch nicht besser aus. Hier lag die Streitmacht, in deren Diensten er stand, zwar deutlich in der Minderzahl, aber von einer alles umschließenden Schanze umgeben, und mit rigorosen Mitteln, die seine Söldner am Desertieren hinderten. Nirgendwo gab es ein Loch, durch das man hindurchschlüpfen konnte. Er hatte zu lange gewartet, weil er auf die Segnungen des Soldes nicht verzichten wollte. Nun hatte er seine Chance vertan und würde weiter ausharren müssen. Aber er würde nicht aufgeben, bis seine Stunde gekommen war.
Peter riss ihn aus seinen Gedanken. Jakob fühlte das Vibrieren seiner Schritte, das von der festgetrampelten, trockenen Erde bis in die Knochen drang. Eilig stampften sie auf ihn zu, bis Peter schließlich, nach Atem ringend, vor ihm stand. »Jakob! Du hast Post bekommen!«, keuchte er.
Jakob horchte auf. Seine Hand verharrte auf dem Hundepelz. Aarons gelbe Augen öffneten sich träge und nahmen den Störenfried missbilligend ins Visier.
»Na, was ist? Bist du nicht neugierig?« Peter, der immer noch so dürr wie eine Marionette war, stemmte seine langen Arme vorwurfsvoll in die Hüften.
Es dauerte ein Weilchen, bis Jakob die Tragweite von Peters Nachricht begriff. Er hatte so lange keinen einzigen Brief erhalten, dass er nun fast nicht mehr daran glaubte, überhaupt noch einen zu bekommen. Dann sprang er auf. »Post?«, stammelte er. Eine Welle der Erregung erfasste ihn. »Für mich? Wie ist das möglich?«
Balthasar, der sich um das Essen gekümmert hatte, hob neugierig den Kopf. Der große Kochlöffel in seiner Hand verharrte für einen Moment reglos über dem Eisenkessel.
Peter grinste Jakob an. »Wahrscheinlich ist sie so wie alles andere ins Lager gelangt. Mit der Truppe, die heute eingetroffen ist. Unglaublich, auf welch verschlungenen Pfaden die Briefe den Weg zu ihren Empfängern finden! Meinst du nicht?« Er schüttelte, fasziniert von diesem Gedanken, sacht den Kopf.
»Sag mir lieber, wo sie sich befinden.« Jakob interessierte es nicht im Geringsten, wie die Briefe in das Lager gelangt waren. Neugier flammte in ihm auf wie Feuer an einer trockenen Lunte, zusammen mit einer leisen Ahnung, wer ihm geschrieben hatte.
»Nun, wo die anderen sind, weiß ich nicht. Was den deinen betrifft, so habe ich ihn hier«, erwiderte Peter leichthin. Er zog ein zusammengefaltetes Blatt hervor, das er Jakob mit einem neckischen Grinsen vor die Nase hielt.
Jakob riss ihm das Papier aus der Hand. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«, fragte er vorwurfsvoll.
Peter zuckte schmollend mit den Schultern und warf einen Blick zu Magdalena, die gerade von einem Krankenbesuch zurückkam. »Nun brauchst du nur noch jemanden, der ihn dir vorliest.«
Magdalenas zwielichtige Augen hefteten sich auf Jakob. Sie hatten die Farbe von Kornblumen, doch in ihrem rechten Auge prangte ein Fleck, fast wie eine zweite Pupille, der das Blau an dieser Stelle mit einem hellen Braun verdrängte. »Ich kann es für dich tun.« Sie hob die Hand, um das Papier in Empfang zu nehmen. Seine abweisende Miene ließ sie zögern. »Natürlich nur, wenn du möchtest«, setzte sie hinzu. Ihr Arm verharrte wartend in der Luft.
Jakob schüttelte den Kopf. Er hatte Elisabeths Namen auf dem Brief erkannt. Er wollte nicht, dass sie wusste, was darin stand. Es ging niemanden etwas an, auch Magdalena nicht. Keiner von seinen Freunden sollte dabei sein, wenn er erfuhr, was Elisabeth geschrieben hatte. »Sei mir nicht böse, aber ich werde den Schreiber fragen.«
»Wie du meinst«, Magdalenas Arm sank herab. Ihre Gesichtszüge veränderten sich. Er konnte die Kränkung darin erkennen, die er ihr zugefügt hatte, doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Trotz des recht öffentlichen Lagerlebens hatte er eine Privatsphäre, die er sorgsam vor den anderen verbarg, und dieser Brief gehörte eindeutig dazu. Er konnte ihr später noch erzählen, was darin stand – falls er es wollte. Doch zuerst gehörten Elisabeths Worte einzig und allein ihm.
Peter und Balthasar blickten sich vielsagend an, während sich Jakob davonmachte, um das Zelt des Schreibers aufzusuchen. Clauß war schon vor einer ganzen Weile verschwunden, um einer der städtischen Schenken einen Besuch abzustatten, die derzeit ein gutes Geschäft machten.
Jakob hatte sich in eine Ecke am Rand des Lagers verzogen, verborgen hinter dichtem Gebüsch. Seine Finger knüllten das Papier in seinen Händen. Aaron, der dicht neben ihm lag, als ob er das Leid seines Herrn verstehen könne, seufzte tief. Der Schreiber hatte Jakob den Brief vorgelesen und seine Freude in tiefe Trauer verwandelt – und in eine namenlose Wut. Ich habe geheiratet. Dies war alles, was Elisabeth geschrieben hatte. Drei Worte, die sein ganzes Leben zerstörten.
Der Pfarrer hatte in erklärenden Worten hinzugefügt, dass ihr Ehemann Andreas Selzer hieß. Ausgerechnet Andreas, sein alter Widersacher! Schon immer hatte er es auf Elisabeth abgesehen, ohne dass seine Bemühungen auf fruchtbaren Boden gefallen wären. Warum nur ausgerechnet jetzt? Wo er sich so kurz vor dem Ziel wähnte! Also hat der verzogene Schnösel am Ende doch noch gewonnen, dachte er.
Was hatte er nicht alles getan, um zu überleben. Um an Geld zu kommen, damit er nicht mit leeren Händen dastand, wenn er zu ihr zurückkehrte. Nun, da er welches hatte, war ihm die Braut abhandengekommen. Du hast sie verloren!, flüsterte es in ihm. So wie du immer alles verloren hast. Du wirst nie zu den Siegern gehören, egal auf welcher Seite du stehst. Eine grenzenlose Leere breitete sich in ihm aus, und die Enttäuschung raubte ihm fast den Verstand. Vage fühlte er das Pochen seiner Narbe auf der Stirn, die längst eine beängstigende Röte angenommen hatte.
»Jakob!« Magdalenas Stimme drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr. »Was tust du hier, so ganz allein?« Sie klang besorgt.
Statt einer Erwiderung brummte er nur in einem tiefen, unfreundlichen Ton. Er wollte sie jetzt nicht sehen. Er wollte niemanden sehen! Keiner sollte beobachten, wie wund und verletzlich er sich fühlte!
Dennoch zwängte sie sich durch die Büsche, als schere sie die Zurückweisung nicht, von der jeder Muskel seines Körpers zeugte. Sie ließ sich auf die Knie nieder und verharrte neben ihm im Gras. »Schlechte Nachrichten?«
Er konnte nur nicken. Tränen der Wut saßen tief in seiner Kehle, und wenn er nur ein Wort sagen würde, wäre es um ihn geschehen.
Magdalena ignorierte auch dies. Blieb an seiner Seite und wartete, bis er sich gefasst hatte. Sie war ihm heimlich gefolgt, hatte gesehen, wie er in das Zelt des Schreibers trat. Die Veränderung seines Gesichts war ihr nicht entgangen, als er daraus hervorkam. Sie konnte ihn jetzt nicht sich selbst überlassen.
Die Minuten zerrannen mit der Dämmerung, und während sich langsam Dunkelheit über das Land legte, fing Jakob endlich an zu sprechen. »Sie hat geheiratet, weißt du?«
»Oh Jakob, das ist ja schrecklich«, erwiderte sie, obwohl ihre Anteilnahme nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie konnte durchaus verstehen, wie er sich fühlte, doch in ihrem Herzen jubelte es vor Freude. Auf diese Chance hatte sie gewartet, und aus diesem Grund hatte sie die Briefe, die er ihr diktiert hatte, ins Feuer geworfen, ohne dass Jakob etwas davon mitbekam. Sie hatte so sehr gehofft, dass Elisabeth enttäuscht sein und sich einem anderen zuwenden würde. Endlich war ihr Plan aufgegangen! Schon seit langer Zeit liebte sie den jungen Söldner mit den feinen Gesichtszügen, den dunklen Augen und dem pechschwarzen Haar. Bis jetzt war er taub für ihre Liebe gewesen, weil er in der Heimat ein Mädchen hatte. Nun bedurfte dieses Mädchen seiner Liebe nicht mehr!
Jakob senkte traurig den Kopf. »Wie konnte Elisabeth nur so etwas tun?«, fragte er in die Düsternis hinein, die von den zahlreichen Kochfeuern des angrenzenden Lagers sanft erhellt wurde. Am Himmel erschienen die ersten Sterne. Sie glimmten sacht vor sich hin, als ob jemand dort oben ihre Lichter angezündet hätte.
Magdalena zuckte mit den Achseln. »Du weißt nicht, was sie dazu veranlasst hat?«, fragte sie scheinheilig und auf eine gewisse Weise erleichtert.
»Nein.«
»Vielleicht gab es einen guten Grund dafür?«
»So? Und welcher wäre deiner Meinung nach überzeugend genug, um einen anderen zu heiraten?«, fragte er mit schneidender Stimme.
»Ich weiß es nicht. Ich bin nicht sie«, erwiderte sie sanft. Sie nahm seine Hand zwischen ihre Finger, die so viel zierlicher waren als seine eigenen, und strich zart über die Schwielen in seiner Haut. Ein Ergebnis der schweren Schanzarbeit, die hinter ihm lag. Ihre Berührung war schmetterlingsleicht, und doch spürte sie die Wärme, die von ihm ausging. »Du kannst nichts dafür, aber du kannst es auch nicht ändern«, sagte sie leise.
Wieder folgte nichts als Schweigen.
»Ich bin so leer«, gestand Jakob endlich. Seine Stimme klang unendlich betrübt. »Ich fühle mich, als ob man das Leben aus mir herausgesaugt hätte. Selbst mein Herz scheint nur noch aus einer leeren Hülle zu bestehen.«
Magdalenas Berührung wurde intensiver. Sie nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und zog es sacht zu sich heran.
Aaron setzte sich auf und stellte interessiert die Ohren.
»Dann lass mich dir helfen, es wieder zu füllen.«
Die Wärme ihrer Haut brannte auf seinen kalten Wangen. Erst jetzt bemerkte Jakob, wie sehr er fror. Eine innerliche Kälte jagte ihm einen Schauder über den Rücken, und es war ihm, als ob er nie wieder warm werden würde.
»Es gibt noch andere Frauen, weißt du? Die Zeit ist zu kurz, um sie ungeliebt verstreichen zu lassen.« Ihr Mund kam unaufhaltsam näher und berührte sacht seine Lippen. »Vergiss sie«, murmelte sie. »Sie hat es nicht verdient, dass du einen weiteren Gedanken an sie verschwendest.«
Da war es um Jakob geschehen. Er umarmte Magdalena stürmisch, vergrub sich in der Hitze ihres Körpers, und all die aufgestaute Liebe, die er über die Jahre für Elisabeth empfunden hatte, brach sich in ihm Bahn. Wahrscheinlich hatte Magdalena gar nicht so unrecht. Warum sollte er sich keine andere nehmen, wenn Elisabeth ihn nicht mehr wollte? Und so nahm er sich ohne Rücksicht alles, was die junge Frau an seiner Seite ihm bot. Nicht, dass ihm das schwergefallen wäre. Sie war schon immer höchst ansehnlich gewesen, doch bis jetzt hatte er seine Augen vor ihrer Schönheit verschlossen.
Magdalena hieß ihn freudig willkommen. Sie wusste, dass es nur ein billiger Trost war, den sie Jakob bieten konnte. Aber eines Tages, war sie überzeugt, wird er für mich die gleiche Liebe empfinden, wie er sie für Elisabeth empfunden hat.
Es war tiefe Nacht, als sie eng beieinanderlagen und die leuchtenden Sterne am Firmament betrachteten, die nun den Himmel in vollkommener Schönheit erstrahlen ließen. Aaron hatte sich neben ihnen eingerollt und schlief tief und fest.
»Was ist mit Clauß?«, fragte Jakob plötzlich. Er nahm eine Strähne von Magdalenas prächtigem Haar und rollte es spielerisch um den Zeigefinger. Es war kastanienbraun. Wenn das Sonnenlicht darauf fiel, funkelte es in einem rötlichen Glanz. Jetzt war es fast so dunkel wie seines.
»Er wird schon eine andere finden«, sagte sie gleichmütig, ihr Körper schmiegte sich an Jakob, und ihr Mund verlangte nach einem weiteren Kuss.
Von diesem Tag an waren Jakob und Magdalena ein Paar. Sie trafen sich heimlich, irgendwo hinter den Büschen, wo niemand sie sehen konnte, und nur der Hund war ihr Zeuge. Doch mit der Zeit schwante Peter, Balthasar und Clauß, dass hier etwas im Gange war, und Jakob beobachtete, wie Clauß’ Miene immer finsterer wurde.
»Hoooh«, der Kutscher brachte die beiden Rappen zum Stehen, die einen noblen Zweispänner durch die Stadt zogen. Er schwang sich vom Kutschbock, öffnete die seitliche Tür und streckte die Hand aus, um der Person im Innern des Gefährts auf die Straße zu helfen. Bis jetzt hatte das geschlossene, schwarze Verdeck sie vor neugierigen Blicken bewahrt. Nun wurde sie offenbar.
Die Frau, die ihn um eine Handbreit überragte, setzte vorsichtig ihren Fuß auf den trocknenden Gassenschlamm des einfachen Vorstadtviertels. Ein ausgiebiger Regen hatte der drückenden Hitze, die ihnen in den letzten Wochen fast die Luft abgeschnürt hatte, für kurze Zeit ein Ende gemacht. Nun kam die Sonne wieder hervor, und das Wasser verdunstete zu einer unangenehmen Schwüle.
»Nicht einmal eine anständige Straße scheint es hier zu geben.« Die Worte der Frau klangen mürrisch. Sie war weitaus Besseres gewohnt. Im Innern Straßburgs waren die Straßen befestigt. Man pflasterte sie mit Stirnholz, um das Rattern der eisenbeschlagenen Räder zu dämpfen, zumindest diejenigen, die groß genug dafür waren und viel befahren wurden. Auch die Gasse vor ihrem Haus verfügte über ein solches Pflaster. Nicht weil sie besonders groß gewesen wäre, sondern weil sie sich in einer exklusiven Lage befand. Hier hingegen sah es nicht nach Reichtum und Wohlstand aus, eher nach gewöhnlicher Bürgerlichkeit. Aber was konnte man von einem Hausmädchen schon anderes erwarten? Ihr Blick glitt über die Fassade des schmalen, dreistöckigen Hauses. Das schlichte Fachwerk sah eher zweckmäßig als schön aus.
»Hier ist es, nicht wahr?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Sie vermied es dabei, in die Richtung des Kutschers zu sehen. Es war zwecklos, den Dienstboten mehr Aufmerksamkeit als nötig zu schenken. Freundlichkeit wurde nur selten mit Dankbarkeit belohnt.
»Jawohl, Meisterin.«
Sie nickte. »Warte hier, bis ich wiederkomme.«
»Sehr wohl, Meisterin.«
Gemessenen Schrittes ging die Frau über die Straße. Der Schweiß brach ihr unter der hochgeschlossenen, dunklen Kleidung aus. Sie war so schwarz wie die Kutsche, was der gängigen Straßburger Kleiderordnung entsprach. In der sommerlichen Schwüle wurde diese Vorschrift jedoch zur Plage.
Ein kleines, feuchtes Rinnsal sammelte sich zwischen ihren Schulterblättern und bahnte sich einen Weg unter den dunklen Schichten ihres Kleides hinab. Sie bewegte sacht die Schultern, um das unangenehme Gefühl abzuschütteln, während sie vorsichtig einatmete. Der in der Luft hängende Geruch war so übel wie die Gegend. Endlich klopfte sie an die Tür, die kurz darauf von einer Dienstmagd geöffnet wurde.
Die Pockennarben im Gesicht des korpulenten Weibes verfärbten sich rot, als sie die Besucherin erkannte. »Meisterin!«, brach es aus ihr heraus.
Die Frau genoss die Verblüffung, die sich in der Haltung ihrer ehemaligen Köchin abzeichnete, ging aber nicht näher darauf ein. »So! Hierher hat es dich also verschlagen. Ich dachte mir schon, dass es etwas mit dieser Person zu tun haben muss, das dich dazu gebracht hat, meine vollen Töpfe zu verlassen.«
Grete schlug die Augen nieder und ärgerte sich darüber, wie seltsam klein sie sich plötzlich fühlte.
Die alte Abendrotin blickte gebieterisch auf sie herab. »Bring mich zu deiner Herrin«, verlangte sie. Ihre Miene duldete keinen Widerspruch.
Bärbel wappnete sich, als sie hinter Sebastian die schmale Stube betrat, um ihren Besuch zu empfangen. Die Nachricht hatte ihren Mann ebenso verblüfft wie sie selbst. Sie war gerade mit dem Gemüse für das bevorstehende Mittagsmahl beschäftigt gewesen, als Grete in die Küche stürmte. Gretes hübsche, graue Augen hatten die Größe von Fasaneneiern angenommen, während sie die unglaubliche Neuigkeit so gehetzt in ihr Ohr raunte, als ob der Teufel hinter ihr her wäre. Die Abendrotin besuchte sie in ihrem eigenen Haus!
Bärbel fühlte, wie Gretes Beklommenheit auch auf sie übersprang. Jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich an. Bei ihrem letzten Zusammentreffen waren sie nicht friedlich auseinandergegangen. Ein heftiger Streit hatte dazu geführt, dass sie mehr verriet, als ihr lieb war. Bedauerlicherweise lag es in der Natur dieser Dinge, dass man sie nicht mehr rückgängig machen konnte, auch wenn sie es noch so sehr wollte.
Vor einigen Jahren war sie Dienstmädchen im Hause der Abendrots gewesen, bis sie schwanger wurde und sich heimlich davongeschlichen hatte. Bei ihrer Rückkehr hatte die Meisterin nichts als Hohn und Spott für sie übrig, obwohl das Kind, das Bärbel geboren hatte, von ihrem eigenen Sohn stammte. Schließlich hatte Bärbel ihr diese Wahrheit ins Gesicht geschleudert. Ein Fehler, den sie bitter bereute.
In den Wochen danach plagten sie fürchterliche Albträume, die alle damit endeten, dass man ihr die kleine Marie wegnahm. Doch nichts dergleichen war geschehen, und so hatte sie sich schließlich damit begnügt, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sollte die Abendrotin nun – sechs Jahre später – doch noch etwas im Schilde führen?
Bärbel verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken und ballte unbewusst ihre Hände zu Fäusten. Ihr Blick glitt für einen Moment zu Sebastian hinüber. Sie war froh, ihn an ihrer Seite zu wissen, obwohl ein kränklich grauer Ton sein Gesicht bedeckte und er viel zu mager war. Die Wunde auf seiner Stirn verheilte langsam zu einer tiefroten Narbe. Er war immer noch sehr empfindlich an dieser Stelle. Sie würde auf der Hut sein müssen, damit er sich nicht überanstrengte.
Die Meisterin blickte ihnen mit gewohnter Arroganz entgegen. Ein missbilligender Zug umspielte ihren breiten Mund, als ob ihr etwas an den beiden Personen nicht gefiel, die über den knarzenden Dielenboden auf sie zukamen. Immer noch war sie gertenschlank, nur ihre aufrechte Haltung war nicht mehr dieselbe, und in ihr Gesicht gruben sich die tiefen Falten des Alters. Sie saß bereits am Tisch, als ob sie hier zu Hause wäre. Ein krummer Rücken beugte sie ein wenig nach vorne, doch ihr Blick, den sie nun auf Bärbel richtete, war immer noch wach und ungetrübt. »Ich habe etwas mit dir zu besprechen«, verkündete sie, ohne sich die Mühe einer höflichen Begrüßung zu machen.
»Wie Ihr wünscht«, erwiderte Bärbel. Mit schierer Willenskraft zwang sie ihre Finger auseinander, deren Nägel sich in die Handflächen gruben, und rief sich zur Ordnung. »Doch zuvor möchte ich Euch meinen Mann vorstellen.« Sie lächelte das alte, überhebliche Weib freundlich an. Dies war ihr Haus, und hier gedachte sie nach ihren eigenen Regeln zu spielen. »Ich glaube nicht, dass ihr euch jemals zuvor begegnet seid.«
»Ganz sicher nicht«, erwiderte die Abendrotin spitz.
»Nun, dann wird es höchste Zeit«, Sebastian überging die Beleidigung und streckte der Meisterin freundlich die Hand entgegen. »Sebastian Liebig. Freut mich, Euch kennenzulernen.«
Die Meisterin erwiderte die Begrüßung, begegnete seinem offenen Lächeln jedoch mit zusammengepressten Lippen. Ein peinliches Schweigen entstand.
»Wollen wir uns nicht setzen?«, fragte Bärbel in die Stille hinein. Sebastian sah zum Umfallen erschöpft aus. Die Seuche, die bis vor Kurzem im Findelhaus grassierte, hatte ihn fast umgebracht. Erst seit ein paar Tagen war er wieder in der Lage, für ein bis zwei Stunden aufzustehen, bevor er matt und müde auf das Lotterbett zurücksank.
Er nahm ihren Vorschlag unverzüglich an und ließ sich kraftlos auf einen Stuhl sinken. Bärbel setzte sich ebenfalls.
»Vielleicht wollt Ihr uns nun verraten, weshalb Ihr gekommen seid?«, wandte sich Sebastian an ihren Gast.
Die Abendrotin senkte die Lider. Ihre gepflegten Hände lagen kalt und abweisend auf der abgenutzten Tischplatte, übereinandergelegt wie eine geballte Faust. Auf einmal schien es ihr schwerzufallen, den Grund ihres Besuches in Worte zu fassen. »Merten ist tot«, sagte sie jäh. Ihr faltiger Hals geriet in Bewegung, als sie krampfhaft schluckte. »Dieser Krieg ist wie ein gefräßiges Tier. Er hat mir alles genommen, was mir lieb und teuer war«, sie schaute auf, und zum ersten Mal sah Bärbel etwas anderes als Härte in den Augen der Meisterin. »Conrad ist bereits vor zwei Jahren bei einer seiner Handelsreisen ums Leben gekommen.« Ihr Blick heftete sich auf Bärbel. »Ich habe niemanden mehr. – Außer Mertens Kind, das du geboren hast.« Ihre Augen wurden dunkel vor Trauer, und die Feuchtigkeit einer einzelnen Träne sammelte sich zwischen den Lidern. Noch immer hielt sie den Kopf aufrecht, doch die Sehnen an ihrem Hals spannten sich an, als ob sie Mühe hatte, ihr Haupt noch länger auf den Schultern zu tragen. Mit einem Mal war sie nicht mehr als ein trauriges altes Weib.
Bärbel fühlte Mitleid in sich aufsteigen, während Sebastian neben ihr scharf die Luft einsog. Ihre Zuneigung für die Meisterin hielt sich noch immer in Grenzen, aber solch ein Schicksal hatte niemand verdient. »Und jetzt möchtet Ihr dieses Kind gern sehen, nicht wahr?«
Die Abendrotin nickte stumm.
Bärbels Blick fiel auf Sebastian. Seine dunkelblauen Augen bestätigten, was sie bereits vermutet hatte. Konnte man diesem armen Weib die Begegnung mit ihrem Enkelkind verweigern? Dem einzigen Familienmitglied, das ihr noch blieb? Wohl kaum. Doch was würde Marie dazu sagen? Sie ahnte nicht einmal, dass Sebastian nicht ihr leiblicher Vater war. Würde es ihrer kleinen Seele schaden, wenn die Sache nun ans Licht kam?
Im angrenzenden Schlafzimmer fing der kleine Jakob zu greinen an.
Bärbel stand auf, froh, für eine Weile den Augen ihres Gegenübers entfliehen zu können. »Ihr entschuldigt mich für einen Moment.«
Die Meisterin wandte sich an Sebastian. »Ihr habt noch weitere Kinder?«
»Noch zwei, um es genau zu nehmen«, antwortete er. Eine Spur von Stolz schwang in seiner Stimme mit. »Einen Jungen und ein Mädchen.«
Bärbel betrat das Schlafzimmer und blickte in die Wiege. Der kleine Schelm unter der Decke lächelte über das ganze Gesicht.
»Na, mein Kleiner«, Bärbel strich ihm sanft über das weiche Haar, das sich neuerdings zu kleinen Löckchen ringelte. »Geht es dir gut?«
Jakob gluckste zur Bestätigung. Seine Ärmchen streckten sich ihr entgegen. Sie hob ihn heraus und kehrte in die Stube zurück, wo Sebastian der alten Meisterin gerade das Prinzip des Findelhauses erklärte, das sie führten.
»Kann ich das Kind jetzt sehen?«, fragte sie, nachdem er geendet hatte.
Bärbel sah noch einmal mit verunsicherter Miene zu Sebastian hinüber, der ihr aufmunternd zublinzelte. »Nun, ich glaube nicht, dass es schaden würde, obwohl Marie nicht weiß, dass ich nicht ihr richtiger Vater bin«, antwortete er. »Für den Anfang würde es genügen, wenn sie erfährt, dass Ihr eine Verwandte seid.«
Marie war nicht so zerbrechlich, wie sie aussah. Wenn sie behutsam vorgingen, war es möglich, dass sie die Wahrheit nicht als Bedrohung empfand.
»Marie?« Die Miene der Abendrotin nahm einen verdutzten Ausdruck an. »Wollt Ihr damit sagen, dass mein Enkel ein Mädchen ist?« Die Schwäche in ihrer Gestalt hatte sich verflüchtigt. Nun war sie wieder ganz die Alte.
»Ich habe nie behauptet, dass es sich um einen Jungen handelt«, entgegnete Bärbel schnippisch.
Sebastian räusperte sich. »Im Grunde spielt es keine Rolle. Marie ist mit Euch genauso verwandt, wie es ein Junge gewesen wäre.«
»Keine Rolle?«, die Stimme der Alten klang herablassend. »Natürlich tut es das! Ich hatte gehofft, einen Erben zu finden. Möglicherweise hätte er das Geschäft weiterführen können. Der Besitz eines Mädchens wird später in die Hände ihres Mannes übergehen. – Und nur der Himmel weiß, wer dies einmal sein wird!«
»Wir können es auch sein lassen«, gab Bärbel eisig zur Antwort. »Es war nicht unser Wunsch, Marie ihrer Altmutter vorzustellen.«
Der breite Mund der Abendrotin verwandelte sich in eine schmale Linie. »Ich möchte sie trotzdem sehen«, erwiderte sie. »Ihr werdet einer alten Frau wohl kaum einen Blick auf ihr Enkelkind abschlagen können.«
»Gut«, äußerte Bärbel kühl, nachdem Sebastian ihr ein weiteres Mal aufmunternd zunickte. Jakobs kleine Hände beschäftigten sich mit der Kante der Tischplatte. »Aber ich warne Euch! Kein Wort davon, dass mein Mann nicht der Vater des Kindes ist!«
»Wenn du darauf bestehst.«
Bärbel übergab ihren Sohn seinem Vater und machte sich auf die Suche nach Marie. Sie fand ihre sechsjährige Tochter im zweiten Stock, wo sie in einer der Kammern mit Johannes spielte. Marie und der gleichaltrige Junge waren unzertrennlich. Er war ihr Milchbruder, denn sie hatte beide gestillt. Damals schliefen sie wie Zwillinge in einer gemeinsamen Wiege, lachten und weinten zur gleichen Zeit und teilten ihre Erlebnisse. Die guten wie die schlechten. All dies führte wohl dazu, dass sie sich ohne den anderen einsam und unvollständig fühlten.
Im Moment fühlte sich Bärbel selbst ziemlich unvollständig, denn sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Sie ging vor Marie auf die Knie. Sonnenlicht fiel durch das geöffnete Fenster und spiegelte sich in den rotgoldenen Haaren des Kindes. Im Gegensatz zu ihrer zarten Gestalt wirkte Johannes älter und kräftiger. Wenn es aber darum ging, eine Entscheidung zu treffen, war Marie die Stärkere. Zwei Paar runde Kinderaugen blickten sie gebannt an. Bärbel schluckte, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und bat in einem Stoßgebet um die richtigen Worte. Sie lächelte aufmunternd. »Marie, du hast Besuch bekommen. Eine Verwandte ist hier, die dich gern sehen möchte.« Sie streckte einladend die Hand nach ihr aus. »Kommst du mit?«
In Maries Augen flammte Neugier auf. Dennoch verschränkte sie die Arme hinter ihrem Rücken. »Ich gehe nur, wenn Johannes auch mitkommen darf!«
»Natürlich darf er das, nicht wahr, mein Schatz?«, sie streckte dem Jungen die andere Hand hin, und gemeinsam gingen sie nach unten.
Marie sah ohne Scheu zu der Meisterin auf.
»Darf ich vorstellen?«, sagte Bärbel förmlich. »Dies ist Marie.«
Die Abendrotin gestattete sich ein kleines Lächeln, während sie artig begrüßt wurde. »Sag mir, Kind, wie alt bist du?«
»Sechs Jahre«, antwortete Marie.
In Bärbel flammte Groll auf. Nicht einmal jetzt schien ihr die Alte zu trauen. »Habt Ihr gedacht, ich schiebe Euch ein anderes Kind unter?«, fragte sie vorwurfsvoll.
Maries Kopf fuhr herum. Sie kräuselte die Stirn, während sie sichtlich verwundert über Bärbels Antwort war. Doch ihr blieb kaum Zeit, darüber nachzudenken.
»Nun, zumindest scheint Ihr ja genug davon zu haben«, die Miene der Abendrotin war nüchtern. »Ich werde sie mitnehmen«, ihre Stimme klang so hart, als ob sie einen Eisblock damit schneiden müsse.
Sie hätte einen guten Weibel abgegeben. Johannes trat derweil von einem Bein auf das andere. Auch ihm schien in der Gegenwart der resoluten Frau nicht ganz wohl zu sein.
»Sie wird bei mir wohnen und in die Schule gehen, damit sie einmal eines guten Mannes würdig ist.«
Maries Augen wurden angesichts dieser Worte kugelrund, und Bärbel klappte der Kiefer herunter. Eine ganze Reihe unschöner Worte kamen ihr in den Sinn, die sich in der gegenwärtigen Aufregung mühelos zu Sätzen formten.
Bevor sie jedoch zu einer geeigneten Antwort ansetzen konnte, ergriff Sebastian das Wort. Seine Stimme klang immer noch höflich, obwohl er seine ganze Kraft zusammennehmen musste, die noch irgendwo in dem vor Schwäche zitternden Körper steckte. »Ihr werdet nichts dergleichen tun«, gebot er. »Das Kind wird bei uns bleiben. Hier hat es alles, was es braucht.«
»Ihr werdet mir doch nicht erzählen wollen, dass Ihr sie in eine Schule schickt?«
»Ich unterrichte sie selbst, wie alle unsere Kinder. Und falls Ihr dies gerade fragen wolltet: Ja, ich bin durchaus des Lesens und Schreibens mächtig. So wie es sich für einen Pfarrer geziemt.«
Marie hatte den Schlagabtausch wortlos verfolgt. Nun stemmte sie ihre kleinen Fäuste in die Hüften. »Ich gehe nirgendwohin«, sagte sie in einem entschlossenen Tonfall, der ihrer Altmutter alle Ehre machte. »Ich werde bei Johannes und meinen Eltern bleiben. Niemand bringt mich von hier fort!« Es schien, als ob sich die familiären Bande nicht so leicht verleugnen ließen.
Jedenfalls weiß sie sich zu wehren, dachte Bärbel stolz. »Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Ich bitte Euch jetzt zu gehen«, sagte sie so würdevoll, wie es ihr möglich war. Sie hatte nicht vor, sich die Butter so leicht vom Brot nehmen zu lassen. Schließlich war sie immer noch Maries Mutter. »Kommt, ich bringe Euch zur Tür.«
Nachdem die Abendrotin gegangen war, legte sich Sebastian zitternd in sein Bett. Er fror bis auf die Knochen, obwohl es ziemlich schwül in der Schlafkammer war. Er wusste, dass sich dies zum einen auf seine Schwäche zurückführen ließ, andererseits spiegelte es aber auch den Zustand seiner Seele wider. Es ging ihm nicht gut in letzter Zeit. Er fühlte sich so mutlos und schwach wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen. Die Entwicklung des Findelhauses war über einige Jahre mehr als erfreulich gewesen. Er hatte dem Herrgott vertraut, ihn um alles gebeten, was sie brauchten, und ein gnädiger Gott hatte es ihnen geschenkt. – Bis die Krankheit ausbrach.
Von einem Tag auf den anderen geriet seine Welt ins Wanken. Zehn Kinder starben, bevor die Seuche dank Gretes Hilfe zum Erliegen kam. Er selbst hatte um ein Wunder gebeten. Hatte mit dem Herrgott gerungen und ihm vertraut, darauf gehofft, dass dieser noch alles zum Guten wenden würde. Dennoch waren sie gestorben, und er wurde nur schwer damit fertig. Er war für diese kleinen Leben verantwortlich gewesen, hatte sich um sie erbarmt wie ein Vater um seine Kinder. Letztendlich hatte er ihnen trotzdem nicht helfen können.
Der Streit mit der Abendrotin goss einen weiteren Tropfen Öl ins Feuer seiner Unzufriedenheit. Um ein Haar wäre die Sache ans Licht gekommen und Marie müsste sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass er nicht ihr Vater war.
Sebastian seufzte. Vertrauen! Anscheinend verstand der Herrgott etwas anderes darunter als er. Es schien, als ob er dieses Wort neu definieren müsse, denn offenbar war es nicht mit der Erfüllung seiner Wünsche gleichzusetzen. Vielleicht hatte Bärbel ja recht, wenn sie sagte, dass der Herrgott sehr wohl seine Gebete erhörte – aber nicht immer in der Weise, in der er es erhoffte.
Im Moment war er so enttäuscht, dass er nicht einmal den Wunsch verspürte zu beten. Wenn es ohnehin kaum Sinn machte … Wenn er ehrlich war, gefiel ihm die Tatsache nicht besonders, dass Gott auch schwere Wege für richtig hielt. In der Heiligen Schrift hingegen gab es genügend Psalmen, die vom Herzeleid ihrer Verfasser sprachen. Bärbel hatte ihm deswegen den Kopf zurechtgerückt, aber nach einer kurzen Phase der Zuversicht waren die Zweifel zurückgekehrt. Sollte er dem Herrgott wirklich vertrauen? Das Risiko eingehen, ein weiteres Mal enttäuscht zu werden? Andererseits war es wohl kein richtiger Glaube, wenn man es sich bei jeder Schwierigkeit anders überlegte. Widerstrebend faltete er die Hände. »Hilf mir«, flüsterte er. »Lass mich neu erkennen, dass du es trotz allem gut mit mir meinst.«
Eine Woche später fühlte sich Sebastian kräftig genug, um einen Spaziergang zu wagen. »Ich werde Gabriel einen Besuch abstatten.«
»Bist du sicher, dass dies ein guter Gedanke ist? Es ist brennend heiß draußen.« Bärbel warf ihm einen besorgten Blick zu.
Sebastian versuchte ein zuversichtliches Lächeln. »Ich werde es schon schaffen. Außerdem sieht es nicht danach aus, als ob es in nächster Zeit kühler werden würde.«
Damit hatte er allerdings recht. Seit Tagen lastete die Hitze erneut auf der Stadt. Selbst nachts kühlte es kaum ab, und am Himmel zeigte sich kein einziges Wölkchen.
Bärbel gab Sebastian einen Kuss auf die Wange und blickte in seine dunkelblauen Augen, aus denen in letzter Zeit so viel Traurigkeit sprach. »Dann geh«, antwortete sie, »und sag ihm einen Gruß von mir.«
Gabriel war Sebastian besonders ans Herz gewachsen, obwohl er sich als Dieb und Lügner entpuppt hatte, als er anfangs bei ihnen wohnte. Allen Unkenrufen zum Trotz war dennoch ein anständiger Mensch aus ihm geworden, was vor allem Sebastians Geduld und Liebe zu verdanken war. Nun ging er bei Meister Schöpflin, einem Drucker, in die Lehre. Vielleicht würde ihn der Besuch bei seinem Ziehsohn etwas aufmuntern?
Sein Gesicht erhellte sich bereits jetzt in der Vorfreude, den Jungen wiederzusehen. »Das werde ich.«
Ein liebevolles Lächeln glitt über Bärbels Mund. Sacht strich sie mit dem Daumen am Rand der Narbe auf seiner Stirn entlang. Sie war immer noch flammend rot, aber nicht mehr so schmerzempfindlich wie vor ein paar Tagen. Auch im Gesicht sah Sebastian nun deutlich besser aus. Seine Haut nahm langsam wieder einen normalen, gesunden Farbton an. Doch er war immer noch sehr dünn. Sebastian war von jeher ein schlanker Mensch gewesen, aber seit seiner Krankheit zeichneten sich die Knochen allzu deutlich auf seinem Körper ab. Jeden Tag wachte sie darüber, dass er genügend aß, aber es würde wohl noch eine Weile dauern, bis er wieder genug Speck auf den Rippen hatte. Wenn man bei ihm überhaupt davon sprechen konnte. »Ich hole dir rasch deinen Hut. Damit dir die Sonne nicht so sehr auf den Kopf brennt«, sagte sie und entschwand.
Das Haus von Meister Schöpflin, das ihm sowohl als Werkstatt als auch als Wohnhaus diente, lag im Zentrum Straßburgs. Sebastian ging gemächlich und brauchte eine ganze Weile, bis er im Innern der Stadt ankam. Langsam schlenderte er über den Sankt Martinsplatz und sog die Eindrücke in sich auf wie ein trockener Schwamm, der das erste Mal seit langer Zeit in Wasser getaucht wird. Nicht, dass das, was er sah, ungewöhnlich gewesen wäre. Aber nach der langen Zeit seiner Krankheit erschienen ihm die täglichen Vorgänge auf dem Platz in einem neuen Licht, das in der Gewissheit der Erleichterung leuchtete, überhaupt noch daran teilnehmen zu dürfen. Jede noch so gewöhnliche Verrichtung erschien ihm plötzlich wie ein Geschenk, weil er sie noch tun durfte und nicht mehr hilflos im Bett lag.
Er erblickte einen Scherenschleifer, der vor seinem Schleifstein hockte und laut seine Dienste anpries. In den Gewerbslauben, unter den Arkadenbögen der angrenzenden Häuser, hatten sich heute ein Korbflechter, ein Drechsler und eine Frau, die gefärbte Wolle anbot, neben den üblichen Marktfrauen niedergelassen. Doch das Geschäft schien nicht besonders gut zu laufen. Die Hitze hielt die meisten Leute fern. Selbst den Tauben schien es zu heiß zu sein. Nur wenige bevölkerten die freie Mitte des Platzes, auf dem die Sonne wie im Innern eines Backofens lastete. Sebastian lüftete seinen Hut und fächelte sich damit Luft zu. Ob er sich wohl doch zu viel zugemutet hatte? Seine Beine taten ihm plötzlich weh, und das Wetter schien sich bei jedem Schritt wie eine schwere Last auf ihn zu legen. Nur noch ein paar Häuser, sagte er sich. Dann kannst du dich ein Weilchen ausruhen.
Das auskragende Schild an der Außenwand des großen Fachwerkhauses zeigte einen Doppeladler, der in seinen Fängen jeweils einen Winkel und ein Tenakel hielt. Sebastian war niemals glücklicher gewesen, dieses Schild in einer der Seitengassen des Martinsplatzes zu erblicken. Mit letzter Kraft stolperte er zur Tür herein. Um seinen Kopf schwirrte ein Mückenschwarm, der wahrscheinlich nur in seiner Vorstellung existierte.
In der Offizin des Druckers Schöpflin war es zum Glück etwas kühler als draußen. Die dunkle Holzvertäfelung und ein hohes Regal an der hinteren Wand gaben dem Verkaufsraum eine düstere Eleganz. Zwei hohe Fenster verstärkten diesen Eindruck noch. Sie waren mit gelben Tellerscheiben verglast, durch die nur gedämpftes Licht hereindrang. Im Winter hatte Sebastian diese Tatsache als bedrückend empfunden. Heute war sie ein Segen.
Er nahm den Hut vom Kopf, zog ein Schnäuztuch aus seiner Hosentasche hervor und wischte damit vorsichtig über die schweißfeuchte Stirn. Die Krempe hatte an seiner Narbe gescheuert, die nun wie Feuer brannte.
»Guten Tag, Herr Pfarrer.« Die Meisterin, eine beleibte Frau in mittleren Jahren, öffnete die Klappe der auf Hochglanz polierten Verkaufstheke, zwängte sich hindurch und rauschte wie ein voll beladenes Rheinschiff auf ihn zu. Ihr herzlicher Händedruck hätte einem Schmied alle Ehre gemacht, obwohl auch sie unter den sommerlichen Temperaturen zu leiden schien. Ihre teigigen Wangen glühten, was ihrer überschäumenden Fröhlichkeit aber keinen Abbruch tat. »Diese Hitze scheint kein Ende zu nehmen, nicht wahr?«
Sebastian nickte zustimmend. »Obwohl es hier drinnen viel angenehmer ist als draußen.«
Sie lachte schallend. »Wartet ein Weilchen. Dann merkt Ihr keinen Unterschied mehr.«
»Wenn Ihr mich so lange hierbehalten wollt. Ich jedenfalls hätte nichts dagegen.«
Sie lachte noch einmal laut und für Sebastians Geschmack etwas zu schrill, bevor sie fortfuhr: »Ihr wollt sicher nach Gabriel sehen.«
Er widersprach nicht, und so führte sie ihn in die angrenzende Werkstatt, in der es nach den Ausdünstungen von Druckerschwärze, Papier und Blei roch. Ein Aroma, das ihm schwer in der Nase hing, vor allem, was die Farbe betraf.
Für Gabriel schien es besser als Rosenwasser zu sein. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er seinen Ziehvater erblickte. »Pfarrer Liebig«, rief er erfreut, ohne in seiner Arbeit innezuhalten. »Wollt Ihr mir einen Besuch abstatten?« Gekonnt verrieb er eine Portion Druckerschwärze zwischen zwei mit Hundeleder bezogenen Ballen, die mit Tierhaaren ausgestopft waren, um sie rund und dick zu machen.
Sebastian erschrak über die ungewohnt tiefe Stimme des Jungen und erwiderte sein Lächeln. Für ihn war er immer noch ein Kind, doch der helle Flaum in seinem hübschen Gesicht würde bis in ein paar Monaten in einen Bart übergehen, der einer Rasur würdig war. Gabriel war in die Höhe geschossen, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Ein schlaksiger junger Mann, dessen Muskeln sich bereits unter dem Hemd abzuzeichnen begannen. »Ich wollte nachschauen, wie es dir geht. Schließlich haben wir uns schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«
Gabriel hatte seine Arbeit unter den zufriedenen Blicken seines Meisters beendet und legte nun die beiden Druckerballen zur Seite, um seinen Ziehvater zu begrüßen.
»Gut siehst du aus«, bemerkte Sebastian nicht ohne einen gewissen Stolz.
»Und er macht sich auch gut«, der Meister betätigte gerade die riesige Druckerpresse, die einen Großteil des Raumes einnahm.
Seit Johannes Gutenberg den Druck mit beweglichen Lettern erfunden und Johannes Mentelin in Straßburg eine erste Druckerei eröffnet hatte, war dieses Handwerk aus der Stadt nicht mehr wegzudenken. Eine Flut von Schriften hatte seither das Reich überschwemmt, und wie immer war nicht nur Gutes dabei herausgekommen.
»Ich habe nie einen besseren Lehrling gehabt«, fuhr Meister Schöpflin fort, während er die Presse öffnete, um sein Werk zu begutachten.
Eine tiefe Dankbarkeit senkte sich in Sebastians Herz. Wenigstens der Junge scheint es gut getroffen zu haben, dachte er.
Gabriel nahm die Ballen wieder auf, um frische Druckerschwärze auf den gesetzten Lettern zu verteilen, während sein Meister den fertigen Bogen zum Trocknen aufhängte. Der Vorgang des Druckens war routiniert und faszinierend zugleich. Unter den Blicken des Meisters nadelte Gabriel einen angefeuchteten Papierbogen am Deckel der Presse fest. Eine etwas knifflige Arbeit, die ein gewisses Maß an Geschick erforderte und mehrere Rähmchen zur Fixierung des Bogens an der richtigen Stelle beanspruchte. Anschließend klappte Meister Schöpflin den Deckel vorsichtig über die frisch gefärbte Druckform und schob das Ganze über eine Schiene zwischen die beiden Druckplatten. Ein kräftiger Zug an dem langen, hölzernen Hebel der Presse setzte einen Mechanismus in Gang, der Druckform und Papierbogen aufeinanderpresste. Das war alles. So schnell füllte sich ein ganzes Blatt Papier mit frischen Zeilen. Eine enorme Arbeitserleichterung, wenn man bedachte, wie lange man brauchte, um einen Bogen von Hand zu beschreiben. Geschweige denn ein ganzes Buch.